Das Cabaret der Erinnerungen - Joachim Schnerf - E-Book

Das Cabaret der Erinnerungen E-Book

Joachim Schnerf

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Beschreibung

Wie kann die Erinnerung an die Shoah wachgehalten werden, wenn die letzten Zeugen nicht mehr leben? Werden die kommenden Generationen noch glauben können, was geschah? Ein Roman von seltener Kraft, zart, poetisch und beschwörend. Morgen wird Samuel seine Frau und seinen neugeborenen Sohn von der Entbindungsstation holen. Die letzten Stunden allein verbringt er mit Erinnerungen: an die Geschichte seiner Familie, von der nur der Großvater und dessen Schwester Rosa den Holocaust überlebten. An die eigene Kindheit, als er mit seiner Schwester und seinem Cousin all das, was ungesagt blieb, mit Fantasie ausfüllte, wenn sie in den Sommerferien in den Vogesen den Mythos der fernen Großtante Rosa in Texas weiterspannen. Und daran, wie er mit siebzehn im jüdischen Pfadfinderlager seine heutige Frau und die Liebe kennenlernte. Rosas Geschichte – Pogrome in Polen, Exil in Frankreich, Deportation im Alter von 12 Jahren, der Tod fast der gesamten Familie, die Gräuel im KZ – kennt Samuel aus einem Brief, in dem sie ihm alles erzählte. So wie sie allabendlich davon in ihrem Cabaret der Erinnerungen erzählte, das sie nach der Emigration aus Europa in der texanischen Wüste gegründet hatte. Oder haben sich die spielenden Kinder dieses Cabaret in ihrer Fantasie nur ausgedacht? Ein so ergreifender wie zarter Roman, der von der Dringlichkeit erzählt, die Erinnerung an die Shoah zu bewahren, zu beleben und weiterzugeben.

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Seitenzahl: 83

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Joachim Schnerf

DAS CABARET DER ERINNERUNGEN

Roman

Aus dem Französischenvon Nicola Denis

Verlag Antje Kunstmann

Für Léon und Noé

»Wo beginnt das Leben und wo wird dem Tod Einhalt geboten, wenn nicht in einem Kuss?«

Jón Kalman Stefánsson, Das Herz des Menschen

Inhalt

Le Chant du soir

Das Abendlied

DEN GANZEN GANG ENTLANG bis zur Loge reihen sich Zeitungsausschnitte und vergilbte Fotos aneinander. Porträts von Berühmtheiten, die im Cabaret aufgetreten sind, polnische Landschaften, die verschneite Klagemauer, alte Frauen in Haifa, die sich an der Wahl zur Miss Überlebende der Shoah beteiligen. Diese Bilder, manche gerahmt, verweisen auf das Kuriositätenkabinett, das sich hinten in Rosas Loge verbirgt und das sie im Spiegel ihres Frisiertisches vor und nach jeder Vorstellung eingehend mustert – nur selten schaut sie diesen schmerzlichen Erinnerungen direkt ins Auge.

Hinter der roten Tür, die sich zu ihrem Heiligtum öffnet, zwischen den kleinen Figuren, den zerlumpten Kleidern und den ziegelroten Steinen befinden sich zwei Metallnäpfe. Ihr eigener, mit dem sie sich an das Licht klammern kann und dem eine unsägliche Schuld eingeschrieben ist: gestohlen, nicht geteilt zu haben, über andere Körper getrampelt zu sein, um selbst zu überleben. Rosa erinnert sich an den Namen jeder einzelnen Frau, die an der Schwelle zur Dunkelheit gefallen ist, an ihr ausgehöhltes Gesicht, sie erinnert sich, von den eigenen Instinkten gedemütigt, zulasten so vieler anderer gegessen zu haben. Und dann der Napf von Jania.

Morgen wird Rosa von der Bühne abtreten, sie spürt das Ende nahen. Die alte Frau hat lange überlegt, was sie mit ihrem Besitz machen würde, sich gefragt, ob sie diese Erinnerungen ihrer französischen Familie vererben sollte, einem Museum oder einer Gedenkstätte, die bereits überquillt vor gestreiften Schlafanzügen und abgewetzten gelben Sternen. Nein, sie würde ihrem Cabaret und ihren Vorführungen treu bleiben, nach dieser Nacht würde nichts mehr aus Shtetl City dringen. Sie hat ein Inventar der Gegenstände erstellt, die sie der Ewigkeit vermachen wird, der Rest soll verbrennen. Rosa hat ihre Entscheidung getroffen, nichts wird sie daran hindern, die Überreste, die sie an ihre Dämonen ketten, in Brand zu stecken, sie will sie loswerden, bevor sie geht.

Rosa, die ihre Menschlichkeit verloren hat, um von den Toten zu erstehen. Rosa, die letzte Überlebende von Auschwitz.

WENN ES MORGEN WIEDER hell wird, ist unser Baby da. In diesem Gitterbett, das ich anstarre, während ich an meine eigene Kindheit denke, als mir Rosas Name schon früh keine Ruhe ließ. Am Tisch kamen wir bei den Familiengeschichten unweigerlich auf sie. Mein Großvater erzählte von jener geheimnisvollen Gestalt, von dieser Schwester, die ihn auf den unscharfen Bildern seiner Jugend verfolgte und die nach dem Krieg verschwunden war, Richtung Amerika. Man sprach nie über Auschwitz, aber Rosas Name ließ beim Nachtisch die Krematoriumsöfen lodern.

Wenn sich an jenen Augustnachmittagen in unserem Landhaus in den Vogesen das Mittagessen in die Länge zog, nahmen meine große Schwester, mein Cousin und ich Reißaus. Der Aufsicht unserer Großeltern entwischt, spielten wir die Familiengeschichte im Garten, oben auf den grauen, unbehauenen Felsstufen nach. In milden Nächten schliefen wir sogar unter freiem Himmel im dunklen Gras. Das Haus war nur ein paar Schritte entfernt, aber wir ahnten bereits, dass uns diese neue Freiheit, diese trügerische Selbstständigkeit bis ins Erwachsenenalter prägen sollte.

Ich kann den Wind spüren, der uns an jenem Tag in der Morgenfrühe streifte; ich erinnere mich an die schläfrigen Blicke, die angesichts der bevorstehenden Abenteuer im Handumdrehen zu funkeln begannen. Wir hatten Rosa nie gesehen, doch sie faszinierte uns. Unsere Amerikanerin, die mitten in der Wüste lebte, die den weiten Westen erobert hatte, um dort ihr Cabaret aufzubauen. Wir wussten nicht genau, was wir uns unter einem Cabaret vorstellen sollten, waren uns aber sicher, sie mitten im texanischen Sand zu finden, alle drei ausstaffiert mit unseren Cowboykostümen, von denen ich noch jede einzelne Franse in Erinnerung habe. Die Bilder und Empfindungen kommen wieder hoch, wenn ich am wenigsten damit rechne, ich flüchte mich in sie, so wie man Geborgenheit in der Nostalgie sucht, und lasse mich in eine Traumwelt gleiten.

In jenem Sommer war ich neun Jahre alt.

DIE AUGEN OFFEN, den restlichen Körper noch träge, hielt ich den Atem an und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Geräusche des um diese Zeit noch ruhigen Gartens. In meinem Schlafsack genoss ich die in den Daunen gespeicherte Wärme, der Tau hatte meine Lippen gekühlt, und meine Zunge begann automatisch, durstig nach den Wasserperlen zu tasten. Wie lange mochten wir geschlafen haben? Tania und Michaël lagen in meiner Nähe, das feuchte Gras hatte Spuren auf ihren Kostümen hinterlassen. Neben ihnen ihre Hüte, ihre Taschenlampen und der Steinkreis, der ein imaginäres Lagerfeuer umgab. Zwei Monate zuvor hatte meine große Schwester ihren elften Geburtstag gefeiert, mein Cousin war zehn Monate älter als sie – zwölf, genauso alt wie Rosa, als sie damals verhaftet worden war. Ich bewunderte die beiden für ihre Selbstsicherheit und ihren Mut, sie, die immer als Erste einschliefen, denn damals hatte ich Angst vor den Sternen. Sie ließen mir keine Ruhe, zwangen mich, sie zu beobachten, ohne den Blick abzuwenden, eine Stunde lang, manchmal zwei, bis mein Körper sich endlich entspannte und dem Schlaf nachgab. Eine Angst, die sich wohl aus den Geschichten speiste, die man sich über die in den Himmel aufgefahrenen Toten erzählte. Vielleicht aber auch die Vorstellung, dass sie genauso über Auschwitz funkelten.

Am Vorabend hatten wir rings um die Reisigstöckchen im Schein der Taschenlampe gesungen, bis es Nacht wurde. Wir waren schon in weiter Ferne, hatten uns in die amerikanische Wüste mit ihren kühlen, unbehaglichen Abenden versetzt, eine für durchreisende Fremde erbarmungslose Wüste, wenn die Dämmerung schließlich den Horizont erreicht. Jeder kannte seine Rolle, das Spiel hatte bereits begonnen. »Die Wasserreserven haben eine kritische Schwelle unterschritten«, hatte Tania feierlich erklärt, während sie sich auf dem Boden ausstreckte, »das nächste Dorf ist zu Fuß ungefähr zehn Stunden entfernt.« Am kommenden Tag wollten wir zur Suche nach einer mitleidigen Seele aufbrechen, und trotz unserer leisen Befürchtung, dass sich unser Abenteuer immer schwieriger gestalten würde, übermannte uns schließlich der Schlaf.

Etwas weiter weg blinzelten noch andere Augen. Auch meine Schwester, die Hartgesottenste von uns allen, erwachte. Tania kannte sich angeblich mit Kampfsport aus, sie behauptete, uns im Falle eines Angriffs beschützen zu können, und mich beruhigte es, eine Brutalinska an unserer Seite zu haben. Wir waren vor zwei Tagen aufgebrochen, um Rosas Cabaret zu finden, doch ohne den geringsten Hinweis begann unsere Zuversicht zu bröckeln. Nachts gefror uns das Blut in den Adern, wenn ein sonderbares Geheul die Stille zerriss – das Gejaule von Kojoten. Tania rekelte sich langsam und sah sich nach mir um. Michaël schlief noch, wir trauten uns nicht zu sprechen, in der Sorge, ihn sonst zu wecken. Sie lächelte mich an, als wollte sie sagen, dass uns ein schöner Tag bevorstünde und wir uns noch als Erwachsene an die kommenden Stunden erinnern würden. Vielleicht sagte sie mir aber auch, dass sie immer da sein würde, dass sie mich liebte, dass mir in ihrer Nähe nichts zustoßen könnte. Wir waren schamhaft und wechselten keine zärtlichen Worte miteinander, doch ich erinnere jenes Aufwachen als eine ihrer schönsten Liebeserklärungen.

WENN ES MORGEN WIEDER hell wird, sind die Erinnerungen da; in der Schublade, die ich schweigend zurückschiebe, die Fingerspitzen wie gelähmt auf dem Holz – einen Augenblick noch. Wir sind Tausende, Hunderttausende, die diese Seiten der Hölle aufbewahren, die mit schmerzlicher Tinte verfasste Geschichte unserer Familienmitglieder. Unterdessen entschlafen unsere Vorfahren. Meine Großeltern hatten nichts aufschreiben wollen, also bin ich derjenige, der hartnäckig über ihr Versteck in der sogenannten freien Zone geschrieben hat, über die Angst vor Denunzianten, vor den Blicken auf ihre Nase, von der sie sich verraten glaubten. Die Geschichte verschlang ihre Geschwister im Osten, während sie bis zum Überdruss die Einzelheiten ihrer neuen Identität verinnerlichten. Dann war der Krieg am Ende, die Menschheit auch, und die Erinnerungsarbeit begann.

Meine Großeltern väterlicherseits waren bis zu ihrer Begegnung Waisen gewesen, sagten sie. Ihre Eltern hatten nicht überlebt, waren nicht mehr da, um sie bei der Hochzeit, die in der Großen Shoule in Straßburg zelebriert wurde, an den Altar zu führen. Die Reihen in der Synagoge waren licht geworden, es gab natürlich ein paar Freunde, doch die Shoah hatte die Zahl der nach der Zeremonie zu beköstigenden Gäste beträchtlich reduziert, so die Worte meines Großvaters. Unter der Chuppa, dem hinten in der Synagoge thronenden Hochzeitsbaldachin, befand sich nur eine Person aus der Familie, eine Unbekannte, die eigens zu diesem Anlass aus den Vereinigten Staaten angereist war. Mein Großvater hatte kein enges Verhältnis zu seiner älteren Schwester, die vor der Verhaftung nicht mehr rechtzeitig hatte versteckt werden können. Ein paar Briefe aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen sie die Gründe für ihren Weggang nach Amerika darlegte, dann wurde es still. Sie meldete sich nicht mehr bei dem einzigen Angehörigen, der ihr verblieben war und den sie kaum noch kannte, bei diesem Bruder, der jenes Europa verkörperte, von dem sie, wie sie schrieb, nichts mehr wissen wollte. Der Kontinent stand für den Lärm der Stiefel, das Bellen deutscher Schäferhunde und das Geschrei der Lageraufseher, die ihre Madeleines zerkrümelt hatten. Für Rosa war die Gegenwart der einzig beruhigende Geschmack, alles Übrige schmeckte nach Tod.