Das dunkle Tor - Cyrill Wyrsch - E-Book

Das dunkle Tor E-Book

Cyrill Wyrsch

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Beschreibung

Eine Geschichte von Leid, ungeheuerlichem Willen und düsteren Geheimnissen! Thordir, der Sohn eines Weidmanns aus den Bergen, begibt sich nach einem grausamen Ereignis in die Welt hinaus, um seiner wahren Bestimmung zu folgen - unterstützt von mysteriösen Fremden. Doch die Reise verwandelt sich rasch in einen Kampf ums Überleben. Und obschon die Strapazen beschwerlich sind, müssen sie bald erfahren, dass im Gebirge ein grauenvolles Geheimnis verborgen liegt. Als eines Tages dunkle Wolken über das Land der Armaren ziehen, um es demnächst in Finsternis zu hüllen, ist das Böse bereits nah...

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Seitenzahl: 330

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-171-5

ISBN e-book: 978-3-99146-172-2

Lektorat: Maria Hentschel

Umschlagfotos: Iwona Suchomska, Gunnar Helgason | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

- 1 -

Eine unheimliche Stille legte sich über das Land. Eis und Schnee herrschten über Berge und Täler. Flüsse, Bäche, Moore und Teiche erstarrten in der klirrenden Kälte des sternenreichen Nachthimmels. Nur den tosenden Wasserfällen konnte die frostige Luft keinen Einhalt gebieten. Schwere Wassermassen donnerten in die Tiefen, wo sich der feuchte Dunst über annähernd zugefrorene Seen ausbreitete und sich in den Weiten der Wildnis verlor. Mächtige Eiszapfen hingen von Felswänden, immergrünes Moos wuchs auf kaltem Gestein zwischen graugelben Flechten und glitzernden Kristallen. Hier und da fiel lautlos der Schnee von den Tannen.

Der Vollmond hüllte die wilde Landschaft in ein blasses Licht, welches die Natur in ihrer reinsten Schönheit erscheinen ließ, während aber die Schatten der Bäume sogleich eine düstere Umgebung schufen – vieles lag darin verborgen, was sich nicht zeigen wollte. Ein stilles Kratzen hier und ein gedämpftes Fauchen dort, derweil eine feine Brise auffrischte und sich durch kahles Buschwerk schlängelte. An den östlichen und westlichen Berghängen des Finstertals krallten sich letzte Nebelschwaden, als die Stille der Nacht plötzlich unterbrochen wurde.

Ein heiseres Röcheln verließ Thordirs Kehle, als er im hohen Schnee bis zu den Hüften einsank. Völlig entkräftet blieb er stecken und verharrte einen Moment, während sich tiefe Trauer in seinen Augen widerspiegelte. Tränen rannen über die kalten Wangen, als er versuchte, sich mit grabenden Handbewegungen zu befreien, sich jedoch kraftlos gegen die weiße Masse stemmte. Die eisige Oberfläche schnitt dem jungen Mann immer mehr die Hände auf, was ihn aber nicht kümmerte, denn ohnehin spürte er Arme und Beine nicht mehr. Keuchend und völlig außer Atem zog sich Thordir schließlich aus dem Loch, kroch auf allen vieren weiter und begann dabei, ruckartig zu husten. Rotgelber Schleim schoss aus dem Mund – seine Lungen schmerzten grauenhaft. Das zu Eis gefrorene Leder an den Beinen knirschte bei jeder Bewegung und in seiner verzweifelten Lage merkte er nicht einmal, dass stoßweise Blut aus der sichelförmigen Wunde an seiner rechten Brust herausquoll und den Schnee hinter ihm in eine grässliche Spur verwandelte. Von seinem Nachthemd waren nur noch Fetzen übrig, die nun im eisigen Wind wehten, genauso wie sein schulterlanges, schwarzes Haar. Unter größter Anstrengung zwang sich der Jäger auf die Knie, wobei sich seine zittrigen Hände auf festerem Eis abstützten. Er schnappte nach Luft, als er sodann versuchte, auf die Beine zu kommen, um schneller vorwärts zu gelangen. In jener Situation war ihm nicht bewusst, wohin er sich bewegte, was aber auch gleichgültig war, denn bis weit in die Ferne erstreckte sich so oder so eine lebensfeindliche Winterlandschaft.

Sobald sich der Schwarzhaarige gerade so auf wackeligen Beinen halten konnte, knackten seine durchgefrorenen Knochen, welche sich nun wie brüchiger Schiefer anfühlten. Er schrie auf und sackte auf allen vieren in den Schnee zurück. Mit schmerzverzerrtem Gesicht jammerte er kläglich in die Nacht hinaus, wobei weitere heftige Hustenanfälle seinen Brustkorb schüttelten. Nach einem angestrengten Würgen rann warmes Blut aus seinem Mund über die bläulichen Lippen, indessen die Erschöpfung stetig zunahm. Den Tod immer klarer vor Augen, schleppte sich Thordir krächzend und schluchzend vor Schmerzen und Trauer Elle um Elle nach vorne. Seine Haut verblasste allmählich. Er kroch und kroch, derweil seine nackten Füße vom übrigen Körper wie totes Fleisch hinterhergeschleift wurden.

»Grooahh!« Ein ohrenbetäubendes Röhren hallte durch das Finstertal. Adrenalin schoss durch Thordirs Leib, als er seinen Verfolger hörte. Es war ein Klang, der wie ein Blitz durch Mark und Bein zuckte und einem Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Laut drang in Ohren und Verstand wie tausend Nadeln, welche selbst stärkstes Donnergrollen in seiner rauen Gewalt entmachtete – von einer uralten Kreatur geschaffen, die, so die Legenden, gar aus der Hölle verbannt worden war.

Der widerstandsfähige junge Mann war nun völlig entkräftet. Mit aufgerissenen Augen wagte er einen Blick über seine Schultern und folgte seinen rot gefärbten Spuren im Schnee, bis sie sich in nicht allzu weiter Ferne im dichten Tannenwald verloren.

»Grooahh!«

Thordir erschrak – sein Herz raste. Voller Todesangst drehte er sich hastig wieder nach vorne und versuchte eilig, die durchgefrorenen Gelenke in Bewegung zu bringen. Dabei setzte aber ein unerträglicher Schmerz ein, bei dem er lautlos aufschrie, die Augenlider zusammenpresste und die Zähne knirschend zusammenbiss. Die Knochen fühlten sich an wie morsche Zweige, welche bei geringster Belastung zu brechen drohten. Elle um Elle schob er seinen unterkühlten Körper durch das weiße Nichts.

Dann drang plötzlich das Geräusch von brechendem Gehölz zu ihm herüber. Nicht leises Knacken von dünnen Zweigen, sondern von dicken Ästen. Sie zerbarsten regelrecht und wurde hörbar zur Seite geschoben. Eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken. Bereits die Vorstellung von diesem Wesen ließ ihn erstarren. Ruckartig drehte sich Thordir auf allen vieren um, hockte sich mühsam an einen nahgelegenen Gesteinsbrocken und wartete schwer atmend auf das Bevorstehende. Das warme Blut floss währenddessen unaufhaltsam von seiner aufgeschlitzten Brust über den Bauch in den weichen Schnee – doch der Anblick störte ihn nicht. Nur schemenhaft nahm er seine klaffende Wunde wahr. Sie tat auch nicht weh. In diesen Augenblicken störte ihn nichts mehr. Allmählich verließen ihn jegliche Gefühle. Furcht und Trauer verschwanden – sein Atem wurde ruhiger und die Zeit schien stillzustehen. Das Einzige, was er noch zu bewegen vermochte, waren seine smaragdgrünen Augen, die im Mondschein sanft leuchteten. Mit schleppenden Bewegungen seines Hauptes suchte er den schwarzen Wald einen Steinwurf entfernt ab. Vorerst war nichts zu sehen. Aber dann stieg im Schatten einer Baumgruppe Dunst auf, welcher sich beim genaueren Betrachten als die emporsteigende warme Atemluft des Geschöpfes herausstellte. Und zwischen dunklen Tannenzweigen erkannte Thordir schließlich die überwältigenden Umrisse der massigen Kreatur. Unheimlich regungslos stand sie da und schnaubte leise vor sich hin, während düstere Augen den Schwarzhaarigen beobachteten.

Beim Betrachten des Ungeheuers geschah dann etwas Seltsames. Wie Öl in Feuer gekippt, begannen des Jägers Gefühle aufzuflammen. Wohltuende Wärme durchzog ihn von innen, unerklärliche Kräfte regten sich aus seinem Verstand heraus und Gleichgültigkeit wich Wut und Hass. Die aussichtlosen Umstände erzeugten eine wütende Verzweiflung in ihm, die derart kraftvoll wirkte, dass sie zu einer Unerschrockenheit heranwuchs. Schlagartig dachte er an seine Eltern, wobei dutzende Erinnerungsbruchstücke aus vergangenen Tagen eine überaus tiefe Trauer auslösten. Thordirs Augen wurden wässrig, bis die Tränen seinen Blick trübten.

Durch seine verschwommene Sicht nahm er wahr, wie es schließlich aus der Dunkelheit in das fahle Licht des Mondes trat. Beinahe tonlos stapfte es durch den hohen Schnee dem Schwarzhaarigen entgegen.

Hektisch bemühte er sich, seinen geschundenen Leib noch aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. Aus unerklärlichen Gründen überkam ihn das Verlangen, dem Biest aufrechtstehend die Stirn zu bieten. Also blieb er ernüchtert sitzen, holte voller Feindseligkeit tief Luft, füllte damit seine Lungen und schrie aus Leibeskräften: »Verdammte Brut der Hölle!« Die Halsvenen blähten sich aufs Äußerste und schienen fast zu platzen, während seine blasse Gesichtsfarbe rötlich verfärbter Haut wich. Doch kaum hallten seine Schreie vom nahgelegenen Felsen zurück, sperrte der Riese sein Maul in die Weite und brüllte um ein Vielfaches lauter, sodass dem Schwarzhaarigen die Ohren pfiffen. Schlagartig verlor Thordir den Mut – abgrundtiefe Furcht schoss in ihm hoch. Aus dem Schlund der grässlichen Kreatur schossen Speichel- und Fleischreste heraus und von der flachen Nase beugte sich durch den Atemstoß schleimiger Rotz nach vorne. Fletschende Zähne blitzten. Blutrotes Zahnfleisch glänzte.

Das haarige Wesen schlug noch während des Gebrülls seine gewaltigen Fäuste auf das verschneite Erdreich, packte wutentbrannt eine Baumwurzel und riss sie mühelos in Stücke. Thordirs Schädel dröhnte. Eine tiefe Müdigkeit überfiel ihn und seine Lider schlossen sich.

- 2 -

Knisternde Zweige und der herrliche Duft von verbrannten Nadeln weckten den Schwarzhaarigen aus dem Schlaf. Eine angenehme Wärme durchzog seinen Körper.

Gähnend öffnete er die verklebten Augen und spähte noch müde und erschöpft zu einer Feuerstelle, die bald zu erlöschen drohte. Unter glühenden Ästen lag eine große Menge Asche. Daneben stapelte sich gehauenes Tannenholz bis knapp unter die niedrige Decke des kleinen Raumes.

Thordir stützte sich schlaftrunken auf den linken Ellenbogen, um sich genauer umsehen zu können, doch da schoss ihm ein stechender Schmerz in die Brust. Er schrie auf und ließ sich auf den Rücken fallen. Da zuckten jene bösen Erinnerungen wie Blitze durch seinen Kopf: Die furchterregende Kreatur, die weißschwarze Umgebung und der blutgetränkte Schnee. Gleichzeitig fühlte er das schreckliche Ereignis, als würde es gerade eben geschehen. Dabei roch er den grausigen Duft seines eigenen Blutes in der Nase, hörte, wie das ohrenbetäubende Brüllen in seine Ohren drang und am Verstand zehrte, und er spürte im Hier und Jetzt, wie die eisige Luft seine Lungen quälte. Des Schwarzhaarigen Gemüt wurde immer unruhiger, je mehr er sich den Geschehnissen hingab – sein Herz raste und er begann, zu schwitzen. Erst jetzt, nun hellwach, begriff er vollends, dass er überlebt haben musste und sich in einer fremden Hütte befand.

»Was zum Teufel … was ist geschehen?!« Restlos überwältigt davon versuchte er, sich zu besinnen, was passiert war. Aber es half nichts. Denn das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war dieser dunkler werdende Schleier, welcher zunehmend enger wurde und am Ende die Sicht gänzlich schwärzte.

»Ist jemand da?«, rief Thordir mit heiserer Stimme, während ihm unbehaglich zumute war. Niemand antwortete. Und als er in aller Stille horchte, waren auch keine Geräusche zu vernehmen – außer dem leisen Zischen und Knacken der Glut, eine Armlänge neben ihm. Völlig fassungslos starrte er zur Decke, als ihm nochmals bewusst wurde, was mit ihm geschehen sein musste, dass er nun hier lag.

»Ich war tot! Und das Ungeheuer – vom Erdboden verschluckt?!«, murmelte er aufgelöst vor sich hin, derweil sein Gesichtsausdruck nicht grimmiger hätte sein können. In diesem Augenblick wusste er selbst nicht, ob er froh darüber war, überlebt zu haben, oder doch lieber gestorben wäre. Denn im Jenseits hätte er seine Eltern wiedergesehen, so glaubte er. Trauernd, mit feuchten Augen, blieb Thordir noch eine Weile regungslos liegen, bis er sich gezwungenermaßen seiner Wunde widmete, von der immer heftiger werdende Schmerzen ausgingen.

Hellbraunes Fell eines Bären wärmte ihn. Vorsichtig legte er es etwas zur Seite, um seine Brust zu untersuchen. Ein großes, getrocknetes Lindenblatt überdeckte die Wunde, verklebt mit einer gelblichen Substanz, die an seiner Haut haftete. Es tat weh, als er das grüne Blatt etwas anhob, um darunter zu blicken. Also schloss er es wieder und war sogleich erstaunt über die klebrige Masse, die er nicht kannte. So wurde der Schwarzhaarige immer neugieriger darauf, wer der mysteriöse Fremde war, in dessen Bett er lag – »Ein Heiler, ein Waldläufer oder gar ein Hexer?«

Nervös warf Thordir das schwere Fell zur Seite und vergaß, an seine Verletzung zu denken – was er sofort bereute. Mit zusammengebissenen Zähnen fluchte er lautstark in die Kammer hinein. Nach einer kurzen Atempause hob er dann den Kopf vom weichen Federkissen, drehte sich langsam zur Linken ab und hob geduldig die Beine aus dem schmalen Bett. Wie durch ein Wunder hatte er keine Erfrierungen oder ernsthaften Hautschäden davongetragen, wovon er eigentlich überzeugt war. Dessen sichtlich erleichtert, begann der Sitzende nun, die Zehen auf und ab zu bewegen, da sie sich etwas taub anfühlten. Dabei fiel ihm ein zuvor verborgenes Büchergestell auf, welches in eine Nische eingebaut war. Darin stapelten und reihten sich dutzende Bücher in allen erdenklichen Größen und Farben. Und wieder staunte er. So viele Schriften an einem Ort hatte er noch nie gesehen. »Ein Gelehrter«, dachte er hochachtungsvoll. Der Menge nach zu urteilen, hätte der Fremde ebenfalls ein Büchermacher sein können, was aber zu den anderen Gegebenheiten nicht passte.

Davor stand ein uralter Schreibtisch. Stark abgenutzte Kanten, zerkratzte Flächen mit winzigen Löchern, Furchen von Holzwürmern und fleckigen Stellen. All dies zeugte vom häufigen Gebrauch der Schreibablage. In der einen Ecke des Tisches lagen zwei mit Deckeln verschlossene Gefäße aus brauner Tonerde, ein Holzbecher, aus dem einige Gänsefedern herausragten und eine in sich geschmolzene Kerze. Der dazugehörige Stuhl sah mit den eingekerbten Verzierungen an der Rückenlehne und den feinen Schriftzeichen darüber, die Thordir nicht lesen konnte, noch urtümlicher aus. Auf der Sitzfläche hatte der Unbekannte seine Hose und andere Kleidungsstücke säuberlich gestapelt, die er soeben mit kurzen, schleppenden Schritten ansteuerte. Die Gelenke taten beim Gehen etwas weh – er fühlte sich wie ein Greis.

Nebst einem neuen Hemd lagen da noch hohe, robuste Stiefel, ein dicker Umhang aus Schafswolle mit angenähter Kapuze, gefütterte Handschuhe und zwei Lederbeutel. Während der eine für Trinkwasser gedacht war, steckte im anderen ein gebackener Laib Brot. Des Weiteren lagen da noch zwei Taschen. In einer befanden sich Materialien zum Feuermachen und in der anderen steckten verschiedenste Dinge für die Wundversorgung. Der Schwarzhaarige traute seinen Augen nicht, als er all diese Sachen sah, die offensichtlich für ihn bereitgestellt worden waren. Die kleine Axt bemerkte er erst später, als er sich bereits eingekleidet hatte.

Nun widmete er sich gespannt der aufgehängten Kuhhaut, welche das Schlafgemach vom nächsten Raum trennte.

»Ist jemand da?« Umsichtig schob er die Gardine zur Seite und streckte erwartungsvoll den Kopf durch die Öffnung. Überrascht schaute er an einer wuchtigen Tanne hinauf, welche durch Boden und Decke ragte. Regungslos und ungläubig zugleich beäugte er den dicken Stamm, während seine Stirn in groben Falten lag. Er verstand nicht, weshalb sich jemand die Mühe machen sollte, eine Hütte um einen Baum herumzubauen – er sah darin keinen Sinn. Sogar einige Äste ließ der Erbauer durch den Raum wachsen. Drei davon traten gar aus den Wänden nach draußen, deren Öffnungen als Lichtquelle dienten und mit Holzläden versehen waren. Dadurch wurde die dunkle, aber freundliche Hütte nur schemenhaft erhellt.

Um die Rottanne herum erstreckte sich eine geräumige, vollgestopfte Kochstube mit allerlei aufgehängten Kräutern und Pflanzen an den Ästen und Zweigen des Baumes. Unzählige Gefäße reihten sich in schiefen Regalen aneinander. Eiserne Töpfe und Pfannen verschiedensten Ausmaßes stapelten sich auf Ablagebrettern, geflochtene Körbe lagen herum, verstaubte Kisten hier und prall gefüllte Jutesäcke dort. Vor einem verrußten Steinofen stand ein ovaler Tisch mit einem Schemel darunter, auf dem weitere Tonschalen und andere Kleinigkeiten herumlagen. Am anderen Ende der Kochstube, hinter dem Nadelbaum verborgen, erkannte Thordir eine Tür, die so aussah, als würde sie nach draußen führen. Doch vorerst wollte er sich noch die Bücher genauer anschauen, welche im Schlafgemach wie ein Schatz offen dalagen.

Schriften existierten nicht zuhauf im Land der Armaren – sie galten als sehr wertvolle Schmuckstücke. Jene Menschen, die solche ihr Eigen nennen konnten, waren angesehene Adels- oder Kaufleute, Heilige, Mediziner oder Hexer. Papier, ein äußerst kostbares Gut, wurde auf den Märkten zu Wucherpreisen gehandelt. Und es zu beschriften, verlangte eine Fähigkeit, die mühselig über unzählige Monde zu erlernen und nur Wenigen vorbehalten war.

Lesen faszinierte ihn. Sein Vater hatte es ihm beigebracht, als er ein kleiner Junge war, und das, obwohl er nur aus einer Jägersfamilie stammte. Grom hatte seinem Sohn nie verraten wollen, wie er das Lesen und Schreiben einst erlernt hatte, auch wenn der kleine Knirps mit aufgesperrten Augen vor ihm stand, schmollte oder bettelte. Dies blieb eines seiner Geheimnisse, welche er in sein Grab mitnahm.

Mit gesenktem Haupt und schwerfälligen Atemzügen erinnerte sich Thordir an jene Momente, als Grom die kräftigen Hände auf seine kindlichen Schultern legte, sich zu ihm hinabkniete und mit ruhigen Worten sprach: »Mein Sohn … deine Mutter und ich sind stolz auf dich. Du erkennst die Buchstaben bereits sehr gut – du wirst mir noch ein echter Gelehrter.« Sein raues, von den unbändigen Stürmen der Berge, frostigen Wintern und heissen Sonnentagen gezeichnetes Gesicht, begann dabei wie immer zu strahlen, derweil ihm ein sanftes Lächeln über die Lippen glitt. Nach einem Augenblick der Freude glätteten sich Groms Hautfalten allmählich, der Mund formte sich zu einem geraden Schlitz zurück und seine Augen wurden wieder runder. Mit ernster Miene fuhr er dann fort: »Es existieren viele Geheimnisse auf dieser Welt, Thordir. Sie zu kennen, kann von unschätzbarem Wert sein, aber auch gefährlich – hörst du? Denn Wissen ist Macht und Macht verführt viele Menschen zu Gier.« Vaters strenger Ausdruck jagte dem Schwarzhaarigen jedes Mal einen Schrecken ein. Grom hob oft drohend den Zeigefinger: »Gier, mein Sohn, führt letzten Endes zu Elend und Krieg! So nutze dein Wissen weise. Setze es ein, um Gutes zu tun, und vertraue nur den Auserwählten deine Geheimnisse an.«

»Aber Vater … wie erkenne ich die Auserwählten?«

Groms Stimme wurde dann wieder sanftmütiger. »Wenn du dich an einen schönen Ort begibst, den du liebst und der dir Kraft schenkt, dann schließe deine Augen und gehe in dich – atme tief und gleichmäßig. Erst, wenn deine Gedanken friedlich geordnet, dein Verstand konzentriert und dein Körper entspannt ist, denke an den Menschen, dem du etwas von hoher Bedeutsamkeit anvertrauen möchtest, und höre auf dein Herz.«

»Verstehe, Vater.«

»Ich weiß, dass du das verstehst, kleiner Mann. Und außerdem bist du ein guter Jäger geworden – geschickt und tapfer!« Bei diesen Worten zeigte Grom stets an die Schläfe des Jungen, worauf der Kleine bereits begann, leise vor sich hin zu kichern, da er wusste, was nun folgen würde. Und wie erwartet packte ihn Grom mit beiden Händen an den Oberarmen und schüttelte ihn, bis seine langen Haare zerzaust in alle Richtungen ragten und er sich immer mehr vor Lachen krümmte. Als das Schütteln dann endete und sich der Knirps allmählich beruhigt hatte, wusste auch Grom, was nun folgen würde.

»Vater … hmpf … ich denke, ich bin geschickter und tapferer als du – du jagst wie ein alter Greis.«

»Ach, ist das so?« Grom löste schließlich seinen festen Griff, stand auf und stemmte, zu seinem Sohn herabschauend, die Arme in die Hüfte.

»Ja Vater, so ist es«, antwortete der Kleine stets selbstbewusst. Doch alsbald platzte das Lachen aus ihm heraus, worauf ihn Grom packte, sich über die Schulter warf und Alaya mit stolzer Stimme zurief: »Weib!«

»Ja, mein geschickter und tapferer Jäger, hast du Beute gemacht?«, ertönte eine liebe Stimme aus der gegenüberliegenden Kochstube. Thordir kicherte.

»Nun, etwas Seltsames lief mir heute im Wald über den Weg! Weißt du, was das ist?« Als er mit weiten Schritten in den herrlich duftenden Raum bog, legte die Mutter gerade den langen Kochlöffel beiseite, schaute in das Gesicht des Jungen und rümpfte die Nase.

»Ich habe so etwas Sonderbares noch nie gesehen. Es sieht eigenartig aus.« Dann schnüffelte sie jedes Mal an ihrem Sohn herum, worauf der Knirps in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Denkst du, es passt zu meinem Eintopf?«

»Sicherlich, aber ich denke, es ist zäh wie Leder.«

Thordir wischte sich die Tränen von den Wangen und trat ans Regal. Das dickste Buch am Rande fiel ihm als Erstes auf. Gespannt nahm er es heraus und legte es auf den Schreibtisch.

»Künste der Heilung« stand mit geschwungener Schrift auf dem braunen Einband. Vorsichtig begann er, zu blättern und las die Inhaltsangabe: »Krankheiten, Pflanzen, Kräuter und Wurzeln, Zecken und Läuse, Kräfte der Sonne, Kräfte des Mondes, Ruhe und Arbeit.«

Interessiert, aber nicht zum längeren Lesen angeregt, klappte er das schwere Buch wieder zu und schob es in die Lücke zurück. Dann sah er das Größte in der obersten Reihe. Auf dem Buchrücken stand mit roter Tinte geschrieben: »Armarien.«

Sein Blick wanderte weiter nach unten: »Schwert und Axt.«

Daneben stapelten sich einige angerissene und brüchige Schriften oder teils einzelne Blätter, die wohl einst herausgefallen waren, weshalb er sie nicht berührte. Ebenfalls in diesem Bereich ruhte ein vergilbtes Buch, bei dem der Einband fehlte. Es wirkte, als wäre es lange Zeit dem Wetter ausgesetzt gewesen. Mit Mühe las er darauf: »Die dunkle Bedr…« Die letzten Buchstaben waren unlesbar, aber er ahnte, was es hieß. So nahm er es behutsam vom Regal, legte es auf den Schreibtisch und öffnete es. Feuchtigkeit sowie Schweiß hinterließen ihre deutlichen Spuren auf dem Papier und machten viele Stellen unlesbar oder schwierig zu entschlüsseln. Zwischen den Zeilen konnten einzelne Wörter klar sichtbar sein und danach wiederum ganze Sätze fehlen. Überall gab es bräunliche, vereinzelt auch schwarze Spuren, die vom Erdreich und von Ruß hätten stammen können. Ebenfalls fehlten Seiten darin. Die einen waren herausgerissen und andere mit einem scharfen Gegenstand säuberlich weggeschnitten worden. Einige Stellen waren in einer schönen Schrift geschrieben, andere mit zittriger Hand oder gar schief. Thordir blätterte und begann jene Zeilen zu lesen, welche verständlich waren: »… in der Ferne vier seltsam anmutende … folgte … einen Irrgarten aus Gängen und … tiefer als gedacht … warme Luft … Werkzeuge und … aber nicht alleine … unbekannte Laute drangen unterhalb der … über viele Monde oder … verletzte, jedoch keine … hier raus … Verstand trübte, suchte ich vergeb…«

Der Schwarzhaarige wusste nicht, ob es sich um eine Geschichte oder ein Tagebuch handelte, weshalb er es wieder zurückstellte. Die unterste Ablage war völlig verstaubt und das erste Buch, welches er dort unten sah, nahm er in die Hand. Beim Bücken schoss ihm der Schmerz in die Brust. Jammernd hielt er kurz inne.

Es war ein kleines, in schwarzes Leder gefasstes Buch, welches mit einer Schnur umwickelt war. Er löste die Schlaufe und schlug wahllos eine Seite auf, da es keine Überschrift besaß. Halblaut las er vor sich hin: »Das menschenähnliche Wesen wanderte nachts durch die Wälder und ernährte sich von Fleisch und Knochen. Der unbändige Hunger trieb es an – immer weiter und weiter, bis es eines Tages auf eine Siedlung stieß.«

Erzählungen über unbekannte Wesen, die Gebeine von Menschen verspeist haben sollten, gab es zuhauf. Doch der Schwarzhaarige verhielt sich solchen Geschichten gegenüber stets misstrauisch. Sofort hörte er die Stimme seines Vaters sagen: »Lausche den Worten der Leute, Sohn – höre ihnen gut zu! Doch nimmst du gedankenlos an, was sie erzählen, dann bist du nicht schlauer als die meisten. Versuche stets, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Erfrage die Quelle ihres Wissens und spüre die Urteilsfähigkeit deines Gegenübers. Die Weisheit, Thordir, liegt darin, im Geiste frei zu bleiben.«

Dies galt auch für Schriften und Bücher, wusste er. Nun aber war der Hunger zu groß geworden, um noch weiter nach spannenden Dingen zu suchen. Sein Bauch knurrte hörbar laut und er merkte, dass sein Magen so leer war wie noch nie zuvor.

Es war ihm mittlerweile etwas übel und schwindlig geworden, als er in die Kochstube trat. Vor allem aber sehnte er sich nach Wasser. Sein Hals fühlte sich ausgetrocknet an. Da fragte er sich, wie lange er wohl schon in dieser Hütte gelegen hatte.

In der Nähe tröpfelte Wasser in ein hüfthohes Fass, welches von einer Eisenrinne rann. Sie drang durch die Holzdielen nach draußen. Eilig tauchte er einen nahestehenden Krug in das dunkle Regenwasser und ließ das eiskalte Nass gierig seinen Rachen hinabfließen – die schmerzlichen Schlucke ignorierend. Erfrischt schob er den Fensterladen hinter sich auf, um Licht in den finsteren Raum zu lassen. Mit zusammengekniffenen Lidern blickte der Jäger nach draußen und traute seinen Augen nicht. Der verschneite Erdboden war erst weit unter ihm zu sehen, demnach mussten mehrere Stockwerke existieren. So streckte er den Kopf durch die kleine Öffnung zwischen Ast und Sims und schaute nach unten. Erschrocken wich er zurück und blieb regungslos stehen, während er unsicher auf seine Stiefel starrte.

»Welcher Wahnsinn hat diesen Menschen dazu getrieben, die Hütte auf einem Baum zu bauen?!«, rief Thordir fassungslos. »Wie ist das überhaupt möglich?« Am Haupt kratzend überlegte er, was er von diesem Fremden halten sollte. »Entweder ist der Unbekannte verrückt oder sehr weise – oder beides zusammen.«

Als er sich jedoch nochmals, dieses Mal behutsamer, über den Sims lehnte und die verschneite Tanne sah, deren immergrüne Äste wie ein verschlossener Fächer bis weit unter den Hüttenboden ragten, wurde ihm klar, weshalb der Fremde hier oben hauste: »Das Heim ist von außerhalb vermutlich schwierig zu erkennen, es bietet mehr Schutz vor eisigen Winden und gefährlichen Biestern«, dachte er sichtlich beeindruckt.

»Wer ist er?« Ehrfürchtig wanderte sein Haupt zur Tür – sein Herz begann schneller zu schlagen. Thordir schluckte die angesammelte Spucke herunter und trat näher an die schattige Pforte, in deren rechtem Stützbalken ein Messer steckte. Daran hing ein Stück Papier:

»Wandere nach Westen über die felsigen Ebenen von Gadunsch und durch den weißen Wald. Halte stets die Höhe. Überquere dann die Schneise. Dahinter verbirgt sich eine Ruine. Dort werde ich auf dich warten. Beeile dich, Thordir!«

Dass der Unbekannte seinen Namen kannte, überraschte ihn nicht sonderlich, denn dafür war bereits zu viel Sonderbares geschehen. Doch weshalb er ihn jenseits des weißen Waldes treffen sollte, zwei Tagesmärsche von der Hütte seiner Eltern entfernt, verstand er nicht. Das Einzige, was der Schwarzhaarige tun wollte, mehr als alles andere, war, nach Grom und Alaya zu sehen.

In wirre Gedanken versunken schlenderte er zur Kochstelle zurück, geduckt unter hängenden Zwiebelgestecken, getrockneten Maiskolben, essbaren Weidefarnen, vorbei an prall gefüllten Kartoffelsäcken, bis zu den Holztruhen. Schwindlig vor Hunger öffnete er eilig den Deckel, worauf es sein Gemüt erheiterte, die rotgelben Äpfel zu sehen. Eifrig nahm er sich einen und biss herzhaft hinein – es knackte, während saftig süßer Geschmack seinen Gaumen erfreute. Daraufhin packte er drei weitere in den Lederbeutel, in dem auch der Laib Brot steckte, und sah sich schmatzend um. Sein Blick fiel auf die beschrifteten Gefäße auf den Regalen. »Zwiebelsaat, Schlangenminze, Bärenklee, Taugenichtse, Moorzypressensaft, Heimlichrot.« Viele andere Gefäße reihten sich noch daran, doch er sah sich nach anderen Nahrungsmitteln um. Aus einem zugedeckten Topf roch er Knoblauch heraus und daneben lag ein oranger Kürbis, eingepackt in ein Leinentuch. Eigentlich suchte er nach etwas Bestimmtem – Nüsse. Auf einem Ablagebrett lagen getrocknete Stachelkastanien, in einer Birkenschale haufenweise Wurzelenden und in einem hohen, runden Tongefäß stapelten sich faustgroße Düsterpilze. Letztere wuchsen in rauen Mengen hier in den umliegenden Höhlen der weißen Berge, wusste Thordir.

Als Meister der Jagd kannte er sich nicht nur mit dem Erlegen und Zubereiten von Tieren aus, sondern wusste zwischen essbaren und giftigen Pflanzen durchaus zu unterscheiden. Doch fehlte es ihm in der schier endlos wirkenden Welt der Botanik an tieferem Wissen über Arzneien. Geringfügige Schnitt- oder Brandwunden behandeln, Fieber und Schmerzen senken – dies beherrschte er, aber nicht mehr.

Schließlich fiel ihm ein verschnürter Lederbeutel auf. Er ging darauf zu und spähte in die schmale Öffnung. Zu seiner Freude lagen darin dutzende Haselnüsse, die er sich mit einem weiteren Beutel getrockneter Körner in die Tasche legte. Dann zog er unter knarrenden Lauten den Holzladen zu, woraufhin sich die Kochstube sofort wieder verdunkelte. Für einen Augenblick hielt Thordir inne, atmete tief und gleichmäßig und schloss die Augen.

Die Entscheidung, nach Westen zu reisen, war bald gefallen. Doch darüber bestürzt, ballte er zornig die Faust, schlug sie mit voller Wucht auf den Tisch und schrie aus voller Kehle wüste Flüche hinaus. Mit verzweifelten Gedanken schritt er zur Tür und schob sie quietschend auf. Erneut blieb er wie angewurzelt stehen. Entgegen seinen Erwartungen blickte er nicht in das weiße Kleid des Winters, sondern in das schwarze Kleid unter Tage – vor ihm lag ein Höhlendurchgang. Ein kühler Luftzug wehte ihm sogleich ins Gesicht. Neben der Türschwelle stand eine Kerze in einer metallenen Schale, welche mit ausgetrocknetem Wachs beinahe überdeckt war. Geschwind nahm er den Lederbeutel zur Hand, in dem sich die Materialien zum Feuermachen befanden. Aus einem kleinen Fläschchen aus gebrannter Tonerde roch er Öl, von dem er einen Tropfen über den Docht träufelte. Als Nächstes scheuerte er einem beigelegten Eisenstäbchen mit energischen Handbewegungen Späne ab, die sich durch die Reibungskräfte entzündeten und in Berührung mit dem Öl aufflammten. Rasch nahm er den Teller in die Hand und schloss die Tür hinter sich.

Die Flamme flackerte im stockdunklen Gewölbe leicht vor sich her und erhellte knapp zwei Zollstöcke des schwarzen Gesteins vor ihm. Außer den Wassertropfen, die hie und da von der Decke in kleine Pfützen fielen und den eigenen Schritten, welche von den Wänden widerhallten, war nichts zu hören. Schmale Rinnsale liefen von den nackten Felsen herab und versickerten im teils sandigen Untergrund. An manchen Stellen zierten grüne oder weiße Bartflechten den feuchten Stein, an denen Spinnenläufer oder Asseln knabberten. Der Höhlengang verlief nebst leichten Biegungen ziemlich geradeaus, aber spürbar abwärts. Nur die Höhe der Decke veränderte sich stetig – von mannshoch bis zu einer Höhe, bei der er das obere Ende durch das schwache Licht nicht sehen konnte. Wenn Thordir die Kerze über seinen Kopf streckte, sah er manchmal einen Schatten vorbeifliegen.

Schon bald wurde es heller und heller, bis sich die ersten Sonnenstrahlen sichtbar durch eine Öffnung hindurchzwängten, welche beim Näherkommen immer größer wurde. Steiniger Boden wich nun brauner Erde und ein Geflecht aus Büschen verdeckte den Eingang wie eine natürliche Pforte. Behutsam schob er die verschneiten Zweige zur Seite und zwängte sich hindurch, ohne das Holz zu brechen. Weiße Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht, als er auf der anderen Seite herauskroch. Sie stand bereits hoch oben, inmitten eines malerischen blauen Himmels. Die smaragdgrünen Augen des Schwarzhaarigen mussten sich zuerst an das grelle Licht gewöhnen, zumal es zusätzlich vom Schnee reflektiert wurde – rasch hielt er sich schützend die Hand über die Stirn. Thordir betrachtete die atemberaubende Winterlandschaft zumindest mit einem Hauch Zufriedenheit. Eine Weite aus funkelnden Eiskristallen erstreckte sich vor ihm bis in die Ferne.

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Verschneite Tannen, mächtige und gedrungene, allesamt in weiße Mäntel gehüllt, warfen Schatten, welche den Schwarzhaarigen an jene Nacht erinnerten – sofort blieb er stehen und hielt den Atem an. Trotz der freundlich wirkenden Landschaft verspürte er nun eine grausame Angst. Mit wachsamen Augen suchte er die offene Umgebung ab. Keine Spuren jener Kreatur weit und breit. Keine Geräusche ertönten. So friedvoll es auch aussah – dies hatte nichts zu bedeuten, erinnerte er sich doch klar und deutlich an die dunkelsten Momente seines Lebens.

Denn die Ruhe vor dem Sturm war es gewesen, die ihn und seine Eltern nicht erahnen hatte lassen, was im nächsten Augenblick geschehen würde. Es war etwas passiert, das man in Albträumen durchlebt, um schreiend, zitternd und schwitzend im eigenen Bett aufzuschrecken, aber sogleich durchatmen kann, da einem klar wird, dass es nur ein böser Traum war. Doch sie hatten nicht geschlafen.

Abgrundtiefe Furcht strömte durch Thordirs Körper. Wie ein Feuer breitete sich die Hitze in ihm aus und ließ ihn erschaudern. Er wusste ja nicht einmal, ob das Ungeheuer noch lebte oder es noch mehr von ihnen gab. Wie verhielt es sich am Tage? Streifte es nur nachts umher? Mied es das Licht? Unternahmen die Soldaten Armariens etwas gegen diese Brut der Hölle? Viele Fragen quälten den Jäger.

»Was habe ich schon zu verlieren?«, dachte er, um sich Mut zuzusprechen. »Immerhin ist jemand aus Fleisch und Blut wie ich diesem Ungeheuer in der Dunkelheit entgegengetreten und hat sein Leben riskiert, um meines, das eines Unbekannten, zu retten.«

Der Schwarzhaarige spürte, wie in ihm die Ehrfurcht gegenüber seinem Retter stetig wuchs. So machte er den ersten Schritt in den knietiefen Schnee, den zweiten, den dritten und bald schon stapfte er zügig durch die wilde Landschaft, versuchte aber stets, sich an die glücklichen Momente des Winters zu erinnern. Manchmal sah er seinen Vater vor sich, wie er einen Weg bahnte, um es für ihn, als er noch ein kleiner Junge war, einfacher zu machen. Oder er sah, wie Grom sich plötzlich zu ihm umdrehte, dabei in die Hocke ging und den Zeigefinger an den Mund legte – er sollte still sein, da er Wild gesichtet hatte.

Als Thordir einen Steinwurf vom Höhleneingang entfernt war, blickte er über die Schulter zurück und bemerkte seine verräterischen Spuren im Schnee, die direkt zu den Sträuchern führten. Jetzt überkam ihn ein schlechtes Gewissen, sie so deutlich zu hinterlassen, da der Unbekannte offensichtlich im Verborgenen leben wollte. Verwischen half nur wenig, wusste er. Außerdem fiel in dieser Gegend oft Schnee und in all den Wintern, die er hier oben verbracht hatte, war ihm keine einzige Seele begegnet.

Über dem versteckten Eingang zur Höhle thronte ein mächtiger Felsen, der sich nach Norden bergauf hinzog. Im Süden fiel er alsbald steil in die Tiefe. Vergeblich suchte er nach der hohen Tanne, die sich wohl hinter dem Massiv befand. Neugierig sah er sich nach einem anderen Zugang um. Auf der anderen Seite des Berges lag das ausgedehnte Finstertal und von dort war ihm nie etwas Sonderbares aufgefallen – keine Öffnungen im Stein, kein möglicher Aufstieg in höher gelegene Ebenen oder dergleichen.

»Die Hütte des Fremden müsste sich in einem Bergkegel befinden, wie einem winzigen, verborgenen Tal.« Erstaunt darüber stapfte er eilends bergauf in nördlicher Richtung, um sich die niedrigste Stelle des Massivs näher anzuschauen. Doch seine Schritte stockten bald, als die Wunde mit zunehmender Anstrengung zu schmerzen begann und auch die Müdigkeit in seinen Beinen sich durch Schwächeanfälle bemerkbar machte. Nichtsdestotrotz machte sich Thordir die Mühe, bergauf zu gehen. Und bald schon entdeckte er die emporragende Spitze einer Tanne. Sie ragte nur knapp hinter dem steilen Felsen empor, welcher zwar nicht sehr hoch, aber trotzdem unüberwindbar schien. Nur zu gerne hätte er in den versteckten Talkessel gesehen.

So wanderte der Schwarzhaarige nach Westen – die Höhe haltend, wie es der mysteriöse Retter in der Nachricht beschrieben hatte. Und nach einzelnen Bäumen auf einem offenen Plateau tauchte allmählich die felsige Ebene von Gadunsch mit ihren unzähligen Gesteinsbrocken auf. Spitze, mannshohe Felssplitter wechselten sich ab mit rundlichen und eckigen Steinriesen – manche so gewaltig wie Festungsmauern. Ruhig und friedlich lagen sie nun da, verteilt auf weiter Ebene. Doch dies war nicht immer so gewesen. Denn vor nicht allzu langer Zeit, da hatte die Erde plötzlich gebebt. Ohrenbetäubendes Grollen erfüllte die Luft, als sie sich vom himmelshohen Gebirge gelöst und drohend zu Tale gedonnert waren. Einige waren bis ins flache Tiefland Armariens hinuntergestürzt und hatten alles auf ihrem Weg zertrümmert, bis auch sie regungslos liegen blieben.

Saftige Gräser, flaumige Moose, grüne Kletterpflanzen, farbige Blumen, ja sogar niedrigwüchsige Bäume eroberten sich seither Stück für Stück des eingefallenen Gesteins zurück. So war innerhalb dutzender Monde eine atemberaubende, zugleich mystisch anmutende Landschaft entstanden – zu jeder der vier Jahreszeiten.

In der Frühlingswärme, wenn die Eiskristalle zu Wasser schmolzen und sich die Welt der Pflanzen aus den Klauen der Kälte befreite, Farben und Gerüche sich über Bergen und Tälern entfalteten und Tiere vorsichtig aus ihren Verstecken krochen, um mit ihren Lauten die karge Stille zu durchbrechen.

Im Sommer, wenn sich das Leben in jedem Gebüsch, unter jedem Stein und hinter jeder Tanne regte, Wolfsrudel umherstreiften, Eichhörnchen in den Baumkronen an Nüssen knabberten, Rehe sich sattfraßen auf Wiesen im feuchten Tau des Morgens, Bienen und Hummeln summend von Nektar zu Nektar flogen.

Wenn sich grüne Wälder langsam in goldrote Gewänder legten, Regenschauer sich mehrte, Nebel das Land in ein sanftes Grau hüllte, kühle Brisen die feuchte Luft auffrischte und Bären sich an Fischen und Beeren satt frassen, dann war der Herbst gekommen.

Und in diesen Tagen, beinahe vergessen, was einst geschah, ruhten die Felsblöcke nun unter dicken Schneeschichten begraben, darauf wartend, dass die Wärme der Frühlingssonne die Natur zu neuem Leben erwachen ließ.

Vor der Dämmerung musste Thordir unbedingt den weißen Wald erreicht haben und es war bereits später Nachmittag geworden, als er sich eilends nach Westen kämpfte. Die Schatten der Felsen wurden immer länger und das helle Pulver immer härter. Manchmal hielt es sein Gewicht auf der Oberfläche und manchmal brach er knietief ein. Dieses unbeständige Gehen war schmerzlich mühsam und kostete ihn viel Kraft. Die Wunde fühlte sich an, als wäre sie aufgerissen – doch er kümmerte sich nicht darum. Und damit traf der Schwarzhaarige eine überlebenswichtige Entscheidung. Denn die Sonne drohte schon bald hinter fernen Bergen zu verschwinden, worauf es schlagartig kälter werden würde und wenn das Pech ihn verfolgte, brächten auffrischende Winde zusätzliche Kälte mit sich. Seine Kleidung würde dagegen nicht lange genug Schutz bieten können. Seine Körperwärme würde stetig sinken und in seinem Leib würde folglich ein Überlebensmechanismus in Gang gesetzt werden, worauf sich der Organismus auf die Erhaltung der lebenswichtigen Organe konzentrierte und die Wärme von den Gliedmaßen weg in die Körpermitte leitete. In dieser Phase würde es nicht mehr möglich sein, ein Feuer zu entfachen – die Finger zu steif, um jegliche Bewegungen auszuführen. Die ersten Erfrierungen wären nur eine Frage der Zeit und fänden zuerst an Zehen, Fingern, Ohren und Nase statt. Stirne, Wangen und Kinn würden folgen. Hätte die Haut eine gewisse dunkle Farbe erreicht, käme für sie jede Hilfe zu spät. Eine grausame Amputation wäre dann unabwendbar. Hätte die Haut aber bei einer unwahrscheinlichen Rettung eine noch genügende Durchblutung, könnte sie aufgewärmt werden, was jedoch unaussprechlich schmerzhaft wäre. Und wenn man dem Schlaf verfiel, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, nie mehr aufzuwachen.

Keuchend versuchte Thordir dicht an den überhängenden Felsen vorbeizulaufen, wo weniger Schnee lag und die Füße festeren Stand bekamen. Er vergaß alles um sich herum, da sich seine Augen vollends darauf konzentrierten, den einfachsten und somit schnellsten Pfad zu finden.

Doch plötzlich wurde es dunkler. Sofort schnellte sein sorgsamer Blick nach vorne in die Höhe. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden. Nun erhellten die letzten Lichtstrahlen den Weg nach Westen – wie eine drohende Warnung, alsbald für eine Nacht zu verschwinden.

Vor ihm tat sich schließlich ein schwarzer Streifen auf – »Der Wald«, freute sich der Jäger verhalten. Trotz seiner erschöpften Beine kam er nun auf der stabileren Oberfläche schneller voran. Noch einen Steinwurf von den schützenden Bäumen entfernt, suchte er bereits nach geeigneten Schlafplätzen. Ein schattiger Fleck in Bodennähe zog seine Aufmerksamkeit auf sich, den er sogleich ansteuerte. Er stellte sich als eine umgeknickte Fichte heraus, deren dichtes Astwerk sich wie schützende Wände in drei Richtungen als Nachtlager hervorragend anbot. Der Schwarzhaarige zückte, ohne zu zögern, die Axt und begann geschickt, an einer benachbarten Tanne einen Ast nach dem anderen zu schlagen, und warf sie in die Nähe seines Unterschlupfes. Danach hackte er ein großes Stück Birkenrinde ab, brach dutzende trockene Zweige und stopfte sie allesamt in den Beutel. Als er genug gesammelt hatte, legte er einen flachen Stein in den Zugang seines Biwaks ins feuchte Gras. Darauf kam die Rinde. Nun holte der Jäger aus der kleinsten seiner Taschen getrocknete Brennnessel- und Hanffasern hervor, legte sie mit den Zweigen zusammen auf die vorbereitete Fläche und begann, mit dem Eisenstäbchen Funken zu schlagen. Als der Zunder glühte, hielt er eilig die flache Hand hinter den qualmenden Haufen, während er vorsichtig hineinpustete. Nur einen Augenblick später flammte es bereits in die Höhe. Das geschlagene Holz legte er als Vorrat neben das knisternde Feuer. Kleinere Öffnungen rund um die umgeknickte Fichte stopfte er mit allerlei Geäst zu und verdichtete es zusätzlich mit Schnee. Danach kroch er hinein, verschloss mit den schwersten und dichtesten Nadelästen geübt den brusthohen Eingang und legte mit dem Rest mehrere Schichten auf dem gefrorenen Boden aus.

Thordir rückte möglichst nahe ans Feuer, um seine kalten Hände daran zu wärmen. Erst jetzt, als er zur Ruhe kam, bemerkte er das unangenehme Pochen in der rechten Brust – die Wunde fühlte sich grausig an, so, als könnte jede weitere Bewegung die frische, dünne Haut aufreißen. Daher versuchte er, sich nicht zu rühren, und lenkte sich stattdessen mit einem Mahl aus Brot und Nüssen ab.

Ihm wurde klar, dass er mit dieser Wanderung durch die winterlichen Berge ein hohes Risiko einging, so allein, verwundet und erschöpft. An diesem Tag war Thordir bei Weitem nicht so zügig unterwegs gewesen wie sonst immer. Er hatte seine Kraft und Ausdauer nach der vermutlich tagelangen Bettruhe überschätzt. Doch irgendwie fühlte er, dass es trotzdem die richtige Entscheidung gewesen war, aufzubrechen – obwohl es ihm alles andere als wohl zumute war.

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