Das Collier der Königin - Beate Maxian - E-Book

Das Collier der Königin E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Um ihre Gegenwart zu finden, muss sie erst ihre Vergangenheit erkunden

Wien, Gegenwart. Ein unerwartetes Erbe rüttelt Leas Alltag als Versicherungsangestellte auf: Ihre zurückgezogen lebende Tante Goria vermacht ihr ein Diamantcollier, das schon lange im Familienbesitz ist. Handelt es sich bei dem sagenumwobenen Schmuckstück wirklich um das Collier Marie Antoinettes, das während der Französischen Revolution verschwand? Und wie kam es in den Besitz von Leas Familie?

Paris 1794. Isabelle Blanc ist auf der Flucht. Ihr Vater gilt als Feind der Revolution, da er Schmuckstücke für Adelsfamilien anfertigte. In Todesangst versteckt sie sich vor den Schergen Robespierres. Doch gerade als sich die Lage beruhigt, steht ein Soldat vor ihrer Tür und legt ein fremdes Kind in ihre Arme ...

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Seitenzahl: 494

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Das Buch

Lea führt ein geregeltes Leben als Personalchefin einer Versicherung in Wien, das sie zu Tode langweilt. Nie passiert etwas Aufregendes oder Unerwartetes. Als da plötzlich der gut aussehende junge Historiker Elias vor ihrer Tür steht und ihr ein Diamantcollier von unschätzbarem Wert in die Hand drückt, glaubt sie zunächst an einen Scherz. Ihre Tante Gloria, die Lea noch nie zu Gesicht bekommen hat, soll ihr das sagenumwobene Schmuckstück vermacht haben. Es heißt, dass es seit Generationen im Besitz von Leas Familie ist und einst Marie Antoinette persönlich gehört hat.

Doch warum sollte Gloria ihr das Collier überhaupt geben wollen? Sie hat sich bereits vor Leas Geburt mit ihrer Familie zerstritten und weiß, da ist sich Lea sicher, nicht einmal, dass Lea überhaupt existiert. Und wie ist das königliche Collier überhaupt erst zu Leas Familie gekommen? Lea beginnt mithilfe von Elias zu recherchieren und stößt auf die Geschichte von Isabelle Blanc, der Tochter eines Goldschmieds, die zur Zeit der Französischen Revolution gelebt hat. Ist sie der Schlüssel zu Leas Vergangenheit?

Die Autorin

Beate Maxian lebt mit ihrer Familie in Oberösterreich und Wien und arbeitet neben dem Schreiben als Journalistin und Dozentin. Ihre Wien-Krimis um die Journalistin Sarah Pauli sind Bestseller in Österreich. Beate Maxian ist Initiatorin und Organisatorin des ersten österreichischen Krimifestivals.

BEATEMAXIAN

Das Collier

der Königin

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 10/2021

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Martin

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design

unter Verwendung von Richard Jenkins Photography,

Bigstock (Besjunior), Photoglob Co. (Library of Congress)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27018-6V001

www.heyne.de

Alle Menschen sind gleich, nicht die Geburt,

nur die Tüchtigkeit macht den Unterschied.

(Voltaire 1694–1778,

französischer Philosoph der Aufklärung)

Handlungstragende fiktive Charaktere

2019

Lea Roth, Human Resources Managerin

Viktor und Sabine Roth, Leas Eltern

Gloria Mendel, Keramikkünstlerin, Leas Tante

Paula Meister, Juristin, Leas Freundin

Sigrid Kovac, Psychologin, Leas Freundin

Elias Neumann, Historiker, Magdas Enkel

Magda Neumann, Elias Großmutter, Glorias engste Vertraute

Matthias und Veronika Neumann, Elias Eltern

Gerhard Pevic, Historiker, Elias Freund

Anaïs Pevic, Ehefrau von Gerhard

Frankreich, 18. Jahrhundert

Isabelle Blanc, Tochter von Jean-Luc Blanc

Jean-Luc Blanc, Goldschmied

Julie Blanc, Isabelles angenommene Tochter

Jérôme Bisset, Soldat

Adrien Noelle und Mathis Bisset, Kinder von Isabelle und Jérôme

Alexandre und Camille Fabre, Hufschmied und seine Frau, Isabelles Nachbarn

Jacques Morel, Advokat, Jakobiner

Georgette Dubios, Bäuerin, Cousine von Jean-Luc Blanc

Handlungstragende historische Persönlichkeiten

Marie Thérèse Charlotte de Bourbon, Tochter des französischen Königspaares Ludwig XVI. und Marie Antoinette von Österreich-Lothringen

Renée Elisabeth Madeleine Hillaire de la Rochette de Chanterenne, Gattin eines hohen Polizeioffiziers, Tochter eines Landadeligen, Marie Thérèses Ehrendame und Betreuerin

Louis-Antoine d’Artois, Herzog von Angoulême, Marie Thérèses Cousin und späterer Ehemann, Neffe von Ludwig XVIII.

Ludwig XVIII., 1814–1824 König von Frankreich, Onkel von Marie Thérèse, Bruder von Ludwig XVI. und Karl X., dem letzten Herrscher Frankreichs (1824–1830).

Prinzessin Elisabeth von Frankreich, bekannt als Madame Élisabeth, Marie Thérèses Tante. Sie blieb unverheiratet ihr ganzes Leben an der Seite ihres Bruders Ludwig XVI. und Marie Antoinette und starb mit ihnen am Schafott.

Franz Joseph Karl von Habsburg-Lothringen, Kaiser Franz II., der letzte Kaiser des Hl. Römischen Reiches und Gründer des Kaisertums Österreich, das er als Franz I. regierte, Cousin von Marie Thérèse Charlotte de Bourbon

Erzherzog Carl Ludwig Johann Joseph Laurentius von Österreich-Teschen, Bruder von Kaiser Franz II. und Cousin von Marie Thérèse

Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen und französischer General, nach einer kurzen Phase der Verbannung (1814) auf die Insel Elba und seiner endgültigen Niederlage in der Schlacht bei Waterloo (1815) verbannte man ihn bis zu seinem Lebensende auf die Insel St. Helena.

Olympe de Gouges (Marie Gouze), Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin

Maximilien de Robespierre war eine der bekanntesten Figuren der Französischen Revolution, führender Jakobiner, Kopf des Wohlfahrtsausschusses und Jurist. Er führte die Zeit des großen Terrors ein. Er und einige seiner Gefolgsleute starben am 28.7.1794 am Schafott.

Prinz Eugen von Savoyen, Feldherr des Habsburgerreiches, Besitzer des Schlosses Belvedere

1

LEA

Wien, Juli 2019

Stimmengewirr und Gelächter begrüßten Lea wie eine herzliche Umarmung, als sie das Lugeck in der Innenstadt betrat. In dem Restaurant herrschte rege Betriebsamkeit, die Tische waren nahezu alle besetzt. Eine junge Frau mit blonden kurzen Haaren in schwarzer Hose und weißer Bluse fragte am Empfangspult nach ihrer Reservierung.

»Meister«, nannte Lea den Namen ihrer Freundin Paula, die für sie reserviert hatte.

Die Empfangsdame warf einen raschen Blick auf das große Buch vor sich. »Im oberen Stockwerk«, sagte sie und deutete auf die wuchtige Holztreppe neben der Bar.

Lea eilte nach oben. Sie sah sich nach ihren Freundinnen um und steuerte auf den Tisch zu, von wo aus man durch das Fenster auf den gleichnamigen Platz vor dem Restaurant schauen konnte. Paula und Sigrid plauderten angeregt miteinander. Beide trugen leichte Hosen, elegante Leinenblusen und Sandalen. Offensichtlich hatten sie es nach dem Büro zum Umziehen nach Hause geschafft. Lea war das nicht gelungen. Sie trug nach wie vor ihre Businesskleidung: dunkelgrauer Hosenanzug mit weißer Bluse und Pumps. Selbst ihre hellbraunen Haare waren noch im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen. Sie kam sich plötzlich so altbacken und uninteressant vor.

Hallo, liebe Mitmenschen. Frau Aufgeräumt erscheint zum Meeting.

Sie löste das Haargummi und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken. Das Mindestmaß an Gemütlichkeit.

Es war Freitagabend. Ihr Jour fixe. Gutes Essen, hervorragender Wein, endlose Gespräche. Wie gewöhnlich kam Lea zu spät.

»Entschuldigt.« Sie küsste ihre Freundinnen zur Begrüßung auf die Wangen. Ihren Blazer und die Handtasche hängte sie an die Lehne des freien Stuhls, bevor sie sich darauf fallen ließ. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Rotweinflasche, zwei gefüllte und ein leeres Glas. Paula schenkte Lea aus der angebrochenen Flasche ein.

»Genau dreißig Minuten«, betonte Sigrid. Sie war die Pünktlichkeit in Person in ihrer Dreierrunde, die Hüterin der Zeit. Unpünktlichkeit glich in ihren Augen dem Gipfel der Unhöflichkeit. Dabei bemühte sich Lea wirklich. In der Arbeit und bei Meetings gelang es ihr, auf die Sekunde genau zu erscheinen, doch in ihrem Privatleben versagte sie diesbezüglich zu oft. Auf ihrer Liste »Das-muss-ich-ändern-« stand dieser Punkt ganz oben.

»Hat dich dein Chef mal wieder kurz vor Büroschluss mit Papierkram zugemüllt?«, fragte Paula verständnisvoll und warf Sigrid einen besänftigenden Blick zu. Sie war Juristin und privat auf absolute Harmonie bedacht. Selbst mit ihrem Mann hielten sich die Streitereien in Grenzen. Paula war in ihrer Runde die einzige verheiratete Frau. Sigrid flirtete seit einem halben Jahr mit einem Kollegen, den sie bei einer Weiterbildung kennengelernt hatte. Passiert war noch nichts. Behauptete sie zumindest. Recht glauben wollten Paula und Lea ihr das allerdings nicht.

»Ein Mitarbeiter in einer Schlüsselposition hat heute gekündigt. Wir brauchen halt schnell Ersatz, und das wollte mein Chef noch rasch mit mir besprechen.« Lea war Human Resources Managerin in einer großen Versicherungsgesellschaft. Jedenfalls seit man alle Berufsbezeichnungen ins Englische übersetzt hatte. Davor hatte »Personaladministration« auf dem Schild an ihrer Bürotür gestanden. Der Aufgabenbereich hörte sich spannender an, als er in Wirklichkeit war. Denn entgegen ihrer Jobbeschreibung, Verbesserungspotenzial zu erkennen und in Kooperation mit den Führungskräften umzusetzen, scheiterte sie seit einem Jahr mit fast all ihren Vorschlägen. Zuletzt mit der Einführung eines Betriebskindergartens. In dem Unternehmen arbeiteten nahezu dreißig Prozent Mütter mit Kleinkindern. Die Vorteile einer derartigen Einrichtung lagen auf der Hand: besseres Betriebsklima, Beruf und Familie ließen sich problemloser vereinbaren. Nur zwei von vielen Pluspunkten. Doch auf dem Ohr war Klaus Kohnert, ihr unmittelbarer Vorgesetzter, taub. Ebenso der Direktor der Gesellschaft. Sie behaupteten, dass eine solche Umsetzung zu viel Bürokratie und Aufwand bedeuten würde. Lea hingegen hegte schon lange den Verdacht, dass ihnen ihre Vorschläge gleichgültig waren. Sie fühlte sich ungehört und unbeachtet, wie ein unscheinbarer Spatz unter stolzen Pfauen.

Sigrid beugte sich nach vorne und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Ist das seine Art dich zu würdigen? Wichtige Dinge kurz vor Büroschluss mit dir zu besprechen? Der Kerl hat doch nicht erst fünf Minuten vor Betriebsschluss gekündigt.« Sie richtete sich wieder auf und sah Lea mitleidig an. »Du musst lernen, dich durchzusetzen und auch mal Nein zu sagen.«

Lea runzelte die Stirn. Das sollte sie wahrhaftig. Nein zu sagen gehörte für sie zu den schwierigsten Aufgaben. Egal in welchem Bereich. Sie konnte weder ihrem Chef noch Kollegen oder Freunden etwas abschlagen. Selbst wenn ein Ja ihr Unmengen Arbeit und Stress bereitete.

»Willst du dir nicht endlich eine andere Stelle suchen? Eine, wo man dich ernst nimmt, dein Engagement zu schätzen weiß«, schlug Sigrid nicht zum ersten Mal vor. »Dich langweilt dein Job doch eh schon lange.«

Paula nickte zustimmend.

»Das sagst du so einfach. Jobwechsel. Ich hätte das Gefühl, meine Kolleginnen im Stich zu lassen. Wisst ihr, wie viele mir davon täglich mit ihrem Problem in den Ohren liegen? Weil sie sprichwörtlich mit der Kirche ums Kreuz fahren müssen, um ihre Kinder noch vor Arbeitsbeginn im Kindergarten abzuliefern. Wenn der Stress schon morgens losgeht, ist das sowohl für die Arbeitnehmerinnen als auch für den Arbeitgeber unbefriedigend. Außerdem finde ich, dass der Nachwuchs ein Grundrecht auf entspannte Eltern hat.«

»Tolles Plädoyer. Du solltest einen Ratgeber schreiben«, merkte Paula zynisch an. »Nur leider wirst du mit diesem Argument deinen Vorgesetzten nicht überzeugen. Du musst ihn auf der Ebene ansprechen, die er versteht. Geld. Einnahmen. Effizienz. Sind die Mitarbeiter weniger gestresst, sind sie stärker motiviert und die Arbeitsleistung steigt. Das verstehen Topmanager. Mit Menschlichkeit brauchst du denen nicht zu kommen. Diesen Charakterzug geben die an der Garderobe ab, wenn sie ihn überhaupt besitzen.«

Lea nahm, statt zu antworten, einen großzügigen Schluck Wein, und hob anerkennend die Augenbrauen. Der Blaufränkische schmeckte ausgesprochen vollmundig.

»Du bringst zwar alles mit, was für den Job unabdingbar ist: Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Belastbarkeit, Flexibilität und so weiter. Und doch verwaltest du lediglich die Personalangelegenheiten. Geh mal in dich, und such nach einer starken Prise Killerinstinkt.«

Sigrid war Psychologin und zwang ihr Umfeld regelmäßig zur Selbstreflexion. Das ging Lea auf die Nerven, weil es ihr die eigenen Schwächen deutlich vor Augen führte. Eine davon war Bequemlichkeit, außerdem scheute sie Konflikte. Letzteres hatte sie ihrer Mutter zu verdanken. Diese ermahnte sie stets, jedem Streit aus dem Weg zu gehen, keine Widerworte zu geben. Sich auf das Urteil anderer stärker zu verlassen als auf das eigene. Lea hatte nie gelernt, ihren Kopf durchzusetzen oder an ihre Ideen und Fähigkeiten zu glauben. Spannungen versuchte sie mit Humor zu entschärfen.

»Ich bin ein Scheidungskind«, argumentierte sie deshalb auch jetzt augenzwinkernd.

»Deine Eltern haben sich vor vier Jahren getrennt. Da warst du vierundzwanzig«, merkte Paula lapidar an.

Sigrid überging den Einwand, übernahm jedoch wieder das Reden. »Stell dir mal die einfache Frage, ob du den Job bis zur Pensionierung durchhältst. Ich denke, wir drei kennen die Antwort. Lass nicht zu, dass du eines Morgens aufwachst, die besten Jahre hinter dir liegen und du faktisch nichts aus deinem Leben gemacht hast.«

»Wir schreiben das einundzwanzigste Jahrhundert. Da ist alles möglich. Außer natürlich gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit von Mann und Frau«, schränkte Paula böse lachend ein. Das ungleiche Verhältnis der Geschlechter im Berufsleben war eines ihrer Lieblingsthemen.

»Ihr habt ja recht«, gab Lea klein bei. Das Leben raste in Windeseile an ihr vorbei, während sie sich täglich mit einer Tätigkeit abquälte, die sie nicht erfüllte. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, stand frühmorgens auf, fuhr ins Büro und kam spätabends wieder in ihre Wohnung zurück. Meistens viel zu müde, um noch etwas zu unternehmen. Das sollte nicht die Quintessenz ihrer Lebensgeschichte sein. Den Job bei der Versicherung hatte sie aus Bequemlichkeit angenommen. Sie hatte dort schon während der Schulzeit in den Sommerferien Akten sortiert. Irgendwie hatte es sich ergeben, dass sie dann nach der Matura dortblieb. Zudem lag ihr Büro nur vier Straßenbahnhaltestellen von ihrer Wohnung in der Nußdorferstraße im neunten Bezirk entfernt. Ein weiterer Punkt, der an die Bequemlichkeit ging.

Der Kellner kam und fragte nach ihren Essenswünschen. Lea entschied sich für ein Rote-Rüben-Couscous. Paula orderte ein Kalbsgulasch. »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und bin hungrig wie ein Bär.«

Sigrid bestellte ein Süßkartoffelcurry. »Wir helfen dir sehr gerne. Gell, Paula? Also, was interessiert dich?«, knüpfte sie nach der Bestellung an das unterbrochene Gespräch an. Sie hatte zu Leas Leidwesen offenbar nicht vor, das Thema fallen zu lassen. »Erstellen wir eine Liste.«

»Ich weiß etwas!«, rief Paula. »Du hast Humor.«

»Großartig!«, sagte Lea wenig begeistert. »Dann kann ich mich ja als Clown beim Zirkus bewerben.«

»Kunst!«, fügte Paula hinzu. »Du bist ganz versessen darauf. Erinnere dich, wie sehr du dich gefreut hast, als wir dir zu deinem letzten Geburtstag eine Jahreskarte für die Albertina geschenkt haben. Wenn es nach dir ginge, würdest du in einem Museum wohnen.«

»Kunst leistet man sich, wenn man sonst nichts mit seinem Geld anzufangen weiß. Man lebt nicht davon«, erwiderte Lea.

»Würdest du bitte aufhören, die bescheuerten Argumente deines Vaters zu wiederholen?«, ermahnte sie Paula.

»Erst wenn ihr aufhört, auf mich einzureden. Es ist Freitagabend und damit Wochenende. Also lasst uns von etwas anderem reden als von der Arbeit.«

Sigrid hob unbeirrt ihr Glas. »Wo siehst du dich in fünf Jahren? Das solltest du wissen, denn dieser Punkt wird oft bei Bewerbungsgesprächen angesprochen.«

Lea seufzte leidvoll. »Wenn du nicht bald das Thema wechselst, dann im Gefängnis, meine Strafe wegen Mordes an meiner lieben Freundin absitzen, die mich mit ihren Fragen quälte.« Sie kippte entschlossen den letzten Schluck Wein hinunter und schenkte sich und den anderen nach.

»Okay, dann eben Themenwechsel«, gab sich Sigrid geschlagen. »Vorschlag?«

Lea lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück. Das Essen kam. Während sie aßen, sprachen sie über die aktuellen Ausstellungen diverser Museen in Wien und darüber, welche sie gemeinsam besuchen wollten.

Der Abend endete wie üblich in einer nahe gelegenen Bar. Um zwei Uhr morgens verabschiedeten sie sich mit einer lieb gewonnenen Tradition voneinander. Jede durfte eine Idee oder ein Ansinnen für die kommende Woche aussprechen. Diesen Freitag war Lea als Erste dran. Sie hob das Glas mit dem letzten Schluck Wein darin und grinste breit. »Ich wünsche mir, dass endlich mal etwas Unvorhergesehenes in meinem Leben passiert.«

2

GLORIA

Rosenheim, Juli 2019

Die junge Journalistin nahm ihr Handy zur Hand. »Gloria Mendel, Keramikkünstlerin, geboren 1949 in Wien, aufgewachsen im achtzehnten Bezirk, damals US-amerikanische Besatzungszone«, diktierte sie ins Telefon.

Die Worte hörten sich für Gloria an, als wäre sie aus einer anderen Zeit gefallen und zufällig im 21. Jahrhundert gelandet. Irgendwie war sie das ja auch. Fernsehen war Ende der 1940er, Anfang der 1950er-Jahre kein Thema gewesen. Heutzutage befanden sich mindestens zwei Bildschirme in jedem Haushalt mit unzähligen Kanälen, auf denen teilweise Sendungen liefen, die jegliche Intelligenz vermissen ließen. Sie selbst sah sich nahezu ausschließlich Nachrichten und Dokumentationen an. Erst kürzlich hatte sie einen Dokumentarfilm über Keramikarbeiten der Jahre 1920–1950 gesehen und dabei ein paar Figuren mit Kopfbedeckung entdeckt, die sie an ihre Kindheit erinnerten. Damals bedeckten Männer wie ihr Vater im Freien selbstverständlich den Kopf mit Hut. Herrenhüte waren Statussymbole, verdeutlichten das gesellschaftliche Gewicht. Produziert wurden sie im eigenen Land und derart teuer, dass man sie jahrelang trug, sogar an die Söhne vermachte. Nur, dass es für Otto Mendel keinen männlichen Nachkommen gab, an den der Hut weitergereicht werden konnte. Der Gedanke an ihn schmerzte schon lange nicht mehr. Magda, ihre beste Freundin, war überzeugt, dass er der Grund ist, weshalb Gloria sich nie gebunden hatte. Sie glaubte, dass seine uneingeschränkte Herrschaft über die Familie und das devote Verhalten ihrer Mutter Gloria das Eheleben schon im Jugendalter versalzen hatten. Gloria teilte Magdas Meinung nicht. Sie hatte einfach keine Lust gehabt, zu heiraten. Die Erinnerung an ihre Eltern schüttelte sie so rasch ab, wie sie gekommen war.

Sie konzentrierte sich wieder auf die blonde Redakteurin vom Oberbayerischen Volksblatt. Sie saßen einander an dem Esstisch aus Massivholz gegenüber, den Fritz, Magdas Mann, für Gloria gezimmert hatte. Es war das erste Mal, dass sie sich zu einer Art Homestory überreden ließ. Bisher hatte sie Interviews ausschließlich bei Ausstellungseröffnungen gegeben. Und selbst da nur sehr sporadisch. Auf diese Weise war es ihr gelungen, ihre Privatsphäre zu schützen. Niemand sollte wissen, wo genau sie lebte. Ihre Schöpfungen zählten, nicht ihr Aufenthaltsort. Auch für diese Story hatte sie darauf bestanden, keine detaillierten Angaben über die Position ihres Hofes, der Arbeits- und Wohnstätte zugleich war, preiszugeben. Rosenheim gliederte sich in neun Stadtteile. Mit über sechzigtausend Einwohnern war sie die drittgrößte Stadt Oberbayerns. Groß genug, um unentdeckt zu bleiben. Gloria studierte das Gesicht der jungen Frau. Zwischen ihnen lagen mindestens vierzig Jahre. Das verstärkte ihr Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein.

»War Ihnen am Beginn Ihrer Karriere schon klar, dass Sie als Künstlerin erfolgreich sein würden?«

Himmelherrgott noch mal, brüllte eine genervte Stimme in ihr. Wann ließen sich Reporter endlich mal neue und halbwegs originelle Fragen einfallen? Welche, die nicht nach Schema F gestrickt waren. Außerdem, was definierte Erfolg? Mal von dem Geld, das sie verdiente, abgesehen. Ihre Kunstwerke verkauften sich über Galerien und Porzellanhersteller in der gesamten Welt. Doch Menschen, die sich nicht mit Keramikkunst beschäftigten, wussten mit ihrem Namen nichts anzufangen. War man deswegen weniger erfolgreich? Sie persönlich kannte zum Beispiel keinen einzigen Namen eines Fußballers, da der Sport sie schlichtweg nicht interessierte.

»Selbstredend nicht«, gab sie jedoch wohlerzogen jene Antwort, die die Journalistin erwartete. »Es dauerte eine Weile, bis sich der Erfolg einstellte. Der Durchbruch, wenn Sie es so benennen wollen, kam nicht über Nacht. Das passiert nur in Filmen.« Gloria lächelte gütig. »Natürlich hofft man, von seiner Arbeit, von der Kunst leben zu können.«

Ihr Vater hatte Künstler als Hungerleider, Schmarotzer, Taugenichtse bezeichnet und ihr den Umgang mit ihnen verboten.

»Darauf verlassen kann man sich in meinem Berufsfeld jedoch nicht.« Im Gegensatz zu den meisten anderen Berufsgruppen, fügte sie stumm hinzu. Kein Arbeitnehmer, Dienstleister oder Beamter arbeitete ohne Bezahlung. Von Kunstschaffenden erwartete man das selbstredend. Zumindest zu Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Hatte man sich mal einen Namen gemacht, änderte sich das.

»Gibt es eine Botschaft, die Sie angehenden Künstlerinnen mit auf den Weg geben möchten?«

O Gott, noch so eine Allerweltsfrage.

»Man muss stets an sich selbst glauben.« Von dieser Phrase war Gloria wenigstens überzeugt.

Daraufhin reihten sich weitere fünfzehn Minuten lang Fragen und Antworten aneinander. Dann schaute die junge Frau, deren Namen sie sich nicht gemerkt hatte, kurz auf ihre Notizen und sagte endlich: »Danke für das Gespräch.« Offenbar hatte sie alle vorbereiteten Fragen gestellt.

Gloria richtete den Pashminaschal, den sie zu dem dunkelblauen Hosenanzug trug, und erhob sich. Das Interview war beendet. Die Bitte, Fotos vom Atelier schießen zu dürfen, hatte sie verweigert und der Reporterin stattdessen einen USB-Stick mit ausgewählten Pressefotos in die Hand gedrückt. Sie wollte sich endlich um ihre Gäste kümmern.

»Ich fahre gleich zurück in die Redaktion und schreibe den Artikel«, verabschiedete sich die Journalistin. »Der Beitrag ist für Ende nächster Woche geplant.«

Gloria lächelte. Sie würde ihn nicht lesen. Das Alter und der Erfolg gestatteten ihr zu ignorieren, was man über sie schrieb. Wobei man in dem Blatt bestimmt Lobeshymnen auf sie singen würde. Eine international anerkannte Künstlerin, die Rosenheim zu ihrem Zuhause auserwählt hatte, vergrämte man nicht.

Im vom Gebäude umschlossenen Innenhof des abgelegenen Bauernhauses tummelten sich bereits wohlbekannte Gesichter. Rund fünfzig Menschen aus nah und fern waren gekommen, um mit Gloria ihren siebzigsten Geburtstag zu feiern. Einige von den Gästen kannte sie eine halbe Ewigkeit, manche nur oberflächlich. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Einheimischen, engsten Freunden, Kunsthändlern und Künstlern. Doch egal, wie unterschiedlich sie sein mochten, eines hatten sie alle gemeinsam. Im Laufe der Zeit waren sie gealtert.

Gloria hatte sich von einem gertenschlanken Wesen zu einer rundlichen Person gewandelt. Ihre grauen, zum Pagenkopf geschnittenen Locken waren einst eine schwarze Mähne gewesen und ihr Gesicht faltenlos. Inzwischen hatte das Leben darin tiefe Spuren hinterlassen. Das störte sie allerdings nicht, denn sie fühlte sich rundum wohl in ihrer Haut. Sie gehörte zu keinem Zeitpunkt zu den Frauen, die sich dem Schönheitsdiktat unterwarfen. Ebenso hielt sie es mit ihrem Privatleben. Im Gegensatz zu all ihren Freundinnen hatte sie nie geheiratet und Kinder bekommen. Sie hatte ihre Unabhängigkeit nicht einbüßen wollen, indem sie sich von einem Mann zum Traualtar führen ließ. Allein ihre Arbeit erfüllte sie seit vier Jahrzehnten mit Glück. Sobald sich der feuchte Ton unter ihren Fingern zur gewünschten Form bildete, blitzten ihre graugrünen Augen auf wie bei einem frisch verliebten Mädchen.

Sie blieb im Türrahmen zum Innenhof stehen, um ihren Blick über die Menge schweifen zu lassen. Jung und Alt saßen vergnügt an den Tischen, die zwischen unterschiedlichen Tonskulpturen standen. Ihre drei Hunde holten sich Streicheleinheiten bei den Gästen ab. Sie hatte sie nach Zeichentrickfilmfiguren benannt: Bambis rotbraunes Fell war vermutlich das Erbe eines Irish Setter. Dori und Donald waren undefinierbare Mischlinge. Klar war nur, dass es sich bei ihren Vorfahren um große Exemplare gehandelt hatte. Ihre Widerristhöhe lag zwischen sechsundfünfzig und fünfundsiebzig Zentimeter. Angst vor Hunden oder Allergien durfte man nicht haben, wenn man Gloria besuchte. Den bescheidenen Zoo rundeten nämlich fünf Hauskatzen ab. Diese waren ihr nach und nach zugelaufen. Im Moment jedoch machten sie sich unsichtbar. Der Trubel lag ihnen nicht. Untereinander verlief das Miteinander problemlos. Die vierbeinigen Mitbewohner fraßen zuweilen sogar aus ein und demselben Napf wie eine friedliebende Herde.

Der Abend war lau. Die Speisen und Getränke hatte sie bei den umliegenden Bauern bestellt, die sich ebenfalls unter den Gästen befanden. Elias, ein attraktiver einunddreißigjähriger Kerl, der Enkel ihrer langjährigen Freundin Magda und Glorias Patenkind, half bei der Bewirtung. Er war seinem Vater Matthias wie aus dem Gesicht geschnitten. Markante Wangenknochen, dunkelbraunes, volles Haar, stahlblaue, verträumt wirkende Augen und immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen machten ihn zu einem Blickfang. Dabei, so kam es Gloria vor, bemerkte der hübsche Bursche seine Wirkung auf Frauen nicht. Was möglicherweise daran lag, dass er sich als Historiker mehr auf die Vergangenheit konzentrierte als auf die Gegenwart.

»Unter Umständen taucht ja irgendwann mal ein Mädel aus dem Mittelalter auf, die wird ihm dann schon auffallen«, scherzten Magda und sie oft miteinander.

Auf jeden Fall behandelte er sie wie seine eigene Großmutter, mit Respekt und Hilfsbereitschaft. Die ersten Besucher entdeckten Gloria in der offenen Tür und kamen freudestrahlend mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Das Umarmen, Wangenküssen und endlose Händeschütteln begann. Schon wenige Minuten später taten ihr die Füße vom Stehen weh. Als erahnte Elias ihr anstrengendes Los, trat er an ihre Seite und hakte sich bei ihr unter. »Du kannst die Glückwünsche genauso gut im Sitzen entgegennehmen.« Er führte sie an den Tisch, an dem Magda für sie einen Platz freigehalten hatte. Veronika, Elias’ Mutter, unterhielt sich mit ihrer Sitznachbarin gerade ausschweifend über die letzten Urlaubsreisen. Das Gespräch glich einem Wettstreit.

»Chiang Mai, da musst du unbedingt auch mal hin, Gloria«, wandte sie sich schließlich an sie.

Gloria hatte keine Ahnung, wo das lag. Nachfragen wollte sie nicht, weil sie sowieso nicht hinfahren würde. Matthias war wie üblich mundfaul, nickte lediglich manchmal, wenn seine Frau ihn ansah.

»Die Stadt ist das Zentrum des thailändischen Kunsthandwerks«, erläuterte Veronika vielsagend, als hätte sie Glorias Ahnungslosigkeit erahnt. »Das würde dir gefallen. Das kannst du mir glauben.«

Gloria lächelte unverbindlich. Weshalb sollte sie dorthin wollen? Am wohlsten fühlte sie sich in den eigenen vier Wänden. Den ehemaligen Bauernhof hatte sie nach ihren Plänen und zum Teil eigenhändig umgestaltet. Ein Vierkanthof mit alten Gewölbestallungen, unter denen man im Sommer auch bei Regen draußen sitzen konnte. Der Stall selbst beherbergte das Atelier.

»Ist das nicht wunderschön, dass dich so viele Menschen hochleben lassen?«, fragte Magda, legte ihre faltige Hand auf Glorias und drückte sie leicht.

»Kannst du dich noch erinnern, als ich eingezogen bin?« Die Bauarbeiten hatten im Sommer 1987 begonnen und sich bis zum Herbst 1989 hingezogen.

»Während der Bauphase hast du auf dem Boden geschlafen, eingerollt in einen Schlafsack.« Magda ließ ihre Hand wieder los.

»Heutzutage lässt allein der Gedanke daran meine Bandscheiben schmerzhaft aufheulen«, kicherte Gloria.

»Das Hämmern und Bohren war von morgens bis abends zu hören, sobald man sich dem Hof näherte.«

»Ich hatte zum Glück dich und etliche Helfer.« Vor Glorias innerem Auge erschien Fritz, wie er gemeinsam mit zwei jungen Kerlen das Dach deckte. Der Arbeitsunfall, bei dem er ums Leben gekommen war, lag nun schon fünfzehn Jahre zurück. Magda hatte ein halbes Jahr nach der Beerdigung ihrem Sohn Matthias das Familienhaus überschrieben und war bei Gloria eingezogen. Seitdem kümmerte sie sich um ihren Haushalt, weil das in ihrer Natur lag und Gloria sie schalten und walten ließ, wie auch immer sie mochte.

»Kaum zu glauben, dass seitdem dreißig Jahre vergangen sind«, bemerkte Gloria abschließend. »Kannst du mir sagen, wo die hin sind?«

Magda seufzte ergeben. »Wenn ich das wüsste.«

Elias tauchte erneut in der Menge auf. In der Hand hielt er ein Tablett voller Bierkrüge. Sie stießen auf den Geburtstag an. Nach einem langen Schluck wischte sich Elias den Mund ab und fragte leichthin: »Und, was hast du dir für die nächsten siebzig Jahre vorgenommen, Tante Gloria?«

Einen Moment lang betrachtete sie ihn gedankenversunken, als müsste sie überlegen, welche Antwort sie geben sollte.

»Meine Angelegenheiten regeln.«

Am Samstagmorgen erwachte Gloria bereits um halb sieben. Obwohl die letzten Gäste kurz vor Mitternacht nach Hause gegangen waren und sie erst nach zwölf ins Bett gekommen war. Trotzdem fühlte sie sich ausgeschlafen und voller Tatendrang. Sie schlich an Magdas Schlafzimmer vorbei, das direkt neben dem Treppenaufgang lag. Der Holzboden im oberen Stockwerk knarzte an manchen Stellen. Sie versuchte daher bestimmte Dielenbretter auszulassen, um Magda nicht zu wecken. Die Hunde schliefen in ihren Körben im großräumigen Flur. Kaum hatte sie im Erdgeschoss die Küche betreten, tauchten sie nach und nach auf. Dori lief zeitgleich mit Donald ein. Bambi folgte einen Herzschlag darauf. Die Katzen kamen nur Minuten später aus ihren Verstecken hervor. Wenn sie nachts nicht auf den Feldern hinter dem Hof und dem angrenzenden Wald unterwegs waren, verkrochen sie sich irgendwo im Haus. Nachdem Gloria alle Futternäpfe gefüllt hatte, gönnte sie sich eine Tasse Kaffee.

Nach dem großen Fressen unternahm sie einen langen Spaziergang mit den Hunden. Wie automatisch steuerte sie zuerst den Ort an, durchquerte ihn und schlenderte danach die vertraute Innfeldstraße entlang, vorbei an Grünflächen und Ackerböden. Bis auf zwei Traktoren, die an ihr vorbeifuhren, erschien ihr der Weg wie ausgestorben. Eine friedliche Ruhe lag über der Gegend. Die drei Mischlinge hielt sie üblicherweise an der Schleppleine. Das verschaffte den Vierbeinern mehr Freiheit zum ausgiebigen Schnüffeln und nötigte sie selbst nicht zum ständigen Stehenbleiben.

Sie hatte bis dato nie drüber nachgedacht, ob ihr das Alter etwas ausmachte, und sie hatte auch nicht vor, damit anzufangen. Die ewige Jammerei mancher Altersgenossinnen über die jeweiligen Wehwehchen, die verkommene Jugend und die dahinrasende Zeit ging ihr gehörig auf die Nerven. In ihren Augen verschwendete dies lediglich wertvolle Energie. Gleichwohl wollte sie ihren Nachlass regeln, obwohl sie vorhatte, mindestens neunzig zu werden. Ihr siebzigster Geburtstag schien ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Das Alter machte einen zielstrebig. Sie hatte gehofft, dass es sie auch gnädiger ihrer Familie gegenüber machen würde. Das tat es aber nicht. Die Verwandtschaft war ihr auf unbestimmte Weise gleichgültig geworden.

Nebensächlich, dass so manche Erinnerungen ihr nach wie vor einen Stich im Herzen versetzten. Den Hof samt Inventar sollte einmal Elias erben. Der Erlös aus ihren Kunstwerken sollte nach ihrem Tod aufgeteilt werden, zu gleichen Teilen zwischen ihrer Stiftung, Elias und ihrer Nichte Lea Roth. Ihr wollte sie über ihren Wahlenkel zudem das Familienerbstück zukommen lassen. Ein wertvolles Collier, einst im Besitz der französischen Königin Marie Antoinette. Damit hielt sie sich an die jahrzehntelange Tradition ihrer Familie. Das einzige Zugeständnis an ihre Sippschaft. Der Gedanke daran entlockte ihr ein heiseres Lachen.

Nach einiger Zeit machte Gloria kehrt.

Auf dem Hof erwartete sie reges Treiben. Magda trug eine graue Arbeitshose und ein Herrenhemd – ein Zeichen, dass grobe Arbeiten anstanden. Im großmütterlichen Befehlston scheuchte sie Elias und drei seiner Freunde aus dem Ort durch den Innenhof. Sie klappten Bierbänke zusammen, trugen sorgsam die Keramikskulpturen wieder an den angestammten Platz und räumten vereinzelte Gläser weg, die vom Vorabend stehen geblieben waren. Die Hände ihrer Freundin wedelten durch die Luft, als dirigierte sie ein Orchester. Gloria ließ die Hunde von der Leine.

»Ah, da bist du ja!«, rief ihr Magda zu. »Wie ich dich kenne, bist du ohne etwas zu essen aus dem Haus.« Sie zeigte auf eine Bierbank, auf der ein bescheidenes Frühstück angerichtet stand, Buttersemmeln und Kaffee.

»Wann fährst du nach Wien?«, fragte Gloria Elias.

»Heute Nachmittag. Ich will so gegen drei Uhr los.«

»Schaust du vorher noch mal bei uns vorbei? Ich möchte dir etwas mit auf den Weg geben.«

Magda warf ihr einen verwunderten Blick zu.

»Das Collier«, erläuterte Gloria.

Sie hatte bereits mit ihrer Freundin darüber gesprochen. Elias lebte seit vier Jahren in Glorias Geburtsstadt. Manchmal nahm er ihr etwas aus der alten Heimat mit: Manner Schnitten oder Fleckerl, eine österreichische Nudelsorte, die man in Rosenheim nicht bekam. Elias versprach, noch mal vorbeizukommen. Gloria bedankte sich bei den jungen Leuten fürs Aufräumen und bewaffnete sich mit Kaffee und einer Buttersemmel. Kurze Zeit später betrat sie das Büro neben dem Atelier. Auf dem abgewetzten Sofa lagen Robinson und Crusoe. Die beiden getigerten Kater waren ihr Seite an Seite zugelaufen.

»Wo ist der Rest der Bande?« Sie sah sich nach Athos, Aramis und Porthos um. Den roten Kater und die zwei schwarzen Katzen hatte sie nach den drei Musketieren benannten, weil man sie zumeist gemeinsam antraf. Offenbar hatten die sich gerade woanders verkrochen.

Gloria setzte sich hinter den Schreibtisch, stellte Kaffee und den Teller mit der Semmel neben dem Computer ab. Sie schrieb eine Mail an ihren Anwalt, der sich um die korrekte Formulierung ihres Testaments kümmern sollte. Der Safe mit allen notwendigen Dokumenten stand in der Ecke des Raumes. Darin lag auch die dunkelblaue Schatulle aus Samt mit der Diamantenhalskette. Weitestgehend unberührt fristete sie seit vierzig Jahren ein Dasein im Dunklen des Tresors. Davor hatte sie eine gefühlte Ewigkeit verborgen im Tresor ihrer Eltern gelegen. Das Collier war überaus wertvoll und viel zu auffällig. Ein Stück, das tatsächlich aus der Zeit gefallen war. Unmöglich, es zu einer Veranstaltung zu tragen, egal welcher Art. Sollte sie es wirklich auf den Weg schicken? Der zarte Hauch eines Zweifels nagte zum wiederholten Mal an Gloria. War es klug, das Schmuckstück jetzt schon weiterzugeben und damit möglicherweise alte Wunden aufzureißen? Diese Fragen stellte sie sich, seitdem sie beschlossen hatte, sich um ihren Nachlass zu kümmern. Noch bestand die Chance, es einfach zu verkaufen oder es Lea erst nach ihrem Tod überbringen zu lassen.

»Tu endlich, was du dir vorgenommen hast«, ermahnte sie sich streng. Entschlossen holte sie die Schmuckschatulle aus dem Safe und verpackte sie in einem gewöhnlichen Luftpolsterumschlag, ohne das Etui ein letztes Mal zu öffnen. In Großbuchstaben schrieb sie »Lea Roth« und die Adresse ihrer Nichte im neunten Wiener Bezirk darauf.

Elias kam zehn Minuten vor drei. Magda führte ihn in die Küche und setzte sich mit ihm an den massiven Esstisch zu Gloria. Gloria strich unsichtbare Brösel von der Tischplatte. Mit einer energischen Geste schob sie das Kuvert auf die andere Seite des Tisches. »Merk dir ihren Gesichtsausdruck, wenn du ihr Grüße von mir ausrichtest.«

»Weshalb?«

»Einfach so.«

»Versprochen. Darf ich erfahren, was da drinnen steckt?«

»Meine Familie.«

Elias blickte sie verwirrt an und wartete erkennbar auf eine weitere Erklärung. Doch Glorias Antwort war ein schelmisches Lächeln. Seine Großmutter klärte ihn mit wenigen Worten auf.

»Wow.« Elias zeigte sich beeindruckt. »Ich überbringe tatsächlich der nächsten Erbin das Familienerbstück. Dass du mir die Aufgabe anvertraust, es nach Wien zu bringen, ehrt mich, Tante Gloria.«

»Wem sollte ich das Collier sonst anvertrauen? Du weißt um seinen Wert, und ich meine nicht allein den materiellen. Und du gehörst zu dem Teil meiner Familie, dem ich vertraue.«

Elias drückte Gloria einen Kuss auf die Wange. »Fällt es dir schwer, dich von dem Collier zu trennen?«

Gloria schüttelte den Kopf. »Du kennst meine Einstellung zu dem Stück. Es war mir nie wichtig, es zu besitzen. In Wahrheit bin ich froh, dass das Ding nun aus dem Haus ist.«

Magda lächelte milde bei dieser Bemerkung. »Also pass auf beim Fahren. Nicht nur wegen der Kette, sondern auch deinetwegen.«

Athos, der rote Kater, kam durch die Tür, setzte sich mitten in den Raum und widmete sich der Fellpflege.

»Ich pass auf. Versprochen.« Elias umarmte sie beide zum Abschied. Magda begleitete ihn hinaus bis zum Wagen.

Gloria trat ans Fenster und sah gedankenverloren ihrer Freundin dabei zu, wie sie ihrem Enkel hinterherwinkte. Die Hunde saßen aufgereiht neben ihr. Aramis tauchte auf und strich um Glorias Beine. Sie nahm den schwarzen Kater hoch. Er schnurrte. Ein vertrautes Geräusch. Schon bald würde nichts mehr so sein, wie es die letzten vierzig Jahre gewesen war.

3

LEA

Wien, Juli 2019

Lea stand in ihrem ausgewaschenen hellrosa Lieblingspyjama mit der ersten Tasse Kaffee in der Hand am Küchenfenster und schaute hinaus. Nur vereinzelt fuhr ein Auto die Nußdorfer Straße entlang. Es war Sonntag, und der Tag versprach endlosen Sonnenschein und Hitze. Ob sie ins Freibad gehen oder eine Runde im Wienerwald drehen sollte? Oder vielleicht mit der Straßenbahn in die Innenstadt fahren, auf ein Frühstück auf der Terrasse der Albertina mit Blick auf die Oper und den Eingang zum Burggarten? Oder lieber in der kühlen Wohnung bleiben und ein Buch lesen? Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken.

»Wer zum Teufel … Es ist Sonntagmorgen, neun Uhr«, knurrte sie und beschloss das Läuten zu ignorieren.

Es klingelte ein zweites Mal. Sie stellte die Kaffeetasse auf dem Küchentisch ab, ging fluchend zur Tür und warf einen Blick durch den Türspion. Ein Mann stand davor. Er hielt einen Umschlag in der Hand. Ein Botendienst am Sonntag? Wohl eher wollte ihr der Kerl etwas verkaufen. Sie legte die Sicherheitskette vor, öffnete die Tür einen Spaltbreit und blickte in zwei stahlblaue Augen. Sie schätzte den Unbekannten in Jeans und schwarzem T-Shirt, mit dunkelbraunen Haaren, auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Ziemlich attraktiv, schoss es ihr durch den Kopf. Doch die Müdigkeit brachte sie schnell wieder in die Realität zurück.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Neun Uhr.«

»Es ist Sonntag«, empörte sich Lea.

»Ich weiß, aber danke für den Hinweis.« Ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Wollte der Typ sie verarschen?

»Die meisten Menschen liegen an einem Sonntagmorgen im Bett.«

»Mag sein.« Er tastete mit den Augen ab, was er von ihr durch den winzigen Spalt zu sehen bekam. »Ich halte Sie auch nicht lange auf.«

»Ich kaufe nichts.«

»Das trifft sich gut, ich habe nämlich nicht vor, Ihnen etwas zu verkaufen. Es ist nur so, dass ich heute noch einiges zu tun habe und deshalb …«

»Sie sind aber nicht aus Wien«, stellte Lea fest.

»Doch … Also, ich lebe in Wien, stamme jedoch ursprünglich aus Bayern.«

»Das hört man.«

»Heißen Sie Lea Roth?«, überging er ihre Bemerkung.

»Ja. Der Name steht sogar auf dem Klingelschild neben der Tür.«

»Ich soll Ihnen das bringen.« Er hob die braune DIN-A4-Versandtasche vor den Türspalt. »Es ist von Ihrer Tante Gloria.«

Sie runzelte die Stirn. »Blödsinn.«

»Warum Blödsinn?«

»Weil ich meine Tante nicht kenne und meine Tante mich nicht kennt.«

»Sie weiß aber, dass es Sie gibt.«

»Sie hat mit der Familie vor vierzig Jahren gebrochen, damals war ich noch nicht mal geboren. Seitdem herrscht absolute Funkstille zwischen ihr und allen anderen Familienmitgliedern.« Warum erzählte sie ihre Familiengeschichte einem wildfremden Kerl an einem Sonntagmorgen vor ihrer Wohnungstür? »Also, aus welchem Grund sollte sie mir etwas schicken und ich Ihnen glauben?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich denke, das Geheimnis wird gelöst, sobald Sie das Kuvert öffnen.«

»Hm«, machte Lea. »Warum hat sie es mir dann nicht mit der Post geschickt?«

»Weil das Geschenk zu wertvoll ist, um es in einen Briefkasten zu werfen.«

»Was reden Sie da?« Eine innere Stimme riet Lea, die Tür zuzuwerfen. Doch die Neugier obsiegte. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Oh, Entschuldigung. Elias Neumann. Meine Großmutter und Ihre Tante sind befreundet. Nehmen Sie das Kuvert nun an, oder soll ich wieder gehen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, in einem zugigen Treppenhaus rumzustehen.«

Lea streckte den Arm durch den Türspalt. »Okay, geben Sie das Ding halt her.«

Er zog es ein Stück nach hinten und reichte ihr stattdessen einen kleinen Zettel und einen Kugelschreiber. Lea zog rasch die Hand zurück.

»Sie müssen mir die Übernahme bestätigen.«

»Gloria traut Ihnen wohl nicht.«

»Ich habe dafür keine Zeit. Unterschreiben Sie, damit ich endlich das Kuvert loswerde.«

Lea reagierte nicht. Er seufzte.

»Ihre Tante hat mich gebeten, mir Ihren Gesichtsausdruck bei der Übergabe zu merken. Ich denke, ich werde ihr erzählen, dass ihre Nichte ein launischer Morgenmuffel ist. Als ich hörte, dass Sie die Sicherheitskette vorlegen, dachte ich, Sie sind nur misstrauisch. Doch jetzt weiß ich, dass die Kette ausschließlich zu meiner Sicherheit dient.«

»Sie haben mich an einem Sonntag um neun Uhr herausgeläutet und nennen mich dann einen Morgenmuffel?«

»Ist dieses verrückte Verhalten die Rache dafür, dass ich Sie geweckt habe?«

»Eher eine Lektion für Sigrid und Paula, dass sie mich nicht zum Narren halten sollen.«

»Das muss ich nicht verstehen, oder?« Er wedelte ungeduldig mit dem Blatt Papier vor ihrer Nase hin und her. »Unterschreiben Sie! Bitte!«

»Sind Sie auf dem Weg zu einem Date, oder warum haben Sie es so eilig?«

»Bitte!«

Lea lächelte süffisant, nahm aber dann doch den Zettel und unterschrieb. Elias seufzte erleichtert, dann überreichte er ihr den Umschlag. Lea spürte etwas Hartes darin verborgen.

»Schönen Sonntag noch wünsch ich Ihnen.« Er wandte sich um und lief die Stiegen hinunter.

»Ebenfalls!«, rief sie ihm nach.

Als Elias Neumann gegangen war, entfernte Lea die Sicherheitskette und lugte ins Stiegenhaus. Sie vermutete, dass ihre Freundinnen sie mit der Aktion zum Narren hielten, weil sie sich Freitagabend doch etwas Unvorhergesehenes in ihrem Leben gewünscht hatte. Zuzutrauen wär’s den beiden. Doch niemand stürmte Tränen lachend die Treppe herauf. Lea schloss die Tür, ging in die Küche und bezog wieder ihren Posten am Fenster. Sie sah, wie Elias das Haus verließ und in seinen Wagen stieg.

»Hat Spaß gemacht, mit dir zu reden.«

Dann schnappte sie sich ihr Handy von der Anrichte und schrieb ihren Freundinnen, dass das Paket angekommen sei.

Prompt rief Paula zurück. »Was für ein Paket?« Die Frage klang ehrlich überrascht.

Lea schilderte den morgendlichen Besuch samt Unterhaltung. Die Erinnerung daran ließ sie lauthals auflachen. »Der arme Kerl hat’s echt mit der Angst bekommen, der muss denken, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.«

»Du entwickelst dich zu einem Menschenschreck. So kriegen wir dich nie unter die Haube«, merkte Paula scherzhaft an.

»Ich dachte wirklich, du und Sigrid, ihr habt mir den auf den Hals gehetzt.«

»Wieso sollten wir das tun?«

»Weil ich mir am Freitag doch etwas Unvorhergesehenes gewünscht habe.«

Paula lachte. »So viel Fantasie traust du uns zu? Dankeschön, aber nein. Außerdem höre ich zum ersten Mal von deiner Tante Gloria. Du hast sie nie erwähnt, oder hab ich das vergessen? Wo lebt sie? In Dschibuti?«

»Das weiß keiner aus der Familie. Ich selbst hab sie noch nie gesehen. Mein Vater kennt sie auch nicht. Sie ist die ältere Schwester meiner Mutter, hat aber den Kontakt zur gesamten Verwandtschaft vor meiner Geburt abgebrochen.«

»Weshalb?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du den Umschlag schon geöffnet?«

»Nein.«

»Dann mach ihn auf!«

Lea legte das Handy auf die Anrichte und schaltete auf Lautsprecher. »Wenn hier jetzt gleich alles in die Luft fliegt, bist du die Letzte, die mit mir gesprochen hat. Der Attentäter heißt Elias Neumann und fährt ein dunkelblaues Auto.«

»Wirklich, Lea? Du denkst, dass ausgerechnet dir ein wildfremder Kerl eine Bombe bringt? Am Sonntagmorgen?«

»Wieso nicht am Sonntagmorgen?« Lea öffnete den Umschlag.

»Weil das eine blöde Zeit dafür ist.«

»Weshalb? Da sind die meisten Leute zu Hause.«

»Jetzt mach endlich!« Paula wurde langsam ungeduldig.

»Ist eh schon offen.« Lea zog eine Schatulle aus dunkelblauem Samt hervor. Gleich darauf ließ sie den goldenen Verschluss aufklappen. Ihr Atem stockte. Sprachlos starrte sie auf den Inhalt. Vor ihr lag eine Halskette, besetzt mit tropfenförmigen Diamanten. Zweifellos, das musste sie sein. Weshalb sonst sollte die ihr unbekannte Tante ein Schmuckstück schicken? Sie kannte es nur aus Erzählungen und Fotos ihrer Mutter. »Das Mendelsche Glanzstück« hatte sie es genannt und gemeint, dass zumindest die Kette über die Jahrhunderte erhalten blieb, wenn schon die Familie sich entzweite.

»Was ist los?«, hörte sie Paulas alarmierte Stimme, da sie bereits eine ganze Weile keinen Ton von sich gegeben hatte. »Bist du noch da?«

»Ich glaube, sie hat mir das Collier geschickt.«

»Was heißt das? Was war in dem Umschlag?«

»Ich melde mich später, Paula. Ich muss jetzt sofort zu meiner Mutter. Bitte gib Sigrid Bescheid, dass sich das mit dem Paket geklärt hat.«

Nach der Scheidung war Sabine Roth in ihr Elternhaus am Stadtrand gezogen, das nach dem Tod von Leas Großmutter leer gestanden hatte. In Neuwaldegg, einem Stadtteil im 17. Gemeindebezirk, konnte sie der Großstadthektik entfliehen, aber trotzdem die Innenstadt in einer knappen halben Stunde erreichen.

Im Grunde genommen hätten Leas Eltern nie heiraten dürfen und schon gar kein Kind bekommen. Die beiden waren wie Tag und Nacht. Ihr Vater war Direktor einer Bank, ein eingefleischter Großstadtmensch, ein Pedant und Minimalist. Seine Dachwohnung im ersten Bezirk war klinisch aufgeräumt. Kein Firlefanz, kein unnötiger Gegenstand. Selbst die Kleidung in seinem Kleiderkasten musste von der Putzfrau nach Farben sortiert werden. Wobei es da nicht viel zu sortieren gab, denn Viktor Roth besaß eine Vielzahl an dunkelgrauen Anzügen und weißen Hemden. Seine Freizeit verbrachte er in der Oper. Klassische Musik folgte einer konstanten Struktur – und dies wiederum gab seinem Leben Halt. Mit seiner gegliederten Art tat Lea sich schwer. Ihre Mutter Sabine ebenso, denn im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann liebte sie die Natur, war chaotisch und stellte leidenschaftlich gerne unnützes Zeug auf. Mit Hingabe restaurierte sie alte Möbel in der zur Werkstatt umfunktionierten Garage, neben dem mit Zierrat dekorierten Einfamilienhaus. Seit der Scheidung sprachen ihre Eltern zum Glück wieder miteinander. Das machte Leas Leben erträglicher. Während der Trennungsphase hatte sie ständig das Gefühl gehabt, zwischen zwei Stühlen zu sitzen.

Als Lea die schmiedeeiserne Gartentür öffnete, zog ihre Mutter zeitgleich die Eingangstür auf. Sie war in einen sommerlichen Hausanzug gekleidet, die kurz geschnittenen blonden Haare glänzten feucht. Sie war barfuß, die Nägel knallrot lackiert.

»Schön, dass du da bist!« Sie schloss Lea in ihre Arme und küsste sie auf beide Wangen. Sie roch nach Duschgel. »Komm rein.«

Lea hatte wohlweislich am Telefon keine Erklärung für ihren spontanen Sonntagsbesuch angegeben. »Nur so«, hatte sie gesagt. Das darauffolgende Schweigen verriet, dass ihre Mutter dem misstraute. Mütter besaßen nun mal einen sechsten Sinn, wenn es um ihre Kinder ging. Sie durchquerten das Haus und setzten sich auf die Terrasse mit Blick in den Garten. Der Tisch war noch mit Frühstücksgeschirr gedeckt. Leas Mutter hatte ein zweites Gedeck dazugestellt. Sie deutete auf den Stuhl davor und ließ sich auf ihren Platz fallen.

»Also«, begann sie, während sie beiden Kaffee einschenkte. »Was ist passiert, dass du mich heute so plötzlich sehen wolltest?«

»Hast du in den letzten Tagen etwas von deiner Schwester gehört?«

Sabine hielt in der Bewegung inne und sah Lea verblüfft an. »Nein, wieso sollte ich?« Sie stellte die Kaffeekanne ab.

»Weil sie sich bei mir gemeldet hat. Also, nicht direkt … über Umwege.«

Leas Mutter klappte die Kinnlade nach unten. »Sie hat sich gemeldet? Über welche Umwege? Und weshalb?«

Lea berichtete von Elias Neumanns Besuch, während sie die Schatulle mit dem Collier aus ihrer Handtasche hervorholte und vor den Augen ihrer Mutter öffnete.

Sabine schlug die Hand vor den Mund. »Nein!«

»Das ist doch die Kette, von der du mir erzählt hast. Das Schmuckstück, das einst Marie Antoinette gehörte, der französischen Königin? Jedenfalls sieht sie aus wie die auf deinen Fotos.«

Ihre Mutter nickte. »Unverkennbar. Das ist sie.« Unsicher streckte sie die Hand danach aus. Ihre Finger glitten vorsichtig über die kostbaren Diamanten. In der Geste lag ehrfurchtsvolle Sanftheit, als bestünde Gefahr, sie bei stärkerer Berührung zu zerstören. Auch die Art, wie sie anschließend das Collier andächtig aus der Verpackung schälte und liebevoll betrachtete, ließ Lea erahnen, wie viel ihrer Mutter das Erbe bedeutete. Oder die Erinnerung, die sie damit verband.

»Kannst du dir erklären, woher Gloria weiß, wo ich wohne?«

Sabine schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Kette in ihren Händen zu lassen. »Keine Ahnung. Bei mir hat sie sich jedenfalls nicht erkundigt. Andernfalls hätte ich dir das doch sofort gesagt. Vielleicht hat sie deine Adresse aus dem Telefonbuch«, mutmaßte sie und legte den Schmuck in die Schatulle zurück.

»Dann müsste ihr jemand erzählt haben, dass es mich gibt. Als ich zur Welt kam, war der Kontakt zur Familie längst abgebrochen.«

»Wie auch immer sie von dir erfahren hat, wir wissen es nicht«, beendete Sabine die Grübelei. »Ich frage mich vielmehr, aus welchem Grund sie dir jetzt das Collier geschickt hat?« Im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen entsetzt. »O Gott. Sie ist gestorben.«

»Dann hätte uns doch möglicherweise ein Notar kontaktiert, und dieser Neumann hätte mich keine Bestätigung für sie unterschreiben lassen, dass er die Kette sicher übergeben hat.«

»Sie ist krank und stirbt. Sie hat Krebs«, mutmaßte ihre Mutter weiter.

»Ruf an und frag sie.«

Sabine schüttelte energisch den Kopf. »Wieso sollte ich sie anrufen?« Sie kippte den Kaffee in einem Zug hinunter. In der Bewegung lag mehr Gereiztheit als in einem laut ausgesprochenen Fluch. Möglicherweise riss das Auftauchen des Colliers mehr alte Wunden auf, als dass es schöne Erinnerungen brachte.

»Sie ist deine Schwester.«

»Deshalb ist sie mir nicht weniger fremd als andere Menschen, denen ich erst zwei Mal im Leben begegnet bin.«

»Ihr seid miteinander aufgewachsen, Mama.«

»Eher nebeneinander. Sie war dreizehn Jahre alt, als ich zur Welt kam. Mit dreißig hat sie uns verlassen.«

»So wie du das sagst, klingt es, als wär sie deine Mutter, die dich im Säuglingsalter an der Babyklappe abgegeben hat. Doch in Wahrheit ist sie deine Schwester, und du warst immerhin schon siebzehn, als sie ging. Vielleicht ist es an der Zeit, Frieden zu schließen. Vierzig Jahre Schweigen sollten genug sein. Findest du nicht auch?«

»Ich habe ja nicht mal ihre Telefonnummer. Geschweige denn weiß ich, wo sie sich herumtreibt.«

»Was hat sie getan, bevor sie Wien verließ?«

»Sie hat als Bühnenbildnerin im Volkstheater gearbeitet.«

»Vielleicht macht sie das ja noch immer?«

Sabine zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Ich bitte dich! Meine Schwester ist siebzig! Die müsste längst in Pension sein.«

»Wohin ist sie gezogen? Eventuell wohnt sie ja nach wie vor dort.«

»Ich habe keine Ahnung. Sie hat das Haus meiner Eltern verlassen, ohne sich je wieder bei ihnen zu melden. Nur mir hat sie manchmal eine Postkarte geschickt. Aus Berlin, Rom oder Madrid. Sie hat sich in der Welt herumgetrieben.«

»Das muss sich doch herausfinden lassen, wo sie sich am Ende niedergelassen hat.«

Sabine überlegte einen kurzen Moment, dann begriff sie, worauf Lea hinauswollte. »Du verlangst jetzt hoffentlich nicht, dass ich hier alles stehen und liegen lasse, um zu ihr zu eilen.«

»Warum nicht?«

Leas Mutter kniff die Augen zusammen. Zwei Fältchen der Verärgerung traten auf ihre Stirn. »Mich sofort auf den Weg machen, zu einer Frau, von der ich vierzig Jahre lang kein Sterbenswörtchen gehört habe.«

»Auf jeden Fall dreht ihr beide euch im Kreis, wenn niemand den ersten Schritt macht.«

»Die außerdem meiner Tochter das kostbare Familienerbstück mal eben von einem Botenjungen zustellen lässt«, empörte sie sich weiter.

»Es war kein Botenjunge, es war der Sohn einer Freundin von Gloria.« Lea zögerte. »Warum kam es eigentlich zu dem Bruch?«

Ihre Mutter zögerte ebenfalls. Dann gab sie sich einen Ruck. »An einer einzigen Sache kann man das nicht festmachen. Gloria und dein Großvater waren sich sehr ähnlich, beides Sturköpfe. Wenn ihre unterschiedlichen Meinungen bei einer Diskussion aufeinandertrafen, kam es unweigerlich zum Streit.«

»Worüber haben sie gestritten?«

»Über alles Mögliche.« Sabine schenkte mehr Kaffee ein, begleitet von einem Seufzer der Erinnerung. »Unser Vater wollte nicht anerkennen, dass sie eigene Lebensvorstellungen hatte. Gloria arbeitete nach der Schule als Sekretärin bei den Wiener E-Werken. Die Stelle hatte er ihr vermittelt. Hinter seinem Rücken begann sie jedoch eine Ausbildung an der damaligen Hochschule für angewandte Kunst. Heute heißt diese Universität für angewandte Kunst.« Während sie sprach, knetete sie nervös ihre Finger.

»Warum heimlich?«

»Weil sie wusste, welche Einstellung er Künstlern gegenüber hatte. Für ihn waren sie Nichtsnutze und Schmarotzer, unfähig, das Leben zu meistern. Dabei kannte er keinen Einzigen.«

»Da hatte er ja etwas mit meinem Vater gemein. Mal Beethoven, Mozart und dergleichen ausgenommen. Die haben zumindest brauchbare Musik hervorgebracht«, merkte Lea zynisch an.

Sabine lächelte sanft. »Jedenfalls glich Glorias Ausbildung an der Hochschule in den Augen deines Großvaters einem Affront. Zu dem Zeitpunkt wartete er nämlich bereits ungeduldig darauf, dass ihr jemand den Verlobungsring an den Finger steckt und er in Folge zahlreiche Enkel geschenkt bekommt. Dass sie nach der Heirat mit der Arbeit aufhören würde, war für ihn selbstverständlich. Und auch, dass eine Frau etwas anderes als Kinder und einen Ehemann wollen könnte, kam in seinem Universum nicht vor. Aber Gloria ließ sich keinen Ring an den Finger stecken. Sie war eine Freidenkerin, auch in diesem Punkt. Sie gab nicht nach, auch wenn unser eigener Vater sie als Mannweib beschimpfte.«

Lea blickte ihre Mutter ungläubig an. »Wirklich? Wir reden hier nicht vom Mittelalter, sondern von den 1970er-Jahren oder so. Da hatte ein Vater doch keine herrschaftliche Allmacht mehr über seine Töchter.«

»Schau mich nicht so verwundert an. Dein Großvater wurde 1925 geboren. Für diese Generation galten andere Gesetze. Er war ein Despot. Das zu tun, was das Oberhaupt der Familie verlangte, war eine eiserne Regel im Hause Mendel. Und dann gab es noch die unumstößliche zweite Regel für Gloria und mich: Sich einen Mann suchen, der eine Familie ernähren konnte, und so viele Kinder wie möglich in die Welt setzen. Als wären wir die Kennedys oder irgendwelche Adligen, deren Fortbestand essenziell ist.« Sabine verdrehte genervt die graublauen Augen und lächelte ihre Tochter an. »Oft heißt es ja, die Zweitgeborenen seien die Revoluzzer und die Erstgeborenen diejenigen, die sich anpassen. Bei uns war es umgekehrt. Gloria war die Rebellin und ich die Angepasste.« Sie holte Luft, hob dabei ihre schmächtigen Schultern. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. So rasch, wie er auftauchte, verschwand er wieder. »Aber das ist Schnee von gestern. Lass uns nicht mehr darüber reden, mein Schatz.« Die Art, wie ihre Mutter Butter auf ein Stück Brot strich, machte Lea klar, dass sie nicht vorhatte, dieses Thema weiter zu strapazieren.

»Wie kam das Collier in Familienbesitz?«

»Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, weil selbst mein Vater das nicht genau wusste. Ich weiß nur, dass es seit ungefähr hundertfünfzig Jahren in unserem Besitz ist. Vor Gloria besaß es mein Vater, davor seine Mutter, die es wiederum von ihrem Vater erhielt.«

»Etwa hundertfünfzig Jahre«, wiederholte Lea und rechnete im Kopf zurück. »Damit wäre es Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in die Familie gekommen.«

»Vielleicht war es ja ein Geschenk«, überlegte ihre Mutter.

»Das ist denkbar. Wäre aber schön, es genau zu wissen«, erwiderte Lea nachdenklich. »Weshalb hat Gloria es erhalten? Immerhin hat sie mit der Familie gebrochen. Da hätte es doch nahegelegen, dass du es bekommst.«

Sabine sah Lea irritiert an, als habe sie plötzlich in eine ihr völlig unverständliche Sprache gewechselt.

»Die Kette bekam immer der oder die Erstgeborene. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Daran ändert auch ein Streit nichts.«

»Das klingt tatsächlich, als wären wir ein einflussreicher Clan oder Königliche Hoheiten. Ob sie eines Tages eine Dokumentation über uns drehen?« Lea lehnte sich grinsend mit der Kaffeetasse in der Hand in ihrem Stuhl zurück. »Aber eines wissen wir jetzt zumindest mit Sicherheit. Gloria hat keine eigenen Nachkommen. Andernfalls hätte sie nicht mir das Collier geschickt. Du hast ein Kind. Da habt ihr beide aber, was die Vielzahl an Enkeln anbelangt, Opa ordentlich in die Suppe gespuckt.« Sie konnte sich nur dunkel an ihre Großeltern erinnern. Otto Mendel war gestorben, als sie acht war. Selma, ihre Großmutter, war ihm zwei Jahre später gefolgt.

»Weißt du, was eigenartig ist?«, überlegte ihre Mutter. »Dass es für mich mittlerweile ganz normal ist, den Kontakt zu Gloria verloren zu haben. Dabei war meine große Schwester mal der Fels in meiner Brandung. Ich habe zu ihr aufgeschaut, sie für ihr Selbstbewusstsein bewundert. Und trotzdem habe ich die letzten vier Jahrzehnte so verbracht, als hätte ich keine Schwester. Ärger und Enttäuschung haben überhandgenommen. Und irgendwann sind sie zu Gleichgültigkeit geworden.« In ihren Augen schimmerten Tränen. »Das hätte ich nicht zulassen dürfen. Ich hätte nach ihr suchen müssen, ihr sagen, dass ich sie verstehe, sie vermisse. Stattdessen habe ich meine Wut auf sie weiter angefacht und sie verflucht, weil sie nicht mal zum Begräbnis unserer Eltern aufgetaucht ist.«

»Hat sie denn gewusst, dass sie gestorben sind? Du konntest ihr ja keine Nachricht zukommen lassen.«

»Sie hätte sich bei mir irgendwann einmal nach ihrem Gesundheitszustand erkundigen können. Jeder Mensch weiß, dass Eltern nicht ewig leben.«

»Opa war erst vierundsiebzig, als er starb. Oma gerade mal siebzig. Da rechnet doch niemand mit dem Tod«, entgegnete Lea.

»Mich zu finden wäre leicht gewesen«, fuhr Sabine unbeirrt fort. »Dich hat sie schließlich auch gefunden, wie das Collier beweist.« Sie biss ein Stück vom Brot ab, kaute wütend darauf herum. Ihre Mutter hatte nie eingehend über Gloria gesprochen. Lea hatte gewusst, dass es irgendwo auf der Welt eine Tante gab, die das schwarze Schaf der Familie war, mehr aber auch nicht. Selbst mit ihrem Vater hatte sie das Thema vermieden. Welch tiefe Wunden der Weggang ihrer Tante bei ihrer Mutter verursacht hatte, war ihr bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen. Jetzt fühlte Lea sich schlecht. Sie hatte ihrer Mutter den Sonntag verdorben. In diesem Augenblick fasste sie den Entschluss, nach Elias Neumann zu suchen und Gloria zu finden.

4

LEA

Wien, Juli 2019

Auf dem Rückweg zog die sommerliche Landschaft am Straßenbahnfenster vorbei. Lea schenkte dem Anblick keinerlei Beachtung. Sie saß da, die Tasche mit dem wertvollen Inhalt auf ihrem Schoß hielt sie mit beiden Händen fest, und dachte nach. Je weiter sie sich vom Haus ihrer Mutter entfernte, umso stärker wuchsen die Zweifel. War das Vorhaben vernünftig, die Schwestern wieder zu vereinen? Oder sollte sie die Sache auf sich beruhen lassen, das Collier kommentarlos annehmen und kein Wort mehr über den Familienstreit verlieren? Doch egal, wie oft sie das Für und Wider abwog. Am Ende blieb lediglich eine Option: es zu tun. Auch wenn vielleicht nicht das Resultat herauskommen sollte, das sie sich ausmalte. Einen Versuch war es definitiv wert.

Friedensstifterin Lea. Dieser Gedanke gefiel ihr.

Als sie in der Alser Straße aus der Straßenbahn stieg, um in die U-Bahn umzusteigen, läutete ihr Handy. Sigrids Name leuchtete auf dem Display auf. »Hallo?«

»Wir suchen also nach Elias Neumann«, stellte ihre Freundin anstelle einer Begrüßung fest. »Paula hat mir alles erzählt. Ich helfe dir. Mittagessen bei dir? Ich bring Pizza mit, und du spendierst den Wein.« Ihre knappe Artikulation dokumentierte höchste Gespanntheit und duldete keinerlei Widerspruch.

Lea schlängelte sich an drei Menschen vorbei, die vor dem Eingang zur U-Bahn standen. »Hast du an einem Sonntag nichts anderes zu tun?« Sie war sich nicht sicher, ob sie in diesem Moment ausgerechnet Sigrid an ihrer Seite haben wollte.

»Nein.«

»Ich suche aber nicht nach ihm.«

»Und ob du das tust.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich kenne dich. Außerdem habe ich die Pizza schon bestellt. Eine Cardinale und eine mit Rucola und Schafskäse. So können wir tauschen.«

Lea seufzte leise. Widerstand war zwecklos. Wenn Sigrid sich etwas in den Kopf setzte, bekam sie meistens auch ihren Willen. »Okay, dann in einer halben Stunde bei mir.«

Kurze Zeit später stand ihre Freundin mit Pizzakartons bewaffnet vor Leas Tür. »Cardinale und Rucola mit Schafkäse.«

Lea ließ sie eintreten. Die Pizzen dufteten verführerisch. Ihr knurrte der Magen, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

»Wie sieht er aus, dieser Elias Neumann?«

»O Gott, Sigrid«, stöhnte Lea und ging vor ins Wohnzimmer. »Er hat mir das Mendelsche Familienerbstück gebracht, nicht um meine Hand angehalten.«

»Trotzdem.«

»Er hat Haare, zwei Augen, zwei Arme, ebenso viele Beine«, zählte Lea monoton auf. »Ach ja, und stell dir vor, Ohren! Der Mann hat zwei Ohren!«

»Na ja, einen bleibenden Eindruck hat er offenbar nicht hinterlassen.« Sigrid legte die Kartons auf dem Esstisch ab. »Ist das das gute Stück?« Sie zeigte auf die Schatulle, die auf dem Couchtisch lag.

Lea nickte. »Mach ruhig auf!«

Sie holte Servietten, Teller, Besteck und eine Flasche Blaufränkischen aus der Küche.

»Die Kette ist der absolute Wahnsinn«, flippte Sigrid aus. »Wie viel ist die wert?«

»Keine Ahnung. Sie soll mal Marie Antoinette gehört haben. Aber frag mich nicht, wie meine Familie die in die Hände bekam«, fügte sie rasch hinzu und schenkte den Rotwein in die Gläser.

»Vielleicht wart ihr mal Raubritter«, schlug Sigrid vor.

»Meines Wissens gab es die im neunzehnten Jahrhundert, als das Collier in meine Familie kam, nicht mehr.«

»Wo bewahrst du das gute Stück jetzt auf?«, überging Sigrid Leas Einwand. »In den Küchenkasten oder unter die Matratze wirst du es ja wohl nicht legen.«

Lea zuckte mit den Achseln. »Eventuell bringe ich es in einem Bankschließfach unter. Allerdings klingt das irgendwie schäbig, so als wollte ich es nicht in meiner Nähe haben. Ich glaube, ich kaufe mir morgen einen Safe.«

Sigrid schloss die Schatulle und wechselte zum Esstisch.

»Hast du deine Tante gefragt, weshalb du es schon jetzt bekommst und nicht erst nach ihrem Tod?«

»Nein, ich weiß ja nicht mal, wo sie lebt.«

»Würdest du sie besuchen, wenn du’s wüsstest?«

Lea hievte die Pizzen aus dem Karton und auf die Teller. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Wahnsinn. Da wünschst du dir am Freitagabend etwas Unvorhergesehenes und … bam!« Sigrid schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Schon passiert’s.«

Sie begannen zu essen. Leas Magen knurrte laut. Erst jetzt registrierte sie, dass sie heute noch keinen Bissen zu sich genommen hatte. Das geplante Frühstück nach der ersten Tasse Kaffee hatte Elias Neumann ihr verdorben, und bei ihrer Mutter hatte sie vor Aufregung schlichtweg nichts zu sich nehmen können.

»Warum googelst du nicht einfach deine Tante? So viele Gloria Mendels wird es doch nicht geben. Mit etwas Glück ist sie nicht verheiratet oder hat den Namen ihres Mannes nicht angenommen.«

»Das hatte ich eh vor.«

»Oder du rufst Elias an.«

»Hab keine Nummer von ihm.«

»Erwischt!«, rief Sigrid triumphierend. »Du willst ihn wiedersehen. Deshalb suchen wir nach ihm. Gib’s endlich zu!«

»Du interpretierst meine Antworten, wie sie dir ins Konzept passen, oder? Denn ich habe mit keinem Wort erwähnt, dass ich Lust auf eine weitere Begegnung mit diesem Mann hätte.«

»Ich sehe es dir aber an der Nasenspitze an.«

»Manipulierst du deine Patienten etwa auch auf diese Art und Weise? Außerdem … wie wär’s, wenn du dich mal um dein eigenes Liebesleben kümmerst?« Lea fühlte sich in die Ecke gedrängt, das machte sie empfindlich.

»Tja, wenn du meinst.« Sigrid zuckte mit den Achseln. »Dann lass uns nach deiner Tante suchen und Elias Neumann ignorieren. Ist mir egal. Aber weih mich vorher mal näher in deine Familiengeschichte ein.«