Tod auf dem Opernball - Beate Maxian - E-Book

Tod auf dem Opernball E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Mord auf dem Opernball! Der neue Wien-Krimi von Österreichs Nr.1-Bestsellerautorin Beate Maxian.

Ganz Wien ist im Opernballfieber. Auch die Journalistin Sarah Pauli ist auf dem glamourösen Event für den Wiener Boten im Einsatz. Doch dann versetzt ein schockierender Todesfall die Feiergesellschaft in Aufruhr: Vor laufenden Kameras bricht die umschwärmte Schauspielerin Nina Seidling leblos zusammen. Sarah beschleicht ein beklemmender Verdacht. Hängt der Tod des Stars mit einer unheilvollen Zuschrift zusammen, die sie kürzlich in der Redaktion erhalten hat? Nur wenige Tage später trifft eine weitere mysteriöse Nachricht bei Sarah ein, und noch bevor sie diese entschlüsseln kann, gibt es ein neues Opfer …

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Buch

Ganz Wien ist im Opernballfieber. Auch die Journalistin Sarah Pauli ist auf dem glamourösen Event für den Wiener Boten im Einsatz. Doch dann versetzt ein schockierender Todesfall die Feiergesellschaft in Aufruhr: Vor laufenden Kameras bricht die umschwärmte Schauspielerin Nina Seidling leblos zusammen. Sarah beschleicht ein beklemmender Verdacht. Hängt der Tod des Stars mit einer unheilvollen Zuschrift zusammen, die sie kürzlich in der Redaktion erhalten hat? Nur wenige Tage später trifft eine weitere mysteriöse Nachricht bei Sarah ein, und noch bevor sie diese entschlüsseln kann, gibt es ein neues Opfer …

Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Tod auf dem Opernball

Der vierzehnte Fall für Sarah Pauli

Ein Wien-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe April 2024 

Copyright © 2024 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2024 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: © FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30056-2V001

www.goldmann-verlag.de

Denn steinerne Grenzen können Liebe nicht fernhalten, und was Liebe kann, das wagt Liebe zu versuchen.

William Shakespeare, Romeo und Julia

Donnerstag, 16. Februar

Alois Stock war ein Ordnungsfreak. Auf dem Schreibtisch des sechzigjährigen Bankdirektors waren die Schreibunterlage, das Festnetztelefon und die drei Kugelschreiber von Montblanc wie mit dem Lineal ausgerichtet. Etwaige Arbeitspapiere wurden stets weggesperrt, wenn er sie nicht mehr brauchte. Nie lagen irgendwelche unnötigen Zettel oder Firlefanz auf dem Tisch. Stock duldete kein Durcheinander. Weder im Beruf noch im Privaten. Alles in seinem Leben hatte Ordnung und Struktur. Nur sein Körper war ein wenig aus dem Leim gegangen. Aufgrund des Übergewichts schwitzte er schnell, noch dazu hatte er eine Halbglatze. Doch die Designerbrille und sein Modebewusstsein glichen seiner Meinung nach dieses Manko mehr als aus. Er trug ausschließlich Maßanzüge und war zufrieden mit sich und seiner Welt. Geheiratet hatte er nie. »Keine Zeit für eine Ehefrau«, war seine Antwort, wenn ihn jemand fragte, weshalb er Single blieb, obwohl es die eine oder andere Anwärterin gab. Erfolg machte schließlich sexy. Aber er war mit seiner Arbeit verheiratet. Und die Damen vom Escortservice, die er ab und zu bemühte, befriedigten seine Gelüste nach weiblicher Gesellschaft bei einem guten Abendessen oder einer ebensolchen Begleitung bei Theaterbesuchen – durch Aufzahlung auch mit einer schnellen Nummer.

»Sag, hörst du mir eigentlich zu?«, riss Hugo Misic ihn aus seinen Gedanken.

Stock versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Für einen Moment hatte er doch glatt vergessen, dass sein langjähriger Freund ihm gegenübersaß. Und ja, er hatte dem Autohändler nicht zugehört, weil dieser nur selten direkt auf den Punkt kam, sondern normalerweise zu ausschweifenden Erklärungen neigte.

»Natürlich«, behauptete der Bankdirektor. »Du brauchst einen Kredit über vierhunderttausend Euro, weil euer aktueller Schauraum zu klein ist und du einen neuen bauen willst. Das hast du mir ja schon letzte Woche in der Mail geschrieben.« Er hoffte, dass er damit richtiglag, und musterte sein Gegenüber eine Sekunde lang. Das weiße Slim-Fit-Hemd, das der Autohändler zu den Jeans trug, war zu eng geschnitten. Und trotzdem musste Stock anerkennen, dass der Sechsundfünfzigjährige jünger aussah, als er war. Seinem eigenen Geschmack nach wirkte er zwar wie ein Berufsjugendlicher, aber das war vermutlich auch ein Grund seines Erfolges. Und weil er so erfolgreich war, brauchte er jetzt eine neue, größere Ausstellungshalle. Hugo Misic und seine Frau Alma verkauften fast ausschließlich Luxusschlitten und Sportwagen. Ihr vorwiegend älterer Kundenkreis erfüllte sich damit den Wunschtraum einer zweiten Jugend. Auch Alois Stock gehörte zu den Kunden des Paars. Vor sieben Monaten hatte er sich einen Bentley Continental gegönnt.

»Die Papiere sind hier drin.« Der Bankdirektor klopfte auf die Mappe neben seiner Schreibunterlage. »Hab alles schon vorbereitet. Du brauchst nur noch zu unterzeichnen.« Er nahm die Dokumente heraus und schob sie dem Autohändler über den Tisch hinweg zu. »Lies dir den Vertrag in Ruhe durch. Kaffee?«

Hugo Misic nickte. Alois Stock nahm den Hörer des Festnetzapparates und bestellte zwei Verlängerte bei Inge Weber, seiner Sekretärin, die im Vorzimmer saß.

Der Autohändler begann zu lesen. Langsam. Auch das Kleingedruckte, wie Alois Stock mit geübtem Blick feststellte. Dabei trommelte Misic mit den Fingern nervös auf die Schreibtischplatte.

Inge Weber, eine Mittvierzigerin im beigen Kostüm und mit kurzen rötlichen Haaren, brachte den Kaffee. Sie stellte die Tassen ab, ebenso eine Porzellandose mit Würfelzucker und ein Milchkännchen, dann zog sie sich zurück.

Ohne den Blick vom Vertrag zu nehmen, griff Hugo Misic nach dem Kaffee vor sich, nippte daran und setzte die Tasse wieder ab. Dann hob er den Kopf. »Ein Fixzinssatz von 3,5 Prozent? Bist du verrückt?«, polterte er. »Das ist Wucher!«

Alois Stock machte eine bedauernde Geste. »Alles wird teurer. Auch die Kreditzinsen steigen. Das ist ein gutes Angebot. Hör dich ruhig bei der Konkurrenz um. Ein besseres wirst du derzeit nicht kriegen.«

Hugo Misic schob die Papiere wieder in Stocks Richtung. »Das muss ich mir noch mal überlegen.«

»Wie du meinst.« Der Bankdirektor griff nach dem Vertrag und ließ ihn wieder in der Dokumentenmappe verschwinden. »Du kannst die Luxusautos, die keinen Platz mehr in eurem Schauraum haben, ja ins Freie stellen, bis du dich entschieden hast.«

Der Autohändler ging auf die spitze Bemerkung nicht ein. Er erhob sich. »Dann will ich dich nicht länger aufhalten.«

Alois Stock blieb sitzen, streckte ihm lediglich die Hand hin. »Melde dich, wenn du’s dir überlegt hast.« Er lächelte nachsichtig.

Hugo Misic schlug ein. »Mach ich. Dann sehen wir uns heute Abend auf dem Opernball«, sagte er und ging.

Alois Stock sah ihm hinterher. Er starrte noch zur Tür, als die sich hinter dem Autohändler längst geschlossen hatte. Er würde wiederkommen, das war ihnen beiden klar. Sie verband nicht nur eine langjährige Freundschaft, sondern auch eine unschöne Geschichte. Über die sie zwar nie sprachen, die sich jedoch in ihrer beider Seelen festgefressen hatte und sie zusammenschweißte. Und Hugo ist nicht der Einzige, der zurückkommen wird, dachte Stock. Alle von früher kamen zu ihm. Die, die den kleinen Dicken dereinst ignoriert hatten, wenn es in der Schule darum ging, Mitglieder für ihre Volleyballmannschaft zu wählen. Den Streber der Klasse, von dem sie jedoch nur allzu gerne die Hausaufgaben abschrieben. Er, das einsame Kind, hatte sich aber nicht im Kämmerlein versteckt, sondern sich schon früh mit seiner Zukunft beschäftigt und damit, wie man reich und unentbehrlich werden konnte. Mit fünfundzwanzig war er bereits Filialleiter einer Bank am Wiener Stadtrand. Doch das war nur eine Zwischenstation. Es folgten Jahre bei der Schweizer Credit Suisse Group, damals eines der erfolgreichsten Kreditinstitute Europas. Und vor fast zwei Jahrzehnten hatte er die Stock Bank, sein eigenes Bankhaus, in Wiener Neustadt gegründet. Er war jetzt ein angesehener Bankdirektor. Heute kamen die von damals zu ihm und bettelten um einen Kredit, um sich ihre mickrigen Träume zu erfüllen. Manchmal ließ er sie zappeln, ehe er ihnen die Summe gewährte, die sich zumeist im niedrigen vierstelligen Bereich bewegte. Ebenso verhielt es sich mit den Mannschaftskapitänen aus dem Sportunterricht seiner Schulzeit. Sie trainierten heute in den Vereinen die Jugend und brauchten finanzkräftige Sponsoren.

»Ich hab euch alle in der Tasche«, murmelte er breit grinsend. Zeitgleich kam ihm das Schreiben von der Finanzmarktaufsichtsbehörde in den Sinn, das er vor zwei Wochen erhalten hatte. Sie wollten seine Bilanzen prüfen. Reine Routine, so stand es in dem Wisch. »Pah. Routine! So ein Schwachsinn. Ärger wollen die mir machen«, blaffte Alois Stock seinen Computer an. Er wusste, dass sich die Beamten schon länger mit ihm und seiner Bank beschäftigten. Schnell schüttelte er den unangenehmen Gedanken an die Behörde ab und ging wieder zum Tagesgeschäft über.

Um vier Uhr verabschiedete sich seine Sekretärin in den Feierabend. Wie üblich blieb Alois Stock noch im Büro. Er war der Erste, der morgens die Bank betrat, und der Letzte, der sie abends verließ.

Er fand, dass er sich eine Belohnung verdient hatte. Sein Arbeitstag dauerte heute schon wieder zehn Stunden. Mittags hatte er sich nur rasch drei Wurstsemmeln gegönnt. Ein richtiges Essen hatte sein durchgetakteter Zeitplan nicht zugelassen. Er griff in die unterste Schreibtischlade, fischte aus der hintersten Ecke ein kleines Briefchen hervor und ließ das weiße Pulver daraus auf den Tisch rieseln. Dann legte er mithilfe seiner Visitenkarte eine Line, fingerte einen Hunderteuroschein aus der Hosentasche, rollte ihn zusammen, beugte sich nach vorn und zog etwa die Hälfte vom Koks geräuschvoll ins rechte Nasenloch. Als er spürte, dass es oben angekommen war, wiederholte er den Vorgang mit dem linken. Sein Leben war perfekt. Zumindest so lange sein kleines Erfolgsgeheimnis unentdeckt blieb. Die von der Finanzmarktaufsichtsbehörde konnten ihn mal. Sollten sie ruhig kommen.

Er lehnte sich im Stuhl zurück, schloss die Augen und genoss das Gefühl der Unbesiegbarkeit und grenzenlosen Stärke, das sich in ihm ausbreitete.

Sarah Pauli balancierte sechs Kartons zur geschlossenen Tür des großen Konferenzraumes im Wiener Boten und versuchte dann, die Türklinke mit dem Ellbogen nach unten zu drücken. Es misslang.

»Na geh«, brummte sie. Jetzt fiel ihr auch noch eine dunkelbraune Haarsträhne direkt ins rechte Auge. Sie hätte ihre halblangen Haare zusammenbinden sollen. Während sie die Strähne wegpustete, bückte sie sich, um die Schachteln auf dem Boden abzustellen.

»Wart, Sarah, ich helf dir«, hörte sie in dem Moment eine vertraute Stimme. Conny, die Gesellschaftsreporterin des Wiener Boten, war gerade aus dem Aufzug gestiegen und eilte zu ihr. Wie üblich trug sie ein stylisches Outfit. Ein knielanges Strickkleid in der aktuellen Trendfarbe Magenta, dazu edle Lederstiefel und an ihren Ohren goldene Creolen. Ihre kupferrote Lockenmähne hatte sie auf ihrem Kopf zusammengedreht und festgesteckt. Sie war die unumstrittene modische Galionsfigur des Wiener Boten. Sissi, ihr schwarzer Mops, watschelte hinter ihr her.

Sarah kam sich angesichts der trendigen Kollegin in ihren Jeans und dem weißen Pulli nicht zum ersten Mal ein wenig underdressed vor. Aber sie hatte heute Morgen keine Lust gehabt, sich aufzubrezeln, das musste sie in ein paar Stunden für das Ballereignis des Jahres sowieso schon tun.

»Was um Himmels willen hast du da?« Die Society-Löwin deutete auf die Kartons in Sarahs Händen.

»Faschingskrapfen. Ich dachte, wir versüßen uns die letzte Sitzung vor dem großen Ereignis.«

Grund des Meetings war der Opernball. Schon seit Wochen fieberte die gesamte Stadt dem Faschingshöhepunkt entgegen. Die Medien kannten kaum mehr ein anderes Thema. Wer kommt? Wer verschmäht ihn? Wer sind die jungen Damen und Herren, die zur Balleröffnung tanzen? Welche Opernstars singen zum Auftakt? Auch der Wiener Bote hatte sich bereits diesen Fragen gewidmet. Jetzt, um halb drei am Nachmittag, hatte Sarah ein letztes Meeting für jene Redakteurinnen einberufen, die für die umfangreiche Berichterstattung verantwortlich waren. Herbert Kunz, den Chef vom Dienst, hatte sie ebenfalls dazugebeten.

»So viele können wir doch gar nicht verdrücken«, entgegnete Conny und zeigte auf die Pappschachteln.

»Sind ja auch nicht alle für uns gedacht. Ich schick nach der Sitzung eine Mail an sämtliche Abteilungen. Jeder, der will, kann sich einen holen.«

»Wie großzügig, Frau Chefredakteurin.« Grinsend zog Conny die Tür auf, bedeutete Sarah, ihr voraus einzutreten, folgte ihr dann und ließ die Tür offen stehen.

Auf dem ovalen Konferenztisch standen vier Flaschen Mineralwasser, Kaffeetassen, eine Thermoskanne und Teller mit Servietten bereit. Cordula Berger, Sarahs Sekretärin, hatte sich um alles gekümmert, während sie selbst die vorbestellten Krapfen in der Bäckerei abgeholt hatte.

Sie stellte die Kartons vorsichtig auf dem Tisch ab, schob sie nebeneinander und öffnete den ersten. In dem Moment betrat Patricia Franz das Konferenzzimmer. Die Lifestyle-Redakteurin trug grüne Jeans, einen Jacquardblazer mit Punkten und darunter ein weißes T-Shirt. Ihre rotblonden Haare hatte sie mit einer schwarzen Haarklammer im Nacken zusammengefasst. Zu Beginn ihrer Karriere beim Wiener Boten hatte sie in der Chronik-Abteilung gearbeitet, doch ihr großer Traum war es gewesen, in die Lifestyle-Redaktion zu wechseln, was ihr vor eineinhalb Jahren gelungen war. Schon seit zwei Wochen berichtete sie fast ausschließlich von den Frisuren, den Kleidern und den Schuhen, die die Ballgäste an diesem Abend tragen würden, sowie von den Getränken und den Speisen, die man in der Oper servieren würde. Zudem hatte sie die Verhaltensregeln auf dem Ball im Wiener Boten für alle Interessierten zusammengefasst. Connys Artikel hatten sich hingegen um die nationalen und internationalen Promis gedreht, die kommen würden. In der Loge des berühmten Bauunternehmers, der für seine aufsehenerregenden Gäste bekannt war, würde dieses Jahr eine US-amerikanische Schauspielerin sitzen.

Herbert Kunz betrat als Letzter den Raum. Wie üblich war er tadellos gekleidet. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und kirschrotem Einstecktuch. Seine rahmenlose Brille war wie immer blank poliert. Er schloss die Tür hinter sich.

»David wird im Frack bestimmt sehr elegant aussehen«, sagte Conny schmunzelnd, schenkte Kaffee in vier Tassen und schob jedem eine hin.

»Wie sich das für den Herausgeber des Wiener Boten gehört«, entgegnete Sarah. Sie wusste, dass ihr Lebensgefährte David sich in dem Aufzug unwohl fühlte und verkleidet vorkam. Aber auf dem Opernball herrschte für Männer nun mal Frackzwang, alternativ war eine Ausgehuniform erlaubt. Für die Damen war ein langes Abendkleid Pflicht.

»Dass er aber bitte auf gar keinen Fall seine Armbanduhr dazu trägt«, merkte Patricia streng an.

»Selbstverständlich trägt er eine Taschenuhr. Stilgerecht«, beruhigte Sarah sie. Selbst sie wusste, dass eine Uhr am Handgelenk zum Frack zu tragen einem Sakrileg gleichkam.

Die Lifestyle-Journalistin nickte zufrieden und nahm sich einen Krapfen.

»Immer an der Lochseite anbeißen«, riet Herbert Kunz und griff ebenfalls zu.

Patricia folgte seinem Rat und beugte sich über den Teller, damit die Marillenmarmelade nicht auf ihre Kleidung kleckste. Dann legte sie den Krapfen auf einen Dessertteller und wischte sich die Finger an einer Serviette ab.

Ebenfalls mit Kaffee und Krapfen bewaffnet, eröffnete Sarah endlich die Sitzung. »Also, was gibt es für heute Abend noch zu besprechen?«

»Ich habe gehört, dass Nina Seidling auftauchen wird«, sagte Patricia und schaute dabei in Connys Richtung. Die siebenundzwanzigjährige Schauspielerin war der Topstar unter vielen Stars in der beliebten TV-Serie Lilli am Land. Die Folgen liefen seit acht Monaten wöchentlich im österreichischen Fernsehen, und die Quoten gingen durch die sprichwörtliche Decke.

»Ja, sie hat ihr Kommen erst gestern publik gemacht«, antwortete Conny. »Ich bin mir aber sicher, dass von vornherein klar war, dass sie dabei sein wird. War bestimmt ein PR-Schachzug, um noch mehr Aufmerksamkeit zu generieren, als sie sowieso schon bekommt.«

»Habt ihr euch mal eine Folge der Serie angeschaut?«, fragte Sarah.

Patricia legte sich ihre Hand aufs Herz. »Natürlich nicht.« Sie grinste breit. »Ich hab bislang alle geschaut und liebe sie. Ihr etwa nicht?«

Conny und Sarah schüttelten synchron die Köpfe.

»Ich weiß zumindest, worum es geht«, beteuerte Conny. »Mehr aber auch nicht.«

»Schämt euch«, sagte Patricia scherzhaft und setzte zu einer Zusammenfassung an. »Also, die titelgebende Hauptfigur Lilli, Nina Seidling, hat von ihrer Großmutter eine kleine Frühstückspension im Burgenland geerbt, mit Blick auf den Neusiedler See. Allerdings hat sie keine Ahnung von dem Gewerbe und will nicht auf dem Land wohnen. Deshalb versucht sie, die Pension schnell wieder zu verkaufen. Aber das ist nicht so einfach, denn das Haus ist ein wenig heruntergekommen. Also beschließt sie, es vor dem Verkauf zu renovieren, und … ihr könnt euch sicher ausmalen, was dann alles passiert. Mittlerweile läuft die zweite Staffel, und Nina spielt die Rolle einfach göttlich«, schwärmte sie. »Das dürft ihr nicht verpassen.«

»Schaun ma mal«, antwortete Sarah unbestimmt. Auch Connys Miene wirkte nicht, als würde die Serie in nächster Zeit auf ihrem Fernseh- beziehungsweise Streamingplan stehen.

Herbert Kunz klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wie schön, dass die Serie so gut läuft und Nina Seidling auf den Ball kommt.« Er lächelte spöttisch. »Apropos, können wir jetzt endlich anfangen?«

Die Aufgaben für den Abend waren schnell festgelegt. Conny würde sich logischerweise um die Prominenten kümmern. Patricia um deren Make-up, Klamotten und Schmuck. Sarah und David wollten ein wenig Small Talk machen, mit Anzeigenkunden und Prominenten netzwerken und an die beiden Redakteurinnen berichten, so sich dabei etwas Interessantes ergab.

»Dann hoffen wir mal auf eine rauschende Ballnacht«, beendete Sarah nach einer halben Stunde die Sitzung.

»Zum Glück kann ich zu Hause auf dem Sofa sitzen«, seufzte Herbert Kunz und meinte es auch so. Sarah hatte ihm angeboten, sie zu begleiten. »Zu viele Menschen auf zu wenig Fläche«, hatte er dankend abgewunken und erwähnt, dass er schon vor einigen Jahren auf dem Ball gewesen sei und das eine Mal ihm für den Rest seines Lebens genüge.

Auch zu Sarahs Lieblingsbeschäftigungen gehörte es nicht gerade, sich auf derart gesellschaftlichen Events herumzutreiben. Dennoch war sie neugierig. Es war ihr erstes Mal auf dem berühmten Ball.

Sie legte einen Krapfen auf einen unbenutzten Teller. »Den bring ich der lieben Frau Berger.«

»Ich nehm auch gleich welche für den Rest der Lifestyle-Redaktion mit«, sagte Patricia und schnappte sich die halb leere Schachtel.

»Gut, dann bis heute Abend.« Sarah erhob sich. Es waren nur wenige Schritte vom Konferenzraum zum Sekretariat, das zwischen ihrem und Herbert Kunz’ Büro lag. Cordula Berger arbeitete für sie beide.

»Ich hab etwas für Sie«, sagte Sarah, als sie durch die offen stehende Tür ging, und reichte der Sekretärin den Faschingskrapfen.

»Das ist aber lieb von Ihnen, Frau Pauli«, flötete die mollige Fünfzigjährige und nahm den Teller entgegen.

»Ich seh nur noch schnell die Post durch und fahr dann gleich nach Hause zum Umziehen«, informierte Sarah sie. »Schauen Sie sich den Ball heute im Fernsehen an?«

Cordula Berger nickte lächelnd. »So viele Promis in schönen Kleidern. Na ja, die meisten zumindest«, relativierte sie ihre Aussage. »Das lass ich mir nicht entgehen. Die Promi-Quote soll dieses Jahr ja ausgesprochen hoch sein.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie gerne Promis schauen, Frau Berger.« Sarah war ehrlich überrascht. So hätte sie die Sekretärin nicht eingeschätzt.

»Was dachten Sie denn, Frau Pauli? Die Politiker, die sich dort tummeln, interessieren mich eher weniger.« Cordula Berger lachte und fuhr sich dabei verlegen durch ihre brünetten Haare.

Sarah stimmte in ihr Lachen ein und betrat ihr Büro der Chefredakteurin, das ihr manchmal eher wie ein Wohnzimmer erschien. Die gemütliche hellgraue Sitzlandschaft, von wo aus man einen guten Blick auf den Fernseher hatte, der an der in einem Elfenbeinton gestrichenen Wand neben dem Schreibtisch hing. Dazu die weißen Regale voller Bücher.

Sie setzte sich auf den Bürostuhl hinter ihrem Schreibtisch. Unterhalb des Bildschirms wachten Amy, ein kleines Plüschschwein, und ein Amethyst über sie und das Zimmer. Zwei Glücksbringer, die ihr Bruder Chris ihr geschenkt hatte. Vor ihr lag die Post, fein säuberlich von Cordula Berger sortiert und mit Eingangsstempel versehen. Obenauf ein Brief, auf dessen Kuvert, das ihre Sekretärin angeheftet hatte, keine Absenderadresse stand. Der Verfasser war scheinbar ein Fan ihrer Kolumne, in der es meist um Aberglaube und Symbolik ging. Er oder sie sprach ihr in dem auf dem Computer geschriebenen Brief höchstes Lob für die Artikel der letzten Tage aus, in denen Sarah aufgrund des bevorstehenden Balls die Sinnbilder an und in der Staatsoper thematisiert und analysiert hatte.

Es klopfte, und David erschien. Er trug Jeans und ein dunkelblaues Hemd, ein Outfit, in dem er sich wohler als im Anzug oder Frack fühlte. »Es ist schon halb vier. Ich wollte dich abholen.«

Sarah gab ihm zu verstehen einzutreten. »Lass mich das hier noch schnell zu Ende lesen.«

Er schloss die Tür und ließ sich auf den Besucherstuhl vor Sarahs Schreibtisch fallen.

»Lies mal den letzten Absatz«, forderte sie ihn eine Minute später auf.

David nahm den Brief, betrachtete ihn kurz und las dann laut vor. »Unter den Schwingen des Adlers gebären sich mit Schellenmützen und Lorbeerkränzen bedeckte Häupter, geben sich dem Tanz und der Lyra hin. Die schwarzen Schwäne haben sie im Blick, während Fortuna ihr Netz auswirft. Wer von ihnen sich wohl darin verfängt?« Er hob den Kopf und sah sie aus seinen dunkelbraunen Augen an. »Ein Rätsel«, stellte er fest. »Kennst du die Lösung?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Aber die meisten Symbole, die der Verfasser verwendet, befinden sich an der Fassade der Staatsoper oder in ihrem Innern. Ich hab sie in den letzten Tagen in meinen Kolumnen besprochen.«

»Erklär sie mir«, forderte David sie auf und gab ihr den Brief zurück.

»Du hast meine Artikel offenbar nicht gelesen«, merkte Sarah belustigt an. »Im Teesalon gibt es ein Deckengemälde. Im Zentrum ist eine Frau mit einem Lorbeerkranz und einer Lyra in Händen abgebildet. Sie sitzt auf den Schwingen eines Adlers und symbolisiert die Musik. Und wenn man die Feststiege hinaufgeht, sieht man oberhalb der Fenster, hinter denen der Teesalon liegt, drei großformatige Wandbilder. Das rechte Bild behandelt die komische Oper, die Hauptfigur trägt eine Schellenmütze. Das mittlere thematisiert die tragische Oper. Auf ihm siehst du eine mit Lorbeer bekränzte Figur, um die sich Kinder tummeln. Eines davon mit einer brennenden Fackel und einem Dolch in Händen.« Sarah legte den Brief auf den Schreibtisch. »Und zwölf grimmig dreinblickende schwarze Schwäne tragen die vier Laternen vor dem Eingang der Oper.«

»Das Rätsel verweist also eindeutig auf die Staatsoper«, folgerte David.

»Jein«, entgegnete Sarah. »Denn die Göttin Fortuna passt nicht in das Bild. Meines Wissens findet sich keine Darstellung von ihr in der Oper.«

David lächelte. »Zum Glück musst du das Rätsel nicht lösen.«

»Trotzdem wüsste ich gerne, was der Brief zu bedeuten hat«, sagte Sarah. »Und warum er ausgerechnet heute in der Post ist.«

»Kommt dir das seltsam vor?«

»Irgendwie schon. Immerhin findet heute der Opernball in der Staatsoper statt.« Einem Impuls folgend, fotografierte sie das Schreiben.

David grinste. »Jetzt kommt wieder deine neapolitanische Großmutter in dir durch, oder?«

Sarah lächelte. Ihre Nonna war der personifizierte Aberglaube gewesen, hatte viele Dinge und Ereignisse in ihrem Umfeld gedeutet und war niemals ohne ihr Corno aus dem Haus gegangen. Bei dem Gedanken griff sich Sarah instinktiv an ihre Halskette, an der ebenfalls ein rotes Corno baumelte, ihr Glückshörnchen, das sie vor dem Bösen Blick schützte. Wenngleich sie selbst nicht abergläubisch war, hatte sie von ihrer Großmutter viel über Schadenszauber, Sinnbilder und Symbole gelernt. Doch Sarah interessierte sich vielmehr für den Hintergrund und die Herkunft von verschiedenen Aspekten im Volksglauben, denn oftmals hatten alltägliche Handlungen, Riten und sogar Redeweisen darin ihren Ursprung.

»Der Schwan verheißt Liebenden übrigens ewige Treue«, erwiderte sie kokett.

»Ein gutes Omen für uns.« David zwinkerte ihr zu und erhob sich. »Und jetzt komm.«

Sarah stand ebenfalls auf. Die anderen, unheilvollen sinnbildlichen Bedeutungen von Schwänen schluckte sie hinunter.

Jetzt war nicht die Zeit für düstere Bemerkungen.

»Ein Gedränge ist das«, knurrte Delia Fee. »Es ist schon zwanzig nach neun, und seit vierzig Minuten kommen wir nicht vom Fleck.« Die Fashion- und Lifestyle-Influencerin hob den Rocksaum ihrer mitternachtsblauen Seidenrobe mit Madeiraspitze an, damit sich niemand darin verfing. Angefertigt hatte das Kleid die prominente Modeschöpferin Claudia Bacher, eine gute Freundin von ihr. Delia würde in dem Abendkleid heute Abend Werbung für die Designerin laufen und es danach behalten, anstelle des üblichen Honorars für die Promotion. Zusammengerechnet hatte die Influencerin zweieinhalb Millionen Follower auf ihren verschiedenen sozialen Kanälen und verdiente mit ihren Posts sehr gut. Ihr ehemaliger Zeitvertreib hatte sich im Laufe der letzten zwei Jahre in ein lukratives Business verwandelt. Diejenigen, die auf ihren Accounts ein Produkt bewerben wollten, wurden nicht zu knapp zur Kasse gebeten. Der Erfolg entschädigte Delia dafür, dass sie es als Schauspielerin nicht geschafft hatte, in die Oberliga aufzusteigen, sondern immer nur Nebenrollen angeboten bekommen hatte. Sie strich sich eine Strähne ihrer schulterlangen karamellbraunen Haare hinters Ohr. So kamen die Perlenohrringe besser zur Geltung, die ihr ein bekannter Juwelier für den heutigen Abend zur Verfügung gestellt hatte.

»Fünftausend Leute auf einmal in die Oper zu bringen, ist schon eine Herausforderung«, erwiderte Claudia. Die Designerin trumpfte mit einem pinken Kleid auf. Als Vorbild dafür hatte ihr der Hollywood-Glamour der 1950er-Jahre gedient. Die feudale Robe unterstrich ihren Typ. Sie hatte helle Haut, blaue Augen und lange platinblonde Haare, die sie elegant zu einem Gibson Tuck hochgesteckt trug.

Delia verzog missmutig ihre knallrot geschminkten Lippen. Mit Engelsgeduld hatten sie es mittlerweile vom Operneingang bis auf die Festtreppe mit dem roten Teppich geschafft. Das Eintreffen der Ballgäste war der erste Höhepunkt an diesem Abend, es wurde von zig Kameras begleitet und von Fernsehmoderatoren live dokumentiert. Doch der Gang nach oben zu den Festsälen zog sich schier endlos. Jetzt kam die Gästeschar erneut zum Stehen.

»Ich fühl mich wie in einer verfluchten Sardinenbüchse«, jammerte Delia.

Claudia schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln.

»Siehst du sie zufällig irgendwo?« Die Influencerin überflog die Gäste auf der Treppe.

Auch ohne den Namen genannt zu haben, wusste die Designerin, wen ihre Freundin meinte. Nina Seidling. Wo Kameras waren, war die Schauspielerin selten weit. Claudia hatte ihr eine petrolfarbene Robe auf den Leib geschneidert, mit schulterfreiem Oberteil und Swarovski-Kristallen am Ausschnitt. Die Farbe war perfekt auf die blaugrünen Augen und den goldbraunen Long Bob der Schauspielerin abgestimmt. Das Ergebnis kam einem Gesamtkunstwerk sehr nahe. »Ja. Da vorn!« Claudia deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

Delia reckte den Hals und entdeckte Nina am oberen Treppenabsatz. »Klar, dass die schon fast drin ist. Hat sicher mit wem geschlafen, um schneller als alle anderen reinzukommen. Mich wundert, dass sie sich überhaupt wie wir angestellt hat … wie der Pöbel.« Das letzte Wort spuckte sie Richtung Stufen aus.

»Sie trägt mein Kleid wie einen beliebigen Fetzen«, beschwerte sich Claudia, nachdem Delia mit ihrem Gezeter fertig war. »Ich hätte ihr auch einen Kartoffelsack überstülpen können, und es hätte keinen Unterschied gemacht. Dabei hätte sie heute Abend wie eine Königin aussehen können.«

Delia wusste, dass Claudia gezögert hatte, als die Filmproduktionsfirma von Kevin Katzberg sie gebeten hatte, für ihren aktuellen Star ein Kleid zu entwerfen und anzufertigen. Es war kein Geheimnis, wie schwierig Nina war und welches Stargehabe sie an den Tag legte, wenn ihr etwas missfiel. Zudem hatte Claudia von Beginn an daran gezweifelt, dass Nina genug Eleganz besaß, um das Kleid angemessen zu präsentieren. Ihre Zweifel hatten sich nun bestätigt.

»Hast du etwas anderes erwartet?«, zischte Delia. »Sie ist und bleibt ein Trampel, da können die Medien und ihre Agentur sie noch so oft als Romy Schneider des einundzwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen. An das Charisma und Können dieser Ikone wird diese Trutschn nie herankommen. Eigentlich ist es ein Verbrechen, Nina mit der großen Romy, Gott hab sie selig, zu vergleichen.« In Delias Augen wurde Nina völlig überschätzt, und das ärgerte sie. »Müsste man ihre Seele zeichnen, würde die einem Dämon mit Reißzähnen ähneln.« Delias Ansicht nach hatte die Schauspielerin ihre Rollen ausschließlich ihren Kontakten zu verdanken und nicht ihrem Können. Zu ihren Gönnern gehörte auch Kevin Katzberg, der Produzent der aktuellen Erfolgsserie. Was dieser als Gegenleistung erwartete, wusste die gesamte Branche. Und Nina tat mit Sicherheit alles, was sie auf die nächste Sprosse der Karriereleiter beförderte. Trotz aller Missgunst würde Delia heute Abend mit Nina auf Instagram live gehen. Das hatten sie vorab vereinbart. Die Schauspielerin sorgte nicht nur im Fernsehen für gute Quoten, sie hatte unzählige Fans und einflussreiche Mäzene, da konnte man sie nicht unbeachtet lassen. Zweitrangig, dass sie Delia verhasst war. Umgekehrt verhielt es sich ebenso: Zweieinhalb Millionen Follower und Delias Bekanntheitsgrad waren auch für Nina überzeugende Argumente, das Spiel mitzuspielen. Obwohl Delias Antipathie auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Herrgott noch mal!«, rief die Influencerin nun unleidlich. »Jetzt lässt sie sich auf der Stiege auch noch mit irgendwelchen Fans fotografieren. Ich seh schon, dass wir bis Mitternacht hier stehen müssen.«

»Geht doch schon weiter«, sagte Claudia und setzte einen Fuß auf die nächste Treppenstufe.

»Ja, aber im Schneckentempo.« Delia nahm ihren Blick von Nina, hielt ihr Handy hoch und filmte die Menschenmenge. Sie hatte ihren Followern einen regelmäßigen Lagebericht in all ihren Feeds versprochen, und das Versprechen würde sie halten.

Als auch sie endlich den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, war Nina längst verschwunden.

»Puuuh, geschafft«, ächzte Delia zehn Minuten später, während sie zusammengequetscht mit tausend anderen Gästen nahe der Tanzfläche standen.

»Gerade noch rechtzeitig«, seufzte die Designerin und deutete hinauf zur Mittelloge, wo soeben der österreichische Bundespräsident und seine Frau erschienen. Traditionell geschah das um zweiundzwanzig Uhr und leitete die offizielle Eröffnung des Balls ein. Flankiert wurde das Paar von Ministerinnen und Ministern. Sofort wurden die Fernsehkameras an der Decke, den Logen und die bemannten Kameras an der Tanzfläche per Regieanweisung in Stellung gebracht. Sogenannte Kordelsteher sorgten dafür, dass im Moment der Eröffnung kein Gast versehentlich das Parkett betrat.

Das Stimmengewirr um sie herum verstummte, als vor Delias und Claudias Augen über hundertvierzig Paare einzogen. Die Jungdamen in weißen Kleidern mit Hochsteckfrisuren und glitzernden Swarovski-Tiaras, die Jungherren im Frack. Die Debütantinnen und Debütanten nahmen choreografiert an der Seite Aufstellung und bildeten so einen Kreis um die Sängerinnen und Sänger der Staatsoper und die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts.

Delia hob den Blick zu den Ranglogen auf der gegenüberliegenden Seite. In einer von ihnen saß Nina Seidling und blickte auf das Treiben unter ihr. In dem Wissen, dass es immer eine Kamera gab, die auf sie gerichtet war, machte sie ein begeistertes Gesicht. Neben ihr erkannte Delia Eva Katzberg. Sie fragte sich, ob die Ehefrau und dreifache Mutter wusste, dass Nina die aktuelle Freizeitbeschäftigung ihres Mannes war. Und wenn ja, ob sie sich mittlerweile vielleicht einfach mit seinen Eskapaden abgefunden hatte und sie schlichtweg ignorierte. Denn Nina war nicht die erste und würde mit Sicherheit nicht die letzte Trophäe des Produzenten sein. Nicht dass seine Frau unattraktiv war. Eva Katzberg konnte mit ihren hübschen Konkurrentinnen um die Gunst ihres Mannes durchaus mithalten. Sie war schlank, groß, und ihre weizenblonden Haare, die helle Haut und die Sommersprossen auf der Nase verliehen ihr ein nordisches Aussehen. Delia hatte schon mehrfach mit ihr geplaudert und fand sie sehr sympathisch. Aber ihr Mann Kevin, der jetzt direkt hinter ihr stand, verdiente den Titel »Größter Mistkerl von Wien«. Eine Hand auf die Schulter seiner Frau gelegt, in der anderen ein Weinglas, beugte er sich leicht nach vorn, um besser sehen zu können, was sich unter ihm abspielte.

Delia löste sich von dem Anblick und sah wieder zum Parkett. Mittlerweile tanzte das Ensemble des Staatsopernballetts mit der Primaballerina zu »Wiener Blut«. Delia machte erneut ein paar Bilder, dann filmte sie eine Minute lang, versah das Video und die Fotos mit Hashtags und veröffentlichte den Content.

»Lass uns rausgehen«, schlug sie vor. »Sonst erstick ich hier noch inmitten all dieser Leute.«

»Gute Idee«, stimmte Claudia ihr zu. »Ich bekomm auch schon keine Luft mehr.«

Sie drängten sich durch die Menge bis ins Foyer.

»Ich mach hier noch schnell ein kurzes Video von uns.« Delia hakte sich bei ihrer Freundin unter und hielt das Handy hoch. »Bereit?«

Die Designerin nickte, und Delia tippte auf den Startbutton. »Hallo, ihr Lieben! Stellt euch vor, wen ich hier auf dem Opernball getroffen habe! Claudia Bacher, diiie«, zog sie den Artikel übertrieben in die Länge, um die Bedeutung ihrer Begleitung zu unterstreichen, »berühmte Modedesignerin. Ich trag übrigens ein unglaublich schönes Kleid von ihr.« Sie schwang mit dem Telefon über ihre Robe und wieder zurück, dann plauderte sie mit Claudia knapp zwei Minuten über Abendkleider, Schuhe und Handtaschen sowie über modische No-Gos auf einem Ball.

»Gar nicht geht zum Beispiel ein schlecht sitzender BH … oder ein Slip, der sich unter dem Kleid abzeichnet. Und Männer tragen bitte auf gar keinen Fall Kurzarmhemden«, mahnte Claudia.

»Das lad ich in einer Viertelstunde hoch«, sagte Delia, nachdem sie die Aufnahme beendet hatte. »Und kündige im Begleittext den Livetalk mit Nina an. Aber vorher lass uns eine Bar suchen. Ich brauch Rotwein, viel Rotwein«, brummte sie noch. »Nüchtern ertrag ich diese Bitch nicht.«

Sarah und David saßen allein in der Bühnenloge, die er für das Team des Wiener Boten reserviert hatte. Auf dem schmalen Tisch zwischen ihnen standen eine Flasche Rotwein, Mineralwasser und Gläser. Ein entzückendes kleines Lämpchen mit Kristallen in Eiszapfenform spendete ihnen zusätzlich zur Saalbeleuchtung Licht. Conny, Patricia und Simon, der Fotograf des Wiener Boten, hatten vor wenigen Minuten die Loge verlassen, um sich unter die Menge zu mischen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte David.

»Das ist zwar nicht mein natürliches Habitat«, erwiderte Sarah schmunzelnd, »aber es ist beeindruckend, und ich freu mich, mit dir hier zu sein.« Sie nahm ihr Weinglas und stieß es gegen seins, nippte am Wein und widmete sich dann wieder dem Geschehen auf dem Tanzparkett. Während sich dort Debütantinnen und Debütanten gerade zum Walzer »An der schönen blauen Donau« von Johann Strauß drehten, der das Ende der einstündigen Eröffnung einleitete, rauschte an ihrer Loge ein Kameramann vorbei. Dicht hinter ihm eine Nachrichtensprecherin, die Sarah aus dem Fernsehen kannte und die dieses Jahr erstmals den Opernball moderierte. Vermutlich waren sie auf dem Weg zu einem Interviewpartner.

»Ich bewundere wirklich die Moderatorenpaare und Kameraleute des ORF, die schon seit drei Stunden europaweit Livebilder hinausschicken, berichten und Statements einfangen. Das muss doch schweißtreibend sein, sich immer wieder in den labyrinthartigen Gängen und überfüllten Räumen durch Menschenmassen zu zwängen«, meinte Sarah.

»Und alle haben dabei noch ein fröhliches, lockeres Lächeln auf den Lippen und sich in Schale geworfen.«

»Apropos Schale. Der Frack steht dir ausgezeichnet«, sagte Sarah. »Musst dich also nicht verkleidet fühlen.«

»Und du schaust fantastisch aus«, gab David das Kompliment zurück.

Sarah hatte sich für den Opernball ein neues Kleid gegönnt. Die A-Linien-Robe war aus bordeauxrotem Satin und hatte Spaghettiträger, V-Ausschnitt und einen langen Beinschlitz. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einer Banane eingedreht, um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem Madagaskar-Rubin-Anhänger, und an den Füßen glitzerten silberfarbene Pumps mit Knöchelriemchen. Sie hatte sie wochenlang abends zu Hause eingetragen, damit ihre Füße auf dem Ball nicht schon nach zehn Minuten schmerzten. Acht Zentimeter hohe Absätze war Sarah nicht gewohnt.

In dem Moment folgte die berühmte Aufforderung der Tanzchoreografin: »Alles Walzer!«, und nach und nach mischten sich Ballgäste unter die Debütanten und drehten sich mit ihnen im Dreivierteltakt zu den Klängen des berühmten Donauwalzers.

»Was hältst du von einem Rundgang?«, fragte David. »Oder möchtest du lieber tanzen?«

»Später. Lass uns zuerst eine Runde drehen.« Sarah erhob sich, nahm ihre silberne Clutch und hakte sich mit dem freien Arm bei ihm unter.

Die Oper war bis in den letzten Winkel mit Blumen geschmückt und blitzblank gereinigt worden. Die Kronleuchter an den Decken funkelten, und das Publikum strahlte mit den festlichen Räumlichkeiten um die Wette.

Im Schwindfoyer löste Sarah sich von David und besah sich eingehend die Deckenluster. Es handelte sich um die letzten original erhaltenen Gasleuchten. Wenn man genau hinschaute, konnte man unter den Glühbirnen noch die Gashähnchen erkennen.

»Hast du gewusst, dass der Aberglaube, dass man in einem Theater nicht pfeifen darf, auf solche Gasluster zurückgeht?«, fragte sie.

David folgte ihrem Blick nach oben. »Und hat das auch einen tieferen Grund, oder hat sich das nur irgendeine Hexe ausgedacht, weil sie im Theater ihre Ruhe haben wollte?«

Sarah lachte. »Nein, nein, natürlich gibt es eine einleuchtende Begründung. Wenn damals der Sauerstoffgehalt in der Luft stark sank, begannen die Lampen, laut zu pfeifen«, erläuterte sie. »Dann wusste jeder, dass es irgendwo im Haus brennt, und war gewarnt. Ebenso haben die Techniker gepfiffen, um vor etwaigen herabfahrenden Kulissen zu warnen. Klar, Funkgeräte oder Handys gab es zu der Zeit noch nicht. Damit niemand unbegründet in Panik verfiel, war es also logisch, dass nur Techniker und Gasluster im Theater beziehungsweise der Oper pfeifen durften.«

»Bei der Lautstärke, die heute hier herrscht, würde man sicher niemanden pfeifen hören«, witzelte David. »Gerade mal eine Feuerwehrsirene.«

Gemeinsam schlenderten sie weiter in die Schwindloggia. Dort herrschte eine wahre Kakofonie. Es hörte sich an, als ob alle Gäste gleichzeitig und in unterschiedlichen Stimmlagen Getränke an der Bar bestellten, die eigens für die Ballnacht vor den Fenstern Richtung Ringstraße errichtet worden war. Sarah versuchte, alles in sich aufzunehmen. Zwei Männer riefen nach drei Flaschen Sekt und streckten ihre Hände an den Menschen vorbei, die vor ihnen standen, um die Bestellung entgegenzunehmen. Ein weiterer bezahlte über den Kopf einer Frau im rosa Chiffonkleid hinweg, die gerade bei einem anderen Barkeeper ein kleines Bier orderte.

»Guten Abend, Frau Pauli«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr.

Sarah sah zur Seite, wo Hugo Misic stand. Der sechsundfünfzigjährige Autohändler war einer ihrer besten Anzeigenkunden und im Frack kaum wiederzuerkennen. Auf den Werbefotos für das Autohaus Misic, die Sarah aus dem Wiener Boten kannte, zeigte er sich zumeist lässig in Jeans und engem Hemd. Er lehnte an einem Stehtisch mit weißem Tischtuch, an seiner Seite eine Frau mit dunkelblonden, hochgesteckten Haaren in einem bodenlangen grünen Seidenkleid. Auf dem Tisch warteten zwei Champagnerflöten und ein Teller mit Sacherwürsteln auf die beiden.

»Darf ich Ihnen meine Frau Alma vorstellen?«, sagte Misic, der Sarah und David vom letzten Sommerfest kannte, das der Wiener Bote für Werbekunden ausgerichtet hatte. Seine Frau war damals verhindert gewesen. Hugo Misic deutete auf die Dame neben sich. »Sie ist die gute Seele unseres Autohauses.« Er senkte die Stimme. »Und unter uns gesagt, außerdem die bessere Verkäuferin.«

»Geh, Hugo. Du und dein blöder Schmäh«, spielte Alma Misic die Empörte. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie beide endlich mal persönlich kennenzulernen.«

»Ebenso.« Sarah und David lächelten höflich und schüttelten den beiden die Hände.

»Ich lese Ihre Kolumnen«, sagte die Autohändlerin.

»Ich hoffe, Sie gefallen Ihnen«, antwortete Sarah.

»Selbstverständlich«, beteuerte Alma Misic. »Früher war mir gar nicht bewusst, dass es so viele Symbole in unserer schönen Stadt gibt – und natürlich wusste ich nicht, was sie bedeuten. Dank Ihren Kolumnen der letzten Tage bin ich heute Abend viel aufmerksamer durch die Oper gegangen. Gell, Hugo?«

»Viel aufmerksamer«, wiederholte ihr Mann artig.

»Bestimmt hab ich deshalb sogar einige Promis übersehen«, lachte Alma Misic. »Dabei sind die alle so was von rausgeputzt. Haben Sie das Kleid von Nina Seidling gesehen, Frau Pauli?«

»Nein, noch nicht«, gab Sarah zu.

»Der Wahnsinn.« Alma Misic legte ihre Hand an die Stirn, als drohte sie jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. »Wir tragen dieselbe Designerin«, fügte sie stolz hinzu, nachdem sie die Hand wieder runtergenommen hatte.

»Das ist aber auch ein wunderschönes Kleid«, fühlte Sarah sich genötigt zu sagen.

Alma Misic strahlte. »Danke schön. Kommen Sie sich bei den vielen Leuten auch vor wie in einem Ameisenhaufen, in dem ein chaotisches Gewimmel herrscht?«

Sarah lachte. »Der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen.«

David stimmte kurz in Sarahs Lachen ein, bevor er wieder ernst wurde. »Aber nun wollen wir Sie nicht länger beim Essen stören«, sagte er und deutete auf die Sacherwürstel. »Die werden doch schon kalt.« Damit verabschiedeten sie sich von dem Ehepaar und schlenderten weiter.

In dem Pausenraum, der nach dem ehemaligen Staatsoperndirektor Gustav Mahler benannt war, konnte man an weiß gedeckten Tischen Platz nehmen. An diesem Abend schützten Glasabdeckungen die wertvollen Gobelins. Auch hier spendeten glänzende Kronleuchter Licht. Sarah und David standen direkt unter einem, als ein etwa sechzigjähriger, dicklicher und rotwangiger Mann mit Halbglatze und Brille auf sie zukam. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

»Ist das nicht Alois Stock?«, fragte Sarah. Sie glaubte, erst kürzlich ein Bild von ihm im Wiener Boten gesehen zu haben. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte er eine Expertise zu Vermögensanleihen abgegeben. Alois Stock hatte vor zwanzig Jahren die Stock Bank mit Sitz in Wiener Neustadt gegründet. Soweit Sarah wusste, engagierte er sich auch sozial und unterstützte Sportvereine und kleinere Kulturstätten in der niederösterreichischen Gemeinde.

»Ja, das ist er.« David kannte den Banker persönlich. Reinhard Beck, der Ressortleiter Wirtschaft im Wiener Boten, hatte sie kürzlich bei einem Vortrag über künstliche Intelligenz im Finanzsektor miteinander bekannt gemacht.

Im Gehen unterhielt Alois Stock sich angeregt mit einem schätzungsweise gleichaltrigen, schlanken, braunhaarigen Mann, dann stoppten beide vor David und Sarah.

»Wie schön, Sie wiederzusehen, Herr Gruber«, sagte der Banker.

»Die Freude ist meinerseits.« David stellte ihm Sarah vor. »Gnädige Frau.« Alois Stock deutete eine Verbeugung an und gab Sarah einen formvollendeten Handkuss, indem sich seine Lippen ihrem Handrücken näherten, ihn aber nicht berührten. Alte Schule. »Darf ich Ihnen Tobias Zauner vorstellen? Einer der fähigsten Fondsmanager unseres Landes.« Der Banker reckte wichtigtuerisch sein Doppelkinn. »Er ist Ihr Mann, Herr Gruber, wenn Sie Ihr Vermögen verdoppeln … was sag ich, verdreifachen wollen.«

»Du übertreibst, Alois.« Tobias Zauner begnügte sich damit, Sarah und David die Hände zu schütteln.

»Das ist die reine Wahrheit.« Alois Stock sah aus, als hätte er seiner Begleitung gerne auf die Schulter geklopft. Allein der Größenunterschied zwischen ihnen hinderte ihn daran. Der Fondsmanager überragte den Bankdirektor um einen Kopf.

»Wenn es mal so weit sein sollte, dann weiß ich, an wen ich mich wende«, antwortete David nonchalant. Daraufhin machten sie noch ein wenig belanglosen Small Talk über den Ball, ehe Alois Stock und Tobias Zauner weiterzogen.

»Sie sitzen in derselben Rangloge, hab ich während der Eröffnung gesehen«, sagte David, als sie außer Hörweite waren.

»Scheint so, als wären sie ziemlich dick miteinander«, erwiderte Sarah. »Würde thematisch ja passen: der eine Bankdirektor, der andere Fondsmanager.«

Als auch sie den Gustav-Mahler-Saal wieder verlassen wollten, rauschte Conny im schwarzen Spitzenkleid heran. Ihre Lippen waren knallrot, und ihre Lockenmähne war hochgesteckt. An ihren Ohren baumelten Chandeliers mit roten Steinen.

»Ich hab vorhin Adrian Merz in einer Rangloge entdeckt. Er scheint mit seiner Schwester und seinem Schwager hier zu sein. Wer hätte das gedacht.« Die Society-Löwin schüttelte ungläubig den Kopf, und ihre Reaktion war berechtigt.

Niemand hatte erwartet, dass der Milliardenerbe und Unternehmer an diesem Abend in der Oper aufkreuzen würde. Sarah konnte sich nicht erinnern, davon vorher irgendwo gehört oder gelesen zu haben. Es war ein Jahr her, dass seine Frau Melissa bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die beiden waren ein schönes Paar gewesen und, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, sehr glücklich miteinander. Seit dem Unglück hatte sich der von Haus aus scheue Mittdreißiger noch seltener in der Öffentlichkeit sehen lassen als zuvor.

»Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie die unvermählte Damenwelt auf seine Anwesenheit reagiert.« Conny rollte belustigt mit den Augen.

David und Sarah schmunzelten. Adrian Merz gehörte zu den begehrtesten Witwern Wiens. Nicht nur wegen seines Vermögens und Ansehens, aber auch deshalb. Er war Aktionär eines österreichischen Chemiewerks, Miteigentümer einer Privatklinik für Patienten mit psychischen Erkrankungen, Teilhaber des Kosmetikkonzerns Sensjoie und der Parfümerie- und Kaufhauskette Lafabienne, die nach seiner französischen Großmutter benannt war. Den Konzern für Schönheitsartikel sowie die Warenhauskette führte er gemeinsam mit seiner Schwester Pauline Merz-Polinsky. Nina Seidling war seit eineinhalb Jahren das Werbegesicht für eine Pflegeserie von Sensjoie. Dass der Milliardär zudem noch attraktiv und scheu wie ein Reh war, weckte bestimmt den Jagdinstinkt so mancher Frau.

»Pauline Merz-Polinsky hat mir bei einer Veranstaltung vor wenigen Wochen erzählt, dass ihr Bruder langsam das Trauma überwindet, das der Unfalltod seiner Frau bei ihm ausgelöst hat, und wieder in sein früheres Leben zurückfindet«, sagte Conny. »Zumindest arbeitet er mittlerweile wieder so viel wie vor Melissas Unfall.«

»Weiß man eigentlich, wie der passiert ist?«, fragte Sarah. Wahrscheinlich hatte sie es damals gelesen, aber wieder vergessen.

»Sekundenschlaf«, sagte Conny knapp. »Die Frau ist quasi ungebremst gegen einen Baum in Vösendorf gekracht. Melissa Merz hat zu der Zeit fast rund um die Uhr gearbeitet und kaum geschlafen, hat Pauline Merz-Polinsky mir gegenüber behauptet. Sie und ihr Mann sind um einiges extrovertierter als Adrian Merz. Sie reden bei Kultur- oder Benefizveranstaltungen schon mal offen mit der Presse«, erklärte sie. »Aber niemand unserer Zunft würde sich erlauben, etwas zu veröffentlichen, was bei so einer vertraulichen Plauderei gesagt wurde. Denn so herzlich und aufgeschlossen sie sich auch geben, sie würden dich ihren Anwälten zum Frühstück vorwerfen, wenn du etwas ohne ihre schriftliche Genehmigung druckst. Ohne mit der Wimper zu zucken.«

Wie aufs Stichwort betrat Adrian Merz in dem Moment den Saal. Seine dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten, sein ebenmäßiges Gesicht glatt rasiert. Trotz seiner vornehmen Zurückhaltung besaß der Mann eine Ausstrahlung, die im gesamten Raum zu spüren war – und das lag nicht allein an seiner Größe von einem Meter neunzig. Er war in Begleitung seiner älteren Schwester und deren Mann Gustav Polinsky, ein schwerreicher Reeder mit Schwerpunkt Containerschiffe. Sarah musterte Pauline Merz-Polinsky. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Ballkleid, das ihre schlanke Figur unterstrich. Dazu flache Schuhe, denn die Frau war groß. Sarah schätzte sie auf eins achtzig. Ihr Mann war nicht viel größer. Die drei waren in ein Gespräch vertieft, während sie den Saal durchquerten. Sie schienen nicht mitzubekommen, dass die Augen aller anderen Anwesenden auf sie gerichtet waren.

Als sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, sah Conny auf ihr Handy. »Patricia schreibt, dass sie im Teesalon ist. Delia Fee wird dort in zehn Minuten mit Nina Seidling für Instagram live gehen. Da sollten wir dabei sein.«

»Ein Stress ist das hier«, murrte David, folgte aber Sarah und Conny.

Auf dem Weg zum Teesalon informierte die Society-Lady sie, dass es sich bei Delia Fee um eine überaus erfolgreiche Wiener Lifestyle-Influencerin handelte.

Patricia wartete schon auf sie in der offen stehenden Tür, die den Salon mit der Mittelloge verband. Die Loge war leer, die prominenten Politiker hatten sich unters Volk gemischt. Die Lifestyle-Redakteurin trug ein roséfarbenes, gerade geschnittenes Abendkleid. Ihre rotblonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten und auf dem Kopf fixiert. In unmittelbarer Nähe begrüßten sich Delia Fee und Nina Seidling gerade kameratauglich mit einer herzlichen Umarmung.

»Ich freu mich so, dass du Zeit für ein Livevideo hast. Bussi dafür, Schatzi«, zwitscherte Delia Fee hörbar.

»Für dich doch immer, Darling«, flötete Nina Seidling breit lächelnd und in derselben Lautstärke zurück. Dann küssten sie einander auf die Wange und stellten sich vor eine Wand, die mit goldgelber Seide bespannt war.

Ob sie wissen, dass sich hinter ihnen das Monogramm des ehemaligen Kaisers befindet?, überlegte Sarah. Vermutlich nicht.

»Wusstet ihr, dass Delia Fee für die Hauptrolle der Serie Lilli am Land, die Nina Seidling zum Star gemacht hat, ebenfalls vorgesprochen hat?«, flüsterte Conny.

»Delia Fee ist auch Schauspielerin?«, fragte Sarah leise nach.

Conny nickte. »Aber keine besonders gute. Deshalb hat sie nie eine Chance gehabt. Außerdem war schon vor dem Casting klar, dass Nina die Rolle bekommt.«

»Und das weißt du, weil …?«, hakte Sarah nach.

Conny warf ihr einen Blick zu, dessen Bedeutung eindeutig war: Hallo, ich bin’s, die Society-Lady schlechthin. »Weil ich so gut wie alles weiß«, sagte sie dann und lächelte.

Darin musste Sarah ihr zustimmen.

»Der Produzent Kevin Katzberg höchstpersönlich hat’s mir gesteckt«, gestand Conny dann doch.

Sarahs Blick wanderte wieder zu der Hauptdarstellerin vor der goldgelben Wand. Eine platinblonde Frau in einer pinken Robe und mit einem Rotwein- und einem Weißweinglas in den Händen trat zu ihr und der Influencerin. Sie reichte Delia Fee den Rotwein und drehte sich zu einer groß gewachsenen Frau mit weizenblonder Hochsteckfrisur um, von der sie sich eine Champagnerflöte geben ließ, die sie an Nina Seidling weiterreichte. In den nächsten Minuten sprachen die Frau in Pink, Delia Fee und die Schauspielerin leise miteinander und nippten zwischendrin an ihren Getränken. Dann sah die Influencerin auf die Uhr.

»Punkt Mitternacht. Das heißt, es ist Zeit für uns zwei Hübschen«, gab sie lautstark das Kommando.

Sie und Nina Seidling leerten ihre Gläser und reichten sie der Frau in dem pinken Kleid. Die Gespräche im Raum verstummten, und die beiden lächelten bühnenreif in die Kamera von Delia Fees Handy.

Im Nu schnellten die Mobiltelefone der Umstehenden in die Höhe. Auch Patricia filmte.