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Ein Kind verschwindet im Wald. Jahre später kehrt sein Bruder zurück – und das Schweigen beginnt zu schreien. Silberbach, Harz: Im Spätsommer 1998 verschwindet der sechsjährige Leo spurlos im Wald. Zweiundzwanzig Jahre später wird bei Bauarbeiten eine verrostete Dose gefunden – darin ein geheimnisvoller, geschnitzter Holzvogel. Elias, Leos Bruder, kehrt in das Dorf seiner Kindheit zurück. Was als Suche nach Antworten beginnt, wird schnell zu einer Reise in dunkle Erinnerungen, verdrängte Schuld und ein Netz aus Lügen. "Das Echo der Stille" ist ein intensiver, psychologischer Kriminalroman über Verlust, Verdrängung und die zerstörerische Macht des Schweigens – fesselnd bis zur letzten Seite.
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Seitenzahl: 92
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Echo der Stille
Von Markus Wolf
Inhaltsverzeichnis
PrologDer Tag, an dem die Stille begann
Kapitel 1Der Anruf
Kapitel 2Der hölzerne Vogel
Kapitel 3Mauern des Schweigens
Kapitel 4Der Mann vom Waldrand
Kapitel 5Die Hütte des Eremiten
Kapitel 6Der alte Kommissar
Kapitel 7Die Akte Sander
Kapitel 8Die Drohung
Kapitel 9Das Geständnis des Vaters
Kapitel 10Die Geschichte vom Steinbruch
Kapitel 11Die Briefe an einen Toten
Kapitel 12Die ganze Wahrheit
Kapitel 13Das Haus der Lügen
Kapitel 14Die Reise nach Norden
Kapitel 15Im Herzen der Finsternis
Kapitel 16Das gelbe Haus
Kapitel 17Das rote Auto
Kapitel 18Der Morgen danach
EpilogEin Jahr später
Prolog
Der Wald atmete an diesem Nachmittag im Spätsommer 1998. Ein tiefes, sattes Geräusch, das aus dem Rascheln von Millionen Blättern, dem Knacken trockener Äste unter kleinen Füßen und dem Summen unsichtbarer Insekten gewoben war. Für Elias, damals zehn Jahre alt, war es der Klang der Freiheit. Ein Versprechen von Abenteuer, das gleich hinter dem rostigen Gartentor seiner Eltern begann und sich in den tiefen, geheimnisvollen Harzer Wäldern verlor.
Sein kleiner Bruder Leo, sechs Jahre alt und ein Wirbelwind aus Sommersprossen und schmutzigen Knien, rannte voraus. Sein Lachen war wie ein heller Farbtupfer in dem endlosen Grün und Braun des Forstes. „Kriegst mich nicht, kriegst mich nicht!“, rief er, seine Stimme dünn und klar wie eine Vogelstimme.
Elias lächelte. Er ließ ihm den Vorsprung. Leo brauchte das, dieses Gefühl, der Schnellere, der Unfangbare zu sein. In seiner Hand hielt Elias die Schatzkiste, eine alte Keksdose aus Blech, die sie am Morgen bemalt hatten. Darin befanden sich ihre größten Schätze: ein besonders glatter, herzförmiger Stein, den sie am Bach gefunden hatten, eine Feder eines Eichelhähers, der Aufziehschlüssel von Opas alter Standuhr und Leos wertvollster Besitz – ein kleines, rotes Spielzeugauto aus Metall, dessen Lack an den Kanten bereits abgeplatzt war. Es war ihr gemeinsames Geheimnis, eine Zeitkapsel, die sie unter der alten Eiche vergraben wollten, dem stillen Wächter an der Lichtung, den sie den „König des Waldes“ nannten.
„Warte, Leo!“, rief Elias, als sein Bruder hinter einem dichten Vorhang aus Farnen verschwand. „Du rennst in die falsche Richtung!“
Das Lachen verstummte.
Elias beschleunigte seine Schritte, die schwere Dose schlug ihm gegen den Oberschenkel. Ein leichtes Unbehagen kroch in ihm hoch, eine kalte, schleichende Ahnung, die nichts mit der kühler werdenden Luft zu tun hatte. Der Wald schien plötzlich den Atem anzuhalten. Das Summen der Insekten war verklungen, das Rascheln der Blätter klang nicht mehr nach Abenteuer, sondern nach einer Warnung.
„Leo?“, rief er, seine Stimme nun lauter, schärfer. „Das ist nicht mehr witzig!“
Nur das Echo seiner eigenen Stimme kam zurück, verschluckt von den moosbewachsenen Stämmen der Fichten. Er erreichte die Stelle, an der er Leo zuletzt gesehen hatte. Der Farn war niedergedrückt, ein kleiner, dunkler Pfad im Unterholz. Elias folgte ihm, sein Herz begann, einen unregelmäßigen, hämmernden Rhythmus zu schlagen. Er rief wieder, lauter diesmal, eine aufkeimende Panik in seiner Stimme.
Stille.
Eine absolute, unnatürliche Stille, wie er sie im Wald noch nie erlebt hatte. Es war, als hätte jemand die Welt auf stumm geschaltet. Kein Vogel sang, kein Ast knackte. Nur das Rauschen des Blutes in seinen eigenen Ohren. Er stand da, mitten im dichten Grün, die Blechdose fest an seine Brust gepresst, und rief den Namen seines Bruders in eine Leere, die ihm nichts als Schweigen zurückgab.
An diesem Tag verschwand Leo Sander spurlos. Er wurde nie gefunden. Übrig blieb nur die Stille, ein Echo, das in Elias' Leben nie wieder verstummen sollte.
Zweiundzwanzig Jahre später. Das einzige Echo in Elias Sanders Leben war das leise, fast andächtige Klicken der alten Heizungsrohre in seinem kleinen Archivbüro. Die Welt draußen mochte laut sein, ein chaotisches Durcheinander aus Verkehr, Menschen und digitalen Benachrichtigungen, aber hier drinnen herrschte eine von ihm selbst geschaffene Ordnung. Staubpartikel tanzten in den schmalen Lichtstreifen, die durch die hohen, vergitterten Fenster fielen und die endlosen Reihen von grauen Archivkartons beleuchteten. Der Geruch von altem Papier und säurefreiem Klebstoff war das Parfüm seiner Gegenwart.
Elias war Archivar geworden. Ein Hüter vergessener Geschichten, ein Restaurator brüchiger Vergangenheiten. Er verbrachte seine Tage damit, vergilbte Dokumente zu glätten, zerrissene Briefe zusammenzufügen und das Leben anderer Menschen in saubere, beschriftete Mappen zu sortieren. Es war eine Arbeit, die Präzision und Geduld erforderte, zwei Eigenschaften, die er sich über die Jahre wie einen Schutzpanzer zugelegt hatte. Ordnung war sein Mantra, Kontrolle seine Zuflucht. In der geordneten Welt der Akten gab es keine ungelösten Rätsel, keine schreiende Stille. Jedes Dokument hatte seinen Platz, jede Geschichte ein Ende, auch wenn es nur der Vermerk „Nachlass geschlossen“ war.
Sein Telefon klingelte. Es war ein fremdes Geräusch in dieser Kathedrale des Schweigens, schrill und fordernd. Normalerweise ignorierte er Anrufe von unbekannten Nummern. Er hasste die Unvorhersehbarkeit eines Gesprächs, die erzwungene Spontaneität. Doch diesmal war es anders. Die Vorwahl gehörte zu Silberbach. Dem kleinen Ort im Harz, den er seit der Beerdigung seiner Mutter vor fünf Jahren nicht mehr betreten hatte. Der Ort, der ein Synonym für das Loch in seinem Leben war.
Er zögerte, der Finger schwebte über dem roten Symbol zum Ablehnen. Doch eine Kraft, älter und stärker als sein Bedürfnis nach Kontrolle, zwang ihn, den Anruf anzunehmen.
„Sander?“, meldete er sich, seine Stimme belegter als gewöhnlich.
„Herr Elias Sander?“, fragte eine ruhige, professionelle Männerstimme am anderen Ende. „Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Franke. Polizeiinspektion Goslar. Ich rufe Sie bezüglich einer Angelegenheit in Silberbach an.“
Elias' Magen zog sich zusammen. Seine Hand, die eben noch ruhig einen Federkiel aus dem 19. Jahrhundert gereinigt hatte, begann zu zittern. Polizei. Silberbach. Diese beiden Worte in einem Satz konnten nur eines bedeuten.
„Ist meinem Vater etwas passiert?“, fragte er mechanisch. Sein Vater lebte noch immer in dem alten Haus am Waldrand, ein stummer Gefangener seiner eigenen Erinnerungen.
„Nein, Ihrem Vater geht es gut, soweit wir wissen“, antwortete der Kommissar. Eine kurze Pause entstand, eine jener Pausen, die gefüllt sind mit dem Unaussprechlichen. „Herr Sander, bei Erschließungsarbeiten für ein neues Baugebiet am Rande des Forstes wurde heute Morgen etwas gefunden. Etwas, das mit dem Verschwinden Ihres Bruders, Leo Sander, im Jahr 1998 in Verbindung stehen könnte.“
Die Luft in Elias' Lungen schien zu gefrieren. Die sorgfältig sortierten Akten um ihn herum verschwammen zu einem grauen Brei. Die tanzenden Staubpartikel erstarrten in der Luft. Zweiundzwanzig Jahre hatte er diese Möglichkeit verdrängt, sie in den hintersten, dunkelsten Winkel seines Verstandes verbannt. Die Möglichkeit, dass es eines Tages eine Antwort geben könnte. Eine Antwort, die er ebenso sehr fürchtete wie ersehnte.
„Was?“, brachte er mühsam hervor. „Was haben Sie gefunden?“
„Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen, Herr Sander. Es wäre wichtig, wenn Sie nach Silberbach kommen könnten. So bald wie möglich. Es gibt da etwas, das Sie identifizieren müssten.“
Identifizieren. Das Wort schlug ihm wie ein Hammer in die Magengrube. Es war ein klinisches, kaltes Wort für etwas Unvorstellbares. Er starrte auf seine Hände, auf die feinen Linien und Narben. Er sah die Hand eines Zehnjährigen vor sich, die eine Blechdose umklammerte. Den Schweiß, die Angst, die aufkeimende, entsetzliche Gewissheit.
Die Ordnung war zerbrochen. Das Echo, das er so lange versucht hatte zu übertönen, war wieder da. Lauter und klarer als je zuvor.
„Ich bin unterwegs“, sagte er, und mit diesen Worten schloss er nicht nur den Deckel auf einem Tintenfass, sondern auch das Kapitel seines mühsam erkämpften, stillen Lebens.
Die Fahrt nach Silberbach war eine Reise durch die Geografie seiner Seele. Jeder Kilometer auf der Autobahn, die sich wie ein graues Band durch die Landschaft zog, fühlte sich an wie ein Schritt zurück in die Zeit. Je näher er dem Harz kam, desto dichter wurden die Wälder, desto höher die Berge, die sich wie düstere, schlafende Riesen am Horizont abzeichneten. Elias hatte das Lenkrad fest umklammert, die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor. Er hatte seit dem Anruf nichts gegessen, nichts getrunken. Ein hohles Gefühl hatte sich in seiner Magengegend eingenistet, eine Mischung aus Furcht und einer verbotenen, schmerzhaften Hoffnung.
Silberbach hatte sich kaum verändert. Es war noch immer dasselbe Dorf, das sich in ein enges Tal schmiegte, als hätte es Angst vor der Weite der Welt. Die schiefergedeckten Häuser drängten sich aneinander, die Gassen waren eng, die Blicke der wenigen Menschen, die er auf der Straße sah, schienen nach innen gerichtet zu sein. Dies war ein Ort, der seine Geheimnisse gut hütete. Ein Ort, der lieber schwieg, als sich seinen Dämonen zu stellen. Das Verschwinden von Leo Sander war eine Wunde, die nie verheilt war. Man hatte sie nur mit dem dicken Verband des kollektiven Vergessens abgedeckt.
Er parkte nicht vor dem Haus seiner Eltern, sondern direkt vor der kleinen Polizeistation des Ortes, einem funktionalen, schmucklosen Bau aus den Siebzigern. Kommissar Franke erwartete ihn bereits. Er war jünger als Elias erwartet hatte, vielleicht Anfang vierzig, mit wachen, intelligenten Augen und einer ruhigen, unaufgeregten Ausstrahlung, die im krassen Gegensatz zu Elias' innerem Aufruhr stand.
„Herr Sander. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, sagte Franke und reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war fest und trocken. „Mein Beileid zu den Umständen.“
Elias nickte nur. Worte fühlten sich in seinem Mund wie Fremdkörper an. Franke führte ihn in einen kleinen, kahlen Besprechungsraum. Auf dem Tisch in der Mitte stand ein offener Aktenkoffer. Daneben, auf einem Stück sterilen, weißen Tuchs, lag sie.
Die Zeitkapsel.
Die alte Keksdose aus Blech. Der Lack war über die Jahre im feuchten Waldboden fast vollständig abgeblättert, Rost hatte sich wie eine Krankheit über das Metall gefressen. Aber Elias erkannte sie sofort. Er erkannte die Delle an der Ecke, die entstanden war, als er sie einmal hatte fallen lassen. Er erkannte die verblassten Spuren der blauen und gelben Farbe, mit der sie damals den Deckel bemalt hatten. Ein Raumschiff, so hatten sie beschlossen.
„Ein Baggerfahrer hat sie heute Morgen aus etwa einem Meter Tiefe geholt“, erklärte Franke mit leiser Stimme. „An der alten Eiche auf der Lichtung, nordöstlich des alten Forstwegs. Die Stelle stimmt mit den damaligen Suchprotokollen überein.“
Elias konnte den Blick nicht von der Dose abwenden. Sie war ein Relikt aus einer anderen Welt, einem anderen Leben. Ein Leben, in dem er einen Bruder hatte.
„Der Inhalt“, fuhr Franke fort und deutete auf einige Gegenstände, die sorgfältig neben der Dose aufgereiht waren. Sie waren in durchsichtige Asservatenbeutel verpackt.
Da war der herzförmige Stein, schlammverkrustet, aber unverkennbar. Die Feder des Eichelhähers, zerfallen und kaum noch als solche zu erkennen. Der kleine, rostige Aufziehschlüssel. Und daneben, in einem eigenen Beutel, lag das rote Spielzeugauto. Es war fast vollständig von Rost zerfressen, die Räder fehlten, aber es war da. Leos Auto.
Elias' Kehle war wie zugeschnürt. Er streckte eine zitternde Hand aus, berührte das kalte Plastik des Beutels. Ein Schmerz, so scharf und plötzlich wie am ersten Tag, durchfuhr ihn. Es war ein physischer Schmerz, der ihm den Atem raubte.
„Ist das alles?“, krächzte er. Die Hoffnung, die er sich nicht erlaubt hatte zu fühlen, starb einen schnellen, grausamen Tod. Es war nur das, was sie damals hatten vergraben wollen. Kein Hinweis. Keine Antwort. Nur eine grausame Erinnerung.