Tödliche SMS - Beate Maxian - E-Book

Tödliche SMS E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Die Münchner Fotografin Andrea Reiter reist einen Tag vor ihrem 35. Geburtstag nach Wien, um diesen gemeinsam mit ihrer Freundin Silke zu feiern. Doch die geplante Geburtstagsfeier verwandelt sich in einen Alptraum. Silke ist spurlos verschwunden, dirigiert sie aber mittels SMS durch die Stadt. Erinnerungen an traumatische Ereignisse in der Vergangenheit ängstigen Andrea, trotzdem denkt sie zunächst an eine Geburtstagsüberraschung. Ein teuflisches Spiel beginnt, bei dem niemand weiß, wer eigentlich Regie führt. Sind alle SMS von Silke? Wo ist sie? Und wer verfolgt Andrea und bringt sie in Panik mit weiteren Nachrichten? „Nichts ist gewisser als der Tod, nichts ungewisser als seine Stunde."

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Seitenzahl: 329

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Inhalt

Titelseite

Impressum

1. Samstag, 28. Oktober, 18.30 Uhr

2. Sonntag, 29. Oktober

3.

4. Montag, 30. Oktober

5.

6.

7. Dienstag, 31. Oktober

8. Dienstag, 31. Oktober

9.

10.

11. Mittwoch, 1. November

12.

13. Donnerstag, 2. November

14. Freitag, 3. November

15.

16. Samstag, 4. November

17. Sonntag, 5. November

18. Montag, 6. November

19. Dienstag, 7. November

20.

21.

Epilog

TÖDLICHE SMS

Beate Maxian

Impressum:

eISBN: 978-3-902672-60-5

E-Book-Ausgabe: 2012

2007 echomedia buchverlag

A-1070 Wien, Schottenfeldgasse 24

Alle Rechte vorbehalten

Produktion: Ilse Helmreich

Covergestaltung: Anja Merlicek

Gestaltung: Rosi Blecha

Layout: Elisabeth Waidhofer

Lektorat: Roswitha Horak, Regina Moshammer

Herstellungsort: Wien

Besuchen Sie uns im Internet:

www.echomedia-buch.at

Nichts ist gewisser als der Tod,

nichts ungewisser als seine Stunde.

(Anselm von Canterbury)

1.

Samstag, 28. Oktober, 18.30 Uhr

Die Stimme des Schaffners kündigte die Ankunft an. Der Zug fuhr langsam an einer schemenhaften Kulisse aus mehrstöckigen Häusern vorbei. Es war zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können. Erst nach Penzing, dem 14. Wiener Gemeindebezirk, hatte die Straßenbeleuchtung die Finsternis des Spätherbstes besiegt. Im Vorbeifahren konnte man deutlich Umrisse von Gebäuden und Personen sehen. Trotz der Regentropfen, die gegen das Fenster des Abteils klatschten.

Sie war fast da.

Der Zug würde in wenigen Minuten den Westbahnhof erreichen.

Andrea Reiter rappelte sich aus dem Sitz hoch, nahm ihren graublauen Samsonite von der Gepäckablage, murmelte ein kurzes „Wiedersehen“ und trat auf den Gang hinaus. Die Fahrt war lange und quälend gewesen. Sie hatte ihr Abteil mit einem Mann geteilt, der kein Wort gesprochen, sondern unentwegt aus dem Fenster gestarrt hatte, trotz zunehmender Dunkelheit. Schade, denn Andrea hätte die Reise gerne mit einer netten Plauderei verbracht.

Sie war müde, extrem müde.

Die Aufnahmen in der Kunsthalle München für einen neuen Katalog hatten die halbe Nacht gedauert. Sie musste damit fertig werden. Heute Morgen war im Verlag Abgabetermin gewesen. Die vielen Becher Kaffee, mit denen sie sich wach gehalten hatte, wollte sie nicht zählen. Der leichte Schmerz in der Magengegend ermahnte sie auch so, dass es eindeutig zu viele waren.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Kurz darauf zeigte ihr ein grünes Licht an der Seite der Waggontür, dass sie die Tür nun öffnen konnte.

Auf dem Bahnsteig eilten Menschen hin und her. Ein junger Mann hielt ein Schild mit einem Namen darauf in die Luft.

Wien!

„Endlich.“ Andrea stellte ihren Koffer auf dem Bahnsteig neben Gleis acht ab, schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und sog den Geruch der Großstadt ein. Jede Stadt hatte einen eigenen Duft. Wien roch nach Marzipan und Sachertorte. Natürlich nicht wirklich. Aber Andrea wollte es so. Eigentlich roch es nach Kälte, Nässe und feuchtem Staub. Nur in Teilen Ottakrings und Hernals hing manchmal tatsächlich der Geruch nach Manner Schnitten in der Luft. Aber das konnte man hier am Westbahnhof natürlich nicht riechen.

Die Schienen und die Zuggarnituren glänzten im Herbstregen. Vielleicht war der Oktober ein ungünstiger Monat, um die Stadt des Walzers zu besuchen. Aber Andrea hatte sich den Zeitpunkt nicht aussuchen können und es war ihr auch völlig egal, denn sie liebte Wien und sie liebte Marzipan und Sachertorte.

Sie horchte. Fast schon hatte sie den für sie melodiösen Klang des Wiener Akzents vergessen geglaubt. Aber er hatte sich genauso in ihr Hirn gebrannt wie die sprichwörtliche Berliner Schnauze. Und jetzt, wo sie die Stimmen der Leute ringsum wahrnahm, kam es ihr vor, als hätte sie die Stadt erst gestern verlassen und nicht schon vor einem Jahr. Ihr letzter Kurzbesuch lag ebenfalls schon einige Zeit zurück. Silke, ihre beste Freundin, hatte sie damals zu einer Filmpremiere eingeladen. Andrea war natürlich sofort gekommen. Die anschließende Feier fand in genau jenem Lokal im ersten Bezirk statt, in dem sie einander vor über sieben Jahren kennengelernt hatten. Damals lebte Andrea in Ottakring. Dort wohnte sie in einem Mietshaus, in dem nur wenige Menschen lebten, man kannte sich und grüßte einander. Auch die Frauen, die im Tagespuff im Erdgeschoß arbeiteten. Sie waren einfach ein Teil des Hauses. Manchmal erzählten die Nutten, bei einer Zigarette im Hinterhof, von ihren Freiern. Und das waren viele, auch wenn man die Anzahl der gebrauchten Kondome in den schwarzen Müllcontainern nur grob überschlug.

Doch dann passierte etwas in Andreas Leben, das sie zwang auf Wohnungssuche zu gehen. Sie lernte Silke kennen, die suchte eine Mitbewohnerin. Innerhalb kürzester Zeit waren sie beste Freundinnen geworden und geblieben, auch wenn Andrea wieder seit einem Jahr in München, ihrer Geburtsstadt, arbeitete, als freie fixe Fotografin für mehrere Verlage. Silke schlug sich weiterhin in Wien als freie Regieassistentin durch. Ihrer Freundschaft konnte die Distanz von rund vierhundert Kilometern aber nichts anhaben.

Andrea sah sich um. Aber wo war Silke?

Ihre Freundin war ein etwas schräger Typ. Aber immer für originelle Überraschungen gut. Deshalb war Andrea schon neugierig darauf, was sie sich diesmal ausgedacht hatte. Vor drei Wochen hatte sie eine SMS erhalten. Silke hatte sie im Telegrammstil verfasst:

29. Oktober – STOP – 35. Geburtstag von Andrea Reiter–STOP – Anreise 28. Oktober – STOP – Grund: Überraschung– STOP – Dauer: eine Woche.

Andrea hatte sich sehr darüber gefreut und sofort telefonisch zugesagt, danach ihre Auftraggeber informiert, dass sie ab 28. Oktober eine Woche lang nicht erreichbar war. Das letzte Mal, als sie eine derartige Einladung bekommen hatte, war sie von Silke nach London entführt worden. Ihre Freundin hatte bereits Monate vorher bei einer Billigflug-Airline gebucht. Sie waren zwei Tage lang durch die englische Hauptstadt gewandert, hatten kaum geschlafen, denn für ein Zimmer hatte das Geld nicht mehr gereicht. Aber das war nebensächlich gewesen. Es hatte ihnen ganz einfach Spaß gemacht.

Das Läuten ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Aus der Außentasche ihrer Jeansjacke fingerte sie das Telefon hervor. An der Melodie erkannte sie, dass sie eine SMS erhalten hatte.

Komme später!

Bussi Silke

Das war wieder typisch! Zuerst einladen und dann nicht einmal Zeit haben, sie abzuholen, geschweige denn, zu Hause auf sie zu warten. Aber Andrea kannte ihre Freundin gut genug. Sie war ihr nicht einmal böse. Silke war ein herzensguter Mensch, aber mit Pünktlichkeit oder übertrieben höflichen Umgangsformen hatte sie nichts am Hut. Und eine Freundin vom Bahnhof abzuholen, gehörte für Silke zweifellos zu übertriebener Höflichkeit. Zumal sich Andrea in Wien gut auskannte und keinen Babysitter brauchte, der sie an der Hand durch die Stadt führte.

Nicht mehr.

Vor wenigen Jahren war das noch ganz anders gewesen. Nicht etwa, weil Andrea sich in Wien nicht zurechtgefunden hatte. Vielmehr lag es an ihrer Angst vor Chris, ihrem Ex. Aber das war zum Glück endgültig vorbei.

Sie tippte „okay“ in ihr Handy, schickte die Antwort ab, ließ das Telefon wieder in die Tasche gleiten, nahm ihren Koffer und zuckte die Achseln. Dann würde sie eben ein Taxi in die Argentinierstraße nehmen.

Sie durchschritt den Bahnhofsterminal im ersten Stock, fuhr mit der Rolltreppe ins Erdgeschoß. Obwohl sie es nicht darauf anlegte, drehten sich einige Leute nach ihr um. Mit ihren langen, rotblonden Locken, ihrem ebenmäßigen Gesicht, den wenigen Sommersprossen um die Nase herum und ihren einsachtundsiebzig erregte sie Aufmerksamkeit. Unter ihrem knöchellangen schwarzen Mantel trug sie Jeans, eine weiße Bluse und eine Jeansjacke. Ihre Füße steckten in flachen Stiefeln. Sie wirkte ungemein anziehend, ob sie wollte oder nicht. Die Blicke, die ihr von Männern zugeworfen wurden, ignorierte sie.

Der Taxifahrer vor dem Westbahnhof grüßte Andrea mit einem kurzen Kopfnicken, ließ den Kofferraumdeckel aufspringen, wuchtete das Gepäck hinein und setzte sich hinters Lenkrad. Währenddessen ließ Andrea die Kulisse der Stadt auf sich wirken. Zwei Straßenbahngarnituren blieben unmittelbar hintereinander vor dem Abgang zur U6 stehen. Abwechselnd spien sie ungeduldige Menschen aus, die in verschiedene Richtungen davoneilten und fast mit jenen zusammenstießen, die aus dem Untergrund ans Tageslicht strömten, auf dem Weg in ihre Wohnungen oder zu dem verdienten Treffen mit Freunden, nach einem anstrengenden Arbeitstag.

„Könn ma?“, fragte der Taxifahrer.

Andrea nickte und nahm auf dem Rücksitz Platz.

„Vierter Bezirk, Argentinierstraße“, sagte sie und nannte gleich darauf die Hausnummer.

Der Fahrer drückte das Taxameter und reihte sich in den Verkehr am Neubaugürtel ein. Wie üblich waren die Straßen mit Autos verstopft und sie kamen nur langsam voran, obwohl der Fahrer immer wieder rasant seine Fahrspur wechselte. Die Sinnhaftigkeit des ständigen Spurwechselns war Andrea bisher verschlossen geblieben. Es brachte kaum Vorteile, man war niemals schneller am Ziel, sondern trieb nur den eigenen Blutdruck und den der anderen in die Höhe. Aber wahrscheinlich gehörte dieser Fahrstil zu dieser Stadt, wie der Stephansdom in den ersten Bezirk. Fast schon bereute sie ihren Entschluss, mit dem Taxi gefahren zu sein. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, die notwendigen Strecken hauptsächlich mit der U-Bahn zurückzulegen. Aber ihr Koffer war einfach zu schwer. Sie hatte keine Lust gehabt, ihn zu schleppen.

Sie lehnte sich zurück und starrte durch den Regen auf die vorbeiziehenden Fassaden der Häuser, ließ sich ganz einfach treiben. Stumm schlängelten sie sich zu den typischen Großstadtgeräuschen durch einen endlos wirkenden Blechstrom.

Zwanzig Minuten später hatte es aufgehört zu regnen.

Der Himmel lichtete sich und in den Nebenstraßen tauchten Straßenlaternen die Wohnhäuser in sanftes Licht, das vom nassen Asphalt reflektiert wurde.

Der Anblick des Mietshauses, in dem Silke wohnte, hob ihre Stimmung. Vor ihr lagen wunderbare Tage mit ihrer besten Freundin, in denen sie nächtelang durch jene Lokale ziehen würden, die noch vor einem Jahr zu ihren gemeinsamen Stammbeiseln gehört hatten.

Andrea stand auf der Argentinierstraße vor einem Wohnhaus im typischen Baustil der sechziger Jahre und sah nach oben. Diese Adresse war bis vor einem Jahr noch ihre eigene gewesen. Natürlich lebte Andrea wieder gerne in München. Zumal sie sich in Nordschwabing eine wunderschöne Bleibe geschaffen hatte, gleich nahe dem Stadtteil Milbertshofen-Hart, in dem sie aufgewachsen war und wo nach wie vor ihre Eltern lebten.

Aber mit dieser Gegend hier und Wien verbanden sie einfach viele positive Erinnerungen, wenngleich sich auch einige negative dazwischenschoben, wie eine Gewitterwolke.

Das Taxi fuhr davon und Andrea griff nach ihrem Koffer.

Das wuchtige Gittertor in den Innenhof stand offen. Die Briefkästen hingen noch an derselben Stelle. Warum auch nicht? Es war ja nur ein Jahr vergangen, seit sie Wien den Rücken gekehrt hatte.

Mit einem Blick sah Andrea, dass Silke ihre Werbeprospekte seit Tagen nicht mit in die Wohnung genommen hatte. Diese Tatsache kostete Andrea ein lautes Lachen. Schon zur Zeit ihrer Wohngemeinschaft war es immer Andrea gewesen, die das Entleeren des Briefkastens übernommen hatte. Wahrscheinlich lag die Post schon geraume Zeit unbeachtet in dem metallenen Behälter. Andrea schnappte sich die Werbepost, schob sie in ihre Umhängetasche und ging weiter. Im Innenhof blieb sie kurz stehen und sah noch einmal nach oben.

Wunderbar!

Die zwei Tauben waren noch immer da, oder war es inzwischen ein anderes Pärchen? Sie glaubte nicht.

Ihr Gefieder war hellgrau und um ihre Hälse zeichneten sich deutlich schwarze Ringe ab. Normalerweise gehörten Tauben nicht zu den Lieblingstieren von Großstädtern, aber diese beiden hatten Andrea und Silke in ihr Herz geschlossen. Sie waren so zärtlich zueinander wie ein Liebespaar.

Am anderen Ende des Hofs öffnete sie eine weitere Tür, dahinter lag der Stiegenaufgang zur Wohnung. Stöhnend schleppte sie ihr Gepäck in den dritten Stock hinauf. Es gab keinen Lift im Haus.

Die Wohnung Nummer 14 war mit einem Blick zu erkennen. Die Eingangstür war knallrot gestrichen. Silkes Lieblingsfarbe. Und ihre beiden Namen waren in hellem Gelb quer über das Rot geschrieben, darunter die Zahl 14 in Blau.

Andrea lächelte.

Die Tatsache, dass ihr Name noch immer daraufstand, rührte sie.

Sie griff in ihre Manteltasche und öffnete die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel, schob ihren Koffer mit dem Fuß vom Flur in den Vorraum.

Silke hatte darauf bestanden, dass sie ihre Schlüssel behielt.

„Was, wenn ich meinen verliere?“, hatte sie Andrea gefragt.

„Mensch Silke! Ich sitze in München! Ich brauche eine Ewigkeit, um herzukommen, um dir die Tür aufzuschließen“, hatte Andrea damals geantwortet. Aber Silke hatte nur die Achseln gezuckt und sie hatten nie wieder ein Wort darüber verloren.

In der Wohnung hatte sich einiges verändert. Die Wände waren frisch gestrichen worden. Der Vorraum in einem warmen, hellen Gelb. Wie Andrea fand, passte diese Farbe besser zur orangen Couch neben der Garderobe. Sie legte die Prospekte auf einen kleinen runden Tisch, der neben dem Sofa stand. Den Samsonite ließ sie ebenfalls im Vorraum zurück, als sie den Rest der Wohnung musterte.

Jeder Raum hatte eine andere Farbe bekommen. Das Wohnzimmer Mint – auch hier passte das rote Dreiersofa recht gut dazu – und Silkes Schlafzimmer war in Terrakotta gehalten. Nur die Wände der Küche waren ebenfalls gelb. Andrea wusste, dass Silke einen Hang zu Farben und farbintensiven Bildern hatte. Sie sammelte Gemälde in grellen Tönen wie andere Briefmarken.Und wenn sie nicht genug Geld hatte, welche zu kaufen, was meistens der Fall war, malte ihre Freundin ganz einfach selbst in Öl auf Leinwand. Aber immer nur in einer Farbe. Vorzugsweise rot. Und allem Anschein nach lebte sie diese Vorliebe jetzt auch in der gesamten Wohnung aus.

Vor den Fenstern zum Innenhof hingen Vorhänge, auch das war neu. Andrea trat dicht an eines der Fenster, blickte hindurch, besah den grauen Innenhof von oben, das gegenüberliegende Haus, das durch zwei schmale Verbindungstrakte mit ihrem Wohnblock verschmolzen war. Einige Minuten blieb sie regungslos stehen, dann wandte sie sich wieder um.

Die Möbel und die Holzfußböden waren noch dieselben wie vor einem Jahr. Andrea überlegte kurz. Die Farben an den Wänden passten zu Silke. Aber Gardinen? Wie hatte es Silke genannt, als Andrea ihr vorgeschlagen hatte, Vorhänge aufzuhängen: „gelebtes Spießertum“.

Sie hätte sich wohler gefühlt mit Vorhängen oder besser noch Jalousien vor den Fenstern. Trotzdem hatte sie Silke nicht widersprochen. Sie verstand es als Teil ihrer Therapie. Sie war damals eingezogen, um ihren Verfolger abzuhängen und ihren zu dieser Zeit chronischen Verfolgungswahn zu besiegen. Und Fenster ohne Vorhänge davor waren ein wichtiger Anfang.

Aber warum hatte sich ihre beste Freundin jetzt selbst welche vor die Fenster gehängt? Hatte Andreas Angst sie beeinflusst? Glaubte sie, beobachtet zu werden? Hier im dritten Stock? Sie musste Silke unbedingt danach fragen.

Dann entdeckte sie ein Bild, das hinter dem Sofa im Wohnzimmer an der Wand lehnte.

Öl auf Leinwand in der Größe 110 x 140.

Andrea nahm es zur Hand. An der Unterschrift am rechten unteren Bildrand erkannte sie, dass es sich eindeutig um ein Gemälde ihrer Freundin handelte. Nur das Motiv war fremd. Die Leinwand war nicht, wie erwartet, mit einer intensiven Farbe bemalt worden, sondern zeigte einen Mann mit viel zu großen Augen, die ihr ausdruckslos entgegenstarrten. Wieder nahm Andrea die Gardinen in Augenschein. Litt Silke doch unter Paranoia?

Einatmen. Ausatmen.

Andrea schüttelte den Kopf und stellte das Bild wieder an seinen Platz. Verfolgungswahn passte zu ihr, aber nicht zu Silke.

Sie verwarf den Gedanken, holte ihren Koffer aus dem Vorraum und ging in das Zimmer, das vor einem Jahr noch ihres war. Auch hier hatte Silke gewütet.

Die Wände waren in einem warmen Sandton gestrichen worden und mit zwei in verschiedenen Blautönen gehaltenen Bildern ihrer Freundin versehen. Blau war Andreas Lieblingsfarbe. Sie fand es sehr hübsch so.

Ihr breites Bett stand noch an seinem angestammten Platz gegenüber dem Fenster, vor dem jetzt blaue Schlaufenvorhänge hingen und Andrea die freie Sicht auf das Dach gegenüber versperrten, wo sich die zwei Tauben eingenistet hatten. Sie hatte die beiden oft von ihrem Bett aus, durchs offene Fenster fotografiert und im Laufe der Zeit hatte sie eine Serie „Taubenfotos“ geschossen.

Die Bettdecke und das Kissen waren bereits mit grellroter Bettwäsche überzogen. Silkes Werk. Andrea wuchtete ihren Koffer auf ihre alte Kommode von Ikea und begann auszupacken. Vielleicht würde Silke inzwischen auftauchen. Mit einer Flasche Rotwein in der einen Hand und zwei Pizzaschachteln in der anderen. Bei diesem Gedanken verspürte Andrea ein intensives Hungergefühl. Sie hatte lediglich ein Sandwich mit Eiaufstrich gegessen. Und das war vor Stunden gewesen.

Als Silke aber auch zwanzig Minuten später noch nicht in der Tür stand, beschloss Andrea, eine heiße Dusche zu nehmen. Im Badezimmer fand sie mehrere ordentlich zusammengelegte Handtücher auf der Waschmaschine. Minutenlang genoss sie den wärmenden heißen Wasserstrahl, rasierte sich ihre Beine und Achseln, was sie einmal die Woche tat. Anschließend trocknete sie sich ab, cremte ihren Körper mit einer Lotion ein, die nach Vanille roch, zog ihren Jogginganzug an, den sie zuvor über dem Heizkörper im Bad aufgewärmt hatte, und machte sich auf in die Küche. Aber kaum hatte sie die Kühlschranktür geöffnet, befahl sie eine ihr bekannte Tonfolge an ihr Handy. Erneut erhielt sie eine SMS von Silke.

Sorry!

Wird leider sehr spät. Geh schlafen! Sehen uns beim Frühstück!

Bussi Silke

Nach dem Wort Silke hatte ihre Freundin ein Smiley eingefügt, das ihr zuzwinkerte. So viel zur Begrüßung einer alten Freundin, die man seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte. Enttäuscht machte sich Andrea daran, erneut den Kühlschrank zu inspizieren. Wenigstens war Silke einkaufen gewesen. Auf Essen im Gasthaus hatte Andrea, nach der anstrengenden Bahnfahrt, nun wirklich keinen Bock. Und sie hasste Fertiggerichte.

Nach wenigen Minuten hatte sie sich für Linguine mit Tomaten und Basilikum entschieden. Im Weinregal fand sie eine Flasche Chianti Classico aus dem Supermarkt. Nicht teuer, aber dafür leicht zu trinken. Im CD-Ständer suchte sie nach passender Musik.

„Kochen und Musik, das gehört zusammen wie Pasta und Tomaten“, hatte ihr ein alter Italiener erklärt, den Andrea während eines Fotoshootings für ein Kochbuch kennengelernt hatte. Seither begleiteten sie Tonkünstler in der Küche beim Anrichten von Speisen. Gott sei Dank hatte Silke einen ähnlichen Musikgeschmack wie Andrea, deshalb musste sie nicht lange suchen. Sie entschied sich für Lucio Dalla. Während sie den Klängen von Canzoni lauschte, ließ sie eine Handvoll Nudeln ins Salzwasser gleiten. Die Tomaten wurden überbrüht und gehäutet. Auf dem Fensterbrett stand ein Topf mit frischem Basilikum, und das im Oktober. Andrea grinste. Silke hatte wirklich eine Hand für Pflanzen, denn ihre Freundin zog Küchenkräuter zumeist selbst. Sie rieb an einem Pflanzenblatt, roch an ihren Fingern, dann erleichterte sie den Stock um einige Blätter.

Das Kochen lenkte sie nicht wirklich ab. Sie konnte nicht verstehen, warum Silke nicht auftauchte. Auch wenn sie wenig auf Etikette hielt, versetzt hatte sie ihre Freundin noch nie. Oder doch? Jetzt fiel es Andrea wieder ein. Damals, als sie Max kennengelernt hatte. Er war Regisseur, sie seine Assistentin. Sie arbeiteten zusammen an einem Kinofilm. Silke war verrückt nach diesem Kerl. Er war der erste Romeo gewesen, der es im Bett angeblich gebracht hatte. Silke schwärmte noch heute von ihren Orgasmen, die sie diesem Typ zu verdanken hatte. Sie kam zu Beginn ihrer Beziehung tagelang nicht nach Hause und informierte Andrea auch nicht darüber, wo sie sich herumtrieb. Sie hatte sich damals große Sorgen gemacht, konnte sich aber auch nicht wirklich um das plötzliche Verschwinden Silkes kümmern, weil sie einen ziemlich anstrengenden Job angenommen und von früh bis spät im Foto- und Filmstudio gearbeitet hatte. Nach einem verlängerten Wochenende war ihre Freundin dann plötzlich wieder aufgetaucht, hatte sich tausendmal entschuldigt und Andrea von den sexuellen Leistungen ihres neuen Lovers erzählt. Die Beziehung hatte aber nur ein knappes Jahr gedauert, denn leider hatte dieser Freudenspender sein Können angeblich zur gleichen Zeit bei mehreren Frauen bewiesen. Silke hatte sich böse an ihm gerächt. Sie hatte ihn in die Wohnung bestellt, das Wohnzimmer in Kerzenschein getaucht und mit Rosenblättern dekoriert.

Dann hatte sie sich ihrem Freund in schwarzer Spitzenunterwäsche und Strapsen präsentiert, ihn entkleidet, ihm die Hände mit einem Stück Stoff auf den Rücken gefesselt und ihm die Augen verbunden. Mit einem letzten, langen Kuss hatte sie ihn über den Vorraum in Richtung Schlafzimmer geführt. Im letzten Moment hatte Silke aber blitzschnell die Eingangstür geöffnet und den ziemlich verwirrten Max davor abgestellt. Danach hatte sie seine Kleidung durchs Fenster in den Innenhof geworfen. Andrea war zufällig Zeugin dieser Szene geworden, weil sie früher als geplant von Dreharbeiten nach Hause gekommen war und noch gesehen hatte, wie Max seine Sachen zusammengerafft hatte und verschwunden war. Silke hatte sie mit Tränen in den Augen an der Eingangstür empfangen und gesagt: „Mir kommt nur noch ein Vibrator ins Bett.“ Dann war sie in ihrem Zimmer verschwunden und zwei Tage nicht mehr herausgekommen. Ob sie sich wirklich so ein Ding zugelegt hatte, wusste Andrea nicht. Männer hatte sie jedenfalls keine mehr aus Silkes Schlafzimmer kommen gesehen.

Max’ Dreharbeiten wurden fortan mit einer anderen Regieassistentin fortgesetzt. Aber die Aktion war stilecht „ihre“ Silke gewesen. Andrea hatte es schade gefunden, denn Max war eigentlich sehr sympathisch und irgendwie hatte er gut zu Silke gepasst.

Andrea schaltete das Licht im Wohnzimmer aus, zündete vier Kerzen an, zog den Vorhang zur Seite und setzte sich auf die rote Couch im Wohnzimmer. Den dampfenden Teller Linguine stellte sie auf den Couchtisch neben den Rotwein. Sie schenkte sich ein Glas ein, nahm einen kräftigen Schluck und begann zu essen. Noch immer trällerte Lucio Dalla poetische Lieder im Hintergrund. Wieder dachte sie an Silke. Insgeheim hoffte sie, dass sie einen Märchenprinzen gefunden hatte, der ausnahmsweise das hielt, was er versprochen hatte, und sie ihn deshalb unmöglich verlassen konnte. Nicht einmal ihrer besten Freundin zuliebe.

Nach dem Essen löschte Andrea auch das Kerzenlicht. Sie saß im Dunkeln, leerte langsam die Flasche Rotwein und starrte durch das Fenster zur Dachritze hoch, hinter der sich die beiden Tauben nachts versteckten.

Es war gegen dreiundzwanzig Uhr, als sie die Müdigkeit übermannte. Aber bevor sie ihre Augenlider schloss, beschlich sie ein ihr bekanntes Gefühl. Ein Feind, den sie bereits besiegt glaubte. Und dieser Feind hatte einen Namen: Verfolgungswahn.

2.

Sonntag, 29. Oktober

Andrea erwachte wenige Minuten nach zehn Uhr. Sie hatte über elf Stunden auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Sonnenschein kam durch das Fenster und tauchte den Raum in wärmende Helligkeit. Ihr Rücken schmerzte und ihr Kopf dröhnte. Fühlte es sich tatsächlich so an, wenn man fünfunddreißig Jahre alt wurde? Sie schlug die Decke zurück, rappelte sich hoch und blieb in der Mitte des Sofas sitzen.

Decke? Warum war sie mit einer Wolldecke zugedeckt?

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