Liebe im hohen Gras (Steidl Pocket) - Claire Keegan - E-Book

Liebe im hohen Gras (Steidl Pocket) E-Book

Claire Keegan

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Beschreibung

Sie leben auf einer Farm in Irland, in den Sumpfgebieten von Louisiana oder in einem englischen Vorort und mit Verlust kennen sie sich aus: der Priester, der seine Geliebte mit einem anderen verheiraten muss; der Bruder, der seine Schwester nicht beschützen kann; der Förster, der einen Hund verschenkt, der ihm nicht gehört; das Mädchen, das sich von ihrem Jugendfreund schwängern lässt. Liebe und Nähe sind rar: Die Männer verstehen zwar etwas vom Land, von Moor und Vieh; ihre Frauen aber, die »Regen riechen können und das Gras wachsen hören«, bleiben ihnen eher fremd. Claire Keegans meisterhaft komponierte Geschichten erzählen von vielfältigen Enttäuschungen, großer Einsamkeit und nie nachlassender Hoffnung. Auf kleinstem Raum entfaltet Keegan ganze Lebensdramen und lässt uns an dem Augenblick teilhaben, der vielleicht alles verändert. Mit dieser Sonderausgabe, der die Erzählungen der Bände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder vereint, lässt sich die großartige irische Autorin neu oder wieder entdecken und natürlich auch weiterempfehlen.

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CLAIRE KEEGAN

LIEBE IM HOHEN GRAS

Gesammelte Erzählungen

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Inge Leipold

Steidl Pocket

Inhalt

Antarktis

Männer und Frauen

Wo das Wasser am tiefsten ist

Liebe im hohen Gras

Stürme

Wer wagt, der rutscht

Die singende Kassiererin

Brandwunden

Seltsamer Name für einen Jungen

Schwestern

Der Geruch von Winter

Die brennenden Palmen

Passbildersuppe

Am Rand des Meeres

Man kann gar nicht vorsichtig genug sein

Vorbeugen ist alles

Das Abschiedsgeschenk

Durch die blauen Felder

Dunkle Pferde

Die Tochter des Försters

Ein langer und schmerzvoller Tod

Kapitulation

Die Nacht der Quickenbäume

Antarktis

Jedes Mal, wenn die glücklich verheiratete Frau wegfuhr, fragte sie sich, wie es wohl wäre, mit einem anderen Mann zu schlafen. An diesem Wochenende war sie entschlossen, es herauszufinden. Es war Dezember; auch über dieses Jahr würde sich bald der Vorhang senken. Sie wollte es tun, bevor sie zu alt wurde. Sie war überzeugt, dass sie enttäuscht sein würde.

Am späten Freitagnachmittag nahm sie den Zug in die Stadt. Lesend saß sie in einem Abteil erster Klasse. Das Buch fesselte sie nicht; der Ausgang der Geschichte war bereits abzusehen. In der Dunkelheit hinter dem Fenster blitzten hell erleuchtete Häuser auf. Den Kindern hatte sie einen Nudelauflauf hingestellt, die Anzüge ihres Mannes aus der Reinigung geholt. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle Weihnachtseinkäufe erledigen. Er hatte keinen Grund, ihr zu misstrauen.

Als sie in der Stadt ankam, nahm sie ein Taxi zum Hotel. Man gab ihr ein kleines, weißes Zimmer mit Blick auf die Vicar’s Close, eine der ältesten Straßen in England, eine Häuserzeile aus Naturstein mit hohen Granitschornsteinen, in der die Geistlichkeit wohnte. Am Abend setzte sie sich in die Hotelbar und trank Tequila mit einer Limonenscheibe. Alte Männer lasen Zeitung, das Geschäft war flau, aber dagegen hatte sie nichts, sie wollte sich richtig ausschlafen. Sie sank in ihr gemietetes Bett, in einen traumlosen Schlaf und wachte vom Glockengeläut der Kathedrale auf.

Am Samstag ging sie ins Einkaufszentrum. Ganze Familien waren unterwegs, schoben Kinderwagen durch die morgendliche Menge, ein dichter Strom von Menschen, der sich durch automatische Türen ergoss. Sie suchte für ihre Kinder ungewöhnliche Geschenke aus, Dinge, von denen sie glaubte, dass sie nicht damit rechneten. Ihrem ältesten Sohn, er kam allmählich in das Alter, kaufte sie einen Rasierapparat, dem Mädchen einen Atlas und ihrem Mann eine teure goldene Armbanduhr mit einem schlichten weißen Zifferblatt.

Nachmittags machte sie sich fein, zog ein kurzes pflaumenfarbenes Kleid und hochhackige Schuhe an, trug ihren dunkelsten Lippenstift auf und lief zu Fuß in die Stadt zurück. Ein Song aus einer Jukebox, The Ballad of Lucy Jordan, lockte sie in einen Pub, ein umgebautes Gefängnis mit vergitterten Fenstern und einer niedrigen Balkendecke. In einer Ecke flimmerten Geldspielautomaten, und als sie sich eben auf den Barhocker setzte, schepperte ein kleines Bataillon Münzen in die Gewinnausgabe.

»Hallo«, sagte der Mann neben ihr. »Sie habe ich hier ja noch nie gesehen.« Er hatte ein rotes Gesicht, ein Goldkettchen unter dem Hawaiihemd mit dem offenen Kragen und schlammfarbenes Haar. Sein Glas war fast leer. »Was trinken Sie da?« fragte sie.

Er hörte gar nicht auf zu reden und erzählte ihr seine ganze Lebensgeschichte. Dass er in einem Altersheim Nachtschichten machte. Dass er allein wohnte, Waisenkind war und keine Angehörigen hatte außer einem entfernten Cousin, den er noch nie getroffen hatte. Er trug keinen Ring am Finger.

»Ich bin der einsamste Mann auf der Welt«, sagte er. »Was ist mit Ihnen?«

»Ich bin verheiratet.« Der Satz war ihr einfach herausgerutscht.

Er lachte. »Lassen Sie uns Billard spielen.«

»Ich weiß nicht, wie das geht.«

»Macht nichts«, sagte er. »Ich bring’s Ihnen bei. Bevor Sie sich versehen, haben Sie die schwarze Kugel versenkt.« Er steckte Geldstücke in den Münzeinwurf und zog an irgendeinem Hebel, und schon polterte klackernd ein kleiner Erdrutsch Kugeln durch das schwarze Loch unten im Tisch.

»Halbe und volle«, sagte er und kreidete die Queuespitze ein. »Sie spielen auf die halben oder die vollen. Ich eröffne.«

Er brachte ihr bei, sich tief hinunterzubeugen, die Kugel anzuvisieren und die Weiße bei ihrem Stoß im Blick zu behalten, ließ sie aber nicht eine Partie gewinnen. Als sie auf die Toilette ging, war sie betrunken. Sie konnte das Ende der Klopapierrolle nicht finden. Sie lehnte die Stirn gegen den kühlen Spiegel, konnte sich nicht daran erinnern, je so betrunken gewesen zu sein. Sie leerten ihre Gläser und gingen ins Freie. Die Luft bohrte sich in ihre Lungen. Am Himmel prallten Wolken aufeinander. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihnen zuzusehen. Sie wünschte, die Welt könnte sich in ein fabelhaftes, unerhörtes Rot verwandeln, das ihrer Stimmung entspräche.

»Gehen wir spazieren«, sagte er. »Ich führe Sie herum.«

Sie passte sich seinen Schritten an und lauschte seiner knarzenden Lederjacke, als er sie einen Pfad entlangführte, dort, wo sich der Stadtgraben um die Kathedrale krümmte. Vor dem Bischofspalais stand ein alter Mann, der altbackenes Brot für die Vögel verkaufte. Sie kauften ihm welches ab, stellten sich an den Rand des Wassergrabens und fütterten fünf junge Schwäne, deren Gefieder sich weiß färbte. Braune Enten flogen übers Wasser und landeten in elegantem Gleitflug auf dem Graben. Als ein schwarzer Labrador den Pfad entlanggesprungen kam, flog ein Taubenschwarm auf und ließ sich wie durch einen Zauber in den Bäumen nieder. »Ich komme mir vor wie Franz von Assisi«, sagte sie lachend.

Es begann zu regnen; die Tropfen auf ihrem Gesicht empfand sie wie kleine Elektroschocks. Sie gingen auf demselben Weg zurück zum Marktplatz, wo unter einer Plane Stände aufgebaut wurden. Alles Mögliche wurde an den Buden feilgeboten: modrige antiquarische Bücher und Porzellan, große rote Weihnachtssterne, Kränze aus Stechpalmenzweigen, Messingornamente, frische Fische, die mit leblosen Augen auf einem Eisbett lagen.

»Kommen Sie mit zu mir nach Hause«, sagte er. »Ich koche Ihnen was.«

»Sie wollen für mich kochen?«

»Essen Sie Fisch?«

»Ich esse alles«, antwortete sie, und er schien belustigt.

»Ich kenne Ihren Typ«, sagte er. »Sie sind wild. Sie sind eine von diesen wilden Mittelschichtsfrauen.«

Er entschied sich für eine Forelle, die aussah, als wäre sie noch am Leben. Der Fischhändler schnitt ihr den Kopf ab und wickelte sie in Folie ein. An einem italienischen Delikatessenstand kaufte er einen Becher schwarze Oliven und ein Stück Feta-Käse. Er kaufte Limonen und kolumbianischen Kaffee. Jedes Mal, wenn sie an einem Stand vorüberkamen, fragte er sie, ob sie sich irgendetwas wünsche. Er ging großzügig mit seinem Geld um, knüllte die Scheine in seine Taschen wie alte Kassenzettel und strich sie nicht einmal glatt, ehe er sie den Händlern hinstreckte. Auf dem Heimweg machten sie bei der Wein- und Spirituosenhandlung halt und kauften zwei Flaschen Chianti und ein Lotterielos. Sie bestand darauf, diesmal selbst zu zahlen.

»Falls wir gewinnen, machen wir halbe-halbe«, sagte sie. »Fliegen auf die Bahamas.«

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, sagte er und sah zu, wie sie durch die Tür schritt, die er ihr aufhielt. Sie spazierten durch Straßen mit Kopfsteinpflaster, an einem Herrenfriseur vorbei, wo ein Mann saß und sich mit zurückgeneigtem Kopf rasieren ließ. Die Straßen wurden schmaler und gewundener; inzwischen hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen.

»Sie wohnen in einem Vorort?« fragte sie.

Er antwortete nicht, sondern ging einfach weiter. Sie konnte den Fisch riechen. Als sie zu einem schmiedeeisernen Tor kamen, sagte er ihr, sie solle sich links halten. Sie gingen durch einen Torbogen und endeten in einer Sackgasse. Er schloss die Tür zu einem Apartmenthaus auf und ging hinter ihr die Treppe hinauf zur obersten Etage.

»Gehen Sie weiter«, sagte er, als sie auf dem Treppenabsatz stehenblieb. Sie kicherte und stieg weiter, kicherte und stieg immer weiter, hielt ganz oben an.

Die Tür hätte Öl vertragen; als er sie aufstieß, quietschten die Angeln. Die Wände seiner Wohnung waren in schlichten Pastellfarben gestrichen, die Fensterbretter verstaubt. In der Spüle stand ein verschmierter Becher. Von einer Couch im Wohnzimmer sprang eine weiße Perserkatze. Die Wohnung wirkte vernachlässigt, als hätte früher einmal jemand darin gelebt; ein dumpfiger Geruch, nirgendwo ein Telefon, keine Fotos, kein Zierrat, kein Weihnachtsbaum. Der Gummibaum im Wohnzimmer kroch über den Teppichboden zu einer rechteckigen Lache aus Licht, das von der Straße einfiel.

Im Badezimmer stand auf blauen Stahlklauen eine große gusseiserne Wanne.

»Das ist vielleicht eine Wanne«, sagte sie.

»Möchten Sie ein Bad nehmen?« fragte er. »Probieren Sie sie aus. Lassen Sie Wasser ein und springen Sie hinein. Na los, nur zu.«

Sie ließ die Wanne mit Wasser volllaufen, so heiß sie es ertragen konnte. Er kam herein, machte den Oberkörper frei und rasierte sich über dem Handwaschbecken, wobei er ihr den Rücken zuwandte. Sie schloss die Augen und hörte ihm zu, wie er sich einseifte, das Rasiermesser am Beckenrand abklopfte und sich rasierte. Es war, als hätten sie dies alles schon einmal getan. Sie fand, dass er der am wenigsten bedrohliche Mann war, den sie je kennengelernt hatte. Dann hielt sie sich die Nase zu und tauchte unter, horchte auf das Blut, das in ihrem Kopf pochte, das Rauschen und die Wolke in ihrem Hirn. Als sie wieder auftauchte, stand er lächelnd im Dampf und wischte sich die Reste des Rasierschaums vom Kinn.

»Macht’s Spaß?« fragte er.

Als er einen Waschlappen einseifte, stand sie auf. Das Wasser rann ihr über die Schultern und rieselte an ihren Beinen herab. Er fing mit ihren Füßen an und arbeitete sich nach oben vor, wusch sie mit kräftigen, langsamen Kreisbewegungen. Sie sah gut aus im gelben Schein der Spiegelleuchte, hob Füße und Arme und drehte sich für ihn wie ein Kind. Auf sein Geheiß ließ sie sich wieder ins Wasser sinken, dann spülte er sie ab und hüllte sie in ein Badetuch.

»Ich weiß, was du brauchst«, sagte er. »Du brauchst jemanden, der dich umsorgt. Es gibt auf dieser Erde keine Frau, die nicht umsorgt sein will. Bleib stehen.« Er ging hinaus und kam mit einem Kamm zurück. Dann begann er, ihr die Knoten im Haar auszukämmen. »Lass sehen«, sagte er. »Du bist ja eine echte Blondine. Du hast blonden Flaum, wie ein Pfirsich.« Er ließ seinen Fingerknöchel vom Nacken über den Rücken gleiten, zeichnete ihre Wirbelsäule nach.

Das Bettgestell war aus Messing, mit einem weißen Gänsefederbett und schwarzen Kopfkissen. Sie löste seinen Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen. Die Schnalle klirrte, als er zu Boden fiel. Sie knöpfte seine Hose auf. Als er nackt vor ihr stand, war er zwar nicht schön, aber sein Körperbau hatte etwas Sinnliches, etwas Unzerbrechliches, Robustes. Seine Haut war heiß.

»Stell dir vor, du wärst Amerika«, sagte sie. »Ich werde dein Kolumbus sein.«

Unter dem Bettzeug, zwischen der Feuchte seiner Schenkel, erforschte sie seine Nacktheit. Sein Körper war für sie etwas Neues. Als ihre Füße sich in der Decke verfingen, schleuderte er diese fort. Sie bewies erstaunliche Kraft im Bett, eine Dringlichkeit, die fast schmerzte. Sie bog seinen Kopf an den Haaren zurück, sog den Geruch fremder Seife an seinem Hals ein. Er küsste sie und küsste sie. Er hatte keine Eile. Seine Hände waren die rauen Hände eines Arbeiters. Sie kämpften gegen ihre Lust an, rangen mit einer Kraft, die sie beide schließlich mitriss.

Hinterher rauchten sie; sie hatte seit Jahren nicht mehr geraucht, hatte es noch vor dem ersten Kind aufgegeben. Als sie nach dem Aschenbecher griff, sah sie hinter dem Radiowecker die Patrone einer Schrotflinte.

»Was ist das?« Sie hob sie auf. Sie war schwerer, als sie aussah.

»Ach, das. Das ist ein Geschenk für jemanden.«

»Das ist vielleicht ein Geschenk«, sagte sie. »Sieht so aus, als wäre Pool nicht das Einzige, bei dem du scharf schießt.«

»Komm her.«

Sie kuschelte sich an ihn, und sie schliefen auf der Stelle ein, schliefen den süßen Schlaf von Kindern, und wachten im Dunkeln wieder auf, hungrig.

Während er sich um das Essen kümmerte, saß sie, die Katze im Schoß, auf der Couch und sah sich einen Dokumentarfilm über die Antarktis an – kilometerweit Schnee, Pinguine, die bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt gegen den Wind anwatschelten, Captain Cook auf der Suche nach dem verlorenen Kontinent. Ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen, kam er aus der Küche und reichte ihr ein Glas gekühlten Wein.

»Du hast’s wohl mit Entdeckern, was?« meinte er, beugte sich über die Rückenlehne der Couch und küsste sie.

»Kann ich dir helfen?« fragte sie.

»Nein«, sagte er und ging wieder in die Küche. Sie nippte an ihrem Wein und spürte, wie die Kälte in ihren Magen hinabglitt. Sie hörte, wie er Gemüse schnitt, das Brodeln des Wassers, das auf dem Herd kochte. Essensdüfte wehten durch die Zimmer. Koriander, Limonensaft, Zwiebeln. Sie konnte betrunken bleiben; so ließe es sich leben. Er kam aus der Küche, legte zwei Gedecke auf, zündete eine dicke grüne Kerze an, faltete Papierservietten. Sie sahen aus wie kleine weiße Pyramiden unter einer wachsamen Flamme. Sie schaltete den Fernseher aus und streichelte die Katze. Die weißen Haare fielen auf seinen dunkelblauen Morgenmantel, der ihr viel zu groß war. Sie sah, wie der Rauch vom Kaminfeuer eines anderen Mannes am Fenster vorbeizog, aber sie dachte nicht an ihren Mann, und auch ihr Liebhaber erwähnte ihre Familie mit keinem Wort.

Stattdessen wandte sich das Gespräch bei griechischem Bauernsalat und gegrillter Forelle aus irgendeinem Grund dem Thema Hölle zu.

Als sie ein Kind war, hatte man ihr gesagt, die Hölle sei für jeden anders, sei für jeden das jeweils schlimmste Szenario. »Ich dachte immer, die Hölle sei ein unerträglich kalter Ort, wo man ständig halb am Erfrieren ist, aber nie ganz das Bewusstsein verliert und nie wirklich etwas empfindet«, sagte sie. »Dort gebe es nichts außer einer kalten Sonne und dem Teufel, der einen beobachtet.« Sie fröstelte und schüttelte sich. Ihr Gesicht hatte sich gerötet. Sie setzte das Glas an die Lippen und legte beim Schlucken den Kopf in den Nacken. Sie hatte einen schönen schlanken Hals.

»In dem Fall«, sagte er, »wäre meine Hölle menschenleer; es wäre gar niemand dort. Nicht einmal der Teufel. Mir hat es immer Mut gemacht, dass die Hölle bevölkert ist; alle meine Freunde werden dort sein.« Er streute mehr Pfeffer auf seinen Salat und riss das teigige Innere aus dem Brotlaib.

»In der Schule hat uns die Nonne erzählt, dass es in alle Ewigkeit fortdauert«, erzählte sie und zog die Haut von ihrer Forelle ab. »Und als wir sie gefragt haben, wie lange die Ewigkeit anhält, sagte sie: Stellt euch allen Sand der Welt vor, alle Strände, alle Sandgruben, die Meeresböden, die Wüsten. Jetzt stellt euch all diesen Sand in einem Stundenglas vor, wie eine gigantische Eieruhr. Wenn jedes Jahr ein Sandkorn hindurchfallt, ist Ewigkeit die Zeit, die vergeht, bis sämtlicher Sand der Welt durch das Glas geronnen ist. Stell dir vor! Das hat uns Angst gemacht. Wir waren noch sehr jung.«

»Du glaubst nicht mehr an die Hölle«, sagte er.

»Nein. Merkst du das nicht? Das wär’ vielleicht was, wenn Schwester Emmanuel mich jetzt sehen könnte, wie ich mit einem wildfremden Mann vögele.« Sie brach ein Stückchen Forelle heraus und aß es mit den Fingern.

Er legte sein Besteck hin, faltete die Hände im Schoß und betrachtete sie. Inzwischen war sie satt und spielte mit ihrem Essen.

»Du meinst also, auch all deine Freunde kommen in die Hölle«, sagte sie. »Wie nett.«

»Nicht, wenn es nach deiner Nonne geht.«

»Hast du viele Freunde? Ich nehme an, auf der Arbeit kennst du Leute.«

»Ein paar«, sagte er. »Und du?«

»Ich habe zwei gute Freunde«, sagte sie. »Zwei Menschen, für die ich mein Leben geben würde.«

»Hast du ein Glück«, sagte er und stand auf, um Kaffee zu kochen.

In dieser Nacht war er wie ausgehungert, wie ein Mann, der sich selbst an sie vermietete. Es gab nichts, das er nicht getan hätte.

»Du bist ein sehr großzügiger Liebhaber«, sagte sie hinterher und reichte ihm die Zigarette. »Du bist extrem großzügig.«

Die Katze sprang aufs Bett und erschreckte sie.

»Herrgott!« sagte sie. Die Katze hatte etwas Unheimliches.

Auf die Daunendecke fiel Zigarettenasche, aber sie waren zu betrunken, um es zu merken. Betrunken und sorglos und in derselben Nacht im selben Bett. Eigentlich war alles so einfach. In der Wohnung unter ihnen setzte laute Weihnachtsmusik ein. Ein Gregorianischer Gesang, singende Mönche.

»Wer wohnt denn unter dir?«

»Ach, irgend so eine Oma. Stocktaub. Und sie singt selber auch. Sie wohnt allein da unten, ist zu den unmöglichsten Zeiten auf.«

Sie legten sich schlafen, und sie bettete ihren Kopf an seine Schulter. Er streichelte ihren Arm, tätschelte sie wie ein Tier. Sie ahmte das Schnurren der Katze nach, rollte ihre Rs, wie sie es im Spanischunterricht gelernt hatte, während die Hagelkörner an die Fensterscheiben klopften.

»Ich werde dich vermissen, wenn du gehst.«

Sie sagte nichts, lag nur da und sah zu, wie die roten Zahlen auf seinem Radiowecker umsprangen, bis sie einnickte.

Am Sonntag wachte sie früh auf. In der Nacht hatte sich auf alles ein weißer Raureif gelegt. Sie zog sich an und betrachtete ihn, wie er schlief, den Kopf auf das schwarze Kissen gebettet. Im Bad schaute sie in das Wandschränkchen. Es war leer. Im Wohnzimmer las sie die Titel auf den Rücken seiner Bücher. Sie waren alphabetisch geordnet. Auf tückischen Bürgersteigen ging sie zurück, um aus ihrem Hotel auszuchecken. Sie verlief sich und musste eine sorgenvoll dreinblickende Dame mit einem Pudel nach dem Weg fragen. Im Foyer glitzerte ein riesiger Christbaum. Ihr Koffer lag geöffnet auf ihrem Bett. Ihre Kleider rochen nach Zigarettenqualm. Sie duschte und zog sich um. Um zehn Uhr klopfte das Zimmermädchen, aber sie schickte es weg, sagte ihm, es solle sich keine Umstände machen, niemand sollte sonntags arbeiten müssen.

Im Foyer setzte sie sich in die Telefonzelle und rief zu Hause an. Sie fragte nach den Kindern, nach dem Wetter, fragte ihren Mann, was er so gemacht habe, erzählte ihm von den Geschenken für die Kinder. Sie würde zu unaufgeräumten, unordentlichen Zimmern zurückkehren, zu schmutzigen Fußböden, aufgeschürften Knien, einer Diele mit Mountainbikes und Rollschuhen. Fragen. Sie legte gerade auf, als sie hinter sich eine Gestalt bemerkte, die auf sie wartete.

»Du hast dich gar nicht verabschiedet.« Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals.

Er stand da und hatte eine schwarze Wollmütze bis tief über die Ohren gezogen, so dass sie seine Stirn verdeckte.

»Du hast geschlafen«, sagte sie.

»Du hast dich davongeschlichen«, sagte er. »Du bist eine Schleicherin.«

»Ich …«

»Magst du zum Mittagessen schleichen und dich betrinken?«

Er schob sie in die Telefonzelle und küsste sie, ein langer, feuchter Kuss. »Heute Morgen bin ich mit deinem Geruch zwischen den Laken aufgewacht«, sagte er. »Das war sehr schön.«

»Füll ihn in Flaschen ab«, sagte sie, »wir werden ein Vermögen verdienen.«

Sie aßen in einem Restaurant mit niedriger Decke, Bogenfenstern und gefliestem Fußboden zu Mittag. Ihr Tisch stand dicht am Kamin. Bei Tellern mit Roastbeef und Yorkshire-Pudding betranken sie sich abermals, redeten aber nicht viel. Sie trank Bloody Marys und sagte der Kellnerin, sie solle mit Tabasco nicht sparen. Er begann mit Ale, dann ging er zu Gin Tonics über, alles, um ihre unmittelbar bevorstehende Trennung hinauszuzögern.

»Normalerweise trinke ich nicht so viel«, sagte sie. »Du?«

»Nee«, sagte er und signalisierte der Kellnerin eine weitere Runde.

Sie trödelten bei Nachtisch und Sonntagszeitungen. Die Wirtin kam und legte Holzscheite nach. Einmal, als sie eine Seite umblätterte, sah sie auf. Er starrte auf ihren Mund.

»Lächle«, sagte er.

»Was?«

»Lächle.«

Sie lächelte, und er langte herüber und drückte mit der Kuppe seines Zeigefingers auf ihren Zahn.

»Da«, sagte er und zeigte ihr einen winzigen Essensrest.

»Jetzt ist es weg.«

Als sie über den Marktplatz gingen, hatte sich ein dichter Nebel über die Stadt gelegt, so dicht, dass sie kaum die Schilder lesen konnten. Eine Gruppe von Händlern, die ihr sonntägliches Weihnachtsgeschäft machen wollten, bot ihre Waren feil. »Hast du deine Weihnachtseinkäufe schon erledigt?« fragte sie.

»Nee, ich hab doch niemanden, dem ich was kaufen könnte. Ich bin ein Waisenkind. Weißt du nicht mehr?«

»Tut mir leid.«

»Komm. Lass uns spazieren gehen.«

Er nahm sie bei der Hand und zog sie eine unbefestigte Straße hinunter, die in einen dunklen Wald hinter den Häusern führte. Er hielt sie fest; ihre Finger schmerzten.

»Du tust mir weh«, sagte sie.

Er lockerte seinen Griff, entschuldigte sich aber nicht. Das Licht wich aus dem Tag. Die Abenddämmerung schürte den Himmel und bestach das Tageslicht, in Dunkelheit überzugehen. Eine ganze Weile gingen sie wortlos, empfanden nur die Sonntagsstille und horchten auf die Bäume, die sich gegen den eisigen Wind stemmten.

»Früher war ich verheiratet, bin in den Flitterwochen nach Afrika gefahren«, erzählte er unvermittelt. »Es hat nicht gehalten. Ich hatte ein großes Haus, Möbel, all das. Und sie war eine gute Frau, eine wunderbare Gärtnerin. Du erinnerst dich an die Pflanze in meinem Wohnzimmer? Die hat ihr gehört. Ich warte nun schon seit Jahren darauf, dass die Pflanze endlich stirbt, aber das verfluchte Ding wächst immer weiter.«

Sie rief sich die Pflanze ins Gedächtnis, die den Fußboden überwucherte, sie war so lang wie ein erwachsener Mann, der Blumentopf nicht größer als ein kleiner Kochtopf, und über den Rand hing vertrocknetes Wurzelgewirr. Ein Wunder, dass das Gewächs nicht eingegangen war.

»Über einige Dinge hat man einfach keine Kontrolle«, sagte er und kratzte sich am Kopf. »Sie hat gesagt, ich würde nicht ein Jahr ohne sie überleben. Junge, da hat sie sich aber getäuscht.« Dann sah er sie an und lächelte, ein sonderbares Lächeln des Triumphes.

Inzwischen waren sie tief in den Wald hineingegangen; ohne das Geräusch ihrer Schritte auf der Straße und den schmalen Himmelsstreif zwischen den Bäumen hätte sie nicht gewusst, wo der Weg verlief. Plötzlich packte er sie und zog sie unter die Bäume, presste sie mit dem Rücken gegen einen Stamm. Sie konnte nichts sehen. Durch ihren Mantel spürte sie die Borke, seinen Bauch gegen ihren, roch den Gin in seinem Atem.

»Du wirst mich nicht vergessen«, sagte er und strich ihr die Haare aus den Augen. »Sag’s. Sag, dass du mich nicht vergessen wirst.«

»Ich werde dich nicht vergessen.«

Im Dunkeln ließ er seine Finger über ihr Gesicht wandern, als wäre er ein Blinder, der versuchte, sich ihre Züge einzuprägen. »Ich dich auch nicht. Ein kleines Stück von dir wird genau hier ticken«, erklärte er, nahm ihre Hand und schob sie unter sein Hemd. Unter seiner heißen Haut fühlte sie sein Herz pochen. Dann küsste er sie, als sei etwas in ihrem Mund, nach dem es ihn verlangte. Worte wahrscheinlich. In diesem Augenblick läuteten die Glocken der Kathedrale, und sie überlegte, wie viel Uhr es wohl sein mochte. Ihr Zug ging um sechs, aber sie hatte alles gepackt und war daher nicht in Eile.

»Hast du heute Morgen ausgecheckt?«

»Ja«, erwiderte sie lachend. »Die glauben, ich sei der ordentlichste Gast, den sie je hatten. Meine Tasche steht im Foyer.«

»Komm mit zu mir. Ich ruf dir ein Taxi und bring dich dann zum Zug.«

Sie war nicht in der Stimmung für Sex. Innerlich war sie bereits aufgebrochen, stand auf dem Bahnhof ihrem Mann gegenüber. Sie fühlte sich sauber, satt und warm; jetzt wollte sie nur noch ein angenehmes Nickerchen im Zug. Aber letztlich fiel ihr kein guter Grund ein, nicht mitzugehen, und sie sagte ja, gab sich ihm als Abschiedsgeschenk.

Sie flohen aus der Düsternis des Waldes, gingen durch die Vicar’s Close und kamen unterhalb des Stadtgrabens in der Nähe des Hotels heraus. Die Möwen waren landeinwärts geflogen. Sie kreisten über den Wasservögeln, stießen herab und schnappten nach den Brotstückchen, die eine Gruppe Amerikaner den Schwänen hinwarf. Sie holte ihren Koffer und ging auf eisglatten Straßen zu seiner Wohnung. Die Zimmer waren kalt. In der Spüle lag der Abwasch vom Vortag zum Einweichen, und an dem Stahlbecken klebte ein fettiger Schmutzrand. Durch die Vorhangspalten sickerte das allmählich schwindende Tageslicht, aber er knipste die Lampen nicht an.

»Komm her«, sagte er. Er zog sein Jackett aus und kniete vor ihr nieder. Er löste die Schnürsenkel ihrer Stiefeletten, band langsam die Knoten auf, rollte ihre Seidenstrümpfe herab, streifte ihr Höschen über die Knöchel. Er erhob sich und zog ihr den Mantel aus, öffnete behutsam ihre Bluse, bewunderte die Knöpfe, löste den Reißverschluss ihres Rocks, schob die Armbanduhr über das Handgelenk. Dann fasste er unter ihre Haare und nahm ihre Ohrringe ab – baumelnde Ohrringe, goldene Blätter, die ihr Mann ihr zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Bedächtig zog er sie weiter aus; er hatte Zeit im Überfluss. Sie kam sich vor wie ein Kind, das ins Bett gebracht wird. Sie brauchte nichts mit ihm, für ihn zu tun. Keinerlei Pflichten, sie brauchte nur da zu sein.

»Leg dich auf den Rücken«, sagte er.

Nackt ließ sie sich auf die Daunendecke fallen.

»Ich könnte einschlafen«, sagte sie und schloss die Augen.

»Noch nicht«, sagte er.

Das Zimmer war kalt, aber er schwitzte; sie roch seinen Schweiß. Mit einer Hand hielt er ihre Handgelenke über dem Kopf fest und küsste ihre Kehle. Ein Schweißtropfen fiel ihr auf den Hals. Eine Schublade ging auf, irgendetwas klirrte. Handschellen. Sie war erschrocken, konnte aber nicht schnell genug denken, um zu widersprechen.

»Das wird dir gefallen«, sagte er. »Glaub mir.«

Er fesselte ihre Handgelenke an das Kopfteil des Messingbettgestells. Ein Teil ihres Gehirns geriet in Panik. Das Ganze hatte etwas Absichtsvolles, etwas Verschwiegenes und Überwältigendes an sich. Wieder tropfte Schweiß auf sie herab. Sie schmeckte das bittere Salz auf seiner Haut. Er zog sich zurück und drang wieder in sie ein, reizte sie so, dass sie bettelte, dass sie kam.

Er stand auf. Er ging hinaus und ließ sie liegen, wo sie war, ans Kopfteil gefesselt. Die Küchenbeleuchtung ging an. Sie roch Kaffee, hörte, wie er Eier in die Pfanne schlug. Er kam mit einem Tablett und setzte sich hin, über sie gebeugt.

»Ich muss …«

»Beweg dich nicht.« Er sprach leise. War vollkommen ruhig.

»Nimm die Dinger ab.«

»Scht«, sagte er. »Iss. Iss, bevor du gehst.« Er hielt ihr eine Gabel voll Rührei hin, und sie schluckte es hinunter. Es schmeckte nach Salz und Pfeffer. Sie wandte den Kopf. Der Radiowecker zeigte 17:32 an.

»Verdammt, weißt du, wie viel Uhr …«

»Fluch nicht«, sagte er. »Iss. Und trink. Trink das hier. Ich hole die Schlüssel.«

»Warum willst du mich nicht …«

»Trink einen Schluck. Mach schon. Ich habe mit dir zusammen getrunken, erinnerst du dich?«

Noch immer gefesselt, trank sie den Kaffee, den er ihr aus dem Becher einflößte. Es dauerte nur eine Minute. Ein warmes, dunkles Gefühl breitete sich in ihr aus, dann schlief sie ein.

Als sie aufwachte, stand er im grellen, gleißenden Licht und kleidete sich an. Sie war noch immer ans Bett gefesselt. Sie versuchte zu sprechen, aber in ihrem Mund steckte ein Knebel. Mit einem zweiten Paar Handschellen hatte er einen ihrer Knöchel ans Fußende des Bettes gefesselt. Er zog sich weiter an und ließ die Druckknöpfe seines Jeanshemdes zuschnappen. »Ich muss zur Arbeit«, sagte er und band sich die Schnürsenkel zu. »Das lässt sich nun mal nicht ändern.«

Er ging hinaus und kam mit einer Schüssel zurück.

»Falls du sie brauchst«, sagte er und stellte sie aufs Bett. Er deckte sie warm zu, dann küsste er sie, ein rascher Alltagskuss, und knipste das Licht aus. In der Diele blieb er stehen und wandte ihr sein Gesicht zu. Sein Schatten ragte über dem Bett auf. Ihre Augen waren geweitet. Mit flehenden Blicken versuchte sie, ihn umzustimmen. Er streckte ihr seine geöffneten Handflächen hin.

»Es ist nicht das, was du glaubst«, sagte er.

»Wirklich nicht. Ich liebe dich, verstehst du? Versuch doch zu verstehen.«

Damit machte er kehrt und ging. Sie lauschte ihm nach, hörte, wie er auf der Treppe einen Reißverschluss zuzog. Die Dielenbeleuchtung wurde schwächer, die Tür fiel zu, sie hörte seine Schritte auf dem Gehsteig verhallen.

Verzweifelt mühte sie sich ab, die Handschellen aufzubekommen. Setzte alles daran, sich zu befreien. Sie war eine kräftige Frau. Sie versuchte, das Kopfteil loszumachen, doch als sie das Laken zurückschob, sah sie, dass das Kopfteil am Bettgestell festgeschraubt war. Lange rüttelte sie am Bett. Sie wollte schreien. Die Polizei riet Frauen in Not, »Feuer!« zu rufen, aber sie konnte den Knebel nicht durchbeißen. Es gelang ihr, ihren ungefesselten Fuß auf den Boden zu setzen und auf den Teppichboden zu klopfen. Dann fiel ihr ein, dass die Oma unter ihr taub war. Stunden verstrichen, ehe sie sich beruhigte. Sie dachte nach und lauschte. Ihr Atem wurde regelmäßiger. Sie hörte die Vorhänge im Nebenzimmer flattern. Er hatte das Fenster offenstehen lassen. Bei all dem Herumgestrampele war die Daunendecke zu Boden geglitten, und sie war nackt. Sie bekam sie nicht zu fassen. Kälte drang herein, ergoss sich ins Haus, füllte die Zimmer. Sie fröstelte. Kalte Luft sinkt nach unten, dachte sie. Schließlich hörte sie auf zu frösteln. Eine lähmende Starre breitete sich in ihr aus; sie stellte sich vor, wie ihr das Blut in den Adern gerann, wie ihr Herz schrumpfte. Die Katze sprang in die Höhe und landete auf dem Bett, schlich über die Matratze. Ihr dumpfer Zorn verwandelte sich in Entsetzen. Auch das ging vorüber. Der Vorhang im Nebenzimmer klatschte jetzt gegen die Wand: Der Wind wehte heftiger. Sie dachte an ihn und empfand nichts. Sie dachte an ihren Mann und die Kinder. Womöglich würden sie sie niemals finden. Womöglich würde sie sie niemals wiedersehen. Das war ohne Bedeutung. In der Dunkelheit konnte sie ihren Atem sehen, spürte, wie die Kälte sich um ihren Kopf schloss. Die Morgendämmerung brach über sie herein, eine kalte, langsame Sonne, die den Osten bleichte. Bildete sie sich etwas ein, oder fiel vor den Fensterscheiben Schnee? Sie betrachtete den Radiowecker auf seinem Nachttisch, die umspringenden roten Ziffern. Die Katze starrte sie an, ihre Augen so dunkel wie Apfelkerne. Sie dachte an die Antarktis, an Schnee, Eis und die Leichen toter Polarforscher. Dann dachte sie an die Hölle, und dann an die Ewigkeit.

Männer und Frauen

Mein Vater nimmt mich fast überallhin mit. Er hat künstliche Hüftgelenke und braucht mich, damit ich ihm die Tore öffne. Wenn man zu unserem Haus will, muss man auf einem langen Feldweg durch einen Wald fahren, zwei Tore öffnen und wieder schließen, damit die Schafe nicht auf die Straße entlaufen. Ich mache mich nützlich. Ich öffne die Tore, mein Vater lässt den Volkswagen im Leerlauf hindurchrollen, ich schließe die Tore hinter ihm und hüpfe wieder auf den Beifahrersitz. Um Benzin zu sparen, lässt er den Wagen im Rollen anspringen; dieser nimmt auf dem Gefälle vor der Straße Geschwindigkeit auf, und schon sind wir unterwegs, wo immer mein Vater an diesem Tag hin will.

Manchmal ist es der Schrottplatz, auf dem er nach einem Ersatzteil sucht; oder er wittert beim Lesen einer Kleinanzeige ein Schnäppchen: Dann landen wir auf dem verschlammten Feld eines Farmers, ziehen Kohlköpfe aus der Erde oder sortieren in einem staubigen Schuppen Saatkartoffeln aus. Vor der Schmiede starre ich in die Wassertonne, deren Oberfläche Ausschnitte der träge dahintreibenden milchigen Wolken widerspiegelt, bis der Schmied das rotglühende Metall eintaucht und die Wolken wegsengt. Samstags fährt mein Vater zum Markt und prüft die Schafe in den Hürden, betastet ihr Rückgrat, schaut ihnen ins Maul. Wenn er nur ein paar Schafe kauft, fährt er nicht erst nach Hause, um den Anhänger zu holen, sondern pfercht sie hinten in den Wagen, und ich muss mich zwischen die Vordersitze quetschen und sie von dort aus in Schach halten. Sie scheißen kleine Kieselsteine und machen bääääh! Die Zungen der Suffolk-Schafe sind dunkel wie die rohe Leber, die montags in die Pfanne kommt. Ich halte sie in Schach, bis wir zu dem Haus gelangen, wo Dad diesmal anhält, um auf dem Heimweg eine Kleinigkeit zu essen. Meist ist es das Haus von Bridie Knox, weil Bridie ihr eigenes Vieh schlachtet und es immer Fleisch gibt. Die Handbremse funktioniert nicht, und wenn Dad auf ihrem Hof parkt, muss ich aussteigen und den Stein hinters Rad legen.

Ich bin das Mädchen für alles.

»Heiliger Strohsack, Missus, wie geht’s uns denn so?«

»Dan!« ruft Bridie, als hätte sie den Wagen nicht gehört.

Bridie wohnt in einem verräucherten kleinen Haus. Einen Ehemann gibt es nicht, aber sie hat Söhne, die mit Traktoren auf den Feldern herumtuckern. Es sind kleine, ausgesprochen unattraktive Männer, die nach Dünger riechen und ihre Gummistiefel flicken. Bridie trägt roten Lippenstift und Gesichtspuder, aber ihre Hände sind wie die eines Mannes. Ich finde, ihr Kopf passt nicht auf ihren Körper, so wie bei meinen Puppen, wenn ich ihre Köpfe vertausche.

»Hätten Sie wohl einen Bissen für das Kind übrig, Missus? Zu Hause muss sie Hunger leiden«, sagt Dad und schaut mich an, als wäre ich eins von diesen afrikanischen Kindern, für die wir während der Fastenzeit auf Süßigkeiten verzichten.

»Na, na!« sagt Bridie und lächelt über seinen abgedroschenen Witz. »Das Mädel sieht mir aber wohlgenährt aus. Setzt euch, ich mache Tee.«

»Um die Wahrheit zu sagen, Missus, ich würde auch zu einem Tropfen nicht nein sagen. Ich komme gerade vom Markt, die Schafpreise sind bei Gott ein Skandal.«

Er spricht über Schafe und Rinder, über das Wetter und darüber, dass unser kleines Land sich in einem erbärmlichen Zustand befindet, während Bridie den Tisch deckt, die Chef-Sauce und Colman’s Senf hinstellt und von einem ordentlichen Stück Rinderbraten oder Kochschinken große, dicke Scheiben absäbelt. Ich sitze am Fenster und behalte die Schafe im Auge, die verdutzt aus dem Auto herüberstarren. Dad isst seinen Teller leer, während ich einen Turm aus Keksen baue, die Schokolade ablecke und den Rest dem Jack-Russell-Terrier unter dem Tisch zustecke.

Als wir nach Hause kommen, hole ich die Kaminschaufel, sammle die Schafsköttel auf und rolle auf dem Speicher Gerste.

»Wo seid ihr gewesen?« fragt Mammy.

Während wir Eimer mit Kraftfutter und Rübenbrei über den Hof tragen, erzähle ich ihr von unseren Fahrten. Dad hockt unter der Kurzhornkuh und melkt sie in einen Zinkeimer.

Mein Bruder sitzt im Wohnzimmer neben dem Kamin und tut so, als würde er lernen. Er will die Zwischenprüfung machen. Nächstes Jahr. Aus meinem Bruder wird einmal was, deshalb braucht er keine Tore zu öffnen oder Scheiße aufzulesen oder Eimer zu tragen. Er tut nichts anderes als lesen und schreiben und Dreiecke zeichnen. Dafür besorgt ihm Dad besonders feine Bleistifte für technisches Zeichnen. Er ist der Gescheiteste in der Familie. Und bleibt immer sitzen, bis er zum Abendessen gerufen wird.

»Geh runter und sag Seamus Bescheid, dass das Essen auf dem Tisch steht«, sagt Dad.

Ich muss meine Gummistiefel ausziehen, bevor ich runtergehe.

»Komm essen, du faule Sau«, sage ich.

»Das sage ich«, antwortet er.

»Tust du nicht«, sage ich und gehe wieder hinauf in die Küche, wo ich grüne Erbsen auf seinen Teller löffele, weil er keine Steckrüben und keinen Kohl isst wie der Rest von uns.

Abends hole ich meine Schultasche und mache am Küchentisch meine Hausaufgaben, während Ma fernsieht. Den Fernseher mieten wir für den Winter. An Dienstagen brüht sie noch vor acht Uhr eine große Kanne Tee auf, setzt sich an den Herd und klebt am Bildschirm, wo ein Mann einer Frau das Autofahren beibringt. Wie man schaltet, die Kupplung kommen lässt und Gas gibt. Bis auf eine raubeinige Frau oben hinter dem Hügel, die Traktor fährt, und eine Protestantin in der Stadt fährt keine Frau, die wir kennen, Auto. Während der Werbesendung wendet sie den Blick vom Bildschirm und heftet ihn auf das oberste Regal der Anrichte, wo sie in einer alten, gesprungenen Teekanne den Reserveschlüssel zum Volkswagen aufbewahrt. Eigentlich soll ich davon nichts wissen. Ich seufze und mühe mich weiter damit ab, den Lauf des Shannon durch ein Stück Wachspapier zu pausen.

Am Heiligabend stelle ich Schilder auf. Ich zerschneide einen Pappkarton, schreibe mit einem roten Marker »HIERHER, SANTA« drauf und male Pfeile hin, die ihm den Weg weisen. Immer habe ich Angst, dass er sich verläuft oder keine Lust hat zu kommen, weil ihm die Tore zu schwer aufgehen. Ich hefte sie an den Lattenzaun am Ende des Feldwegs, an die Holztore und eins an die Tür, die zum Wohnzimmer führt, in dem der Christbaum steht. Dann stelle ich ein Glas Stout und ein Stück Kuchen vor den Kamin und komme zu dem Schluss, dass Santa am Morgen des ersten Weihnachtstags sternhagelvoll sein dürfte.

Daddy nimmt seinen guten Hut aus dem Schrank und betrachtet sich im Spiegel. Es ist ein schmucker Hut mit einer steifen Feder in der Krempe. Er zieht ihn tief ins Gesicht, um seine Geheimratsecken zu verbergen.

»Und wo willst du am Heiligabend hin?« fragt Mammy.

»Ich besuche jemanden wegen einem Welpen«, sagt er und knallt die Tür zu.

Ich gehe ins Bett und kann nicht einschlafen. In meiner Klasse bin ich die Einzige, die noch immer Besuch von Santa Claus bekommt. Das weiß ich, weil der Lehrer gefragt hat: »Zu wem kommt Santa Claus noch?« und ich die Einzige war, die die Hand gehoben hatte. Ich bin anders, aber jedes Jahr spüre ich, wie die Chance, dass er kommt, abnimmt, dass ich allmählich wie die anderen werde.

Im Morgengrauen wache ich auf; Mammy zündet bereits das Feuer an. Lächelnd kniet sie vor dem Kamin und zerreißt Zeitungen. Einen schrecklichen Augenblick lang denke ich, Santa Claus könnte vielleicht nicht gekommen sein, weil ich gesagt habe: »Komm essen, du faule Sau«, aber er ist gekommen. Er hat mir die Tiny-Tears-Puppe dagelassen, die ich mir gewünscht habe, eingewickelt in das gleiche Geschenkpapier, das wir benutzen, und ich finde, dass die Post so etwas wie Zauberei ist, weil ich noch zwei Tage vor Weihnachten einen Brief abschicken kann, der über Nacht den Nordpol erreicht, obwohl es sonst eine Woche dauert, bis ein Brief in England eintrifft. Zu Seamus kommt Santa nicht mehr. Ich nehme an, er weiß, was Seamus all die Abende über im Wohnzimmer wirklich treibt: Er liest Hit n Run-Heftchen, trinkt die rote Limonade aus der Anrichte und strengt sein Hirn kein bisschen an.

Außer Mammy und mir ist noch niemand auf. Wir sind Frühaufsteher. Wir machen Tee und essen zum Frühstück Toast und Schokoladenkekse. Dann bindet sie ihre beste Schürze um, die mit Erdbeeren getüpfelte, stellt das Radio an und schneidet Zwiebeln und Petersilie, während ich einen harten Laib Weißbrot raspele. Wir füllen die Pute und tanzen in der Küche Walzer. Seamus und Dad kommen herunter und inspizieren die Päckchen unter dem Baum. Seamus bekommt eine Dartscheibe zu Weihnachten. Er hängt sie an die Hintertür, und er und Dad werfen Pfeile und schreiben mit Kreide Punkte an, während Mammy und ich unsere Anoraks überziehen, um die Schweine, Kühe und Schafe zu füttern und die Hühner rauszulassen.

»Wie kommt es, dass die gar nichts tun?« frage ich. Ich greife ins warme Stroh und taste nach Eiern. Im Winter legen die Hennen weniger.

»Es sind Männer«, sagt sie, als wäre damit alles erklärt.

Weil Weihnachten ist, sage ich nichts. Ich gehe nach drinnen und ducke mich, als ein Wurfpfeil an meinem Kopf vorbeisaust.

»Ha ha!« lacht Seamus.

»Ins Schwarze getroffen«, sagt Dad.

Zu Silvester schneit es. Schneeflocken landen und schmelzen auf den Fensterbrettern. Wieder geht ein Jahr zu Ende. Ich esse ein Schälchen Sherry Trifle zum Frühstück, sehe mir im Fernsehen Lassie an und schlafe dabei ein. Nach dem Abendessen spiele ich mit meinen Puppen, aber dann bin ich es leid, Tiny Tears mit Wasser nachzufüllen und es durch das Loch in ihrem Rücken wieder herauszuspritzen. Also schraube ich ihr den Kopf ab, aber ihr Hals ist zu dick und passt nicht auf die Körper meiner anderen Puppen. Dann spiele ich mit Seamus Darts. Mit Kreide zieht er auf dem Linoleum zwei Striche, einen für sich und einen anderen, näher zur Dartscheibe hin, für mich. Als ich dreimal die Neunzehn treffe, sagt Seamus: Zufallstreffer. Meinem Bruder zufolge ist alles, was ich gut hinkriege, Zufall.

»Siebenundachtzig«, sage ich und zähle meine Punkte zusammen. Darin bin ich ziemlich schnell, auch wenn ich Mühe beim Abziehen habe.

»Dusel!« sagt er.

»Du weißt doch gar nicht, was Dusel ist, du Dussel«, sage ich. »Schlag’s im Wörterbuch nach.«

»Genau«, sagt er.

Ich hab’s satt, wie ein Kind behandelt zu werden. Ich wünschte, ich wäre schon groß. Ich wünschte, ich könnte am Kaminfeuer sitzen, mich zum Abendessen rufen lassen und Dreiecke zeichnen, an besonders feinen Bleistiftspitzen lecken, hinter dem Steuer eines Wagens sitzen und jemanden haben, der mir Tore öffnet, durch die ich hindurchfahren kann. Wrumm! Wrumm! Ich würde ordentlich aufdrehen und auf der Stoßstange einen Aufkleber anbringen, auf dem stünde: VORSICHT, SCHAFE AN BORD.

Am Abend machen wir uns fein. Mammy trägt ein dunkelrotes Kleid von der Farbe der Kurzhornkuh. Ihre Haut ist von Sommersprossen übersät, als hätte jemand eine Zahnbürste in Farbe getaucht und sie damit besprenkelt. Sie bittet mich, ihr beim Anlegen ihrer Perlenkette zu helfen. Früher musste ich mich dazu immer aufs Bett stellen, doch inzwischen bin ich groß, das größte Mädchen in meiner Klasse; der Lehrer hat uns gemessen. Mammy ist groß und schlank, aber die Haut an ihren Händen ist hart. Ich frage mich, ob sie eines Tages wie Bridie Knox aussehen wird, halb Mann, halb Frau.

Dad wirft sich nicht in Schale. Ich habe ihn noch nie ein Bad nehmen oder sich die Haare waschen sehen; er wechselt lediglich den Hut und die Schuhe. Jetzt drückt er sich den guten Hut auf den Kopf und mustert sich im Spiegel. Die Feder ragt höher auf als sonst. Dann zieht er sich seine Schuhe an: große schwarze Schuhe, die er sich angeschafft hat, nachdem er den Suffolk-Schafbock verkauft hatte. Er hat Schwierigkeiten mit den Schnürsenkeln, weil es ihm schwerfällt, sich zu bücken. Seamus trägt einen grünen Pullover mit Lederflecken an den Ellbogen, eine schwarze Hose mit röhrenförmigen Beinen und Cowboystiefel, damit er größer wirkt.

»Stolper bloß nicht mit deinen hohen Absätzen«, sage ich.

Wir steigen in den Volkswagen, ich und Seamus auf den Rücksitz und Mammy und Dad auf die Vordersitze. Obwohl ich den Wagen ausgewaschen habe, rieche ich Schafscheiße, einen schwachen, aber beißenden Geruch, der uns immer daran erinnert, wo wir herkommen. Dad schaltet den Scheibenwischer ein; es gibt nur einen, und er quietscht, als er den Schnee beiseite wischt. Aus den Bäumen fliegen Krähen auf, die schrille, hungrige Schreie ausstoßen. Da der Wagen keine Hintertüren hat, muss Mammy aussteigen, um die Tore zu öffnen. Ich finde sie schön mit ihren Perlen um den Hals und dem ausgestellten roten Kleid, das sich bauscht, wenn sie sich dreht. Ich wünschte, mein Vater würde aussteigen, der Schnee würde auf ihn fallen und nicht auf meine Mutter in ihren guten Kleidern. Ich habe andere Väter gesehen, die ihrer Frau in den Mantel helfen, ihr die Tür aufhalten, sie fragen, ob sie etwas aus dem Laden braucht, ihr Schokolade und reife Birnen mitbringen, selbst wenn sie nein sagt.

Spellman Hall steht mitten auf einem Parkplatz, ein Bogen aus nackten bunten Glühbirnen umrahmt ein schief hängendes FRÖHLICHE WEIHNACHTEN-Schild über der Tür. Der Innenraum ist so groß wie eine Lagerhalle, mit einem glatten Parkettfußboden und Bänken an den Wänden. Seltsame Lichter lassen jedes weiße Kleidungsstück aufleuchten. Es ist erstaunlich. Durch die Bluse der Zeitungsverkäuferin kann ich ihren BH erkennen, auf der Hose des Auktionators Fusseln wie Schneeflocken. Der Buchhalter hat ein blaues Auge und trägt einen Wollpullover mit grauen und weißen Rauten. Über unseren Köpfen dreht sich langsam eine schimmernde Kugel aus zersplittertem Spiegelglas. Am oberen Ende des Tanzsaals steht ein Resopaltisch voller Flaschen mit Limonade und Orangensaft, Plätzchen mit Vanillecreme und Kartoffelchips mit Käse- und Zwiebelgeschmack. Dahinter steht die Frau des Metzgers, verteilt Strohhalme und nimmt das Geld entgegen. Einige Frauen, die ich von meinen Rundfahrten auf dem Land kenne, sind auch da: Bridie mit ihren maulbeerrot geschminkten Lippen; Sarah Combs, die meinen Vater erst letzte Woche gedrängt hat, ein Glas Sherry zu trinken, und mir altbackenen Kuchen vorgesetzt hat, während sie ihn ins Wohnzimmer führte, um ihm ihre neue Sitzgarnitur zu zeigen. Miss Emma Jenkins, die uns immer Schinkenspeck brät, Kaffee statt Tee trinkt und wegen ihrer sogenannten Magensäfte nie etwas Süßes im Haus hat.

Auf der Bühne spielen Männer mit roten Blazern und buntgestreiften Fliegen Schlagzeug und Gitarre und Blasinstrumente, und an der Rampe steht Moran, das »Nervenbündel«, und singt My Lovely Leitrim. Mammy und ich treten als Erste aufs Parkett, um den Kuckuckswalzer zu tanzen, und als die Musik ausklingt, tanzt sie mit Seamus. Mein Vater tanzt mit den Frauen, die er von seinen Fahrten her kennt. Ich frage mich, wie er derart tanzen, aber keine Tore öffnen kann. Seamus swingt mit Teenagern, die er von der Berufsschule her kennt, Hand hoch, Arsch raus, und die Mädchen wirbeln herum wie verrückt. Alte Männer in den Dreißigern fordern mich auf.

»Magst ’nen Quickstep riskieren?« fragen sie. Oder: »Wie wär’s mit ’nem halben Kontertanz?«

Sie sagen mir, wie leichtfüßig ich bin.

»Himmel, du bist ja federleicht«, sagen sie und prüfen mich auf Herz und Nieren.

Beim »Paul Jones« verstummt die Musik, und ich bleibe an einem Farmer hängen, der säuerlich riecht wie der Whiskey, den wir im Frühjahr den kranken Lämmern einflößen, aber der junge Bursche, der auf dem Markt immer die Rinder im Ring beruhigt, drängt sich dazwischen und rettet mich.

»Beachte ihn gar nicht«, sagt er. »Der denkt doch, alle Welt liegt ihm zu Füßen.«

Ich stelle mir vor, wie ihm die ganze Welt zu Füßen liegt, und finde es komisch. Er riecht nach Seilen, Zinkblech und Desinfektionsmittel, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Die Leute sagen, dass ich mir Dinge einbilde.

Nach dem halben Kontertanz bekomme ich Durst, und Mammy gibt mir ein Fünfzig-Pence-Stück für Limonade und Tombola-Lose. Ein langsamer Walzer setzt ein, und Dad geht auf Sarah Combs zu, die aufsteht und ihre Jacke auszieht. Ihre Schultern sind nackt; ich kann ihren Brustansatz sehen – zwei Enteneier. Mammy sitzt mit der Handtasche auf dem Schoß da und sieht zu. Irgendwie wirkt sie heute Abend traurig; Traurigkeit hüllt sie ein wie an den Tagen, wenn eine Kuh verendet und der Lastwagen kommt, um sie fortzuschaffen. Irgendetwas läuft da ab, etwas, das ich nicht ganz verstehe, als wäre eine schwarze Wolke herbeigeweht, die platzen und schlimme Verheerungen anrichten könnte. Ich gehe zu ihr und biete ihr meine Limonade an, aber sie trinkt nur geziert einen kleinen Schluck und bedankt sich bei mir. Ich gebe ihr die Hälfte von meinen Losen ab, aber sie macht sich nichts daraus. Mein Vater hat die Arme um Sarah Combs gelegt und tanzt langsam, als wäre Langsamkeit alles, was er sich wünscht. Seamus lehnt, die Hände in den Hosentaschen, an der Wand auf der anderen Seite und lächelt auf die Blondine herab, die immer den Spiegel in der Damentoilette in Beschlag nimmt.

»Klatsch Sarah ab.«

»Was?« fragt er.

»Klatsch Sarah ab.«

»Wozu denn das?« fragt er.

»Und du willst der mit Köpfchen sein«, sage ich. »Arschloch.«

Ich trete auf die Tanzfläche und tippe Sarah auf den Rücken. Ich tippe auf eine Rippe. Sie dreht sich um, ihr breiter Lackledergürtel glänzt in dem Licht, das sich aus der Kugel über unseren Köpfen ergießt.

»Entschuldigen Sie«, sage ich, als wollte ich sie nach der Uhrzeit fragen.

»Hihi«, sagt sie und blickt auf mich herab. Ihre Augäpfel sind gesprungen wie die Teekanne auf unserer Anrichte.

»Ich möchte mit Daddy tanzen.«

Bei dem Wort »Daddy« verändert sich ihr Gesichtsausdruck, und sie lockert ihren Griff. Ich löse sie ab. Der Mann auf der Bühne bläst jetzt Trompete. Mein Vater hält meine Hand fest, als wolle er mir wehtun. Ich kann meine Mutter auf der Bank sehen, wie sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch kramt. Dann geht sie auf die Damentoilette. Dad strahlt ein Gefühl aus wie Hass. Ich habe den Eindruck, dass er hilflos ist, aber das kümmert mich nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Macht. Ich kann mich dazwischendrängen und das Kommando an mich reißen, retten und gerettet werden.

Gegen Mitternacht herrscht allgemeines Durcheinander. Alle tummeln sich auf der Tanzfläche, knicken in den Knien ein und schlenkern mit den Handtaschen. Das »Nervenbündel« Moran zählt die Sekunden bis zum neuen Jahr, und dann küssen und umarmen sich alle. Fremde Männer drücken mich, schlecken mich ab, als wären sie durstig und ich wäre Wasser.

Meine Eltern küssen sich nicht. Mein ganzes Leben lang, solange ich zurückdenken kann, habe ich nie gesehen, dass sie sich je berührt hätten. Einmal habe ich eine Freundin mit in den ersten Stock genommen, um ihr das ganze Haus zu zeigen.

»Das ist Mammys Zimmer«, erklärte ich, »und das ist Daddys Zimmer.«

»Deine Eltern schlafen nicht im selben Zimmer?« fragte sie mit einem Ausdruck unverhohlenen Erstaunens.

Die Band beschleunigt das Tempo. Oh hokey, hokey, pokey!

»Ihr müsst die Pute wegstrampeln, die Plumpuddings abarbeiten!« ruft das »Nervenbündel« Moran, und selbst die angeberischen Volkstanzfanatiker lassen ihre Achterfiguren sausen und tanzen Twist und Jive; ich lasse meinen Hintern gegen den des Burschen vom Markt prallen und swinge schließlich mit einem Fremden.

Beim Abspielen der Nationalhymne erheben sich alle. Dad wischt sich die Stirn mit einem Taschentuch, und Seamus ist außer Puste, weil er körperliche Anstrengung nicht gewohnt ist. Die Lichter gehen an, und alles ist wie verwandelt. Die Leute haben rote Gesichter und sind verschwitzt; alles ist wieder wie sonst auch. Der Auktionator geht ans Mikrofon und dankt einer Reihe von Leuten, und dann versteigern sie ein Charolais-Kalb und eine Ziege und ganze Posten Tee und Zucker und süße Brötchen und Marmelade, Plumpuddings und Mince pies. Wo die Ziege gestanden hat, liegt ein Scheißhaufen und ich frage mich, wer den wohl aufwischen muss. Die Verlosung findet ganz zum Schluss statt. Der Auktionator hält der Blondine den Pappkarton mit den Kontrollabschnitten hin.

»Tief reingreifen«, sagt er. »Nicht gucken. Erster Preis ist eine Flasche Whiskey.«

Sie lässt sich Zeit und sonnt sich in der Aufmerksamkeit der anderen.

»Mach schon«, sagt er. »So ist’s recht, schließlich ist es nicht die staatliche Lotterie.«

Sie gibt ihm das Los.

»Es ist ein, was meinst du, Jimmy, was für eine Farbe das ist? Es ist ein, ein lachsfarbenes Los, Nummer siebenhundertfünfundzwanzig. Sieben zwei fünf. Seriennummer 3X429H. Ich sag’s noch mal durch.«

Meine Nummer ist es nicht, aber ich bin nahe dran. Den Whiskey will ich nicht; der würde sowieso nur für die Lämmer aufbewahrt. Ich möchte lieber die Schachtel mit Keksen, die als Nächstes drankommt. Allgemeines Gescharre, ein Kramen in Handtaschen, Gesäßtaschen. Der Auktionator ruft die Nummer abermals auf, und es sieht ganz so aus, als müsste er ein anderes Los ziehen lassen, als Mammy sich von ihrem Sitz erhebt. Mit hocherhobenem Kopf schreitet sie schnurgerade über die Tanzfläche. Die Menge weicht auseinander, die Leute treten zur Seite, um sie durchzulassen. Ihre neuen hochhackigen Schuhe machen auf dem glatten Parkett klipp klapp, und ihr rotes Kleid flattert. So etwas habe ich bei ihr noch nie gesehen. Normalerweise ist sie zu schüchtern, gibt mir die Lose, und ich renne nach vorn und nehme den Preis entgegen.

»Sie mögen wohl’n Tröpfken von dem Zeug, was, Missus?« fragt das »Nervenbündel« Moran und studiert ihr Los. »In einer Nacht wie heute hält Sie der allemal warm. Keine Frau braucht einen Mann, wenn sie einen Schluck Powers Whiskey hat. Stimmt’s, oder hab ich recht? Sieben-fünfundzwanzig, goldrichtig.«

Meine Mutter steht da in ihrem eleganten Kleid, und gar nichts stimmt. Sie gehört dort vorne nicht hin.

»Jetzt wollen wir noch die Seriennummer nachprüfen«, sagt er, um die Sache in die Länge zu ziehen. »Tut mir leid, Missus, die verkehrte Seriennummer. Heute Abend muss Sie doch wieder Ihr Göttergatte warmhalten. Auf den ist im-mer Verlass.«

Meine Mutter macht kehrt und geht – klipp klapp – über das glatte Parkett zurück, und alle wissen, dass sie gedacht hat, sie hätte gewonnen, dabei hat sie gar nicht gewonnen. Und plötzlich geht sie nicht mehr, sondern rennt, rennt im hellen, weißen Licht an der Garderobe vorbei zur Tür, und ihre Haare wehen wie der Schweif eines Pferdes hinter ihr her.

Draußen auf dem Parkplatz hat sich Schnee auf dem gefrorenen Gras angesammelt, auch auf den immergrünen Bäumen, die als Windschutz dienen, doch der Asphalt ist nass und glänzt im Scheinwerferlicht der davonfahrenden Autos. Helles Mondlicht scheint unverwandt auf die Erde herab. Ma, Seamus und ich sitzen bibbernd im Wagen und warten auf Dad. Wir können den Motor nicht anlassen, um das Auto zu heizen, weil Dad den Schlüssel hat. Meine Füße sind wie Eisklumpen. Aus der offenen Durchreiche des Frittenautos, auf dessen Blech eine dicke braune Wurst gemalt ist, steigt eine fettige Dampfwolke auf. Um uns herum machen die Leute sich auf den Weg, winken und rufen einander »Gute Nacht!« und »Schönes neues Jahr!« zu. Sie lassen sich ihre Pommes geben und fahren los.

Der Frittenwagen hat die Durchreiche geschlossen, und der Parkplatz ist leer, als Dad herauskommt. Er setzt sich auf den Fahrersitz, der Motor springt an, ein Stottern, und wir fahren los, kriechen den Hügel vor dem Dorf hinauf und schlängeln uns die engen Sträßchen entlang nach Hause.

»Die Band war nicht schlecht«, sagt Dad.

Mammy sagt nichts.

»Ich hab gesagt, die Band war gar nicht übel.« Diesmal lauter.

Mammy sagt immer noch nichts.

Mein Vater beginnt zu singen. Wenn er wütend ist, singt er immer; wenn er innerlich tobt, tut er so, als hätte er gute Laune. Inzwischen liegen die Lichter der Stadt hinter uns. Die Straßen sind finster. Wir kommen an Häusern mit brennenden Kerzen in den Fenstern vorbei, an den Weihnachtsbäumen blinken die Glühbirnen, auf den Windschutzscheiben der abgestellten Autos kleben Zeitungsseiten. Noch vor dem Ende des Liedes hört Dad zu singen auf.

»Hast du im Tanzsaal ’n nettes junges Ding gesehen, Seamus?«

»Nichts, worauf ich wild wäre.«

»Die Blonde war ganz flott.«

Ich muss an den Markt denken, an all die Männer, die sich gegen das Geländer lehnen und für Färsen und Mutterschafe bieten. Ich muss an Sarah Combs denken, die immer, wenn wir zu ihrem Haus fahren, nach grasigem Parfüm riecht.

Die Äste des Kastanienbaums am Ende unseres Feldwegs sind mit Schnee überzogen. Dad hält den Wagen an, und wir rollen ein bisschen zurück, bis er aufs Bremspedal tritt. Er wartet darauf, dass Mammy aussteigt und die Tore öffnet.

Mammy rührt sich nicht.

»Fehlt dir was?« fragt er sie.

Sie sieht geradeaus.

»Klemmt die Tür oder was?« fragt er.

»Mach sie doch selber auf.«

Er langt über sie hinweg und öffnet ihre Tür, aber sie knallt sie wieder zu.

»Geh raus und mach das Tor auf!« brüllt er mich an.

Etwas sagt mir, dass ich mich nicht rühren darf.

»Seamus!« schreit er. »Seamus!«

Keiner von uns rührt sich von der Stelle.

»Herrgott noch mal!« sagt er.

Ich habe Angst. Draußen hat sich eine Ecke meines »HIERHER, SANTA«-Schilds gelöst, die durchweichte Pappe flattert im Wind. Dad wendet sich meiner Mutter zu, seine Stimme trieft von Gehässigkeit.

»Und du gehst vor allen Nachbarn in deinem Sonntagsstaat nach vorn und bildest dir ein, du hättest den ersten Preis in der Tombola gewonnen.« Er lacht und macht seine Tür auf. »Rennst aus dem Saal wie ’ne Kesselflickerin.«

Er steigt aus, und sein Gang ist voller Zorn, als ginge er auf glühenden Kohlen. Aber er singt Faraway in Australia. Er greift nach oben und schiebt den Draht vom Torpfosten, als ein Windstoß seinen Hut fortweht. Das Tor geht auf. Er bückt sich, um seinen Hut aufzuheben, aber der Wind stupst ihn außer Reichweite. Er macht noch ein paar Schritte und bückt sich erneut, um ihn aufzuheben, und wieder wird er vom Wind außer Reichweite geweht. Ich muss an Santa Claus denken, der dasselbe Geschenkpapier benutzt wie wir, und plötzlich begreife ich. Es gibt nur eine Erklärung, eine ganz offenkundige.

Mein Vater wird kleiner. Ich habe den Eindruck, als bewegten sich die Bäume, als wiche der Kastanienbaum, dessen grüne Hände uns im Sommer beschirmen, zurück. Dann geht mir auf, dass es das Auto ist. Wir sind es. Wir rollen, gleiten zurück; keine Handbremse, und ich bin nicht draußen, um den Stein hinters Rad zu legen. Und genau in diesem Augenblick übernimmt Mammy das Steuer. Sie rutscht auf den Sitz meines Vaters und tritt auf die Bremse. Wir rollen nicht mehr zurück. Sie lässt den Motor aufheulen und legt den Gang ein, die Gangschaltung knirscht, sie hat die Kupplung nicht weit genug durchgetreten, doch dann stottert der Motor, und wir fahren. Mammy bringt uns voran, am Santa-Schild vorbei, vorbei an meinem Vater, der aufgehört hat zu singen, durch die geöffneten Tore. Sie fährt uns durch den frisch gefallenen Schnee. Ich kann die Kiefern riechen. Als ich mich umblicke, steht mein Vater da und sieht unseren Rücklichtern nach. Wie er so dasteht und seinen Hut umkrampft, rieselt der Schnee auf ihn herab, auf seinen unbedeckten Kopf.

Wo das Wasser am tiefsten ist

Heute Abend sitzt das Au-pair-Mädchen am Rand des Piers und angelt. Neben ihr der Käse, den sie beim Abendessen aus der Salatschüssel gefischt hat, und ihre Ledersandalen. Sie zieht das Haarband von ihrem Pferdeschwanz und schüttelt die Haare. Vom Haus her weht ein Geruch nach Küchendünsten und Badewasser durch die Bäume. Sie spießt einen Käsewürfel auf den Haken und wirft mit einer geschickten Drehung des Handgelenks die Angel aus. Die Leine beschreibt einen tadellosen Bogen in der Luft, klatscht auf und sinkt ins Wasser. Langsam holt sie sie wieder ein, näher zu sich, dorthin, wo das Wasser am tiefsten ist. Auf diese Weise hat sie schon einmal einen schönen Flussbarsch gefangen.

In letzter Zeit schläft sie nicht gut, wacht von dem immer gleichen Traum auf. Sie und der Junge stehen abends im Hof. Der Wind bauscht die Wäsche auf der Leine, und über ihnen liebkosen sich schwarze Bäume. Dann bebt der Erdboden. Sterne fallen herab und klimpern wie Münzen um ihre Füße. Das Dach der Scheune erzittert und hebt sich wie ein großes metallenes Blatt, das an den Wolken kratzt. Die Erde birst, und der Junge bleibt auf der anderen Seite zurück.

»Spring! Spring, ich fang dich!« schreit sie.

Der Junge lächelt. Er vertraut ihr.

»Los!« Sie breitet die Arme weit aus. »Spring! Es ist kinderleicht!«

Er nimmt Anlauf und springt. Seine Füße setzen über den Erdspalt, doch dann geschieht etwas ganz Merkwürdiges: Ihre Hände schmelzen, und der Junge stürzt rücklings in die Finsternis. Das Au-pair-Mädchen steht am Rand des Abgrunds und sieht ihn fallen.

Manchmal träumt sie diesen Traum zweimal in derselben Nacht. Gestern Abend ist sie aufgestanden, hat im Badezimmer eine Zigarette geraucht und den Mond betrachtet. Das Licht glitt von den vergoldeten Wasserhähnen, tauchte in das Porzellanbecken und warf Schatten. Sie putzte sich die Zähne und ging wieder zu Bett.

Am Nachmittag hatten sie nach Würmern gegraben und das Angelgerät zum Seeufer gebracht. Das Au-pair-Mädchen drehte das Boot um, ließ es ins Wasser gleiten und hielt es fest, damit der Junge einsteigen konnte. »Na, dann mal los!« sagte sie und ruderte im Schatten der Mole auf den See hinaus. Der Junge trug eine Baseballmütze der Red Sox, die ihm sein Vater von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Die Sommersprossen auf seiner Nase waren regelrecht zusammengewachsen, der Schorf an seinem Knie war am Verheilen. Während sie ruderte, ließ er die Hand über den Bootsrand baumeln und durch die Wasseroberfläche pflügen. Als sie die Riemen einzog, trieben sie in eine schwarze Wolke Insekten.

»Gibt’s auf dem Riff auch Mücken?« fragte der Junge.

Wenn das Au-pair-Mädchen von zu Hause sprach, änderte sich ihre Stimme. Dann sprach sie so, als könne sie durch die Vergangenheit hindurchfassen und ihr Zuhause mit den Händen greifen. Sie spießte einen Köder auf seinen Haken, erzählte ihm, wie sie Sporttauchen und Schnorcheln mit Speeren gelernt, die verborgene Welt auf dem Grund des Ozeans erkundet hatte. Kiesige Berge, wo ganze Fischschwärme schwammen und alle gleichzeitig die Richtung wechselten. Wogender Seetang. Eine vorüberschwimmende Schildkröte mit großen Spiralen auf dem Rücken. Seepferdchen.

»Ich möchte auch tauchen, und zwar hier«, quengelte der Junge.

»Das können wir nicht, Schatz. Euer See ist zu dunkel und schlammig; der Untergrund ist nicht sandig wie im Ozean – es ist Schlamm. Tiefer als zwei Männer übereinander. Viel zu gefährlich, um zu tauchen.«

Der Junge blieb eine Weile stumm. Auf der fernen Weide wieherten Quarter Horses, kamen den Hügel herabgaloppiert und blieben schnaubend am Wasserrand stehen.

»Komm, spielen wir das Wie-Spiel!« schlug sie vor und zerklatschte eine Mücke auf ihrem Arm.

Der Junge zuckte mit den Achseln. »Na schön.«

Sie fing an: »Das Boot ist wie die Hälfte einer großen Paranuss.«

»Dein Kopf ist wie ein Kohlkopf.«

»Deine Wimpern haben die gleiche Farbe wie die Mähne eines Palomino.«

»Was ist das?« fragte der Junge.

»Ein Pferd. Ich zeig dir mal ein Bild.«

»Ich soll Augen wie ein Pferd haben?«

»Du bist dran.«

»Deine Fürze sind wie Bohnen in Tomatensoße.«

»Deine Fürze sind wie tödliche Stille«, konterte sie.

»Du bist wie eine Mama«, sagte er und sah ihr in die Augen.