Tod auf der Donau - Beate Maxian - E-Book

Tod auf der Donau E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

An einem Apriltag sorgt in Wien der Tod einer bekannten Modezarin für Aufsehen: Ihre Leiche wird unweit ihres Hauses aus der Alten Donau geborgen, und bei ihr entdeckt die Polizei eine rätselhafte Halskette. Sarah Pauli, Journalistin beim Wiener Boten mit einem Faible für Aberglauben, wird auf den Fall aufmerksam und stößt auf eine Spur zum Friedhof der Namenlosen. An dem sagenumwobenen, nebelverhangenen Ort, an dem seit langer Zeit niemand mehr bestattet wird, hat jemand ein neues Kreuz abgelegt. Die mysteriöse Inschrift gibt Sarah Rätsel auf – und dann wird eine weitere Tote aus der Donau gezogen …

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

An einem Apriltag sorgt in Wien der Tod einer bekannten Modezarin für Aufsehen: Ihre Leiche wird unweit ihres Hauses aus der Alten Donau geborgen, und bei ihr entdeckt die Polizei eine rätselhafte Halskette. Sarah Pauli, Journalistin beim Wiener Boten mit einem Faible für Aberglauben, wird auf den Fall aufmerksam und stößt auf eine Spur zum Friedhof der Namenlosen. An dem sagenumwobenen, nebelverhangenen Ort, an dem seit langer Zeit niemand mehr bestattet wird, hat jemand ein neues Kreuz abgelegt. Die mysteriöse Inschrift gibt Sarah Rätsel auf – und dann wird eine weitere Tote aus der Donau gezogen …

Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Tod auf der Donau

Der fünfzehnte Fall für Sarah Pauli

Ein Wien-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe April 2025

Copyright © 2025 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2025 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: allOver images/Alamy Stock Foto; FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-32127-7V001

www.goldmann-verlag.de

Für Thomas.

Du fehlst.

Der Friedhof der Namenlosen

Tief im Schatten alter Rüstern

starren Kreuze hier am düstern

Uferrand.

Aber keine Epitaphe

sagen uns, wer unten schlafe,

kühl im Sand.

Still ist’s in den weiten Auen,

selbst die Donau ihre blauen

Wogen hemmt.

Denn sie schlafen hier gemeinsam,

die die Fluten still und einsam

angeschwemmt.

Alle, die sich hier gesellen,

trieb Verzweiflung in der Wellen

kalten Schoß.

Drum die Kreuze, die da ragen,

wie das Kreuz, das sie getragen,

»Namenlos«.

Albrecht Graf von Wickenburg Donnerstag, 28. September

1

Hannah Misling hatte vor vier Jahren das Laufen für sich entdeckt. Nachdem sie mit achtundvierzig verstärkt unangenehme Hitzewallungen verspürt hatte, dazu Kreislaufschwankungen, Gewichtszunahme und andere lästige Begleiterscheinungen des Wechsels. Seitdem stand sie jeden Morgen um sechs Uhr auf und schlüpfte sofort in ihre Trainingskleidung. Die Bewegung kurbelte ihren Kreislauf an und setzte Glückshormone frei, was zur Folge hatte, dass sie danach zumeist gut gelaunt nach Hause zurückkam und die Beschwerden erträglicher wurden. Auch an diesem Septembermorgen schob sie ihr Handy in die Armtasche, steckte die kabellosen In-Ear-Kopfhörer in die Tasche ihrer Laufjacke, zog sich eine dünne Mütze über ihre kurzen braunen Haare und verließ die Wohnung.

Ein paar Minuten später stieg sie an der Station Kaisermühlen in die U1. Die silbergrauen Züge waren voller Menschen, die meisten von ihnen vermutlich auf dem Weg zur Arbeit. Kaum jemand schenkte ihr Beachtung. Fast alle starrten auf ihre Handys. Die Haltestelle Donauinsel befand sich unter der Reichsbrücke und war so angelegt, dass Hannah bereits beim Aussteigen durch ovale Fenster nach draußen sehen konnte. Sie strebte dem Ausgang zu und stand wenige Augenblicke später im Freien.

An diesem Morgen lag die künstlich errichtete Insel zwischen der Neuen Donau und dem Hauptstrom unter einer dicken Nebelbank. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass jetzt, Ende September, der Herbst Einzug gehalten hatte. Nachdem sie die Station hinter sich gelassen hatte und ein paar Meter gelaufen war, blieb sie stehen. Sie überlegte, wieder umzukehren und heute woanders zu laufen. An einem Ort, wo mehr los war. Die Insel erschien ihr menschenleer. Die Morgendämmerung in Verbindung mit der Nebelwand und der Einsamkeit verunsicherte sie.

Erst mal aufwärmen, entschied Hannah schließlich. Das war wichtig.

Sie machte ein paar Schritte vorwärts, beugte den Rumpf nach vorne und berührte abwechselnd ihre Fußspitzen mit den Fingern. Dann streckte sie die Arme in die Höhe und hob das rechte Bein, bis der Oberschenkel waagerecht zum Boden war. Sie hielt die Position einige Sekunden und wiederholte die Übung mit dem linken Bein. Das machte sie zehn Mal. Dem folgten weitere Lockerungs- und Dehnübungen für Schultern, Oberkörper, Hüfte und Körpermitte. Immer die gleiche Routine. Dann schlug sie ihre Unsicherheit in den Wind, schob die Kopfhörer in ihre Ohren, verband diese via Bluetooth mit dem Handy, startete ihre Playlist fürs Laufen und trabte mit »Rushing Water« von Sting in den Ohren los.

Wenig später hatte sie in ihren üblichen Rhythmus gefunden. Obwohl das Gebüsch und die Bäume, die sie passierte, in dem Nebelschleier wie schaurige Gestalten wirkten, dachte sie nicht mehr an etwaige Gefahren, die auf der einsamen Strecke lauern konnten. Ihr kalter Atem formte kleine Wölkchen vor ihrem Gesicht.

Unter der milchigen Decke wirkte die Neue Donau wie ein graues Gespenst, das zwischen den beiden Ufern schwebte. Unmittelbar glaubte Hannah, das Donauweibchen leise rufen zu hören. In der gleichnamigen Sage erzählten sich Fischer von Geistern und Nixen, die junge Leute mit ihrem Gesang anlockten und in die Tiefe zogen. Demnach lebte dort, am Grund des Stroms, der Donaufürst mit seiner Frau und seinen Töchtern in einem Palast aus grünem Glas und hielt die Seelen der Ertrunkenen in umgestülpten Gefäßen gefangen. Doch eine dieser Meerjungfrauen war den Menschen freundlich gesinnt. Sie warnte einst das am Ufer lebende Fischervolk vor Hochwasser, das sich dem damals kleinen Städtchen Wien näherte, sodass sich alle Fischer- und Schiffsleute rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Dabei verliebte sich ein junger Mann unsterblich in die wunderschöne Nixe. Nachdem die Gefahr der Überschwemmung vorüber war, ruderte er tagtäglich mit seinem Kahn auf den Fluss hinaus und kam eines Tages nicht mehr zurück.

Hannah lächelte. Im Stadtpark hatte man mit einer Marmorstatue auf einem Brunnen dem Donauweibchen sogar ein Denkmal gesetzt.

Als sie den Grillplatz 10 erreichte, fiel ihr Blick auf die Schleusenbrücke Wehr 1. Sie überlegte, sie zu überqueren und weiter zur Alten Donau zu laufen. Die Nebelbänke zerrissen langsam über dem Strom. Sie konnte schon die Streben des Wakeboardlifts erkennen, der wie ein stählernes Monster aus dem Wasser ragte.

Donau so blau, summte sie in Gedanken gegen die Musik an, die aus ihrem Kopfhörer dröhnte und sie beim Laufen anpeitschen sollte. Auf Höhe des Grillplatzes 11 gabelte sich der Weg. Hannah blieb auf jenem, der entlang der Donau verlief. Kurz darauf nahm sie im Vorbeijoggen aus den Augenwinkeln eine Gestalt im Wasser wahr.

Holt mich jetzt das Donauweibchen?, grübelte sie grinsend. Oder war das eine optische Täuschung gewesen? Sie hatte mal gelesen, dass das Gehirn manchmal Reize, die das Auge aufnahm, falsch interpretierte. Doch die Gestalt hatte real gewirkt. Hannah blieb stehen und drehte sich um.

Was ist …? Der Gedanke blieb unvollendet. Sie erstarrte. Noch immer begriff sie nicht, was sie da sah. Auf den ersten Blick wirkte es, als hätte jemand eine Schaufensterpuppe ohne Kleidung entsorgt. Doch dafür war die Gestalt zu menschenähnlich. Hannah trat näher ans Ufer, schärfte ihren Blick und hielt die Luft an. Die vermeintliche Puppe war tatsächlich eine nackte Frau. Sie atmete wieder aus. Der leblose Körper lag nur einen Meter von ihr entfernt im Wasser. Dunkelbraune Haare schwebten wie Seegras um den Kopf. Das Gesicht blickte nach unten. Sanfte Wellen mit winzigen Schaumkronen spülten über den Leichnam hinweg.

Der Donaufürst hat eine neue Seele geholt, dachte Hannah, gelähmt vor Schreck. Sie stand da, konnte sich nicht bewegen. Erst Sekunden später sperrte sich ihr Kopf nicht länger gegen das Unvorstellbare. Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy aus der Armtasche und wählte den Notruf. Dann sah sie im Wasser etwas roségolden glitzern. War das da zwischen den Fingern der Toten eine Halskette?

Etwa sieben Monate später –Dienstag, 14. April

Der Schmerz kroch ihr von den Fußsohlen bis in die Hüften hinauf. Ihre Beine brannten, als würde sie in einem Haufen aus glühenden Kohlen stehen. Elina Thor verfluchte den Moment, in dem sie sich entschieden hatte, High-Heel-Sandaletten anstatt Ballerinas zu ihrem azurblauen Maxikleid anzuziehen. Immerhin erlaubte die Modewelt mittlerweile flache Schuhe zu Kleidern. Doch der Gedanke an Komfort war an diesem Abend zweitrangig gewesen. Als Modezarin und führende Stylingexpertin des Landes hatte sie ihre Erscheinung auf acht Zentimeter hohen Absätzen zur Geltung bringen wollen. Ihre glatten tizianfarbenen Haare trug sie kinnlang. Babyblaue Kontaktlinsen vervollständigten ihr attraktives Äußeres. Zudem war Blau ihre Lieblingsfarbe.

Heidi Eller, ihre beste Freundin und Starfriseurin, fasste sie am Arm. »Es war großartig«, flüsterte sie Elina ins Ohr. »Heute haben wir ihnen wieder mal gezeigt, was man aus sich machen kann, auch wenn man denkt, schon perfekt auszusehen.«

Außer Elina waren noch dreißig Frauen im Beautysalon Eller anwesend, den Heidi mit ihrem Mann Valentin auf der Wollzeile in der Wiener Innenstadt betrieb. Die beiden hatten ihre besten Kundinnen eingeladen, denen Elina ihren Freunden zuliebe drei Stunden lang Mode- und Stylingtipps gegeben hatte. Natürlich hatte man sich geduzt – das gehörte in der Szene dazu. Dazu hatten sie Champagner getrunken und Häppchen gegessen. Elina war davon ausgegangen, dass der Vortrag über Kleidungsstile, Körperformanalyse sowie Make-up-Trends etwa eine Stunde dauern würde. Im Anschluss würde sie für etwa fünfundvierzig Minuten Small Talk machen und dann wieder nach Hause fahren. Doch Caroline und Katrin, zwei Kundinnen des Salons, hatten eine endlose Fragerunde eröffnet, die sich für Elina zu einer weiteren qualvollen Stunde entwickelt hatte. Caroline war Pharmareferentin, wie Heidi ihr verraten hatte, als ihre gute Kundin eingetroffen war – zusammen mit dem Zusatz, dass sie ihr Aussehen gerne verändern würde.

»Aber warum denn? Steckt sie in einer Sinnkrise?«, hatte Elina ihrer Freundin zugeraunt. Denn die etwa Fünfzigjährige hatte zweifellos Stil. Der eisgraue Hosenanzug passte perfekt zu ihr und den schulterlangen hellbraunen Haaren, die sie offen trug und unter denen silberne Tropfenohrringe hervorblitzten. Mit Katrin verhielt sich die Sache schon anders. Die Frau um die vierzig arbeitete als Verkäuferin in einer nicht weit entfernten Nobelboutique und spielte mit dem Gedanken, sich in der Modebranche selbstständig zu machen. Elina hielt sie für unsicher und nicht fähig, in dem Haifischbecken Modewelt zu überleben. Sie hatte einen hellen Teint, ein schmales Gesicht und goldgelbe Haare, die zu einem Bubble Bob geschnitten waren. Das knallrote Etuikleid war zweifelsfrei von einer renommierten Marke, wirkte an Katrin aber leider so, als hätte sie es aus einem Altkleidersack gezogen.

Elina hatte unablässig eine um die andere Modefrage von ihr und Caroline beantwortet, während ihre Füße immer lauter protestiert hatten und ihre Geduld auf die Probe gestellt worden war.

»Bist du noch bei uns?«, riss Heidi sie jetzt aus ihren Gedanken.

»Ja, klar«, versicherte sie. »Ich hab letzte Nacht nur schlecht geschlafen. Außerdem muss ich gerade alles allein stemmen. Ricky ist seit einer Woche in Nepal unterwegs.« Sie verdrehte die Augen. »So eine Art Selbstfindungstrip. Ohne Handy, ohne Laptop. Somit muss ich weitere vierzehn Tage ohne Assistentin überleben.«

Ihre Freundin streckte ihr lächelnd eine Champagnerflöte hin. »Trink trotzdem endlich ein Glas mit uns.«

Bis dahin hatte Elina sich an ihrem Wasserglas festgehalten. Sie trank nie Alkohol während der Arbeit. Doch jetzt nahm sie der Starfriseurin folgsam das Glas aus den rot lackierten Fingern. Mit dem schwarz gefärbten Bob, den dunklen Augen und ihrer bestimmenden Art erinnerte Heidi Elina manchmal an die Schauspielerin Uma Thurman in dem Gangsterfilm Pulp Fiction. Knallhart, wenn es ums Geschäft ging. Valentin war das komplette Gegenteil seiner Frau. Blond und sensibel. Seine Augenfarbe wechselte zwischen Wasserblau und Grau, je nach Stimmung. Ebenso variierten seine stets pastellfarbenen Poloshirts von Rosa bis zu Lavendelfarben. Heute trug er ein Shirt im zarten Fuchsia zur blütenweißen Jeans. Eine schreckliche Kombination, fand Elina, hatte aber nichts gesagt.

In dem Moment winkte Heidi Caroline und Katrin zu sich, die sich mit Leonie unterhielten. Die Mittvierzigerin hatte ihre haselnussbraunen Locken zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und trug Jeans und eine weiße Oversize-Bluse. Verheiratet war sie mit Max, dem Regisseur von Elinas Fernsehsendung, der ihr manchmal eine Spur zu nahe kam. Sie fragte sich, warum Leonie heute Abend überhaupt gekommen war. Sie hatte erst ein Mal, beim letzten Sommerfest des Senders, mit ihr gesprochen. Von Heidi wusste Elina, dass Max’ Frau erst neuerdings Kundin im Beautysalon ihrer Freunde war. Ahmte sie Elina nach, da ihr klar geworden war, dass Max für sie schwärmte? Oder hatte sie den Weg zu ihnen gefunden, weil die Starfriseure Werbung in einem der Werbeblöcke in Elinas Sendung schalteten? Aber das konnte Leonie im Grunde genommen egal sein, schließlich arbeitete sie nicht für den Sender.

»Stell dir vor«, Heidi strahlte sie an, »die drei wollen unserem Frauennetzwerk beitreten.«

»Das freut mich«, sagte Elina höflich, obwohl es ihr gleichgültig war. Die Treffen fanden alle zwei Monaten statt, und sie hatte bei den letzten vier gefehlt. Aus Zeitgründen.

Artig stieß sie mit Leonie, Caroline und Katrin an. Insgeheim hatte sie die Pharmareferentin und die Verkäuferin zu den Nervensägen des Abends gekürt. Sie nippte an ihrem Glas.

»Machst du auch Einzelcoachings?«, fragte Caroline. »Oder hast du für so etwas keine Zeit mehr, neben deiner Modelinie und der Sendung?«

Elina sah ihr an, dass ihr weder der Name der Fernsehsendung »Dein Style« noch der Name ihres Modelabels einfiel. Dabei war Letzterer einfach: Elina, so wie ihr Vorname. Vermutlich hatte Caroline sich vor diesem Abend kaum mit ihr beschäftigt, sondern war von Heidi zum Kommen überredet worden. Elina hatte nicht vor, ihr auf die Sprünge zu helfen.

Leonies Mundwinkel zuckten, als würde sie die Situation amüsieren.

»Sie coacht nur ausgewählte Kundinnen und Kunden«, behauptete Kim, die sich jetzt in die Runde drängte und Leonie freundschaftlich einen Arm um die Schultern legte. In der freien Hand hielt sie ein Weißweinglas und stieß mit den Frauen an. »Ich leiste mir Elinas Beratung und ihre neueste Kollektion im Sechsmonatsrhythmus. So bin ich immer up to date.«

Elina setzte ein freundliches Lächeln auf. Für ihre Dienste gab Kim, eine Mittfünfzigerin mit kurzen blonden Haaren, beachtliche Summen aus. Dass sie nicht sparen musste, sah man ihr an. Kim führte ein Hotel im Servitenviertel im neunten Bezirk, was ihr diesen opulenten Lebensstil ermöglichte.

»Es wäre mir einiges wert, mich von so einer berühmten Modezarin wie dir beraten und ankleiden zu lassen«, sagte Caroline.

Katrin beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Vermutlich ahnte sie, dass ein persönliches Mentoring ein kleines Vermögen kosten würde, das sie nicht besaß.

»Mailt mir einfach eure Telefonnummern.« Elina stellte ihre Champagnerflöte auf dem Stehtisch neben sich ab. Heidi und Valentin hatten die mit weißen Hussen überzogenen Tische extra für den heutigen Abend gemietet. Elina fand das übertrieben, aber ihre Freundin hatte darauf bestanden.

Elina verteilte ihre Visitenkarten. »Ich melde mich, und dann sprechen wir weiter.«

Caroline und Katrin bedankten sich.

»Tja.« Elina lächelte den beiden zu. »Dann werde ich mal meine Sachen zusammenpacken.« Sie hatte acht Kleidungsstücke aus ihrer aktuellen Kollektion mitgebracht.

»Warte, ich helfe dir.« Heidi drückte ihr Glas Valentin in die Hand.

Zusammen machten sie sich daran, die Kleidungsstücke, die an einer einzelnen mobilen Kleiderstange hingen, in Kleidersäcke zu stecken.

»Hat sich eigentlich dein Unbekannter wieder gemeldet?«, flüsterte Heidi, während sie ihr zur Hand ging.

»Seit letzter Woche nicht mehr«, gab Elina ebenso leise zurück.

Heidi atmete erleichtert auf. »Das klingt gut. Vielleicht lässt er dich ja jetzt in Ruhe.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.« In den letzten fünf Wochen hatte Elina nahezu täglich eine unbekannte Person angerufen. Gesprochen hatte er oder sie nie, nur eine Weile geatmet und dann aufgelegt. Sie war drauf und dran, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten, da sie befürchtete, dass ein Stalker dahintersteckte. Andererseits, was konnte die Exekutive in so einem Fall schon tun? Vermutlich wenig, solange nicht mehr passierte.

Zwanzig Minuten später wollte Elina mit fünf Kleidersäcken und einem Rollkoffer voller Stoffmuster und Modezeitschriften den mittlerweile leeren Salon verlassen.

»Kann ich mich noch nützlich machen?« Valentin streckte die Hand nach dem Koffer aus.

»Musst du nicht.« Elina umklammerte den Griff. »Der ist nicht so schwer, wie er aussieht. Außerdem steht mein Wagen nur ein paar Schritte entfernt«, behauptete sie und küsste ihre Freunde zum Abschied schnell auf die Wangen. Sie wollte endlich allein sein. »Baba und schlaft gut.«

»Servus«, verabschiedete sich Valentin.

»Komm gut heim«, fügte Heidi hinzu und schloss die Ladentür hinter Elina ab.

Auf dem Gehsteig atmete sie tief durch. Anfang April hatte der Frühling die Stadt bunt gefärbt, doch heute war es den ganzen Tag über kalt und grau gewesen. Zu allem Überfluss regnete es seit zwanzig Minuten, und naturgemäß lag ihr Schirm im Auto. Geduckt, als könnte sie so den Tropfen entkommen, quälte Elina sich die Wollzeile hinunter. Ihre Schritte waren schwer, sie fühlte sich erschöpft, der Regen lief ihr über die Haare in den Nacken, und sie fröstelte. Doch die Rettung war nur noch drei Meter entfernt: ihr schwarzer Mini. Elina öffnete das Auto, hievte den Trolley in den Kofferraum, warf die Kleidersäcke darauf, fuhr sich durch die nassen Haare und ließ sich gleich darauf auf den Fahrersitz fallen, froh, im Trockenen zu sein. Ihre Handtasche legte sie auf den Beifahrersitz. Endlich, dachte sie, trat sich die Sandaletten von ihren gequälten Füßen und schleuderte sie in den Fußraum des Beifahrersitzes. Ein wohliger Schauer der Erleichterung durchrieselte sie, als der Druck nachließ und ihre Beine sich dankbar entspannten. Fast zärtlich strich sie sich abwechselnd über ihre schmerzenden Waden, massierte dann die beanspruchten Zehenballen und die Fersenbeine mit beiden Händen. Sie seufzte erleichtert, als sich die müden und verkrampften Muskeln lockerten, bevor sie sich in den Fußraum des Beifahrersitzes beugte und nach den grauen Mokassins griff. Sie hatte stets flache Reserveschuhe im Auto.

Dann kramte sie ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte Walter vor fünf Stunden eine WhatsApp geschickt, dass sie in den nächsten Tagen ihre restliche Kleidung aus der Wohnung in Döbling abholen würde. Seit drei Monaten wohnte Elina im siebzig Quadratmeter großen Uferhäuschen an der Alten Donau, das sie und Walter vor acht Jahren gekauft hatten. Bislang hatte es ihnen als Sommerdomizil mit kleinem Gärtchen und schwimmender Terrasse gedient. Es war einfach gehalten: im Erdgeschoss eine Küche, die zugleich Ess- und Wohnzimmer war, das Badezimmer und eine Toilette und in der Mansarde ein Schlafzimmer. Der Flur mit der Haustür führte in den offenen Carport.

Ihr zukünftiger Exmann war nach ihrem Auszug in der Wohnung in der Hofzeile im neunzehnten Bezirk geblieben. Nachdem Elina, während er in der Arbeit war, Bücher, Fotos, Vasen, Gläser und eine wertvolle Totenmaske weggeschafft hatte, hatte er die Schlösser auswechseln lassen. Es war traurig. Was einst als romantische Liebesgeschichte begonnen hatte, war zu einem bitteren Scheidungskrieg eskaliert. Es war ein Kampf um alles – das Vermögen, die Immobilien, sogar um die Erinnerungen wie Fotoalben, Vasen und Bilder. Jede Anklage, jede Schuldzuweisung wurde im emotionalen Gefecht wie ein Schwert geschwungen, das den Tod bringen konnte. Sie beschuldigte ihn der Ignoranz. »Du würdest ja nicht mal bemerken, dass ich da bin, wenn ich neben dir tot umfalle«, hatte sie ihm erst kürzlich an den Kopf geworfen. Daraufhin hatte Walter sie als geistlose Maskenträgerin bezeichnet. Eine Anspielung darauf, dass sie niemals ungeschminkt das Haus verließ. Er war der Ansicht, dass Elina die Ehe durch ihre Oberflächlichkeit zerstört hatte. Die Modewelt war nie das Seine gewesen. Er, der Herr Historiker, zog es vor, sich hinter alten Schriften und Gegenständen zu verstecken. Anfangs hatte sie das fasziniert. Heute langweilte es sie nur noch. Sie seufzte. Zum Glück hatten sie nie daran gedacht, Kinder in die Welt zu setzen.

Wütend steckte sie das Handy in die Handtasche zurück. Er hatte, wie erwartet, nicht geantwortet. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte halb zwölf, als Elina den Motor anließ. Der Termin bei Heidi und Valentin hatte viel zu lange gedauert. Fluchend lenkte sie ihren MINI durch das nächtliche Wien. Der nasse Asphalt reflektierte die Lichter der Straßenlaternen und Ampeln.

Dreißig Minuten später parkte Elina unter dem Carport. Sie schnappte sich ihre Handtasche und die High Heels und stieg aus. Den Koffer ließ sie im Wagen, um den wollte sie sich am nächsten Morgen kümmern. Zum Glück hatte es vor zehn Minuten aufgehört zu regnen.

Elina trat ein und schloss von innen ab. Sie hängte die Tasche an die Garderobe, schlüpfte aus den Mokassins, stellte die Sandaletten daneben und ging in die Küche.

Jetzt noch gemütlich ein Glas Rotwein trinken und dann ab ins Bett, dachte sie, als sie sich großzügig den Blaufränkischen von ihrem Lieblingswinzer einschenkte. Sie zog die Terrassentür auf und trat in den kleinen Garten. Der feuchte Rasen war kühl unter ihren nackten Füßen. Sie drückte den Schalter der Terrassenbeleuchtung, und der gepflasterte Teil, auf dem eine Loungegarnitur stand, wurde in warmes Licht getaucht. Während sie tief durchatmete, überquerte sie das Rasenstück und betrat die schwimmende Holzterrasse, von wo aus eine Leiter in den Naturbadesee führte. In der Sekunde nahm sie im schwachen Schein der Terrassenbeleuchtung schemenhaft eine Gestalt wahr. Sie zog ihre akkurat gezupften Augenbrauen zusammen. Wer stand da, etwa zehn Schritte von ihr entfernt? Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, hob sich die Silhouette kaum von der dunklen Umgebung ab. Was hatte er oder sie hier zu suchen? War das Walter? Wohl kaum. Elina spürte, wie sich langsam Angst in ihrem Körper ausbreitete. Instinktiv öffnete sie den Mund, begann, schneller zu atmen. Ihr Blick fiel auf ein Ruderboot, das an einem der beiden Pfeiler der Terrasse festgezurrt war. Es schaukelte auf den kleinen Wellen, die gegen die Pfosten klatschten. Was ging hier vor? Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren wie Trommelschläge. Sie schloss den Mund und verschluckte sich fast am eigenen Speichel. Lauf ins Haus!, hämmerte es in ihrem Kopf. Du musst dich einsperren, Hilfe holen!

Doch die Füße gehorchten ihr nicht. Elina blieb wie angewurzelt stehen und versuchte, das Zittern ihrer Knie auszublenden. »Hallo?«, krächzte sie. Ihre Kehle war staubtrocken. Hastig stellte sie das Weinglas auf die Holzbohlen. »Wer sind Sie?«

Die Gestalt reagierte nicht. Unheilvolle Stille lag in der Luft, als würde die Welt selbst den Atem anhalten.

»Das hier ist Privatbesitz.« Elina wollte selbstbewusster auftreten, als sie sich fühlte. Vergeblich. Sie klang immer noch heiser. »Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei.«

Der dunkle Schemen drehte sich um. Er trug eine schwarze Schimaske, die nur die Augen freiließ. In den Händen hielt er einen Baseballschläger.

Ein Überfall! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Mittlerweile rauschte das Blut in ihren Ohren. Sie holte tief Luft, wollte laut um Hilfe schreien, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Zumindest hatte sie ihre Beine wieder unter Kontrolle. Sie wandte sich um, taumelte zurück zum Haus. Ihr war schwindelig, sie versuchte, nicht zu fallen. Sie hörte die Person näher kommen. Ein harter Schlag traf sie im Rücken. Schmerz explodierte in ihrem Körper. Die Luft blieb ihr weg, sie stürzte nach vorne, landete auf dem Bauch und knallte mit der Stirn auf den Boden. In der nächsten Sekunde spürte sie heißen Atem in ihrem Nacken.

»Bitte«, flehte sie wimmernd. »Bitte, hören Sie auf.« Dicke Tränen quollen aus ihren Augen.

Ein zweiter Schlag donnerte auf ihre Schulter. Täuschte sie sich, oder hatte die Gestalt gerade »Dorit wartet« gemurmelt?

Dorit? Elinas Gedanken wirbelten durcheinander. Das war unmöglich. Sie hatte den Namen seit Jahren nicht mehr gehört, hatte ihn längst tief in sich vergraben. Was bedeutete das? Ihre Panik verwandelte sich in Entsetzen. Mit letzter Kraft drehte sie sich um, umfasste den Arm des Angreifers. Doch der riss sich grob los, holte aus und traf sie erneut. Die Welt schwankte, und es wurde dunkel um Elina.

Mittwoch, 15. April

Elina Thor war tot. Ertrunken in der Alten Donau. Die Nachricht hatte sich in den letzten dreißig Minuten rasant über Fernsehbildschirme, Radio und soziale Netzwerke verbreitet.

Sarah Pauli, Chefredakteurin des Wiener Boten, saß in weißer Tunika und blauer Stoffhose in ihrem Büro hinter ihrem Schreibtisch und fixierte den Bildschirm an der Wand, auf dem der private Sender TOPTV mit dem Frühstücksfernsehen lief. Sarah hatte den Ton abgeschaltet. Sie wartete auf die Liveschaltung zum Fundort, die auf dem Laufband am unteren Bildschirmrand angekündigt wurde. Der Kanal, auf dem Elina Thors Modesendung gelaufen war, war bereits mit einem Übertragungswagen vor Ort an der Alten Donau. Maja, Sarahs Kollegin und Chronik-Redakteurin, hatte ihr ein Foto geschickt.

Auch der Wiener Bote hatte die erste Meldung bereits auf seine Website gestellt und in seinen Accounts der diversen Social-Media-Plattformen gepostet. Kurz und prägnant. Die Beiträge enthielten nur die Informationen, die Maja Sarah am Telefon durchgegeben hatte.

»Warum ist sie in der Alten Donau ertrunken?«, hatte Sarah sich gewundert. »Gestern war alles andere als Badewetter. Überhaupt ist das Wasser im April noch viel zu kalt. Gut, Winterbaden in Seen und Flüssen erfreut sich immer größerer Beliebtheit, aber ich glaube kaum, dass Elina Thor ein Fan davon war.«

»Zumal sie vollständig bekleidet war«, hatte Maja ergänzt, was sie mittlerweile herausgefunden hatte. Sie war vor einer Stunde am Uferhäuschen an der Alten Donau eingetroffen, nahe dem die Leiche gefunden worden war, und war noch immer dort.

Simon, Fotograf und Computerexperte des Wiener Boten, war schon vom Ort des Geschehens zurück und hatte Fotos ins Bildarchiv hochgeladen, die er von dem Uferhäuschen und der Umgebung von der Straße aus gemacht hatte. Sarah wusste, dass er jetzt in seiner Wirkstätte im Untergeschoss saß, umgeben von zig Computern, und die Kommentare in ihrer Onlineausgabe und ihren Facebook- und Instagram-Accounts verfolgte. Unangemessene Bemerkungen wurden von ihm sofort entfernt.

Sarah strich sich eine Strähne ihrer halblangen dunkelbraunen Haare hinters Ohr, als das Bild auf dem Fernsehschirm wechselte. Das Moderatorenduo des Frühstücksfernsehens verschwand, und eine Mittvierzigerin in dunklem Hosenanzug und mit blonden Locken erschien. Sie stand in dem bläulich schimmernden Nachrichtenstudio neben dem Studio Desk. Auf der Monitorwand hinter ihr war eine Großaufnahme von Elina Thor zu sehen. Sarah griff zur Fernbedienung und schaltete den Ton ein. Die Moderatorin erläuterte, dass Elina Thor und ihr Mann, der Historiker Walter Thor, ein Uferhäuschen im Kleingartenverein Strandkolonie besaßen und die hochgeschätzte Kollegin und Modeexpertin heute in den frühen Morgenstunden tot in der Alten Donau aufgefunden worden war. Wer sie entdeckt hatte, erwähnte sie nicht.

Sarah nickte, sie war auf dem gleichen Wissensstand. Zudem kannte sie Walter Thor, da sie ihn vor vier Wochen interviewt hatte. Der Historiker forschte seit einigen Jahren zum Thema Grabbeigaben, und Sarah hatte in ihrer Kolumne über deren sinnbildliche Bedeutung geschrieben. Sie hatten sich im Wien Museum getroffen, dessen Sammlung achttausend diesbezügliche Objekte umfasste. Von der Altsteinzeit bis zum ersten Jahrhundert vor Christus, der Zeit der spätkeltischen Besiedlung. Sarah war fasziniert davon gewesen, wie gut erhalten die Beigaben waren, etwa die Schmuckstücke aus Bronze, die man bei Ausgrabungen im dreiundzwanzigsten Bezirk entdeckt hatte.

»Mein Kollege Filip Svoboda ist vor Ort und berichtet live«, fuhr die Moderatorin derweil fort. Sarah bemerkte, dass die Frau schluckte. Das Sprechen schien ihr schwerzufallen. Verständlich, sie hatte eine Kollegin verloren.

»Filip, kannst du uns schon mehr sagen?«, fragte die Moderatorin.

Erneut wechselte das Fernsehbild. Sarah sah einen geschätzt dreißigjährigen Journalisten mit einem Mikrofon in der Hand vor dem Uferhäuschen stehen. Der Abstand war groß genug, um den Hintergrund erkennen zu können. An das kleine Haus mit dem Mansardendach, der weißen Außenfassade und den grauen Fensterläden schloss sich direkt ein Carport an. Unter ihm parkte ein schwarzer MINI. Davor flatterte das Polizeiabsperrband, das zum Teil von einem grauen Transporter verdeckt wurde. Sarah wusste, dass es sich bei ihm um den Wagen der Spurensicherung handelte. Würden die Beamten brauchbare Spuren entdecken? Sie war nicht besonders zuversichtlich. Gestern hatte es bis spät nachts wie aus Kübeln geschüttet. Heute schien wieder die Sonne, und die Temperaturen würden im Laufe des Tages auf fünfundzwanzig Grad steigen.

Ob Martin Stein schon informiert worden war? Vorausgesetzt, es handelte sich um einen Mordfall, würde Sarah über den bulligen Kriminalbeamten schneller an Informationen kommen als die Konkurrenz. Sie beide verband eine vertrauensvolle Freundschaft, was nicht immer so gewesen war. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren Stein die Adern am Hals angeschwollen, sobald er Sarah auch nur am Horizont erblickt hatte. Mittlerweile hatte er sie schon mehrfach an Tatorte geholt, damit sie für ihn sinnbildhafte Spuren analysierte. Maja hatte versprochen, Sarah sofort zu informieren, sobald er auftauchte. Bislang hatte sie es noch nicht getan.

»Leider nein, wir haben noch keine Antworten auf unsere Fragen erhalten«, antwortete Filip Svoboda. »Die Polizei, die vor Ort ist, gibt keine Informationen zu den Todesumständen unserer geschätzten Kollegin heraus.«

Sarah nickte. Maja hatte ihr am Telefon das Gleiche gesagt. »Aber für heute Nachmittag plant die Polizei eine Pressekonferenz«, fuhr der Fernsehredakteur fort. »Danach wissen wir hoffentlich mehr.« Dann erläuterte er, was sich rund um das Häuschen abspielte. »Ein paar wenige Anwohner haben sich versammelt. Ein Interview wollte uns aber niemand geben. Alle hier stehen noch unter Schock. Elina war beliebt in der Nachbarschaft.« Seine Stimme war heiser geworden. Mit Sicherheit hatte auch er die Modezarin persönlich gekannt. Sarah hatte zwar nicht im Kopf, wie lange genau sie »Dein Style« moderiert hatte, wusste aber, dass die Sendung einige Jahre gelaufen war. Immer donnerstags im Hauptabendprogramm und zeitgleich live auf Instagram. Elina Thor hatte unzählige Fans gehabt und sich selbst zur Ikone stilisiert. Die Reichen, Schönen und Promis trugen ihre Kollektionen, und Sarah kannte nur eine Person, die, wenn es um Stilfragen ging, mit ihr mithalten konnte: Conny Soe, die Society-Ikone des Wiener Boten.

Filip Svoboda gab zurück ins Studio, wo die Moderatorin den Zusehern versicherte, dass sie erneut sofort live an die Alte Donau abgeben würden, so sich Neuigkeiten ergaben. Sarah schaltete den Ton wieder auf stumm.

»Was für eine Tragödie«, sagte Cordula Berger. Sarahs Sekretärin hatte ihr vor wenigen Minuten eine Melange auf den Schreibtisch gestellt und war bis jetzt stehen geblieben, um den Fernsehbeitrag zu verfolgen.

Der Kaffee war mittlerweile kalt. Sarah trank ihn trotzdem. Heute Morgen hatte sie keine Zeit für ein Frühstück gehabt, weil sie den Fußboden ihrer Landhausküche gereinigt hatte. Marie, Sarahs Halbangora, war nach einer kurzen Stippvisite im Hinterhofgarten ihrer Backsteinvilla mit schmutzigen Pfoten hereinspaziert und hatte dunkle Spuren hinterlassen.

»Der Tag beginnt ja Erfolg versprechend«, hatte David, ihr Lebenspartner und Chef des Wiener Boten, gemeint und war duschen gegangen, während Sarah den Dreck entfernt hatte.

Die mollige Vorzimmerdame zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres geblümten Kleides und tupfte sich damit die Tränen ab. »Die war doch erst in den Vierzigern.«

»Sechsundvierzig«, konkretisierte Sarah, da Maja ihr das vorhin am Telefon gesagt hatte.

»Ich habe ihre Sendung immer gern geschaut. Die Thor war so witzig und souverän. Dieses Kleid«, Cordula Berger zupfte an einem ihrer Ärmel, »hat sie vor zwei Jahren im Fernsehen vorgestellt. Ich hab es erst kürzlich secondhand erstanden. Anders hätte ich es mir niemals leisten können.«

»Es steht Ihnen ausgezeichnet«, sagte Sarah.

»Elina Thor hatte einfach Geschmack.« Cordula Berger verließ schniefend und mit hängendem Kopf Sarahs Büro. Der Tod der Frau ging ihr sichtbar nahe, und bestimmt erging es den vielen anderen Fans der Modezarin nicht anders. Vermutlich saßen einige von ihnen weinend vor den Fernsehbildschirmen und Radios. Vor allem aber hatte sich die Welt von Elina Thors Angehörigen und engsten Freunden mit einem Schlag verändert.

Sarahs Blick streifte die Einladung, die auf ihrem Tisch lag, und ihre Gedanken wanderten zu Nadine Pinter. Die Gründerin und Chefin der Werbeagentur Mehrblick hatte für kommenden Freitagabend zum runden Firmenjubiläum geladen. Die Feier würde in den Räumlichkeiten der Agentur am Schwedenplatz stattfinden. Sie und David wollten hingehen. Auf den Tag genau vor zwanzig Jahren hatte die damals achtundzwanzigjährige Werbegrafikerin ihre Agentur eröffnet. Joachim Pinter, ihr Mann, war ein fünfzigjähriger Hüne mit grau melierten Haaren und strahlend blauen Augen und der Artdirector des Unternehmens. Conny hatte die beiden letzte Woche für den Wiener Boten porträtiert und anschließend gemeint, von Nadine Pinters Büro aus habe man einen sensationellen Blick auf den Donaukanal.

Sarah rief auf ihrem PC den Artikel auf. Ein Foto zeigte das Erfolgspaar Ende letzten Jahres bei der Verleihung des Staatspreises in Gold für den besten Werbefilm. Joachim Pinter hielt die Preisstatue in die Kamera, seine Frau stand breit lachend neben ihm. Die Agenturgründerin wirkte auf dem Foto jugendlich, obwohl das grüne Kostüm und die cremefarbenen Pumps eher konservativ waren. Ihr blondes Haar war hochgesteckt. Sie trug Perlenohrringe, aber keine Halskette.

Ich bin ein ausgesprochener Wassermensch, hatte Conny die Agenturchefin in ihrem Artikel zitiert. Mein Sternzeichen ist Wassermann, ich fahre Kajak, und Joachim und ich segeln für unser Leben gern. Ein Glücksfall, dass wir von unserer Agentur direkt auf den Donaukanal blicken.

Plötzlich fiel Sarah der Termin mit Friedrich Ganger ein, der heute anstand. Vor all der Aufregung hatte sie ihn kurzfristig vergessen gehabt. Sie wollte sich mittags mit ihm treffen. Sarah plante, ihre nächste Kolumne über Geisterwesen in Zusammenhang mit Begräbnisstätten zu schreiben, und bei dem Friedhof der Namenlosen in Simmering handelte es sich angeblich um einen »extrem spukreichen Ort«. Diese Behauptung stammte von dem pensionierten Hafenarbeiter Ganger, der ihr nach der Lektüre ihres Artikels über Grabbeigaben eine Mail mit Handynummer geschrieben und um Rückruf gebeten hatte. Sarah hatte mit ihm telefoniert und ihn während des Gesprächs kurzerhand als Friedhofsführer rekrutiert.

Jetzt griff sie zum Telefon und hoffte, dass er auch später Zeit für sie hätte.

Ines Bastian war von Anfang an klar gewesen, dass das hier in einem Drama enden würde.

»Was bist du nur für ein verlogenes Miststück!«, zischte Fine Sabitz, ihre Gesangspartnerin, ihr zu. Fine, eigentlich Rudolfine, hatte ihre dunklen Haare zu einem Haarkranz geflochten. Die Jeans mit Rissen an den Knien und Löchern an den Oberschenkeln und das weiße Shirt dienten als Kontrast zu ihrer Gretelfrisur. Doch die Kleidung passte gut zu ihr.

Die Schlagersängerinnen, die gemeinsam das Duo Ines & Fine bildeten, saßen auf den Besucherstühlen im Büro ihres Managers Ulrich Obcic. Auf dem Schreibtisch standen drei Tassen mit Kaffee und eine Flasche Mineralwasser mit drei Gläsern. So als hätten sie sich zu einem entspannten Meeting getroffen. Dabei hatte Ines vor einer halben Stunde eine Bombe platzen lassen. Sie wollte aussteigen, ihre Solokarriere, die sie vor sechzehn Jahren beendet hatte, wieder reaktivieren. Ulrich, fünfundfünfzig, dunkelblonde Locken und spitzes Kinn mit Ziegenbart, hatte sich nach einer hitzigen Diskussion, in der Worte wie – »unmöglich«, »unfair« und »unüberlegt« gefallen waren, vor zehn Minuten auf seinem Stuhl zurückgelehnt und ließ seither den freien Mächten ihren Lauf. Sprich, er verfolgte das Gespräch schweigend. Möglich, dass er unter Schock stand und überlegte, wie er Ines wieder zur Vernunft bringen konnte.

»Wieso ›verlogenes Miststück‹?« Ines seufzte genervt. »Vielmehr bin ich ehrlich und spreche aus, dass ich keine Lust mehr auf unser Duo habe.« Sie fuhr sich durch die langen goldbraunen Haare. »Ich bitte dich, lass uns nicht im Bösen auseinandergehen, sondern lieber auf die letzten sechzehn Jahre voller guter Erinnerungen zurückblicken. Wir waren …«

»Sind«, fiel Fine ihr ins Wort und sah sie an wie ein in die Enge getriebenes Reh, das nach einer Fluchtmöglichkeit sucht.

»Wir sind ein megaerfolgreiches Duo, das weiß ich«, fuhr Ines unbeirrt fort.

»Das du gerade zerstörst«, fuhr Fine sie an.

Ines reagierte nicht auf die Bemerkung. »Wir sind keine siamesischen Zwillinge, die für alle Ewigkeit miteinander verbunden sind.« Sie war fünfundvierzig und damit nicht zu alt, um ein weiteres Mal alleine durchzustarten. Sie nahm die Flasche und goss sich ein Glas Wasser ein. »Gut, vielleicht war es falsch, dich vor vollendete Tatsachen zu stellen«, räumte sie ein und nahm einen großen Schluck. Weil Fine nichts sagte, sprach sie weiter: »Es fällt mir nicht leicht, unser Duo aufzugeben, das musst du mir glauben.« In Wahrheit war der Entschluss in Ines in den letzten fünf Jahren herangereift. Fine war ein lieber Mensch, warmherzig und aufrichtig. Aber manchmal musste man eben den Mut haben, einen Schlussstrich zu ziehen. Vor allem dann, wenn man sich nicht mehr mit dem Projekt identifizieren konnte oder sich – wie in Ines’ Fall – zu Tode langweilte.

Fine schnaubte ungläubig. Als sie Ulrich einen hilfesuchenden Blick zuwarf, beugte sich der Manager langsam nach vorne, legte die Unterarme auf den Tisch und faltete die Hände.

»Ines«, begann er.

Sie sah ihm an, dass er sich zusammenriss, um nicht auszurasten. »Du willst nicht nur etwas sehr Wertvolles aufgeben.« Er machte eine kurze Pause, die er vermutlich brauchte, um gelassen zu bleiben. »Du stößt auch Fine und mich vor den Kopf, indem du uns vor, wie du dich gerade ausgedrückt hast, vollendete Tatsachen stellst.«

»Ich finde einfach, ich habe Fine schon lange genug mitgeschleppt.« Sie, Ines, war der Star des Duos, an deren Lippen die Fans hingen – Fine nur hübsches Beiwerk.

Ihre Partnerin schnappte empört nach Luft, dann atmete sie zitternd aus, und im gleichen Moment liefen ihr Tränen über die Wangen. »Du bist so eine verfluchte Mistkuh.«

Ines grinste schief. »Endlich rückst du mal damit raus, was du über mich denkst.« Abseits der Bühne hatten sie sich noch nie viel zu sagen gehabt. Von Beginn an waren sie getrennte Wege gegangen. Sie waren einfach zu unterschiedlich. Ines, die Ehrgeizige. Fine, die Nette.

»Das Beste-Freundinnen-Image, das wir nach außen hin vorspielen müssen, kotzt mich einfach nur noch an«, ergänzte Ines.

»Moment mal.« Ulrich löste seine Finger voneinander und hob eine Hand, als müsste er einen Schlag abwehren. »Du schleppst Fine nicht mit. Ihr performt auf Augenhöhe. Seit sechzehn Jahren seid ihr erfolgreich, steht auf den ganz großen Bühnen Österreichs und Deutschlands, werdet in jede Schlagershow und zu Musikfestivals eingeladen. Und das willst du jetzt einfach so wegwerfen?«

»Ich werde solo weitermachen.« Ines war von ihrem Plan überzeugt. Sie hatte das Potenzial.

»Hast du auch nur eine Sekunde an eure Fans gedacht? Sie werden todtraurig sein und es nicht verstehen«, verlagerte Ulrich das Gespräch auf die emotionale Ebene.

»Sie werden es schon überleben. Wir sind nicht das erste Duo, das sich trennt, und werden mit Sicherheit auch nicht das letzte sein.« Ines lächelte. »Außerdem bleib ich ihnen ja erhalten, nur eben nicht mit Fine.«

»Was um Himmels willen hat dir Fine nur getan, dass du dich jetzt wie eine gefühllose Egoistin aufführst?«, brach es wütend aus Ulrich heraus. »Ich hab euch aufgebaut. Als Duo.«

»Eh«, stimmte ihm Ines in ruhigem Tonfall zu. »Aber davor war ich solo unterwegs und, das musst du zugeben, gar nicht so schlecht.« Was nur die halbe Wahrheit war. Vor zwanzig Jahren hatte sie ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben und mit dem Debütalbum zwei Solohits in den Charts gelandet. Danach kam die Flaute. Aber dafür gab es einen triftigen Grund. Sie stand unter enormem Erfolgsdruck, dem sie als fünfundzwanzigjähriges Mädel nicht gewachsen war. Drei Jahre später lernte sie Ulrich kennen, der die Idee hatte, sie neu zu erfinden und mit Fine als Duo aufzustellen. Fine schnupperte zu der Zeit erstmals Schlagerluft, obwohl sie zwei Jahre älter war als Ines. Zwölf Monate später war Ulrichs Plan aufgegangen. Mittlerweile füllten Ines & Fine große Säle.

Ulrich schüttelte den Kopf. »Wie stellst du dir das vor?« Sein Ton klang wieder bemüht sanft.

»Die letzte Tour ist zwei Monate her, das neue Album ein halbes Jahr alt und nach wie vor in den Schlagercharts. Es spricht nichts dagegen, ab sofort getrennte Wege zu gehen und an unseren Solokarrieren zu arbeiten.« Dass sie sich derart für ihren Entschluss rechtfertigen musste, stresste Ines. »Auch an Fines«, setzte sie nach, obwohl sie nicht daran glaubte, dass ihre Partnerin im Alleingang Erfolg haben würde.

»Warum willst du das, was wir haben, nicht mehr?«, stellte Fine zum wiederholten Mal die gleiche Frage. Sie hatte sich wieder gefangen und wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht.

Weil ich der Liebling des Publikums bin und du nur das Anhängsel, dachte Ines, sagte aber: »Es ist Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen.«

»Never change a winning team«, versuchte es Ulrich mit einer Redewendung.

Ines ahnte, was er über sie dachte. Dass sie eine Narzisstin war, durch und durch ichbezogen. Egal. Fine brach erneut in Tränen aus. Sie war so empfindlich. Immer gleich am Heulen. Am schlimmsten war es, wenn sie sich negative Kritik zu Herzen nahm oder weinte, weil jemand Ines & Fine als Schlagertussis bezeichnet hatte. Ines war das egal. In Situationen wie dieser stellte sie sich einfach ihr Bankkonto vor und dachte: Armer Trottel, verdien du erst mal die Hälfte von dem, was mir der Schlager einbringt. Unzählige Male hatte sie ihrer Gesangskollegin geraten, das genauso zu handhaben, sich eine dickere Haut zuzulegen und gehässige Kritiker zu ignorieren beziehungsweise sie quatschen zu lassen.

Vergebens.

»Mein Entschluss steht fest.« Ines verschränkte die Arme.

»Na klar, dein Entschluss steht fest.« Fine warf die Hände in die Luft. »Und wir, der Pöbel, müssen natürlich akzeptieren, was Königin Ines beschließt. Wie immer.« Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze. Sie sah aus wie eine Katze, die gleich ihre Beute töten würde.

»Das stimmt doch nicht.« Ines sah schnell zu ihrem Manager.

Ulrich runzelte die Stirn. »In dem Fall muss ich Fine recht geben. Es geht zumeist nach deinem Kopf.«

»›Das Hotelzimmer gefällt mir nicht, kannst du mit mir tauschen, Fine? Fine ist zu laut, drehst du sie eine Spur leiser?‹«, äffte ihre Gesangspartnerin sie nach. »Natürlich machen wir das, Ines. Du bist ja der Star und ich nur dein Aufputz.«

»Also gut.« Ines lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wenn wir jetzt schon so gemütlich beisammensitzen und uns Nettigkeiten an den Kopf werfen, kann ich auch ehrlich sein. Die Chemie zwischen uns stimmt schon lange nicht mehr. Lass es raus, Fine. Was stört dich noch an mir?« Wenn die freundliche Tour nicht zum Erfolg führen würde, würde sie eben mit harten Bandagen kämpfen. »Wir können gerne reinen Tisch machen.«

»Du willst wirklich wissen, was mich an dir stört?« Fine verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Aber gerne. Es stört mich, dass du dich manchmal wie eine läufige Hündin benimmst und nach fast jedem Konzert einen Kerl abschleppst.«