Das Café der vergessenen Träume - Annabelle Benn - E-Book

Das Café der vergessenen Träume E-Book

Annabelle Benn

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Blumen, Kuchen, Bücher – wenn das nicht für die Liebe reicht! Helen könnte vor Freude durch ganz London hüpfen: Endlich habe sie und ihre Freundinnen Mina und Claire die perfekten Räume für ihre Geschäftsidee gefunden! Im Herzen Notting Hills verzaubert Mina mit ihren himmlischen Blumenarrangements, deren Duft sich mit dem von Claires köstlichem Kuchen vermischt. Zudem können die Gäste in handverlesenen Büchern schmökern, für deren Auswahl ausgerechnet Helen zuständig ist. Dumm nur, dass ihre heißgeliebten Thriller so gar nicht ins Bild passen. Liebesromane müssen es sein – natürlich! Aber ausgerechnet mit dem Kapitel Liebe hat die ehemalige Buchhalterin längst abgeschlossen. Das denkt sie zumindest, bis Mina und Claire ihr einen Liebesroman in die Hände drücken, der ihr Leben verändern wird. Nur so ist es nämlich zu erklären, dass sie sich in den einfühlsamen Schriftsteller Joseph verliebt. Er begegnet ihr mit dem Verständnis und Feingefühl, nach dem sie sich insgeheim immer gesehnt hat. Die beiden verleben traumhafte Wochen, bis Helen vor eine schwierige und folgenschwere Entscheidung gestellt wird: Joseph oder das Café. Ein Roman zum Wohlfühlen, Tagträumen, Seufzen, Hoffen und Bangen. Ein Roman über die Tatsache, dass man seinem Glück oft selbst im Weg steht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

~ Eins ~

~Zwei~

~Drei~

~Vier~

~Fünf~

~Sechs~

~Sieben~

~Acht~

~Neun~

~Zehn~

~Elf~

~Zwölf~

~Dreizehn~

~Vierzehn~

~Fünfzehn~

~Sechzehn~

~Siebzehn~

~Achtzehn~

~Neunzehn~

~Zwanzig~

~Einundzwanzig~

~Zweiundzwanzig~

~Dreiundzwanzig~

~Vierundzwanzig~

~Fünfundzwanzig~

~Sechsundzwanzig~

~ Fünf Jahre später~

Copyright: Annabelle Benn, 2017, Deutschland

Bildgestaltung und Bildrechte: Rebecca Wild

Korrektorat: Stefan Stern

Jegliche Vervielfältigung, auch auszugsweise, ist nur nach schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

Impressum:

R.O.M Autorenclub, R.O.M. logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin

[email protected]

The course of true love never did run smooth.

Die Pfade der Liebe sind gewunden

William Shakespeare,

Ein Mittsommernachtstraum

Helen Ames ist wahrlich kein leichtes Ziel für Amors Pfeil. Zu tief sitzen ihre Narben, als dass sie noch an die Liebe glauben könnte. Ein Glück, dass sie zwei so gute Freundinnen hat, mit denen sie endlich ihren lang gehegten Traum verwirklichen kann: Mitten in Notting Hill soll ihr Café „Offline and other Lovestories“ mit unwiderstehlichen Kuchen, zauberhaften Blumenarrangements und Helens Auswahl an Romanen die Herzen aller Frauen höher schlagen lassen.  Zu dumm, dass ihre heiß geliebten Thriller so gar nicht ins Konzept passen!

Widersträubend lässt sie sich auf ihren ersten Liebesroman ein – und erkennt sich selbst nicht wieder, so sehr zieht die Geschichte sie in ihren Bann. Als sie dann auch noch dem charmanten und offenherzigen Joseph begegnet, verändert sich ihr Leben grundlegend. Doch die Wirklichkeit gleicht selten einem Roman, und für die wahre Liebe bedarf es mehr als eine Hand voll vergessener Träume.

Groll, der

heimliche, eingewurzelte Feindschaft oder verborgener Hass, zurückgestauter Unwille, der durch innere oder äußere Widerstände daran gehindert ist, sich nach außen zu entladen, und Verbitterung hervorruft. (www.duden.de)

Richtigkeit der Ortsangaben

In dem bezaubernden Stadtteil Notting Hill gibt es viele traumhafte Orte, aber kein Offline and other Lovestories und auch keine Straße, die Butterfly Gardens heißt. Auch ist mir in ganz London kein sechseckiges Restaurant bekannt. Ebenfalls meiner Fantasie entspringt der Eisladen mit den Tierfiguren in Cardiff.

Ebenfalls vollkommen frei erfunden sind alle Charaktere sowie das sagenhafte Buch "Tränen auf Rosenblüten".

~ Eins ~

Der Tag, an dem Helen Ames in einem langärmeligen und dunkelblauen Kleid von der Portobello Road in die Westbourne Grove, beide im angesagten Londoner Stadtteil Notting Hill gelegen, einbog, war bei Weitem der wärmste und sonnigste in diesem verregneten April. Ein böiger frischer Wind blies um die schicken Hausecken und so war sie froh, dass sie zu dem ebenfalls dunkelblauen Mantel noch ein hellblaues Tuch angelegt hatte. Alle Kleidungsstücke, die Helen besaß, waren einfarbig, denn Helen hasste Farben und bunte Muster. Nur an sich; an anderen bewunderte sie diese nach wie vor, denn dass sie eintönig lebte, war nicht immer so gewesen. Bis zu dem schlechten Tag, der zwar schon mehr als drei Jahre her war, sich aber zeitweise wie gestern anfühlte, hatte sie gestrahlt und geleuchtet. Jetzt jedoch war es ihr lieber, wenn sie übersehen wurde.

Ihre Hände schwitzten und ihre Gedanken rasten, als sie an den liebevoll gestalteten Läden und Cafés entlangeilte, um schließlich links in die Straße mit dem zauberhaften Namen Butterfly Lane einzubiegen. Wie schön London doch sein konnte! Leicht hob sie den Blick und sah sich um. Wie schön und wie wohlhabend, oder sogar: unvorstellbar reich.

Vor den Häuschen parkten Porsches, BMW und Range Rovers; in den Vorgärten blühten die ersten Magnolien und ab und an kam ihr ein Kindermädchen mit einem Kinderwagen entgegen, der in etwa so viel wie eine Monatsmiete für ihr Kellerappartement, das immerhin in einer sehr schönen Gegend lag, kostete. Die meist zweistöckigen Häuser, die sich nahtlos aneinanderreihten, waren zwar ebenso unifarben, aber doch wesentlich farbenfroher als Helens Kleidung.

Auch hier lockte ein Laden neben dem nächsten zum Zeitvertreiben, Geld ausgeben und Träumen. Die Lage wäre ideal, um ihren eigenen Traum zu verwirklichen! Den Traum, den sie seit Jahren hegte; zunächst allein, doch bald schon zusammen mit ihren besten, und treusten, Freundinnen Mina Sharma und Claire Lewis. Wäre der schlechte Tag nicht schlecht geworden, sondern ein ganz normaler geblieben, wäre sie zwar um diese Uhrzeit wahrscheinlich nicht hier, aber falls doch, so würde sie zu den glücklichen Frauen gehören, die sich hier selbst gemachten Schmuck, von Londoner Designern entworfene Einzelstücke, aufwändig verziertes Geschirr, duftende und pflegende Seifen und dergleichen Dinge mehr anfassen, beschnuppern und schließlich erwerben würde. Aber da es nun einmal einen anfangs normalen Tag in Helens Leben gab, der schlagartig zu einem schlechten wurde, zu einem grauenhaft schrecklichen sogar, so hoffte sie nun, zumindest auf der anderen Seite der Ladentheke zu stehen; nämlich als Verkäuferin.

Auch in dem Laden, den sie sich ausmalten, würde es ganz betörend riechen. Denn Helen liebte Düfte. Den von Blumen, von heißem pechschwarzem Kaffee, von frisch gebackenem Kuchen und ja – ganz besonders den von Büchern. Und all das würde ihr Laden vereinen. Sie mussten nur noch die geeigneten Räume dafür finden.

Seit beinahe drei Jahren arbeitete sie Tag und Nacht für diesen Traum und sparte jeden Penny. Sie tat alles für den Traum; so viel, dass der Traum mit der Zeit so groß und mächtig wurde, dass sie Angst bekam, er könne beim Wahrwerden kaputtgehen. So, wie all die anderen Träume in ihrem Leben. Da Helen nur zu gut wusste, dass das Zerplatzen von Träumen einem selbst zwar ohnehin schon genug wehtat, aber überdies auch noch den Hohn und die Schadenfreude anderer nach sich zog, hatte sie nur Mina, Claire, deren Verlobten Sebastian und dem Immobilienmakler davon erzählt. Dass Mina und Claire ihren Eltern davon erzählt hatten, ging sie nichts an. Sie selbst sprach mit ihrer Familie seit Jahren nur das Nötigste, und der Traum von dem Blumen-Buch-Café gehörte bestimmt nicht dazu. Der Traum war ein Gefühl. Ein Gefühl von Freiheit, von Sinn, von Dazugehören, von Haftung. Er war das Einzige, warum und wofür sie überhaupt noch weiterlebte. Ohne ihren Traum wäre sie schon längst bei Georgie, ihrem Sohn, der niemals das Licht der Welt erblickt hatte.

Doch heute wollte Helen weder an ihn noch an die schwarzen Jahre denken. Heute wollte sie nach vorne schauen, und so ging sie mit ungewöhnlich federnden Schritten an mehreren strahlend gelb blühenden Goldfliedern vorbei, die leider nach nichts rochen, so tief sie auch einatmete und schnupperte. Das leuchtende Gelb symbolisierte für sie Freude und Aufbruch; etwas, von dem sie selbst träumte. Wie sehr sie hoffte, endlich aus ihrem alten Leben auszubrechen und neu anzufangen. Ganz neu. Ganz von vorne. Ob sie jemals wieder eine Partnerschaft wollte, bezweifelte sie sehr stark, doch das war nun gänzlich unwichtig. Vielleicht würde der Laden auch helfen, ihre inneren, unsichtbaren Wunden zu heilen. Von außen sah man keine Narben, aber dafür die Härte, die Verbitterung und Schwermut, die sich seit dem schlechten Tag immer tiefer in ihr fein geschnittenes Gesicht gegraben hatten. Dabei hatte sie früher gut ausgesehen. Nicht wirklich schön, aber hübsch und anziehend, teilweise sogar richtig begehrenswert. Doch so betrachtete sie sich schon lange nicht mehr.

Auf ihrem Weg ging sie an einer hohen Mauer vorbei, auf der lilafarbene, weiße und leuchtend gelbe Hyazinthen blühten. Wie herrlich die Blumen rochen! Tief atmete sie ein und sog die Lungen voll mit dem herrlichen Duft. Sie schloss die Augen und redete sich selbst immer wieder Alles wird gut zu. Alles wird gut.

Als sie die Augen wieder öffnete, erkannte sie die vertraute Dreier-Gruppe, die vor einer hellgelb getünchten Fassade mit einer großen Fensterfront stand. Schon winkten Mina und Claire, die zusammen mit einem großen schlaksigen Mann, Mr Simmonds von der Grosvenor’s Estate Agency, auf sie warteten. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie getrödelt hatte, denn es war ihr peinlich, die Letzte zu sein, auch wenn sie genau eine Minute vor dem verabredeten Zeitpunkt eintraf. Mr Simmonds war immer überpünktlich, das hatte sie in all den Wochen, in denen sie sich regelmäßig, und ebenso regelmäßig erfolglos, mit ihm trafen, herausgefunden. Dabei legte der Mann mit dem schütteren Haar eine Engelsgeduld an den Tag und zeigte ihnen ein Geschäft nach dem anderen. Doch an jedem Einzelnen hatte bislang immer mindestens eine von ihnen etwas auszusetzen gehabt. Mal war es der Preis, mal die Lage; mal war es zu dunkel, mal zu hell – es gab immer einen Grund, warum sie bis heute keinen Mietvertrag unterschrieben hatten. Was ihnen anfangs wie ein Kinderspiel vorkam, hatte sich im Lauf der Zeit als Herkulesaufgabe entpuppt. Die drei sehnten sich nach nicht weniger als einem paradiesischen Raum, einem betörend duftenden, farbenprächtigen Blumenmeer, in dem die fesselndsten und gefühlvollsten Bücher wie geheime Juwelen funkelten und darauf warteten, von kundigen Leserinnen entdeckt zu werden. Um den Damen den Aufenthalt weiter zu versüßen, würde Claire ihr sowohl für das Auge als auch für den Gaumen unwiderstehliches Gebäck zusammen mit erlesenen Kaffeespezialitäten anbieten.

Da riefen Mina, eine bildhübsche und gertenschlanke Inderin mit weichen, fließenden Bewegungen und Augen wie schwarze Glut, und Claire wie aus einem Munde „Guten Morgen!“ Claire war, rein äußerlich, das komplette Gegenteil von Helen, deren lange Haare dunkelbraun glänzten. Sie war zwar in etwa gleich groß, allerdings etwas fülliger. Ihre Haut war cremeweiß, ihre Augen sommerhimmelblau und ihre glänzenden Locken honigblond. „Einen wunderschönen guten Morgen!“, rief Helen gut gelaunt und voller Zuversicht in die Runde und reichte dem Makler die Hand.

Mina und Claire grinsten breit, ja, sie strahlten vor Lebensfreude und traten nervös von einem Fuß auf den anderen. Als Helen durch die noch verschlossene Tür in das dunkle Innere spähte, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Eines, wie wenn man bei einer Dampferfahrt über den Atlantik nach Wochen zum ersten Mal Land erblickt. Nicht, dass sie das jemals getan hätte, aber so in etwa musste es sich anfühlen. Mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen wandte sie den Kopf zu ihren Freundinnen, die eifrig nickten. Helens Herz schlug so laut, dass Mr Simmonds es bestimmt hören konnte.

Aufgeregt folgten erst Mina, dann Claire und schließlich sie dem Makler durch die Tür mit naturbraunem Rahmen, in deren oberen Hälfte eine Fensterscheibe eingesetzt war. Während sie noch auf dem Gehsteig stand, hörte sie schon Minas und dann Claires unterdrücktes Kreischen. Der große, hohe Raum mit Stuck an der Decke war: Es! Das, wonach sie immer gesucht hatten. Das, wo ihre Träume wahr werden würden! Er war breit, durch die breite Glasfront hell, hatte einen dunkelbraunen Holzboden und vor allem: Er lag mitten in Notting Hill!

„Okay, okay, immer mit der Ruhe, Mädels“, raunte Claire und drückte mehrmals die flache Hand Richtung Boden, um ihre Worte zu bekräftigten. Nicht umsonst war sie die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der ihr so einiges, aber längst nicht alles, beigebracht hatte.

„Es – Mr Simmonds, auf den ersten Blick sieht es fantastisch aus. Keine Frage. Aber zeigen Sie uns doch bitte erst mal alles in Ruhe und dann sprechen wir gegebenenfalls über den Preis und die Konditionen.“

Kaum hatte sie „in Ruhe“ fertig ausgesprochen, quiekte Mina wie ihr Meerschweinchen, das vor Kurzem das Zeitliche gesegnet hatte. Sofort warf Claire ihr einen finster funkelnden Blick zu, woraufhin sich Mina die perfekt manikürte Hand vor den Mund schlug. Mehr als einmal hatte Claire eindringlich erklärt, dass man, um einen möglichst guten Preis zu erzielen, zunächst Desinteresse zeigen sollte. Dafür sollte es zwar schon zu spät sein, aber man sollte nie die Flinte zu schnell ins Korn werfen!

„Ja, die Räume sind sehr hoch. Viel höher, als man von außen vermutet. Das ist einerseits schön, andererseits ist es aber bestimmt sehr teuer zu beheizen, nicht wahr? Wie hoch waren denn die Heizkosten des letzten Mieters?“, erkundigte Claire sich fachkundig und stellte sich mit ernstem Gesichtsausdruck neben Mr Simmonds, der daraufhin in seinen Unterlagen nach der Antwort suchte.

Währenddessen warfen Helen und Mina sich verstohlene Blicke zu. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie sofort unterschrieben, allein aus Angst, dass ihnen jemand, der nicht so viel auf geheucheltes Desinteresse hielt, dieses Prachtstück in letzter Minute vor der Nase wegschnappen könnte. Und das würden sie Claire niemals verzeihen!

Schweigend und mit sehnsuchtsvoll glänzenden Augen schauten sie sich um. Der Fußboden war Liebe auf den ersten Schritt. Nicht nur, dass er aus mattem, dunklem Holz bestand. Nein, er knarzte auch noch leicht, was Helen in, nur Claire zuliebe, stummes Entzücken versetzte. Mit einem verträumten Lächeln verlagerte sie immer wieder langsam ihr Gewicht, machte ein paar Schritte hierhin und dorthin, nur um das Geräusch zu hören, und wartete darauf, dass Claire genug mit dem geduldigen Makler verhandelt hätte.

„Die Toilette hat der letzte Kunde vor etwas mehr als einem Jahr erst neu installiert. Sie ist so gut wie neu. Hier, sehen Sie selbst“, erläuterte er nun, führte sie in besagten Raum und erntete zustimmendes Nicken. „Sehr schön. Schlichtes weiß und doch ansprechend“, kommentierte Claire und folgte ihm in die kleine Küche. „Die ist für mein Vorhaben viel zu klein. Die werden wir erneuern müssen“, urteilte sie umgehend in kaltem Geschäftston. Als der Makler und Claire daraufhin in ein ausuferndes Gespräch über Anschlüsse, Dunstabzug und dergleichen mehr versanken, schlichen Mina und Helen zurück in den breiten, lichtdurchfluteten Verkaufsraum.

„Ich sehe es schon vor mir!“, wisperte Mina aufgeregt und zupfte Helen am Ärmel. „Da rechts kommt Claires Cafétheke hin. In die Mitte stellen wir einen Brunnen, oder ein Zimmerbäumchen, oder irgendetwas, das die Blumen in den Mittelpunkt rückt, schließlich kommt man von der Eingangstür genau darauf zu.“ Mit leuchtenden Augen zeigte sie den Weg. „Und dort links, an den Wänden und überall dazwischen verteilt, sind dann deine Liebesromane.“ Verzaubert seufzte sie, faltete die Hände und ließ ihren Blick schweifen.

Helen hätte sich gerne genau so verhalten wie Mina, doch etwas störte ihr Glücksgefühl empfindlich. „Moment mal. Liebesromane? Wieso denn Liebesromane?“

„Was? Wie?“, entgegnete Mina ebenso entgeistert, schüttelte den Kopf und sah sie an, als spräche sie Suaheli mit chinesischem Akzent. „Aber was denn sonst?“

„Nun – Also. Ich meine, ich kann doch nur empfehlen, was ich selbst gelesen habe!“, rief Helen, streckte das Kinn vor und machte ein Gesicht, als hätte sie ein Gespenst mit einem Plakat "Finde den Fehler" gesehen.

„Aber. Helen“, stieß Mina ungläubig hervor. „Das ist doch nicht dein Ernst!“ Einige Augenblicke schauten die zwei sich schweigend und fassungslos an. Dann begann Minas indisches Temperament in ihren Adern zu brodeln. Sie ruderte mit den Armen und begann wie ein Rohrspatz am Wasserfall zu zetern: „Mach doch nur die Augen auf und sieh dich um. Ich meine“, verbesserte sie sich hastig, „stell dir das alles mal vor. Rein bildlich. Rosen. Tulpen. Veilchen. Fein verzierte Cupcakes. Duftendes Bananenbrot. Kaffee mit echter Vanille. Zimt. Ein kleiner Springbrunnen! Überall rosa, hellblau, lindgrün, eierschalengelb. Ein Frauentraum! Und dazwischen blutrünstige Thriller? Helen, das ist doch nicht dein Ernst! Davon hast du doch nicht all die Jahre geträumt!“ Aufgebracht schüttelte sie sich, während Helen wie versteinert vor ihr stand. Doch als Inderin war sie noch lange nicht am Ende. „Im Ernst. Helen. Keine Frau träumt von Leichen! Zumindest keine normale. Keine, die hier reinkommt! Bücher mit einer blutüberströmten Axt vorne drauf? Oder hoch anspruchsvolle, kaltblaue Titelbilder, durch die ein einsamer weißer Strich von links unten nach rechts oben geht? Nichts weiter als ein einziger Strich? Weil sich das Paar am Ende doch mal wieder nicht kriegt? Und dazwischen nichts zu sagen hat? Ich bitte dich. Helen! Das ist jetzt nicht dein Ernst. Sag, dass das nicht dein Ernst ist!“, flehte sie nun theatralisch mit den Händen fuchtelnd, verzog ihr hübsches Gesicht zu einer grässlichen Grimasse, ging leicht in die Knie und gab schlimmste Klagelaute von sich.

Helen wusste nicht, ob sie selbst ähnlich Laute von sich geben oder lachen sollte. Das Entsetzliche an der ganzen Litanei war ja, dass Mina recht hatte. Aber genauso sehr hatte sie recht, denn sie konnte niemandem einen Liebesroman empfehlen, weil sie schlichtweg keinen einzigen kannte. Und sie wollte sie nicht kennen, weil sie nichts von Verliebtsein wissen wollte und nie mehr daran glauben würde. Liebe war Leid. Liebe war Lug und Betrug. Und Liebe war ein längst verwester Traum, den sie nicht mehr träumen konnte, weil das Paar am Ende in echt eben nicht glücklich wurde!

„So, dann wäre das also geklärt“, vernahm sie da Mr Simmonds’ Stimme und seine Schritte auf dem knarzenden Parkett. Schnell riss Helen sich aus ihrer Starre und Mina richtete sich auf. Gespannt schauten sie von Claire zu Mr Simmonds und zurück zu Claire, doch aus keinem Gesichtsausdruck wurden sie schlau. Bescheuertes Desinteresse!

Oder hatte Claire etwa mit ihrer Coolness den netten Makler vergrault? Hatte sie wieder zu hart verhandelt? Waren sie am Geld gescheitert, oder gab es noch etwas zu retten?

Helens Puls begann zu rasen. Das hier musste klappen! Sie wollte diesen Laden, sie wollte diesen Traum, mit allem, was dazugehörte, und seien es erlogene und erstunkene Schnulzen! Sie wollte raus aus dem unerträglichen Büro mit seinen endlosen Zahlenkolonnen, weg von den hinterhältigen Kollegen und dem niederträchtigen, sadistischen Chef, raus und weg! Ausbrechen und neu anfangen. Sie wollte endlich ihre Tage mit ihren Freundinnen verbringen, Blumenduft atmen, heißen und pechschwarzen Kaffee trinken und ihre Finger dabei über Buchrücken streichen lassen. Das war es, was sie wollte, weit mehr als alles andere. Es war sogar das Einzige, was sie überhaupt noch wollte. Für den Traum würde sie ihren letzten Penny geben und sogar, möglicherweise … vielleicht … Lügen mit Happy End verkaufen. Ein kleines Opfer musste man ja wohl bereit sein, zu bringen.

Sie musste verhindern, dass Claire mit ihrer Taktik alles zunichtemachte!

„Wie viel?“, platzte es da schon aus ihr heraus und machte damit ihrerseits alles, was Claires Taktik mühevoll aufgebaut hatte, zunichte.

„Wenn wir sofort unterschreiben?“, fügte Mina zu allem Überfluss noch blitzschnell hinzu, was Claire endgültig in tiefste Verzweiflung und beinahe in eine ähnliche Pose wie zuvor Mina stürzte.

Der Preis, den der Makler nannte, löste bis auf die Straße hörbares Schlucken und Nach-Luft-schnappen aus, sowie die krächzend hinzugefügte Bitte um Bedenkzeit. Und die Blicke, die Claire den, wenn man sie in diesem Moment überhaupt noch als solche bezeichnen konnte, Freundinnen zuwarf, waren wie frisch gewetzte Säbel.

Dann jedoch entsann Claire sich, richtete sich auf, straffte die Schultern, zückte ihr Smartphone, drückte „Filmen“ und schritt mit wichtigen, großen Schritten erneut durch die Räume. Sie filmte sichtbare und weniger sichtbare Mängel, und auch solche, die es gar nicht gab, kommentierte, kritisierte und erläuterte und schickte die Aufnahme schließlich an ihren Vater, der schon anrief, bevor er das Video überhaupt zu Ende gesehen haben konnte. Claire presste das Handy ans Ohr, hob den Zeigefinger und ging, konzentriert mit dem Kopf nickend, nach draußen.

Nach einer unendlich erscheinenden Weile, in der sich die drei Zurückgebliebenen ausgiebig mit ihren Fingernägeln beziehungsweise Handys beschäftigten, ohne sich um Small Talk zu bemühen, kehrte Claire zurück. Keinen Widerspruch duldend, aber dennoch freundlich lächelnd, schaute sie Mr Simmonds an und sagte: „Sieben Komma drei Prozent weniger, und wir unterschreiben noch heute Nachmittag.“

Mr Simmonds Mundwinkel zuckten, bevor sie sich hoben und er Claire seine Hand entgegenstreckte. „Sieben. Abgemacht. Dann bis heute, siebzehn Uhr dreißig in meinem Büro.“

Damit schloss er die Tür ab, verabschiedete sich von den dreien, von denen zwei wie belämmert grinsten, und war vermutlich noch nicht außer Hörweite, als sie in ohrenbetäubenden Jubel ausbrachen.

~Zwei~

Die Unterschrift war jedoch erst der Anfang: Vom Glück, aber auch von einem weitaus steinigeren Weg, als Helen gedacht hatte.

In ihrem grenzenlosen Optimismus, und wohl auch in dem Wissen, weich zu fallen, hatte Claire bereits vor Weihnachten von sich aus ihre Arbeitsstelle gekündigt, während ein paar Wochen später Minas Vorgesetzte diesen Schritt für sie übernahmen. Nun musste nur noch Helen sich jeden Morgen in die Räume des Grauens, wie sie die Steuerkanzlei heimlich nannte, quälen. An den meisten Abenden sowie am Sonntag verkaufte sie in einem Multiplex-Cinema zudem Karten, um Geld für die Einrichtung des Ladens in der romantischen Butterfly Gardens Straße zu sparen.

Glücklicherweise belief sich zumindest ihre Kündigungsfrist aufgrund eines Fehlers im Vertrag auf lediglich zwei Wochen zum Monatsende, was im Klartext bedeutete, dass sie dank des nicht genommenen Urlaubs keinen Tag mehr in dem verhassten, ständig unterkühlten Glaskasten am Themse-Ufer verbringen musste! Als ihr dies das erste Mal bewusst wurde, seufzte sie, faltete die Hände und atmete tief ein. Da ihr dies jedoch zu wenig war, sprang sie anschließend mit einem Freudenschrei in die Luft, wobei sie dummerweise an die Kante eines Tisches stieß, was ihr eine zerbrochene Tasse sowie einen gewaltigen blauen Fleck einbrachte, ihre Freude aber trotz allem nicht trüben konnte. Doch was war das schon im Vergleich zu dem großen Glück, das sich nun verheißungsvoll vor ihnen erstreckte!

Oh! Und der Triumph, der ihr Gesicht wie tausend Feuer leuchten und ihre Schritte federn ließ! Der Triumph, mit dem sie am nächsten Tag, pünktlich zu Dienstbeginn, ihrem zunächst ungläubig, dann erschrocken und schließlich entsetzt dreinblickenden Chef ihre Kündigung überreichte und versicherte, dass dies ihr voller Ernst war. Endlich! Endlich hatte sie es ihm gezeigt! Endlich hatte sie sich zumindest ein klein bisschen gerächt. Und wie sehr sie es genoss, die wenigen persönlichen Sachen in einen blauen Leinenbeutel zu stecken und sich anschließend kurz und erhobenen Hauptes von den Kollegen, die nie Freunde geworden waren, verabschiedete.

Dann schwang sie den Beutel über die Schulter und lief zum ersten und letzten Mal die Treppen hinab und hinaus. Nie wieder! Nie wieder Sklave sein! Das war ihr Leben! Jawohl!

Eins, auf das sie anscheinend aufpassen musste, denn schon bei den ersten Schritten wäre sie mit einem Fahrradkurier zusammengestoßen, der ihr gerade noch im letzten Sekundenbruchteil ausweichen konnte. Mit vor Schreck pochendem Herzen ging sie die wenigen Schritte zum Themse-Ufer. Große und kleine Schiffe schipperten über den alten Fluss, ein paar Möwen segelten scheinbar schwerelos durch die Luft, in einem Pub unter ihr, direkt am Wasser, saßen plaudernd oder mit ihren Handys beschäftigt Einheimische und Touristen. Herrlich. Traumhaft, und doch wahr. Sie war frei! So frei wie der Papagei, der auf einem Werbeplakat abgebildet war. Kurz vor dem Abheben. Er breitete gerade seine farbenprächtigen blauen und gelben Flügel aus und war kurz davor, den Kontakt mit der Erde zu verlassen. Gleich würde er sich hochschwingen und fliegen. Freiheit, das war die Freiheit, von der sie träumte! Doch, Moment – was war das? Eine Werbung für ein Buch! Auf den Schwingen der Einsamkeit. Das passte ja gar nicht. Aber egal, es war ein schönes Bild, und es passte so hervorragend zu ihrem Gefühl, dass sie spontan ein Foto davon knipste.

Beschwingt von so viel lange begrabener Lebensfreude machte sie sich in einem der roten Doppeldeckerbusse auf den Weg zu dem künftigen Ort ihres Wirkens, dem Ort ihrer Selbstverwirklichung; und wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann mit Liebesgeschichten.

„Herein, herein!“, rief Mina freudig, als sie eine gute halbe Stunde später überwältigt und zitternd vor Glück durch die halb offene Tür in ihren Laden spazierte. Mina und Claire saßen auf kornblumenblauen und klatschmohnroten Kissen und einer dottergelben Decke und standen in ihren kräftig grünen Kleidern auf, um sie strahlend an sich zudrücken. „Ach, was ist das schön“, seufzten sie ein ums andere Mal, wobei sie sich drückten, umschauten und jede ihrer eigenen Vorstellung von dem fertig eingerichteten Blumen-Buch-Café nachhing.

Dabei war der Raum noch kahl. Lediglich eine große runde Vase mit verschiedenfarbigen Tulpen, drei bunt zusammengewürfelte Tassen, Kuchenteller und Gläser, eine alte Kaffeemaschine, eine Platte mit Muffins sowie Milch und Wasserflaschen standen außer der Decke und den Kissen noch herum. Die drei setzten sich wie zu einem Picknick, Claire bot Muffins an und schenkte Kaffee ein (schwarz und siedend heiß, so wie Helen ihn mochte) und dann machten sie sich an die Arbeit. Mina balancierte ihren pastellrosaroten Laptop auf ihrem pastellgrünen Kleid, während Claire mit gespitztem Bleistift und dem neuesten Notizbuch von Paperchase dasaß. Helen fiel auf, dass darauf ganz ähnliche Papageien wie auf dem Werbeplakat waren. Mit dem Kinn zeigte sie auf das Büchlein und sagte: „Bei den Vögeln muss ich immer an Freiheit und Neubeginn denken. Das passt ja prima!“

Nachdenklich schaute Mina von ihrem Bildschirm auf, nickte und sagte ernst. „Ja, das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen.“

Genau das hatte Helen hören wollen, was sie aber nicht laut sagte, und so nickte sie einfach stumm.

„Also, wir überlegen gerade, wie wir alles einrichten könnten und welche Arbeiten noch zu tun sind.“

Mit einem schmerzvoll verzogenen Gesicht drehte Claire ihre fein säuberlich verfassten Notizen zu Helen und stöhnte: „Das hier ist die Liste mit den Renovierungsarbeiten.“

„Oh …“, entwich es ihr und ihre Gesichtszüge entglitten. „So lange ist die?“ Sie schluckte trocken und schaute bestürzt ihre Freundinnen an.

„Ja, leider. Es ist doch mehr zu tun, als wir dachten“, gestand Claire kleinlaut, weil sie sich ja ein wenig als Fachfrau aufgespielt hatte, und begutachtete eingehend ihre zartrosa lackierten Fingernägel, die sie drehte und wendete.

„Ach …“, machte Helen nur und war froh, dass sie schon saß. Von wie viel Geld sprachen sie denn? Und wie lange würden die Arbeiten dauern? Das alles konnte ja ausufern, das wusste man doch! Vielleicht war das ein Fass ohne Boden und sie würden sich bis an ihr Lebensende verschulden. Rohrbruch, defekte Heizung, undichte Fenster … Das alles wusste man doch! Wo war in der blinden Euphorie nur ihr sonst so zuverlässiger Verstand geblieben? Die bis eben noch so fröhliche Stimmung drohte zu kippen, als Mina gerade noch rechtzeitig betont gelassen rief: „Aber nichts, was unmöglich ist! Nichts, was unbezahlbar teuer ist!“

„Echt?“, fragte Helen und schöpfte neue Hoffnung, was aber weniger an ihrem in den letzten drei Jahren argwöhnisch gewordenen Naturell, als vielmehr an dem Unwillen, den Traum aufzugeben, lag.

„Ja. Sicher. Wir können ganz viel selbst machen“, stimmte Claire nickend zu.

„Ich hasse Heimwerkern. Und ich habe zwei linke Daumen“, seufzte Helen und sah sich in Gedanken schon Tapeten abkratzen und Böden abschleifen. Wobei – das nicht! Die Böden mussten so bleiben, wie sie waren. Sie waren doch das Allerschönste an dem noch nackten Raum. Die Böden und die breiten Fenster. „Sind die Fenster wenigstens dicht?“, fragte sie sorgenvoll.

„Ja, das sind sie. Ein Glück!“, gab Claire zu.

„Und mach dir keine Sorgen. Sebastian hilft uns ebenso wie meine Brüder. Und vielleicht auch Jim, wenn er Zeit hat“, beruhigte Mina.

Sebastian war Claires Langzeit-Verlobter, der in der Tat mal gerne seine Designer-Anzüge gegen lässige Arbeitskleidung eintauschte. Aber Jim … Helens Magen zog sich zusammen.

„Oh … Jim … Im Ernst?“, fragte sie voller Unbehagen und schaute auf den schönen Boden. „Das ist aber nett von ihm“, fügte sie hastig hinzu, um dessen Cousine Claire nicht zu kränken.

„Das ist es in der Tat!“ Claires Stimme klang plötzlich scharf und ihr kalter Blick durchbohrte Helen. „Der Mann ist wirklich Gold wert. Total. Warum gibst du ihm nicht endlich eine Chance?“

„Und dir“, fügte Mina zaghaft hinzu.

„Jim – ach, lasst mich doch endlich mal mit ihm und dem ewigen leidigen Thema zufrieden!“, fauchte Helen böser, als sie sich selbst bewusst war. „Ich brauche keinen Mann. Nie mehr! Wann kapiert ihr das endlich mal?“

„Nie“, gab Claire entschieden zurück. „Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe. Auch du. Du bist nur feige!“

„Bin ich nicht. Ich habe nur meine Lektion gelernt!“, keifte Helen. „Nur Dumme lernen nicht aus Fehlern!“

„Eben! Stuart war ein Fehler! Das heißt nicht, dass alle Männer einer sind!“

„Doch. In meinem Leben schon! Alle Männer waren einer! Alle!“, schrie sie, stand auf und stampfte mit dem Fuß auf das Parkett.

„Hört auf. Bitte“, stöhnte Mina und versuchte, den Frieden und die Harmonie wiederherzustellen. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter und wrang dabei die Hände. „Wir wollen doch nur dein Bestes, Helen, das weißt du doch. Wir akzeptieren auch, dass du deine eigenen Entscheidungen fällst. Aber wir sehen eben auch, dass du insgeheim leidest! Niemand mit einem gesunden Herzen würde so einen Traummann wie Jim verschmähen“, versuchte sie einen schwachen Scherz. „… Hach! Wenn er sich nur für mich interessieren würde! Wir wären schneller verheiratet, als ihr bis Drei zählen könnt“, rief sie schmachtend, legte die Hände über der Brust zusammen und schaute verträumt zur Decke.

Jemand mit einem gesunden Herzen. Das tat weh. Weh, weil es die Wahrheit war: Ihr Herz war krank. Und weh auch deshalb, weil ihre Freundinnen das sahen. Sie schwieg eine Weile, bevor sie ruhiger sagte: „Ich weiß! Danke, Mina. Ich verstehe übrigens auch nicht, warum er nicht auf dich steht, Mina. Echt nicht! Jeder andere Mann könnte sich die Finger nach dir ablecken.“

„Vielleicht ist er Rassist“, konterte Mina umgehend und schaute grimmig drein.

„Das ist er nicht!“, verteidigte Claire sofort ihren Cousin. „Er steht nur einfach nicht auf dich.“

„Das weiß ich doch“, beschwichtigte Mina sie nun. „Im Ernst, das weiß ich. Ich bin ihm zu mädchenhaft. Egal.“

„Und wenn er kommt, kommt er, um uns zu helfen. Dass er auf dich steht, wird er nicht abschalten können, aber er hat dich auch noch nie blöd angemacht, oder?“, fragte sie nun herausfordernd an Helen gewandt.

„Nein, noch nie. Es ist mir nur unangenehm, weil ich weiß, dass er was von mir will.“

„Was du ihm ja nicht geben musst. Also“, beendete Claire das Thema und stand ebenfalls auf. „Von mir kommen ja übrigens auch noch ein paar Cousins“, fügte Mina hinzu und Helen staunte wieder einmal über die große und weit verzweigte Verwandtschaft der Sharmas.

„Also, weiter im Geschäft. Das hier ist die Liste mit den nötigen Arbeiten. Sobald wir alle Posten zusammen haben, erstellst du, Helen, einen Businessplan, mit dem wir zur Bank gehen, um einen Kredit zu beantragen“, fasste Claire zusammen und lächelte beinahe wieder.

„Wie bitte? Kredit?“ Helens Kehle war trocken wie die Sahara. Ihr vom Mund abgespartes Geld war alles, was sie hatte. Und ohne Sicherheiten gab es kein Geld von der Bank. „Kredit?“

„Ja, sicher! So 120 000 bis 150 000 Pfund werden es schon werden …“, begann Claire mit todernster Miene und sah sich um.

„Was?“, kreischte Helen fassungslos, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf.

„Oh Helen!“, rief Mina, sprang auf und eilte zu ihr. Fürsorglich legte sie einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Mensch Claire, du und deine blöden Witze!“, schimpfte sie.

„Sorry, Helen. War nicht böse gemeint. Aber du nimmst immer alles so ernst, da kann ich manchmal einfach nicht widerstehen …“, entschuldigte sich Claire. „Streich eine Null, dann kommen wir der Sache näher.“ Sie tätschelte Helens Rücken und fuhr einfühlsam fort. „Aber im Ernst: Nimm doch nicht immer alles gleich so bitterernst. Lach doch mal wieder!“ Dabei schaute sie Helen aufmunternd in die Augen.

Claire hatte ja keine Ahnung, wie schwer und grau ein Lebensein konnte, dachte Helen, nickte aber tapfer.

„Keine Sorge, mein Vater bürgt für alles. Nur schreiben müssen wir den Plan selbst. Das heißt, du, Helen, du kannst das am besten.“

„Ach so!“ Erleichtert atmete Helen aus. „Dann ist es kein Problem.“

Die drei jungen Frauen teilten sich während des Colleges eine Studenten-WG. Während Claire Latein und Griechisch studierte (nichts, was man jemals gebrauchen könnte, aber alles, was für eine gebildete Ehefrau nötig war, und die sollte sie ja werden), studierte Mina Modedesign und Helen Literatur. Lange war das her … Dabei hätte ihr damals schon klar sein müssen, dass sie niemals fürs Lesen bezahlt werden würde! Damals … Da war sie noch voller Träume. Träume, die sie damals beinahe gelebt hätte, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, von jetzt auf gleich für sich selbst zu sorgen. Denn von dem mageren Praktikantin-auf-Lebzeit-Gehalt bei einem anspruchsvollen Verlag konnte sie ohne Stuarts Einkommen nicht leben, und so schloss sie zähneknirschend den von Stuart nachdrücklich empfohlenen und im Voraus finanzierten Buchhaltungskurs ab. Das Zertifikat war das einzig Brauchbare, was er in ihrem Leben hinterlassen hatte, denn damit fand sie rasch eine verhältnismäßig gut bezahlte Stelle. Der Rest war nur Schutt, Asche und ätzende Säure und noch immer diese unermessliche Wut. Wut, die sie zwar gelernt hatte, im Zaum zu halten, die jedoch immer wieder auflodern konnte. Besonders dann, wenn sie an Stuart, seinen Betrug, seine Lügen, seine Bevormundung und Georgie denken musste. So wie jetzt. Aber sie wollte nicht an ihn denken, nie wieder, denn er hatte ihr Leben zerstört. Er hatte sie zerstört, zumindest fast, aber von so einem miesen Kerl ließ sie sich nicht zerstören. Sie nicht! Mit dem Laden würde ihr neues Leben beginnen, auf das sie so lange hingearbeitet hatte!

Glücklicherweise war der Kredit schon nach wenigen Tagen bewilligt und, unglücklicherweise, noch schneller auch schon wieder ausgegeben, das heißt, investiert, und zwar in Umbaumaßnahmen, Claires Küchengeräte und Mobiliar, wobei ihnen ein großer Zufall zur Hilfe kam.

„Mädels, so traurig es für die alte Dame ist, dass sie in Ruhestand gehen muss …“, hatte Claire geheimnisvoll begonnen, „und so köstlich ihre Custard Schnecken auch waren, so fantastisch ist die Nachricht doch für uns: Das Alte-Oma-Kaffee in der Muriel-Mews wird aufgelöst! Und wisst ihr, was das Beste dabei ist?“, rief sie freudig, klatschte in die Hände und strahlte in zwei neugierige Gesichter. „Nein? Dann will ich es euch sagen! Der gesamte Inhalt, alle Möbel, das ganze Geschirr, einfach alles, wird verscherbelt!“

„Im Ernst?“, rief Helen, der hörbar ein Stein von der Seele plumpste. „Billig, ja? Und schön noch dazu?“

„Ja, Süße, beides auf einmal!“, antwortete Claire kichernd und stupste Helen. „Nur billig gibt’s bei uns nicht! Es muss doch auch schön sein! Sagenhaft schön sogar!“

„Dann nichts wie hin, oder?“ Helen rieb sich mit glänzenden Augen die Hände und machte Schritte in Richtung Tür.

„Auf alle Fälle! Um 14:00 Uhr geht der Verkauf nämlich schon los. Wir müssen vorher noch zur Bank, denn die Devise lautet: Nur Bares ist Wahres!“

Da ist viel Wahres dran, dachte Helen und der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Mit ungewohnt vielen Geldscheinen ausgestattet standen sie wenig später Füße scharrend vor dem Café und konnten kaum glauben, dass außer ihnen nur zwei ältere Frauen auf das Öffnen der Tür warteten.

Die Seniorinnen erstanden nur ein wenig Geschirr, was bedeutete, dass Helen, Mina und Claire an diesem Nachmittag mehr als die Hälfte des Ladens einrichten konnten. Da waren wunderschöne einfüßige Bistrotische, eine schmiedeeiserne Bank, geblümtes Geschirr, Kerzenständer, Bilderrahmen und vieles mehr, was sie so gut wie geschenkt bekamen.

„Ich glaub’s einfach nicht“, juchzte Helen ein ums andere Mal und wenn sie, so wie Claire, gläubig gewesen wäre, hätte sie jetzt Gott dafür gedankt.

„Das ist ein gutes Omen, das sage ich euch! Ein gutes Omen“, wiederholte Mina sich pausenlos und knabberte vor Freude ganz aufgeregt an ihren Nägeln, was Claire jedes Mal veranlasste, ihr einen Klaps auf die Hand zu verpassen.

„Das glaube ich inzwischen auch“, flüsterte Helen und schaute auf das Handteller große Gemälde eines Rotkehlchens, das auf einem Tannenzweig saß. Stellenweise war der Zweig mit Schnee bedeckt, allerdings hatte sich bereits ein Tropfen von Tauwasser gebildet. Das Bild würde nicht in den Laden wandern, sondern bei ihr bleiben, als kleines Zeichen der Hoffnung. Dann hob sie den Blick und schaute ihre Freundinnen an.

„Und ihr zwei werdet alles wunderschön arrangieren und einrichten“, sagte sie lauter und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Mina und Claire waren zwei Wunderwesen, wenn es ums Gestalten ging. Die Kleider, die sie nähten, die Wohnungen, die sie dekorierten, die Blumengestecke, die sie arrangierten, die Cupcakes, die sie buken und aufwändig verzierten … Das alles sah aus wie aus einem Katalog. Sie selbst war, was all das anging, eine echte Null. Eine absolute Versagerin. Vor hundert Jahren hätte sie keinen anständigen Mann gefunden, allein aus Mangel an weiblichen Talenten. War das mit ein Grund gewesen, weswegen Stuart damals … Sie schluckte. Nicht daran denken, rief sie sich innerlich noch zu, doch da war sie wieder, diese innere Unruhe, die wie heiße Steine von innen an ihre Haut drückte und sie wünschen ließ, sie könne raus. Ausbrechen. Ihre Haut, ihr altes Ich abstreifen wie einen schmutzigen, löchrigen Mantel und in die Tonne treten. Oder liegen lassen, sich nie mehr danach umdrehen und auf und davon laufen. Nein, nicht laufen: tanzen! Leichtfüßig schweben. Befreit! Stuart sollte sie endlich mal können!

~Drei~

Es war Punkt achtzehn Uhr, als die drei ihre Pinsel und Farbroller sinken ließen. Erschöpft nahm Helen mit einem Seufzen den Hut aus Zeitungspapier, den Mina am Morgen für sie gefaltet hatte, ab und wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht. Tief ausatmend legte sie den Kopf in den Nacken und schüttelte ihr langes Haar. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, seufzte sie zufrieden: „Na, das sieht doch schon mal nicht schlecht aus, hm? Aber für heute reicht es mir total. Ich bin echt mause-groggy.“ „Mause-groggyy? Hört sich so an, als ob ich das auch wäre“, antwortete Claire müde kichernd und ließ sich auf einen mit Plastikfolie abgedeckten Sessel fallen. „Feierabend.“

„Abend ohne Feiern. Aber Essen. Dringend“, japste Mina und sank aus dem Stand in den Schneidersitz. „Puh, da merkt man erst, wie schwach man doch ist“, stellte sie mit kritischem Blick und prüfendem Griff auf ihre schlanken, aber muskulösen Arme fest.

„Das sagst ausgerechnet du!“, seufzte Claire, denn Mina war die Einzige von ihnen, die ihren Körper regelmäßig und mit sichtlichem Erfolg beim Pilates stählte.

„Pizza?“, fragte Mina ohne darauf einzugehen auch schon in der nächsten Sekunde, stemmte sich wieder hoch und rieb sich voller Vorfreude den Bauch.

„Pizza?“, maulte Claire. „Im Ernst? Schon wieder?“

„Ja klar! Für dich und il bello italiano jeden Tag“, flötete Helen und versetzte Claire einen kleinen Rempler mit dem Ellbogen.

Claire zog ihren Arm schützend vor sich und lachte gluckernd. „Du bist schuld, wenn wir dick und fett werden, Mina! Aber sollte es was mit dir und dem Schönling werden, gelten zwei Regeln!“, bekundete sie mit erhobenen Zeigefinger und Oberlehrerinnenblick.

„Und die wären?“, fragte Mina breit grinsend, und so, als sei sie zu allem bereit, wenn es nur endlich was mit dem rassigen Massimo werden würde.

„Du heulst dich nicht bei uns aus! Niemals! Keine Sekunde, verstanden?“, sagte sie in strengem Ton und mit ebenso strengem Blick.

„Ja! Ich meine, nein! Ach, ihr wisst schon, wie ich es meine“, fiepste Mina, zog den Kopf ein und die Mundwinkel nach unten, woraufhin alle drei laut loslachten.

"Und was ist die zweite Regel?", fragte Mina schließlich und wischte sich eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel.

"Hab ich vergessen. Oh – Moment! Doch! Dann bezahlst du uns das Fettabsaugen! Oder die neuen Klamotten. Oder …", ereiferte Helen sich und suchte nach weiteren Sachen, die Mina ihnen schenken könnte. Da fiel ihr Claire mit einem vor Ekel verzogenen Gesicht und Grabesstimme ein: "Oder grünen Gemüsesäften …" "Igitt", fluchte Mina und schüttelte sich. "Dann … sollte es besser mal schnell gehen mit dem bel italiano!"

"Und das in vielerlei Hinsicht", seufzte Helen übertrieben dramatisch, woraufhin sie sich einen freundschaftlichen Rempler von Mina einfing.

Rasch frischten sie ihr Make-up auf, frisierten sich, und machten sich, nach bestandenen Deo-Riechtests, auf den kurzen Weg zu dem heimeligsten aller Italiener von Notting Hill.

Als sie so neben einander hergingen, kam Helen kurz der Gedanke, wie andere sie wohl sahen.

Sie waren in etwa gleich groß; Mina aber war zierlich und bewegte sich mit der Eleganz einer Elfe. Auch Claires Bewegungen waren weiblich weich und fließend, aber ihre weiblichen Rundungen waren, nun ja, eben deutlich runder, was mit Sicherheit auch an ihrem überwältigenden Backtalent lag. Sebastian, ihren Verlobten, störte dies jedoch nicht im Geringsten, auch wenn er selbst ein fettfreier Tennis- und Golfspieler war. Er liebte jeden Millimeter und jedes Gramm seiner Claire, ja, er verehrte sie beinahe wie eine Göttin, die sich aus Versehen auf die Erde verirrt hatte und seines besonderen Schutzes bedurfte.

Wenn Helen an ihn dachte, oder, was selten vorkam, ihn sah, dann bröckelte ihre Einstellung, dass alle Männer furchtbare Menschen waren. Dann dachte sie, dass alle Männer zu ihr furchtbar waren, was aber keinen Unterschied für sie machte.

Helen selbst schlank, was zum einen an ihrem angeborenen fantastischen Stoffwechsel lag, zum anderen an ihrer gesunden Ernährungsweise und nicht zuletzt an den langen Fußmärschen, die sie, um das Fahrgeld zu sparen und das Gedränge in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu vermeiden, oft zwischen Wohnung und Kanzlei zurückgelegt hatte. Ihr Gesicht war fein geschnitten und sie hatte alles, um hübsch zu sein. Doch der Groll und der Gram verdunkelten ihr ehemals sonnig strahlendes Gesicht. Seit dem schlechten Tag fehlte ihr die lebensfrohe Ausstrahlung, durch die Menschen erst anziehend wirken. Nur manchmal, ganz selten, blitzten ihr Esprit und ihre Lebensfreude durch die Mauer aus Unnahbarkeit, die sie selbst nicht mehr wahrnahm. So wie an diesem Abend, an dem sie Arm in Arm mit ihren Freundinnen durch die milde Dämmerung zum Essen schlenderte.

„Buona sera!“, begrüßte Massimo die drei mit einer tiefen Verbeugung und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihren Lieblingstisch. „Buona sera“, antwortete Mina in etwas, das annähernd wie Italienisch klang.

Ausgelassen kichernd nahmen sie an einem runden Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke Platz. Die Speisekarte kannten sie längst auswendig, sodass sie gleich bestellen konnten.

„Eine Pizza Vesuvio“, bestellte Mina mit einem verführerischen Lächeln und einem Augenaufschlag, der selbst Schmetterlingen Ehrfurcht gelehrt hätte.

„Explosiv!“, flirtete Massimo zuverlässig mit rauer Stimme zurück. „Naturalmente, Bellissima!“

Menschen sind wie ihre Pizza, dachte sie schmunzelnd und bestellte sich eine Pizza Margarita, während Claire eine „Capricciosa mit allem, aber ohne Käse“ bestellte, wobei der Name der Pizza ja ohnehin schon extravagant bedeutete.

Daraufhin entfernte sich Massimo mit einer angedeuteten Verbeugung und einem Blick, der sogar Helen die Röte ins Gesicht trieb.

„Und, Helen, sag mal, wie kommst du denn mit den Romanen voran?“, erkundigte Mina sich, nachdem sie genüsslich von ihrem Rotwein gekostet hatte.

„Ich? Oh … Es geht so“, stammelte Helen überrascht. „Das Wochenende niste ich mich im Waterstones ein“, redete sie ausweichend weiter und hoffte, dass niemand nach ihren weiteren Plänen für das Wochenende fragen würde. Denn sie hatte keine. Wie immer.

Mina hob ihre makellos gezupften Augenbrauen und schaute sie skeptisch an. „Ja?“, fragte sie gedehnt und nahm noch einen Schluck von ihrem Montepulciano. Gerade als Massimo mit den großen Tellern voll köstlich duftender Pizzen zu ihnen geschwebt kam, leckte sie sich über die Lippen, was beinahe zu einem Absturz der Vulkanpizza auf das sonnengelbe Kleid des anderen Gastes führte. Verängstigt schwiegen sie, bis er fertig serviert hatte, und bedankten sich mit einem heißhungrigen Lächeln.

„Absolut! Das Wochenende steht ganz im Zeichen von Liebe“, beteuerte Helen umgehend, wich aber auch Claires prüfendem Blick aus und nahm nun ihrerseits einen großen Schluck Wein.

„Aber bitte – um das nochmal klar zu stellen“, schaltete sich nun Claire ein, legte zur Bekräftigung ihrer Worte das Besteck aus der Hand und die rechte Hand mit gespreizten Fingern flach auf den Tisch. „Keine Thriller. Keine Sachbücher und auch kein hyper-anspruchsvolles Zeug, das niemand versteht und niemand will!“

„Ja. Das hat Mina mir ja schon gesagt. Aber warum eigentlich nicht? Wisst ihr – ich habe da nochmal drüber nachgedacht!“, begann sie voller Elan. Als sie jedoch in grimmige Gesichter blickte und Mina auch noch unheilvoll die Faust um die spitzzackige Gabel schloss, wurde sie immer langsamer und leiser. „Ich meine … vielleicht nur ein paar? Zur Abwechslung? Um das Angebot zu erweitern ...?“, fiepste sie mit hochgezogenen Schultern.

„Keine. Abwechslung!“, donnerte Minas Stimme, begleitet von der Gabel, über den Tisch und – wer hätte das gedacht, gefolgt von einem Lächeln in eine bestimmte Richtung.

Helen schluckte, diesmal jedoch ohne Wein, und wagte einen letzten Vorstoß: „Okay, okay! Aber seid doch mal ehrlich! Kennt ihr jemanden, der allen Ernstes nur rosarote und himmelblaue Bücher liest, in denen die Liebe vom Himmel fällt und sich genau die zwei, von denen man von Anfang an wusste, dass sie sich kriegen, tatsächlich kriegen?“, begehrte sie auf und merkte zu ihrem Entsetzen selbst, wie verbissen sie klang. Ihre Worte entzweiten sich von dem, was sie gern gesagt hätte, aber nicht sagen konnte, weil sie nicht wusste, dass sie es sagen wollte. Ach, es war ja alles so kompliziert. Mit der Liebe und mit sich selbst.

Und noch komplizierter, da unglaublicher, wurde es, als sie ein begeistertes „Wir“ vernahm, bei dem sich die beiden Rufenden auch noch kerzengerade aufrichteten und sie breit angrinsten.

„Ihr?“, staunte Helen und entschloss sich, zu lachen. „Ach kommt! Ihr doch nicht! Ihr wollt mich doch nur veräppeln!“

„Nein, tun wir nicht!“, beteuerte Mina und wedelte mit der Hand in der Luft herum.

„Wirklich nicht. Im Ernst, Liebes: Die Welt ist schon schrecklich genug, da muss man sich nicht auch noch freiwillig mehr Grausamkeiten beim Lesen antun!“, belehrte Claire sie halbernst.

„Ja, eben! Ganz genau! Beim Lesen soll man doch träumen können!“, pflichtete Mina ihr eifrig nickend bei.

„Aber – aber es kann doch niemand allen Ernstes glauben, dass mit dem nächsten Mann das große Glück kommt und alle Probleme für immer und ewig vorbei sind!“, rief Helen verzweifelt und zog ihr Gesicht in Falten.

„Das –“,begann Claire, während sie und Mina einen langen Blick wechselten. „Das behauptet ja auch keiner. Deswegen enden die Bücher ja auch an der Stelle. Trotzdem ist es schön. Es ist eine Auszeit. Pause vom Alltag, verstehst du das echt nicht?“

Helen zuckte mit den Schultern, dann wackelte sie mit dem Kopf, bis sie das Wackeln in ein Nicken übergehen ließ. Daran musste es wohl liegen.

„Und deswegen, meine Liebe“, fuhr Claire freundlich, aber wieder entschieden fort, „deswegen findest du am Wochenende die fünfzig romantischsten, witzigsten und originellsten Romane, die Großbritannien derzeit zu bieten hat!“ Triumphierend klatschte sie in die Hände und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Gerade rechtzeitig, um einen feurigen Blick aus Massimos Augen zu erwidern.

„Wir werden das überprüfen und deine Liste korrigieren, sollten die herzerweichendsten Bücher darauf fehlen!“, drohte Mina gespielt und hob den Zeigefinger.

„Ich … Okay, weil ihr es seid. Ja, mach ich!“, gab Helen schließlich klein bei, rollte die Schultern vor die Brust und ließ den Kopf hängen. Warum nur war sie so anders? Sie war doch früher nicht so ernst und bedrückt gewesen.

---ENDE DER LESEPROBE---