Das dritte Licht - Claire Keegan - E-Book

Das dritte Licht E-Book

Claire Keegan

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Beschreibung

Irland, zu Beginn der 1980er Jahre: An einem heißen Sommertag liefert ein Vater seine kleine Tochter bei entfernten Verwandten auf einer Farm im tiefsten Wexford ab. Seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. So findet sich das Mädchen bei dem kinderlosen Ehepaar John und Edna Kinsella wieder. An einem ungewohnt schönen und behaglichen Ort, wo es Milch und Rhabarber und Zuwendung im Überfluss gibt. Aber auch ein trauriges Geheimnis, das einen Schatten auf die leuchtend leichten Tage wirft, in denen das Mädchen lernt, was Familie bedeuten kann. Das dritte Licht (»Foster«) wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und in Irland als The Quiet Girl, ebenfalls preisgekrönt, verfilmt. Nun ist diese meisterhaft komponierte Geschichte über wirkliches Zusammenleben, Zuneigung und Zärtlichkeit endlich wieder in der deutschen Übersetzung von Hans-Christian Oeser bei Steidl erhältlich – in einer neuen, von der Autorin überarbeiteten Fassung.

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Claire Keegan

DAS DRITTE LICHT

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Erzählung / Steidl

Für Ita Marcus und zum Gedächtnis an David Marcus

Inhalt

Cover

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Danksagung

Impressum

1

An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen. Es ist ein heißer Tag, strahlend hell, mit Mustern aus Schatten und jähem grünlichem Licht entlang der Straße. Wir fahren durch das Dorf Shillelagh, wo mein Vater bei einer Partie Forty Five unser rotes Kurzhornrind verloren hat, dann am Viehmarkt von Carnew vorbei, wo der Mann, der die Färse gewonnen hat, sie kurze Zeit später wieder verkaufte. Mein Vater wirft seinen Hut auf den Beifahrersitz, kurbelt das Fenster herunter und raucht. Ich schüttele mir die Zöpfe aus dem Haar, strecke mich auf der Rückbank aus und schaue aus dem Heckfenster. Mal ist ein klarer blauer Himmel zu sehen, mal ein mit Wolken geweißter, meist aber eine aufregende Mischung aus Himmel und Bäumen, zerteilt von Stromleitungen, über die hin und wieder kleine Scharen bräunlicher Vögel jagen, die gleich wieder verschwinden.

Ich frage mich, wie es wohl bei den Kinsellas zu Hause sein wird. Ich sehe eine hochgewachsene Frau vor mir, die sich über mich beugt und mich zwingt, kuhwarme Milch zu trinken. Ich sehe eine andere, weniger wahrscheinliche Version von ihr, eine Frau mit Schürze, die Pfannkuchenteig in eine Bratpfanne gießt und mich fragt, ob ich noch einen möchte, so wie meine Mutter es manchmal tut, wenn sie guter Laune ist. Der Mann wird nicht größer sein als sie. Er wird mich auf dem Traktor in die Stadt bringen und mir rote Limonade und Kartoffelchips kaufen. Oder er wird mich zwingen, Schuppen auszufegen, Steine aufzulesen und auf den Wiesen Besenkraut und Ampfer zu jäten. Ich sehe ihn vor mir, wie er etwas aus der Hosentasche nimmt, ich hoffe auf ein Fünfzig-Pence-Stück, aber es ist nur ein Taschentuch. Ich frage mich, ob sie in einem alten Bauernhaus wohnen oder in einem neuen Bungalow, ob sie ein Klohäuschen haben oder ein Badezimmer mit Toilette und fließend Wasser. Ich stelle mir vor, wie ich mit anderen Mädchen in einer dunklen Schlafkammer liege und Dinge sage, die wir, wenn der Morgen kommt, nicht wiederholen werden.

Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, bis das Auto endlich abbremst und in eine schmale asphaltierte Auffahrt biegt, dann eine Erschütterung, als die Räder über die Metallstäbe eines Weiderosts rattern. Zu beiden Seiten dichte, rechtwinklig gestutzte Hecken. Am Ende der Auffahrt ein langgestrecktes weißes Haus mit Bäumen, deren Zweige auf dem Boden schleifen.

»Da«, sage ich. »Die Bäume.«

»Was is’ mit denen?«

»Sie sind krank«, sage ich.

»Das sind Trauerweiden«, sagt er und räuspert sich.

Als wir auf den Hof fahren, spiegelt sich unsere Ankunft in hohen, glänzenden Fensterscheiben. Ich sehe mich von der Rückbank aus hinausschauen, wild wie ein Kesselflickerkind mit meinen aufgelösten Haaren, doch mein Vater am Lenkrad sieht immer noch aus wie mein Vater. Ein großer, nicht angebundener Jagdhund, dessen Fell gesprenkelt ist von den Schatten der Bäume, meldet sich mit einem halbherzigen rauen Bellen, dann setzt er sich auf die Türstufe und blickt in den Hauseingang, in dem jetzt der Mann steht. Er ist gedrungen wie die Männer, die meine Schwestern manchmal zeichnen, aber seine Augenbrauen sind weiß, passend zu seinem Haar. Er sieht überhaupt nicht aus wie die Leute meiner Mutter, die alle hochgewachsen sind und lange Arme haben, und ich frage mich, ob wir vielleicht beim falschen Haus gelandet sind.

»Dan«, sagt der Mann und strafft sich. »Wie geht’s denn so?«

»John«, sagt Da.

Sie stehen da und schauen einen Moment lang auf den Hof, dann unterhalten sie sich über den Regen: dass so wenig Regen gefallen ist, dass die Felder Regen brauchen, dass der Priester in Kilmuckridge noch an diesem Morgen um Regen gebetet hat, dass man so einen Sommer noch nie erlebt hat. Es entsteht eine Pause, in der mein Vater ausspuckt, dann wendet sich das Gespräch den Rinderpreisen zu, der EWG, den Butterbergen, den Kosten von Kalk und von Räudebädern. Das bin ich schon gewohnt, diese Art der Männer, nicht zu reden. Lieber stoßen sie mit dem Stiefelabsatz eine Sode aus dem Gras, schlagen mit der Hand auf das Dach eines Autos, bevor es davonfährt, spucken aus, sitzen breitbeinig da, als wäre ihnen alles gleich.

Als Mrs Kinsella herauskommt, beachtet sie die Männer gar nicht. Sie ist noch größer als meine Mutter und hat die gleichen schwarzen Haare, aber ihre sind gerade geschnitten, wie ein Helm. Sie trägt eine gemusterte Bluse und eine ausgestellte braune Hose. Die Wagentür wird geöffnet, und ich werde herausgehoben und abgeküsst. Mein Gesicht wird ganz heiß von ihren Küssen.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, lagst du noch im Kinderwagen«, sagt sie und tritt in Erwartung einer Antwort zurück.

»Der Kinderwagen ist kaputt.«

»Wie ist das denn passiert?«

»Mein Bruder hat ihn als Schubkarre benutzt, da ist ein Rad abgegangen.«

Sie lacht, leckte ihren Daumen an und wischt mir etwas aus dem Gesicht. Ich spüre, wie ihr Daumen, der weicher ist als der meiner Mutter, es wegwischt, was immer es sein mag. Als sie meine Kleidung mustert, nehme ich mein dünnes Wollkleidchen, meine staubigen Sandalen mit ihren Augen wahr. Dann kommt ein Moment, wo wir beide nicht recht wissen, was wir sagen sollen. Eine sonderbar reife Brise streicht über den Hof.

»Komm rein, a leanbh, Kindchen.«

Sie führt mich ins Haus. In der Diele einen Augenblick lang Dunkelheit; wenn ich zögere, zögert auch die Frau. Durch die Diele gehen wir in die Wärme der Küche, wo ich aufgefordert werde, mich zu setzen und mich wie zu Hause zu fühlen. Es riecht nach Gebackenem, aber auch nach Desinfektionsmitteln, nach irgendeinem Bleichmittel. Sie hebt einen Rhabarberkuchen aus dem Ofen und stellt ihn zum Abkühlen auf die Bank – Sirup, der schon fast Blasen wirft, dünne Teigblätter, die in die Kruste eingebacken sind. Von der Tür weht ein kühler Luftzug herein, hier drinnen aber ist es warm und still und sauber. Die hohen ochsenäugigen Maßliebchen sind genauso still wie das große Glas Wasser, in dem sie stehen. Keine Spur von einem Kind.

»Und wie geht’s deiner Mammy?«

»Sie hat ’n Zehner bei der Lotterieanleihe gewonnen.«

»Hat sie nicht.«

»Doch, hat sie«, sage ich. »Wir haben alle Wackelpudding mit Eiscreme gekriegt, und sie hat ’n neuen Schlauch und Flickzeug fürs Fahrrad gekauft.«

»Na, da seid ihr ja richtig verwöhnt worden.«

»Sind wir«, sage ich und spüre auf meiner Kopfhaut wieder die stählernen Zinken des Kamms, die kräftigen Hände meiner Mutter, als sie mir heute Morgen straffe Zöpfe geflochten hat, an meinem Rücken ihren Bauch, der hart ist vom nächsten Baby. Ich denke an die sauberen Höschen, die sie in den Koffer gepackt hat, an den Brief und daran, was sie geschrieben haben mag. Worte waren zwischen ihnen hin und her geflogen:

Wie lange sollen sie sie denn dabehalten?

Können sie sie nich’ so lange dabehalten, wie sie wollen?

Soll ich das sagen?

Sag, was du willst. Machst du doch eh immer, oder?

Jetzt füllt Mrs Kinsella einen Emaillekrug mit Milch.

»Deine Mutter hat wohl alle Hände voll zu tun?«

»Sie wartet drauf, dass sie kommen und das Heu mähen.«

»Habt ihr denn das Heu noch nich’ gemäht?«, fragt sie. »Seid ihr da nich’ ’n bisschen spät dran?«

Als die Männer vom Hof hereinkommen, wird es vorübergehend dunkel, dann, als sie sich setzen, hellt es sich wieder auf.

»Na, Missus«, sagt Da, als er einen Stuhl heranrückt.

»Dan«, sagt sie in einem anderen Tonfall.

»Das is’ vielleicht ’ne Affenhitze.«

»’s is’ heiß, das steht mal fest.« Sie dreht ihm den Rücken zu und wartet darauf, dass das Wasser im Kessel kocht.

»Würden sich die Felder nich’ über ’n kleinen Regenguss freuen?«

»Wir werden schon noch lang genug Regen haben.« Sie schaut zur Wand, als würde dort ein Bild hängen, aber es hängt kein Bild an der Wand, nur eine große Mahagoni-Uhr mit zwei Zeigern und einem großen schwingenden Kupfer-pendel.

»War’s nicht aber trotz allem ’n großes Jahr fürs Heu? So was hab ich mein Lebtag nich’ gesehn«, sagt Da. »Die Scheune is’ bis obenhin voll. Hätt’ mir an den Sparren fast den Schädel gespalten, als ich’s reingegabelt hab.«