Das Café am Amselweg - Anja Marina - E-Book

Das Café am Amselweg E-Book

Anja Marina

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Beschreibung

Zita Brunners Café am Amselweg floriert. Eigentlich ein Grund, das Leben zu geniessen. Doch als ein bunter, kleiner Vogel in ihr Leben tritt, gerät Zita zunehmend aus dem Gleichgewicht. Während sie sich auf eine schicksalhafte Suche begibt, kämpft auch jeder ihrer Stammgäste mit seiner eigenen Form von Krise. Bis eine stürmische Nacht für alle zum Wendepunkt wird. Autorin Anja Marina beschreibt in ihrem Debütroman die Lebenssituation ihrer verschiedenen Figuren genau, liebevoll, mit einer herrlichen Prise «Wahnsinn» und beleuchtet, wie sie sich der Unberechenbarkeit des Alltags stellen.

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Anja Marina

Das Café am Amselweg

Roman

boox-verlag

Mit 1 Prozent seiner Einnahmen unterstützt der Verlag seit seinem Bestehen (2011) eine Umweltschutzorganisation.

Impressum

© 2023 boox-verlag, Urnäsch

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild u. Gestaltung: Jonathan Graf, www.media-graf.ch

Korrektorat: Beat Zaugg

ISBN 978-3-906037-82-0 (ebook)

Auch erhältlich als:

ISBN 978-3-906037-81-3 (Taschenbuch)

www.boox-verlag.ch

Für Maria

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Die Skalia: Ein Märchen

1.

Bevor sie den Vogel ins Freie gelassen hatte, ließen sie Gedanken an das eingesperrte Tier kaum schlafen. Jeder Blick in Richtung Käfig spaltete ihr Herz und ihr zerzaustes Kopfhaar wurde noch wirrer. Dabei hatte sie den bunten Vogel gar nicht gewollt. Vor gut zwei Monaten entdeckte sie den Vogelkäfig zufällig vor einem leerstehenden Haus. Trotz aller Vorbehalte hatte das todgeweihte Tier Zita Brunners innere Stimme geweckt. Sie machte eine hundertprozentige Angelegenheit daraus und nahm den Vogel samt Käfig mit.

»Nur für eine Nacht, hast du verstanden!«, sagte sie mit mahnend erhobenem Zeigefinger zum bedauernswerten Tier und nahm sich dabei fest vor, den Kleinen am nächsten Tag in einem Tierheim unterzubringen.

Am folgenden Morgen schaute das Vögelchen sie dann aber mit dermaßen traurigen Knopfaugen an, dass sie weinen musste und dem Tier in einem Anfall sentimentaler Schwäche versprach, es könne noch eine weitere Nacht bleiben. Das ging genau so lange weiter, bis der bunte Vogel anfing, Ansprüche zu stellen und Zita allmählich zu verstehen begann, weshalb die früheren Besitzer den Knirps verraten hatten. Bald war sie der festen Überzeugung, der Vogel empfinde es als asozial, wenn sie, wie gewohnt, mit sich selbst sprach, statt ihn als gleichwertigen Gesprächspartner zu adressieren. Nachts konnte sie nicht mehr richtig schlafen, weil der gefiederte Genosse schnarchte. Im Halbschlaf plagten sie wirre Vogelgedanken.

»Was, wenn Bruno, Reto und Godi davon erfahren und eifersüchtig werden?«, fragte sie sich besorgt. Es war schon so eine Kunst, bei einem Treffen mit einem der drei Lebensabschnittspartner zu verbergen, dass sie noch zwei weitere Beziehungen führte.

Zita glaubte auch, der Vogel missgönne ihr die Kerne, welche sie zum Frühstück ins Müsli streute. Überhaupt war der Federzwerg gemein zu ihr. Er lachte nie, wenn sie einen Witz erzählte, kaum stieß sie aber irgendwo ihre kräftigen Zehen an, was täglich mindestens ein Dutzend Mal geschah, kicherte der fiese Vogel unverhohlen. Natürlich, sein Kichern war nur sehr schwer vom normalen Gezwitscher zu unterscheiden, das Tier war gewieft und wusste seine Bosheiten zu tarnen. Aber Zita war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hörte ganz genau, wenn das Pfeifen bissig wurde. Sprach sie den Vogel darauf an, wechselte er einfach in das übliche Vogel-Blabla und tat so, als wäre nichts gewesen. Und wenn Zita etwas nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn sich Mitmenschen (oder in diesem Fall Mit-Tiere) ihr gegenüber unangebracht verhielten und dann so taten, als wäre nichts gewesen. Das machte sie rasend. Beim Staubsaugen sang sie deshalb in letzter Zeit nicht mehr, sondern sie fluchte. »Du verdammtes Huren-Küken! Du undankbares, dreckiges Daune-Schwein! Flieg zur Hölle, du Scheiß-Mini-Poulet!«

Im Nachhinein taten ihr diese Ausbrüche fürchterlich leid. Zur Versöhnung sammelte sie für das Tier frisches Moos oder bereitete ihm irgendeine Beeren-Speise zu.

Zita Brunner fand schließlich – nach langen und gründlichen Überlegungen – sieben Gründe, das Federvieh freizulassen: Erstens war es durchaus möglich, dass es sich beim Vogel um einen Geheimagenten handelte, den man ihr hatte zukommen lassen, um an ihre vorzüglichen, streng geheimen Rezepte zu kommen. Eine Veröffentlichung derselben hätte ihr florierendes Café am Amselweg in Bern möglicherweise zu einem mittelmäßigen Bistro verhunzt. Zweitens hätte sich die depressive Stimmung des gefiederten Wirbeltieres langfristig eindeutig ungünstig auf die neue Bettwäsche ausgewirkt. Sie hatte den edlen Bezug erst kürzlich im Ausverkauf zum halben Preis erstanden und sich unheimlich darüber gefreut. Seit aber dieser elende Vogelkäfig in Schlafzimmernähe stand, wurde sie den Eindruck nicht los, der schwach glänzende Stoff habe an Geschmeidigkeit verloren. Drittens stand es ihr nicht zu, grundlos einen Gefangenen zu halten. Ihr wäre es wichtig gewesen, über die Umstände der Verwahrung des Tieres in Kenntnis zu sein. Wie konnte sie ohne dieses Wissen sicher sein, dass die Gefangenhaltung des Vogels überhaupt gerechtfertigt war? Und sie war im fachgerechten Umgang mit gefiederten Häftlingen ja auch nicht geschult. Es fiel ihr schwer, einen überzeugenden Grund zu finden, sich dahingehend weiterzubilden, auch wenn lebenslanges Lernen heutzutage überall großgeschrieben wird. Viertens befand sie sich seit der Ankunft des Vogels mit seinem Gezwitscher ununterbrochen in einem lästigen Wettkampf, den sie zu ihrem Unmut ausnahmslos verlor, obwohl sie ausgesprochen gut pfeifen konnte. Fünftens war ihr der administrative Aufwand, der eine Anpassung des aktuellen Mietvertrages bedeutet hätte, wenn sie den Vogel statt als Gefangener als WG-Partner behalten wollte, zu mühselig. Sechstens war ihr die Vorstellung, der Vogel könnte erwarten, dass sie künftig ihre Sonnenblumen- und Pinienkerne mit ihm teile, einfach unerträglich. Und siebtens erweckte das armselige Plustern des eingesperrten Vogels ein ungeheuerliches Mitleid in ihr und der mitunter traurige Vogelgesang berührte sie dermaßen, dass ihr über den Zeitraum von zwei Wochen im Café kein einziges Schokoladen-Soufflé mehr gelungen war.

Das ging natürlich gar nicht. Kurzum: Der Vogel musste fort!

Zuerst kam für sie eindeutig nur in Frage, den Vogel samt Käfig einfach wieder da hinzustellen, wo sie ihn gefunden hatte. Aber die innere Stimme schalt sie herzlos. Also spann sie den ursprünglichen Tierheim-Plan weiter. Heimlich wollte sie den Vogel an einer entsprechenden Adresse absetzen.

Die Idee gefiel ihr so sehr, dass sie sogar eine Nachricht verfasste:

Geschätzte Vieh-Liebhaber.

Nach einer sachlichen Bestandsaufnahme, in der mir bewusst wurde, wie wichtig es ist, bei einem Gespräch mit einem Vogel auf seine Füße zu achten (weil diese am ehrlichsten seine Gefühle zum Ausdruck bringen), habe ich eingesehen, wie ungeeignet ich als Vogel-Hirtin bin. Die Tatsache, dass mein gefiederter Kollege in letzter Zeit immer häufiger die Flügel schützend vor dem Rumpf verschränkt, bestätigt mich in dieser Annahme. Ich möchte Sie daher herzlich bitten, sich des bunten Vögelchens anzunehmen. Mögen Sie alle Vogel-Schutzheiligen bei Ihrer Suche nach einer geeigneten Anschlusslösung an Ihrer Seite haben und möge sich einer Ihrer Angestellten die Zeit nehmen, um die hässlichen grauen Gitterstäbe des Vogelkäfigs grün oder hellgelb (oder meinetwegen hellblau) zu streichen.

Freundliche Grüße, Z.B.

Auf den Brief war Zita ungemein stolz. Gerade als sie ihn aber mit einer schnuckeligen Schleife an den Käfig binden wollte, kamen ihr auch über diesen Plan Zweifel.

»Die kennen das Vögelchen nicht, sie werden keine geeignete Unterkunft finden«, sorgte sie sich.

Diese leise Ahnung krabbelte vom Kopf über die Wirbelsäule runter in den Magen und vergällte dort die ohnehin schon sauren Magensäfte. Übles Aufstoßen war die Folge. Beiläufig stellte sie in diesem Zusammenhang fest, dass sie den Vogel eigentlich auch kaum kannte. Tatsächlich kannte sie nicht einmal seinen Namen. Er hatte ihn ihr nie mitgeteilt, obwohl sie sich ihm mehr als einmal ausführlich vorgestellt hatte. Auch hatte sie einfach beschlossen, den Vogel als männlichen Zeitgenossen zu betrachten. Dabei hatte sie weder das Geschlecht des Tieres noch seine sexuelle Gesinnung je überprüft. Was wenn es sich bei dem Vogel um ein Weibchen handelte? Oder um ein Weibchen, das im Körper eines Männchens geboren worden war? Oder um ein schwules Männchen? Oder um ein Weibchen, das lieber ein schwules Männchen hätte sein wollen? Sie fand, dass es jedem Geschöpf freistehen sollte, über die eigene Lebensweise selbst zu entscheiden.

Es gab nur eine Möglichkeit, dem Vogel eine Chance auf Selbstbestimmung zu geben: Er musste raus! Raus in die freie Wildbahn.

Kaum war ihr diese Erkenntnis gekommen, verflogen die vorherigen Bedenken wie Seifenblasen. Nur über die Art und Weise der Freilassung war sie sich nicht sofort im Klaren. Sie wollte den Vogel nicht zwingen, in die Freiheit zu fliegen.

»Wenn er das Leben in Gefangenschaft vorzieht, sollte er im Käfig bleiben dürfen«, überlegte sie.

Kurzerhand lief sie zum Balkon und öffnete die Tür. Dann wandte sie sich dem bunten Vogel zu.

»Heute ist der erste Tag deines selbstbestimmten Lebens«, verkündete sie feierlich, »und mit dieser Handlung stelle ich dich vor deine erste Wahl.«

Zita öffnete den Käfig.

»Dein Habitat erwartet dich«, sagte sie und war außerordentlich stolz darüber, sich des gebildeten Begriffs Habitat bedient zu haben. Sie nahm sich vor, das am nächsten Tag Enzo unter die Nase zu reiben, dem etwas ungepflegten Philosophiestudenten, der für sie im Café arbeitete. Gerade wollte Zita noch einige sentimentale Abschiedsworte an den Vogel richten, als dieser nur ganz knapp an ihrer Nasenspitze vorbeischoss und durch die Balkontür in der Ferne verschwand. Der freche Kerl hatte nicht mal gezögert.

Zita war beleidigt. Sie knallte die Balkontür zu und ballte die Faust.

»Undankbarer Dreckskauz, du!«

Dann setzte sie sich an den Küchentisch, pickte gekränkt ein paar Pinienkerne und trank ein Glas Milch. Die stürmische Abreise des Tiers hatte sie nicht nur beleidigt, vielmehr gab ihr seine unüberlegte Vorgehensweise zu denken. Sie wollte sich ablenken, lief zu ihrer Yogamatte im Büro und machte den Kopfstand. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, sie fühlte ihre Halsschlagader pulsieren.

»Ist das Kerlchen noch gar nicht mündig«, fragte sie sich, in der relativ anstrengenden Pose verharrend, »ist es am Ende vielleicht sogar einfältig oder psychisch labil?«

Die Wahrscheinlichkeit war klein, natürlich, aber sie bestand. Jedenfalls brachten sie diese Gedankengänge ins Wanken. Mental und körperlich. Zu schnell ging sie aus dem Kopfstand in eine aufrechte Haltung über. Von Schwindel ergriffen, stieß sie mit dem Kopf heftig an den Türrahmen.

»Verdammter Vogel«, fauchte sie, »alles nur deinetwegen!«

Fluchend legte sie sich hin und brütete. Während ihr vor diesem Tag Gedanken an den eingesperrten Vogel den Schlaf geraubt hatten, verbrachte sie fortan schlaflose Nächte in Sorge um das freigelassene Tier. Eines Nachts steigerte sie sich dermaßen in Verzweiflung, dass sie sich mit ihren langen, gelb lackierten Fingernägeln blutig kratzte. Wie ein mechanisches Metronom bewegte sie ihre Augen in der Dunkelheit des nächtlichen Zimmers von links nach rechts und wieder zurück.

»Ich habe ihn im Stich gelassen! Er ist da draußen ganz allein, friert und hat Hunger«, dachte sie betrübt.

Nur knapp konnte sie das Weinen unterdrücken. In dieser Nacht traf Zita eine folgenschwere Entscheidung.

»Ich hole ihn zurück!«

Augenblicklich kamen ihre nervösen Augenbewegungen zum Stehen und sie verfiel in einen unverschämt sorglosen Schlaf.

2.

Werner rückte seine Hornbrille zurecht, so wie er das immer zu tun pflegte, bevor er ein Gebäude betrat. Als er vor ungefähr zwanzig Jahren seine Anwalts- und Notariatskanzlei an der Fabrikstraße eröffnet hatte, war ihm sofort durch das gekippte Fenster der köstliche Geruch von Zitas unkonventionellen Backwaren in die Nase gestiegen. Seither nahm er sowohl den Znüni- als auch den Zvieri-Kaffee im Café am Amselweg und unterhielt sich beim Genuss irgendeiner Leckerei mit der kleinen, üppigen Cafébesitzerin. Es faszinierte ihn, wie anziehend diese Frau auf die Männerwelt wirkte. Nebst der Zubereitung vorzüglichen Feingebäcks beherrschte sie auch das Schäkern meisterhaft. Dauernd machten ihr zahlreiche Verehrer die Aufwartung, was erstaunte, denn Zita Brunner war eine ungewöhnliche Frau. Die Gespräche mit ihr verliefen selten erwartungsgemäß und Werner hatte das Café schon einige Male verwirrt oder eingeschnappt verlassen. Aber der Besuch bei ihr erfrischte ihn trotzdem meistens und stellte zum anspruchsvollen Arbeitsalltag eine willkommene Abwechslung dar. Zita war das pure Gegenteil seiner Ehepartnerin Carolina und wenn er unter der Dusche ausnahmsweise mal an sich rumfingerte, kam es daher nicht selten vor, dass die dicke, kleine Zita in seinen erotischen Fantasien aufkreuzte, obwohl er seit über dreißig Jahren treu und ergeben verheiratet war. Besonders Zitas blaue Augen hatten es ihm angetan, obwohl er die Art und Weise, wie sie diese mit schwarzem Kajal umrandete, für eine Frau ihres Alters unangebracht fand. Auch Zitas graues, stets zerzaustes Haar erweckte in Werner ein Verlangen, dass er sich nur schlecht erklären konnte. Im Gegensatz zu Carolina hatte Zita etwas Draufgängerisches an sich und das gefiel ihm. Sich aber tatsächlich mit ihr einzulassen, wäre für Werner nie in Frage gekommen. Während er Zita gelegentlich anhimmelte und körperlich begehrte, liebte er seine Frau bedingungslos, auch wenn diese in letzter Zeit eine mittlere Krise zu durchlaufen schien. Werner vermutete die Gründe in Carolinas Unfruchtbarkeit. Obwohl sie inzwischen sowieso zu alt für Kinder war, schien sie dieses Thema immer wieder einzuholen. Erst vergangene Woche sprach Werner sie darauf an, aber sie stritt vehement ab, in irgendeiner Weise unmutig zu sein, also beließ er es dabei.

Werner setzte sich an einen kleinen Tisch in der Ecke des überschaubaren Cafés und rückte den Anzug, den Carolina ihm geschneidert hatte, zurecht. Etwas missmutig stellte er fest, dass ihn die Hose einengte.

»Ich muss diesem Speckbauch endlich an den Kragen«, dachte er, obwohl er insgeheim glaubte, diesen Vorsatz nicht in die Tat umsetzen zu können.

Ohne seine Bestellung abzuwarten, brachte Zita Werner eine große Tasse Milchkaffee und stellte einen Teller mit einer Madeleine vor seine Nase.

Zitas Madeleines waren im ganzen Quartier bekannt und die einzige Backware, die gar nichts Exotisches an sich hatte. Um wenigstens den Eindruck zu erwecken, es handle sich auch hier um etwas Besonderes, hatte Zita sie von Madeleines in Heinzlis umgetauft.

»Egal wie sie die nennt«, dachte Werner kauend, »sie sind einfach vorzüglich.«

Weil gerade alle Gäste zufrieden und niemand zu bedienen war, setzte sich Zita mit einem Glas warmer Milch an Werners Tisch. Nach einem ausgiebigen Schluck hatte sich über ihrer Oberlippe ein Milchschnauz gebildet. Werner bemühte sich, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken.

»Siehst schlecht aus, Werner! Bist du krank?«

Werner war sich derartige Frechheiten von Zita gewohnt, deshalb kaute er einfach ruhig weiter. Eigentlich hätte er Zita gerne dasselbe gefragt, sie wirkte nämlich seit Wochen abgekämpft, aber Werner war ein anständiger Mann und er wusste, dass sich solches Verhalten nicht gehörte.

»Alles bestens, danke der Nachfrage.«

»Und wie geht's Carolina?«

Werner seufzte. Er hatte einmal den Fehler gemacht, Zita von Carolinas unerfülltem Kinderwunsch zu erzählen, weil Zita ebenfalls keine Kinder hatte.

»Wenn das jemand versteht, dann sie«, begründete er damals sein Vorhaben und hoffte, Zita hätte ein paar Tipps auf Lager. Werner hatte nämlich den Eindruck, Zita beschäftige die Kinderlosigkeit überhaupt nicht. Trotzdem überraschte es ihn, als Zita auf Carolinas Bedauern total verständnislos reagierte.

»Wahrscheinlich würde sich an ihrer miesen Laune auch nichts ändern, wenn sie sieben Bälger zu versorgen hätte«, sagte sie damals geringschätzig.

Das war einer jener Tage gewesen, an denen Werner das Café mit dem Vorsatz verließ, es so schnell nicht wieder zu betreten. Aber schon am nächsten Tag hatte er sich vor der Eingangstür wieder die Hornbrille zurechtgerückt.

»Trauert sie wieder mal ihren ungeborenen Kindern nach?«, holte Zita ihren Stammgast aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurück.

Werner seufzte erneut. Er hatte sich auch Kinder gewünscht, aber die Liebe zu Carolina war für ihn immer das Wichtigste gewesen und er hätte sie niemals wegen der Aussichtlosigkeit auf Nachwuchs verlassen. Manchmal hatte er den Eindruck, Carolina fühle sich deshalb schuldig, als die vermeintlich perfekte Ehefrau, die es nicht zu Stande gebracht hatte, ihrem fürsorglichen und liebenden Ehemann wenigstens ein Kind zu schenken. Dabei hatte es Werner gar nie so betrachtet. Er hatte ihr auch nie dieses Gefühl vermitteln wollen. Würde er heute wieder vor die gleiche Wahl gestellt, also entweder Kinder zu bekommen oder ein Leben mit Carolina zu verbringen, seine Entscheidung fiele aus, wie vor über dreißig Jahren. Damals stellte Carolina ihn vor vollendete Tatsachen.

»Ich verstehe, wenn du unter diesen Umständen keine gemeinsame Zukunft siehst«, hatte sie mit bewundernswerter Selbstbeherrschung gesagt, aber Werner hatte sie mitten im Satz unterbrochen, umarmt und für eine gefühlte halbe Stunde geküsst. Carolinas Erleichterung war sofort spürbar gewesen, aber diese verdrängte die Enttäuschung nicht. Jahrelang lenkte sich Carolina mit ihrer Schneiderei von der Sehnsucht nach Kindern ab. Sie erarbeitete sich einen festen Kundenstamm und verdiente gutes Geld. Aber in letzter Zeit schloss sie das Geschäft oft frühzeitig oder ging gar nicht erst hin. Die Aufträge nahmen ab, die Zeit zum Nachdenken dafür zu. Und jetzt wollte sie auch noch eine Auszeit nehmen.

»Sie sollte sich einfach wieder mehr beschäftigen«, sagte Werner bevor er den letzten Bissen Heinzli aß.

»Na, dann schick sie doch einfach auf die Pflegestation für Kinderlose«, antwortete Zita.

»Pflegestation für Kinderlose?«

Zita erhob sich und schlurfte pfeifend zum Tresen, wo sie eine Schublade öffnete. Lächelnd kehrte sie an Werners Tisch zurück.

Sie hielt eine Karte zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt und forderte Werner mit einem Blick auf, diese zu nehmen. Als er sie aus Anstand ergreifen wollte, spürte er von Zita einen kurzen Widerstand, so als würde sie die Karte doch nicht so einfach hergeben wollen. Schließlich gab sie nach und tippte mit dem Finger auf die Karte, die sich mittlerweile in Werners Hand befand.

»Der Mann ist genial!«

»Ein Therapeut?«

»Ja«, sagte Zita augenzwinkernd und tätschelte Werner dabei den Unterarm, »ein Therapeut. Jedenfalls hat er mir abgewöhnt, mich als gesellschaftlichen Mangel wahrzunehmen, nur weil ich keine Kinder habe.«

Werner nickte zögerlich und steckte die Karte in seine Hosentasche. Er trank seinen Kaffee aus, bezahlte den Stammkundenspezialpreis und verließ das Café am Amselweg. Etwas an der Art und Weise, wie Zita eben mit den Augen gezwinkert hatte, als sie Werner die Visitenkarte übergab, gefiel ihm gar nicht. Er betrachtete die Karte etwas genauer. Sie war lediglich mit einer Telefonnummer und einem Namen beschriftet, Angaben zur genauen Tätigkeit dieses Therapeuten enthielt sie jedoch nicht.

»Wer heißt schon Carl Cosmo Eicher«, dachte Werner verächtlich, nachdem er den Namen dreimal gelesen hatte. Bevor er die Straße überquerte, um in seine Kanzlei zurückzukehren, warf er die Karte in einen Kehrichtkübel.

3.

Carolina Kirschbaum und Simea Frey saßen gemeinsam an einer großen Feuerschale im Garten vor Carolinas und Werners Haus.

In der einen Hand hielten die Frauen ein Bier, in der anderen eine gebratene Wurst. Beide waren schon etwas angetrunken.

»Werner wollte doch, dass ich etwas Sinnvolles mit meinen Kleidern mache«, sagte Carolina kichernd, während sie eine alte Bluse in das Feuer warf.

»Gib sie in die Kleidersammlung«, äffte sie ihren Mann nach, während sie sich am Kopf kratzte, »oder nähe Stofftiere aus dem Stoff. Es gäbe bestimmt viele Kinder, die sich darüber freuen würden!«

Früher hätte sie genau das getan. Es war das Richtige, es war edelmütig. Werner wusste das und sie wusste es auch. Aber ihr fehlte im Moment die Motivation, etwas Ehrenhaftes zu tun.

»Dabei gibt es doch nichts Sinnvolleres, als mit einer guten Freundin gemeinsam in der Sonne zu sitzen und eine Wurst zu bräteln.«

Die Frauen lachten vergnügt. Das Bier kühlte ihre überhitzten Köpfe. Auf dem kleinen Berner-Rosenapfel-Baum, der ihnen Schatten spendete, landete ein bunter Vogel, der sofort anfing, lauthals zu trillern. Simea ergriff einen dunkelgrauen Rollkragenpullover und schaute Carolina erwartungsvoll an.

Carolina nickte.

»Weg damit«, forderte sie ihre Freundin auf, »ich habe die Schnauze voll von diesen langweiligen Fetzen.«

Der Pullover landete in der Schale, fing sofort Feuer und der Rauch wurde dunkler. Carolina rechnete jederzeit damit, dass jemand an der Tür klingle oder sie von den Nachbaren angerufen werde, denn das Überwachungssystem in der Nachbarschaft war hocheffizient. Beinahe nichts blieb hier unbemerkt. Doch bis zu diesem Zeitpunkt waren die Beschwerden ausgeblieben. Carolina genoss den frühherbstlichen Nachmittag in vollen Zügen. Kurz zuvor hatte sie beschlossen, ihr Nähatelier für die nächsten vier bis sechs Wochen zu schließen, um endlich mal eine längst fällige Auszeit zu nehmen. Der Nachmittag im Garten mit Simea, Bier, Fleisch und den brennenden Kleidern markierte den Auftakt. Carolina wunderte sich ein wenig über sich selbst. Es passte nicht zu ihr, sich so zu benehmen. Gleichzeitig fühlte sie sich auf eine Weise gelöst wie schon lange nicht mehr. Früher war Carolina spontaner gewesen. Schon als Kind trieb sie ihre Neugier oft in unerwartete Abenteuer. Es fing mit dem Auskundschaften des dunklen Kellers an, der zwar angsteinflößend wirkte, aber eben doch irgendwie anziehend war. Mit einer Taschenlampe gegen die Dunkelheit und einem Holzschläger gegen lauernde Monster ausgerüstet, traute sie sich anfänglich nur zögerlich die kalte Betontreppe hinunter. Dann aber lernte sie sich im Keller zu bewegen wie eine Katze und die geheimen Nischen wurden zu wahren Schatzkammern. Kekse und Coca-Cola im Vorratsraum, Eiscreme in der Kühltruhe, alte Schuhe und Kleider, ja sogar das Osternestchen fand sie einmal, lange bevor der Osterhase hätte vorbeikommen sollen.

Vom Keller weitete sie ihre Erkundungen auf Wälder und Flussgebiete aus, später auch auf Städte, und schließlich auf fremde Länder. Immer fand sie etwas, woran sie wachsen konnte. Und sie glaubte lange, das Leben würde eine einzige Schatzkiste bleiben. Mit Erreichung des dreißigsten Lebensjahres ließ dieser Entdeckungsdrang dann aber allmählich nach. Bis zu diesem Zeitpunkt war nicht alles nach Carolinas Plänen verlaufen.

»Was bringen diese Anstrengungen überhaupt, wenn meine Wünsche doch unerfüllt bleiben«, fragte sie sich an ihren trübsten Tagen.

Werner dagegen begrüßte die mit dem steigenden Alter einkehrende Ruhe. Er hielt sie für einen Teil des Reifeprozesses im Erwachsenenalter.

»Schließlich geht es nicht darum, immer nur Neues zu entdecken«, hatte er sie mal getröstet, als sie ihm ihre Bedenken mitteilte, »sondern eben auch das Alte, aber immer wieder auf neue Weise.«

In den vergangenen Monaten begann Carolina plötzlich Teile ihrer kindlichen Neugier wieder zu spüren.

»Sicher nur eine Nebenerscheinung der Wechseljahre«, verharmloste sie dieses Erwachen zunächst.

Aber es wollte sich eben nicht verdrängen lassen und für Carolina wurde klar, dass sich in nächster Zeit einiges ändern musste.

»Nimmt Werner auch Ferien?«, fragte Simea kauend.

»Nö!«

Simea hielt im Essen inne und blickte zur Freundin.

»Es läuft nicht besonders, hab ich recht?«

»Es läuft so, wie es immer läuft«, gab Carolina zur Antwort.

Streng genommen stimmte diese Aussage nicht. Carolina und Werner waren seit über dreißig Jahren verheiratet. Die meiste Zeit davon war gut gewesen. Erst in den letzten Jahren hatte sich zwischen ihnen unbemerkbar eine gewisse Trägheit entwickelt. Besonders von Werners Seite her, fand Carolina.

»Und wie läuft es im Bett?«, fragte Simea nach einem ausgedehnten Schluck Bier.

»Da läuft gar nix!«

Carolina war sich nicht sicher, ob es angebracht war, mit der Freundin im Garten über solch intime Angelegenheiten zu plaudern. Im Grunde genommen wusste sie sogar, dass es sich überhaupt nicht gehörte. Werner und ihre Beziehung gingen eigentlich niemanden etwas an.

»Wir schlafen jetzt getrennt.«

»Getrennt?«

»Ja! Er schnarcht und ich will über Nacht das Fenster offenlassen, wegen den Hitzewallungen, aber ihm ist das zu kalt und er hasst den Luftzug.«

»Getrennt?«

»Hab ich doch gesagt. Ich schlafe jetzt viel besser.«

Nur selten vermisste Carolina ihren Mann nachts und wollte ihn wieder neben sich haben. In ihrem neuen Bett konnte sie sich ausbreiten, wie es ihr passte und nackt schlafen, was Werner sicher gestört hätte. Das Zimmer, welches sie sich eingerichtet hatte, war für sie zu einem wertvollen Rückzugsort geworden.

»Werner übrigens auch, soviel ich weiß«, fügte sie an, aber Simeas Verwunderung ließ trotzdem nicht nach.

»Magst du noch eine?«

Ohne Simeas Antwort abzuwarten, fing Carolina an, zwei weitere Würste an den Enden einzuschneiden. Dann steckte sie diese auf die Spieße und hielt einen davon ihrer Freundin hin. Simea nahm die Wurst gedankenversunken entgegen.

»Getrennt«, wiederholte sie für sich, weniger kritisch diesmal, aber immer noch etwas nachdenklich.

»Mach dir keine Sorgen. Für uns beide stimmt's, das ist die Hauptsache.«

Zumindest für sie stimmte es. Wie Werner darüber dachte, entzog sich größtenteils ihrer Kenntnis. In letzter Zeit hatte er im Geschäft viel zu tun. Abends kam er deshalb oft spät nach Hause und war meist nicht in der Stimmung für lange Gespräche. Carolina hatte darauf im Übrigen auch nicht wirklich Lust. Also schwiegen sie in gegenseitigem Einvernehmen.

»Und wie läuft's bei euch?«

»Allgemein oder im Bett?«

»Beides.«

»Allgemein läuft es super!«

»Aber?«

»Im Bett haben wir so unsere Mühe …«

Carolina prüfte ihre Wurst.

»Willst du nicht oder will er nicht?«

»Am Wollen liegt's bei beiden nicht«, erwiderte Simea.

Einige Zeit war es still. Die Frauen knabberten an den Würsten.

Carolina ergriff einen schwarz-grau-karierten Rock und warf ihn in die Feuerschale. Schwarzer Rauch stieg empor, es stank.

»Ist das für dich ein Problem?«, fragte Carolina schließlich.

»Es war eines«, antwortete Simea geheimnisvoll.

»Und jetzt?«

»Jetzt gehe ich zu Carl Cosmo Eicher!«

Carolina richtete sich in ihrem Stuhl auf. Simea hatte den Namen langsam und beinahe feierlich ausgesprochen.

»Wer ist das?«

»Frag ich mich auch immer wieder«, erwiderte Simea und lächelte verträumt.

In Carolina regte sich Ungeduld.

»Rück schon heraus: Hast du eine Affäre?«

»Nein! Das würde ich Toni nie antun, dafür liebe ich ihn viel zu sehr.«

»Wofür gehst du denn zu diesem von Eichen?«

»Eicher«, korrigierte Simea, während sie in ihrer Tasche kramte.

»Da«, sagte sie, nachdem sie offensichtlich fündig geworden war, und streckte Carolina eine Visitenkarte entgegen.

Die Karte war schlicht, aber edel gestaltet. Hochwertiges Papier, Standardgröße, Perlglanz. In der Mitte war der Name Carl Cosmo Eicher erhaben gedruckt, darunter stand kleiner, aber ebenfalls erhaben eine Telefonnummer. Ein goldener Rahmen veredelte die Karte. Carolina schaute fragend zur Freundin, woraufhin Simea verschmitzt lächelte und mit den Augenbrauen zu wackeln begann. Carolina fiel es wie Schuppen von den Augen.

»Eine männliche Hure!«, rief sie ungläubig.