Kleine Dinge wie diese - Claire Keegan - E-Book + Hörbuch

Kleine Dinge wie diese E-Book und Hörbuch

Claire Keegan

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Wer etwas auf sich hält in New Ross, County Wicklow, und es sich leisten kann, lässt seine Wäsche im Kloster waschen. Doch was sich dort hinter den glänzenden Fenstern und dicken Mauern ereignet, will in der Kleinstadt niemand so genau wissen. Denn es gibt Gerüchte. Dass es moralisch fragwürdige Mädchen sind, die zur Buße Schmutzflecken aus den Laken waschen. Dass sie von früh bis spät arbeiten müssen und daran zugrunde gehen. Dass ihre neugeborenen Babys ins Ausland verkauft werden. Der Kohlenhändler Billy Furlong hat kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Es sind harte Zeiten in Irland 1985, er hat Frau und fünf Töchter zu versorgen, und die Nonnen zahlen pünktlich. Eines Morgens ist Billy zu früh dran mit seiner Auslieferung. Und macht im Kohlenschuppen des Klosters eine Entdeckung, die ihn zutiefst verstört. Er muss eine Entscheidung treffen: als Familienvater, als Christ, als Mensch. Mit wenigen Worten erschafft Claire Keegan eine ganze Welt. Auf unnachahmliche Weise erzählt Kleine Dinge wie diese von Komplizenschaft und Mitschuld, davon, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können – davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 102

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:2 Std. 22 min

Sprecher:Stefan Wilkening

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Claire

Keegan

KLEINE

DINGE

WIE DIESE

Aus dem Englischen vonHans-Christian Oeser

Steidl

Diese Geschichte ist den Frauen und Kinderngewidmet, die in irischen Mutter-Kind-Heimen und inMagdalenen-Wäschereien gelebt und gelitten haben.

Und Mary McCay, Lehrerin.

Die Irische Republik hat das Recht – und erhebt hiermit Anspruch – auf die Loyalität aller Iren und Irinnen. Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermaßen wertschätzt.

Auszug aus der Proklamation der Irischen Republik (1916)

1

Im Oktober färbten sich die Bäume gelb. Dann wurden die Uhren eine Stunde zurückgestellt, und die Novemberwinde kamen, wehten unablässig übers Land und entblößten die Bäume. In der Stadt New Ross stießen die Schornsteine Rauchschwaden aus, die sich herabsenkten und in haarfeinen, langgezogenen Fäden davonschwebten, bevor sie sich entlang der Kais verteilten, und bald schwoll der Fluss Barrow, dunkel wie Stout, mit Regenwasser an.

Die Menschen, die meisten jedenfalls, ertrugen das Wetter zähneknirschend: Ladenbesitzer und Handwerker, Männer und Frauen auf dem Postamt und in der Arbeitslosenschlange, auf dem Markt, im Café und im Supermarkt, in der Bingohalle, den Pubs und der Fish & Chips-Bude – sie alle kommentierten die Kälte und den Regen, der gefallen war, auf ihre Weise und fragten sich, was dahintersteckte – wofür er ein Vorzeichen sein könnte –, denn wer konnte wirklich glauben, dass schon wieder ein eisiger Tag bevorstand? Die Kinder zogen die Kapuzen hoch, bevor sie sich auf den Schulweg machten, während ihre Mütter, die es längst gewohnt waren, geduckt zur Wäscheleine zu rennen, oder es kaum wagten, überhaupt etwas aufzuhängen, weil sie nicht daran glaubten, vor dem Abend auch nur ein Hemd trocknen zu können. Und dann kamen die Nächte, und wieder hatte der Frost alles im Griff, und seine kalten Klingen schoben sich unter den Türen hindurch und schnitten denen, die noch den Rosenkranz beteten, die Knie ab.

Auf seinem Hof rieb sich Bill Furlong, der Kohlen- und Holzhändler, vor Kälte die Hände und sagte, wenn es so weitergehe, würden sie für den Lastwagen bald einen neuen Satz Reifen benötigen.

»Wir sind von früh bis spät damit unterwegs«, sagte er zu seinen Männern. »Bald fahren wir nur noch auf den Felgen.«

Und es stimmte: Kaum hatte ein Kunde den Hof verlassen, stand, ihm dicht auf den Fersen, auch schon der nächste da, oder das Telefon klingelte – und fast alle sagten, sie wollten sofortige oder schnellstmögliche Lieferung, kommende Woche reiche nicht.

Furlong verkaufte Stein- und Anthrazitkohle, Torf, Grus und Holzscheite. All das wurde zentner-, halbzentner-, tonnen- oder lastwagenweise bestellt. Daneben verkaufte er gebündelte Briketts, Anzündholz und Flaschengas. Kohle war die schmutzigste Arbeit und musste im Winter jeden Monat von den Kais herangeschafft werden. Die Männer brauchten zwei volle Tage, um sie aufzuladen, zum Hof zu schaffen und sie dort zu sortieren und zu wiegen. Unterdessen sorgten die polnischen und russischen Seeleute, die in ihren Pelzmützen und langen, zweireihig geknöpften Mänteln durch die Stadt liefen und kaum ein Wort Englisch sprachen, für Gesprächsstoff.

In geschäftigen Zeiten wie diesen lieferte Furlong meist selbst aus und überließ es den Lagerarbeitern, die nächsten Bestellungen vorzubereiten und die vielen gefällten Bäume, die die Farmer zu ihm brachten, zu zersägen und zu spalten. Vormittags hörte man den unablässigen Lärm der Sägen und Schaufeln, doch wenn mittags die Angelusglocke läutete, legten die Männer ihre Werkzeuge ab, wuschen sich die Schwärze von den Händen und gingen ins Kehoe’s, wo ihnen eine warme Mahlzeit mit Suppe und freitags Fish & Chips vorgesetzt wurde.

»Mit leerem Magen ist nicht gut arbeiten«, sagte Mrs Kehoe gern, die hinter ihrer neuen Büffetttheke stand, den Braten aufschnitt und mit langen metallenen Schöpfkellen Gemüse und Kartoffelpüree austeilte.

Freudig setzten sich die Männer hin, um sich aufzuwärmen und sich satt zu essen, bevor sie eine Zigarette rauchten und wieder in die Kälte hinaustraten.

2

Furlong war aus dem Nichts gekommen. Aus weniger als dem Nichts, könnte man sagen. Seine Mutter war mit sechzehn Jahren schwanger geworden; damals war sie Hausangestellte bei Mrs Wilson, der protestantischen Witwe, die auf dem großen Anwesen ein paar Meilen außerhalb der Stadt wohnte. Als der Zustand seiner Mutter bekannt wurde und ihre Familie deutlich machte, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, gab Mrs Wilson seiner Mutter nicht etwa die Papiere, sondern sagte ihr, sie könne bleiben und ihre Arbeit behalten. An dem Morgen, an dem Furlong zur Welt kam, war es Mrs Wilson, die seine Mutter ins Krankenhaus bringen ließ und sie dann beide zu sich nach Hause holte. Es war der 1. April 1946, und manche sagten, der Junge werde sich noch als Narr erweisen.

Den größten Teil seiner Kindheit verbrachte Furlong in einem Moseskörbchen in Mrs Wilsons Küche, danach wurde er in den großen Kinderwagen neben der Anrichte geschnallt, gerade außer Reichweite der hohen blauen Krüge. Seine frühesten Erinnerungen waren Servierplatten, ein schwarzer Herd – heiß! heiß! – und der glänzende zweifarbige, aus quadratischen Fliesen bestehende Fußboden, auf dem er erst krabbeln und später laufen lernte. Noch später ging ihm auf, dass das Muster an das Brett eines Damespiels erinnerte, bei dem die Steine übersprungen und geschlagen werden mussten.

Als er heranwuchs, nahm ihn Mrs Wilson, die keine eigenen Kinder hatte, unter ihre Fittiche, vertraute ihm kleinere Aufgaben an und half ihm beim Lesenlernen. Sie besaß eine kleine Bibliothek und schien sich nur wenig um das Urteil anderer Leute zu scheren, sondern führte einfach ihr eigenes maßvolles Leben. Sie lebte von der Rente, die sie bezog, weil ihr Mann im Krieg gefallen war, und von den Einkünften, die sie mit ihrer kleinen Herde gut versorgter Hereford-Rinder und mit ihren Cheviot-Schafen erzielte. Ned, der Knecht, wohnte ebenfalls bei ihr, und nur selten kam es zu Streitereien, weder im Haushalt noch mit den Nachbarn, denn die Ländereien waren gut eingezäunt und wurden gewissenhaft bewirtschaftet, und sie hatte keine Schulden. Auch gab es keine großen Spannungen, was die religiösen Überzeugungen betraf, denn die waren auf beiden Seiten allenfalls lauwarm. Sonntags wechselte Mrs Wilson einfach Kleid und Schuhe, steckte ihren guten Hut fest und wurde von Ned im Ford bis zur protestantischen Kirche chauffiert; von dort fuhr er Mutter und Kind ein Stück weiter zur katholischen Kirche – und wenn sie zurückkamen, blieben beide Gebetbücher und die Bibel bis zum nächsten Sonn- oder Feiertag auf dem Garderobentisch liegen.

Als Schuljunge war Furlong verspottet und beleidigt worden; einmal war sein Mantel, als er von der Schule kam, hinten voller Spucke gewesen, doch seine Verbindung zu dem Anwesen gewährte ihm etwas Spielraum und Schutz. Seine Ausbildung hatte er zwei Jahre lang an der Berufsfachschule fortgesetzt, bis er auf dem Kohlenhof endete, wo er die gleiche Arbeit verrichtete wie jetzt seine Angestellten unter ihm und sich hocharbeitete. Er hatte einen ausgeprägten Geschäftssinn und war bekannt dafür, mit jedermann gut auszukommen und verlässlich zu sein, denn er hatte gute protestantische Gewohnheiten entwickelt, stand gerne früh auf und fand an Alkohol keinen Geschmack.

Jetzt lebte er mit seiner Frau Eileen und seinen fünf Töchtern in der Stadt. Er hatte Eileen kennengelernt, als sie im Büro von Graves & Co. arbeitete, und ihr auf übliche Weise den Hof gemacht: sie ins Kino und zu ausgedehnten Abendspaziergängen auf dem Treidelpfad eingeladen. Ihr glänzendes schwarzes Haar und ihre schiefergrauen Augen hatten es ihm angetan, und ihr flinker, praktischer Verstand. Als sie sich verlobten, schenkte ihm Mrs Wilson ein paar tausend Pfund, damit er sich eine Existenz aufbauen könne. Manche sagten, das Geld habe sie ihm deshalb gegeben, weil er von jemandem aus ihrer eigenen Familie gezeugt worden sei – war er nicht William getauft worden, auf den Namen britischer Könige?

Doch Furlong hatte nie herausgefunden, wer sein Vater war. Seine Mutter war plötzlich gestorben, war eines Tages, als sie gerade eine Schubkarre mit Holzäpfeln zum Haus hinaufrollte, um Gelee zu kochen, einfach umgekippt und auf das Kopfsteinpflaster gestürzt. Eine Hirnblutung, hatten die Ärzte hinterher festgestellt. Zu der Zeit war Furlong zwölf. Jahre später, als er auf dem Standesamt eine Abschrift seiner Geburtsurkunde verlangte, stand an der Stelle, wo der Name seines Vaters hätte verzeichnet sein müssen, nur unbekannt. Der Sachbearbeiter hatte den Mund zu einem hässlichen Lächeln verzogen, als er ihm die Urkunde über den Tresen reichte.

Mittlerweile verspürte Furlong keine Neigung mehr, sich mit der Vergangenheit zu befassen; seine ganze Aufmerksamkeit galt der Versorgung seiner Töchter, die Eileens schwarzes Haar und ihren hellen Teint geerbt hatten. Ihre schulischen Leistungen waren vielversprechend. Samstags begleitete ihn Kathleen, die Älteste, in den kleinen Bürocontainer und half ihm gegen ein Taschengeld mit den Geschäftsbüchern, denn sie wusste, wie die im Lauf der Woche eingegangenen Bestellungen abzuheften waren, und konnte über die meisten Dinge ordentlich Buch führen. Auch Joan hatte einen wachen Verstand, und unlängst war sie dem Chor beigetreten. Inzwischen besuchten beide die weiterführende Schule, St. Margaret’s.

Das mittlere Kind, Sheila, und die Zweitjüngste, Grace, die im Abstand von elf Monaten zur Welt gekommen waren, beherrschten das Einmaleins und die schriftliche Division und konnten die Grafschaften und Flüsse Irlands aufzählen, die sie am Küchentisch manchmal von Landkarten abpausten und ausmalten. Auch sie waren musikalisch und nahmen dienstags nach der Schule im Kloster Akkordeonunterricht.

Loretta, die Jüngste, war ein bisschen menschenscheu, erhielt aber goldene und silberne Sterne für ihre Schönschrift, las sich durch Enid Blyton und hatte für die Zeichnung einer fetten blauen Henne, die auf einem gefrorenen Teich Schlittschuh lief, einen Texaco-Preis gewonnen.

Manchmal, wenn Furlong sah, wie die Mädchen die kleinen Dinge taten, die man tun musste – in der Kirche niederknien oder einem Ladenbesitzer fürs Wechselgeld danken –, empfand er eine tiefe innere Freude, dass dies seine Kinder waren.

»Haben wir’s nicht gut getroffen?«, sagte er eines Abends im Bett zu Eileen. »Da draußen gibt’s viele, denen’s schlechter geht als uns.«

»Ja, wir sind gut dran.«

»Nicht, dass wir viel haben«, sagte er. »Aber trotzdem.«

Mit einer langsamen Handbewegung strich Eileen eine Falte in der Bettdecke glatt. »Ist etwas passiert?«

Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. »Der Kleine von Mick Sinnott war heute wieder mal auf der Landstraße unterwegs und hat Zweige aufgesammelt.«

»Und du hast angehalten, nehme ich an.«

»So wie’s gegossen hat? Natürlich hab ich angehalten und angeboten, ihn mitzunehmen, und ich hab ihm das bisschen Kleingeld geschenkt, das ich noch in der Hosentasche hatte.«

»Das sieht dir ähnlich.«

»Man könnte meinen, ich hätte ihm hundert Pfund gegeben.«

»Du weißt aber schon, dass einige von denen selbst an ihrem Elend schuld sind, oder?«

»Aber da kann doch das Kind nichts dafür.«

»Am Dienstag hat Sinnott sturzbetrunken in der Telefonzelle gelegen.«

»Der arme Mann«, sagte Furlong, »was immer ihn plagt.«

»Was ihn plagt, ist der Alkohol. Wenn ihm wirklich was an seinen Kindern läge, würde er sich nicht so aufführen. Er würde sich zusammenreißen.«

»Vielleicht ist der Mann nicht in der Lage dazu.«

»Mag sein.« Seufzend beugte sie sich vor und löschte das Licht. »Einer muss nun mal den Kürzeren ziehen.«

In manchen Nächten lag Furlong mit Eileen da und besprach kleine Dinge wie diese. Zu anderen Zeiten, wenn er den ganzen Tag schwer hatte heben müssen oder wenn er spät nach Hause kam, weil er in strömendem Regen einen Reifen wechseln musste, aß er hastig zu Abend und fiel früh ins Bett, nur um mitten in der Nacht aufzuwachen, die schlafschwere Eileen neben sich. Dann lag er da, und seine Gedanken drehten sich im Kreis, bis er schließlich hinuntergehen und sich einen Tee kochen musste. Mit der Tasse in der Hand stand er am Fenster und schaute hinunter auf die Straßen, auf den Ausschnitt, den er vom Fluss sehen konnte, auf all die Kleinigkeiten, die vor sich gingen: streunende Hunde, die in den Mülltonnen nach Fressbarem suchten; Pommestüten und leere Dosen, die von Windstößen und Regenböen heftig umhergeweht und -gewirbelt wurden; Nachzügler aus den Pubs, die nach Hause wankten. Manchmal sangen diese wankenden Männer vor sich hin. Ein andermal hörte Furlong scharfe, anzügliche Pfiffe und Gelächter, was ihn nervös machte. Er stellte sich vor, wie seine Mädchen groß und erwachsen wurden und hinausgingen in die Welt der Männer. Schon hatte er gesehen, wie seinen Mädchen Männerblicke folgten. Aber ein Teil von ihm war ja oft angespannt; er konnte nicht sagen, weshalb.