Das eigensinnige Kind - Wolfram Ette - E-Book

Das eigensinnige Kind E-Book

Wolfram Ette

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Beschreibung

"Das eigensinnige Kind" ist das kürzeste Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm und zugleich eines der schrecklichsten. Es handelt vom kurzen Leben eines Kindes, dessen Eigensinn von der alleinerziehenden Mutter bis über den Tod hinaus gebrochen wird. Für den Literaturwissenschaftler und Philosophen Wolfram Ette wird das Märchen zur ersten Station einer essayistischen Besichtigungstour, die sich für die komplexen Verdrängungs- und Unterdrückungsverhältnisse im zeitgenössischen Dreieck von Kind, Familie und Gesellschaft interessiert. Für seine Galerie des Eigensinns greift Ette nicht nur auf Material aus kanonisierten Kinderbüchern, literarischen Klassikern und antiken Texten zurück. Ins Blickfeld geraten auch die vielfältigen Dramen zwischen Eltern und Kindern, die der Alltag zu bieten hat, sowie die dazugehörigen beschädigten Lebensläufe bis hin zum Amokläufer. Er untersucht die unausgesprochenen gesellschaftlichen Konflikte, die sich in diesen Szenen des Eigensinns abgelagert haben, und fragt danach, welche gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse sie spiegeln, maskieren, unterstützen. In diesem Neben- und Übereinanderhalten von Familien- und Gesellschaftsstruktur erläutern sich beide gegenseitig und erinnern vor allem an eines: Die Mikroräume des Sozialen sind Keimzellen für Gesellschaft. In welcher wollen wir leben und was bedeutet dies für unser Alltags- und Familienleben?

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Wolfram Ette

Das eigensinnige Kind

Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens – Ein gesellschaftspolitischer Essay

ISBN (Print) 978-3-96317-185-7

ISBN (ePDF) 978-3-96317-704-0

ISBN (ePUB) 978-3-96317-706-4

Copyright © 2019 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter, 1845

Bildnachweise Innenteil: Abb. 1 – Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Für Kinder von 3–6 Jahren. Frankfurt a. M. [mutmaßlich 1861] (Digitalisat Sammlung Universitätsbibliothek Frankfurt, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/sdd/content/titleinfo/10115959); Abb. 2 – © Uwe Mühlberg; Abb. 3–5 – Wilhelm Busch: Hans Huckebein, der Unglücksrabe, Leipzig, Stuttgart 1894 (Digitalisat der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN512543577).

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Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

– Einleitung– Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des Märchens– Ein sehr kurzer Text– Gute und böse Märchen – Das Meretlein – Ein deutsches Märchen – Kapitel 2: Niederschlagung– Der Alptraum der Kindheit – Erstes und letztes Märchen– Zur Aktualität der Initiation– Woyzeck – Kapitel 3: Subversion– Nachschriften zum ›Struwwelpeter‹– Hans Huckebein – Eigensinn der Dinge– Radioleben/feine Hände – Ein schlafkranker Mensch – Kapitel 4: Ambivalenz– Die Wut der Eltern– Umkehrung der Gefühle – Narziss – Der Sportvater– Abwesende Väter, alleinerziehende Mütter– Mutter und Tochter– Kapitel 5: Amok – Opfertäter – Herakles– Carrie – Hitlergruß– »So geht sächsisch« – Zwischenbemerkung: Vormoderne und Nachmoderne– Kapitel 6: Diffusion– Hamlet, das Kind– Überwachen und Strafen– Das Netz– Kapitel 7: Narrative der Indifferenz– Über Traumatophilie – Die Bremse– Endnoten

Es war einmal ein Kind eigensinnig, und that nicht was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm, und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Todtenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt war, und Erde über es hingedeckt, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber thaten, so half das nicht, das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehn, und mit der Ruthe aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.

Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Fünfte, stark vermehrte und verbesserte Ausgabe, Göttingen 1843, München 1993, 184)

Einleitung

Es ist kein kritisches Denken vorstellbar, das nicht zugleich immer auch eine Meditation über die Kindheit ist.

Paolo Virno

1

Seit Jahren beschäftigt mich das Märchen vom eigensinnigen Kind. Wieder und wieder haben wir, meine frühere Lebensgefährtin und ich, es uns vorgelesen. Wenn wir konnten, haben wir es in unsere gemeinsame Arbeit, in Diskussionen und szenische Lesungen, eingebaut. Nun liegt dieser Text vor, ohne dass wir noch darüber sprechen könnten. Vielleicht der richtige Moment, um mit anderen darüber zu sprechen.

Immer wieder aufs Neue war es bestürzend, diesem kurzen Text ausgesetzt zu sein. An ihm gab es nichts zu erkennen. Eher war es umgekehrt. Dieser Text erkannte uns. Er legte etwas bloß, wovon wir nichts wissen wollten. Ohne Pathos und Rührung, ohne die Möglichkeit, sich mit einer Figur zu identifizieren, in trockenem Berichtston, aufs Äußerste reduziert, gibt er wieder, was ist. Aus ihm spricht, gedeckt durch kollektive Autorschaft, der Mut, die Augen nicht zu verschließen vor der Grässlichkeit des Daseins. Dieser Mut ist – weit mehr als jede geistige Fertigkeit – die intellektuelle Tugend, auf die es mir, je älter ich werde, ankommt.

Schnitzler hat einmal gesagt: »Man muss den Mut haben, auch Selbstverständlichkeiten auszusprechen. Eine Plattheit ist keineswegs dadurch widerlegt, daß man sie als Plattheit erkennt. Die meisten Wahrheiten sind Plattheiten, und man beschimpft sie nicht so sehr deswegen, weil sie Plattheiten, sondern weil sie unwiderlegbare und oft unbequeme Wahrheiten sind.«1 Der Kampf gegen solche Verdrängung, die Aufdeckung dessen, was unter den verschiedensten Vorwänden – unter anderem dem der Trivialität – weggeschoben und aus den Diskussionen herausgehalten wird, ist die Aufgabe der Humanwissenschaft.

Daraus ergibt sich ein gewisser Eklektizismus. Ist Widerstand gegen Verdrängung das Hauptkriterium des hier zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriffs, so richtet er sich auch gegen die Form der Verdrängung, die sich hinter dem Rationalismus wissenschaftlicher Konvention verschanzt. So mischen die folgenden Texte Themen, Stilarten und Formen der Darstellung. Es gibt Texte mit Fußnoten, Meditationen und Kurzessays, ein Gedicht und Geschichten. Eine kontinuierliche Vermittlung zwischen ihnen wird nicht angestrebt; die leeren Stellen zwischen ihnen gehören zum Text. In sie könnten die Lesenden »mit dem Urteil dazwischenkommen« (Brecht).

2

»Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. – Von all den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören, kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen, so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ›Sinn‹ des ›Eigenen‹«. (Hermann Hesse)2

Hesse verklärt den Eigensinn. Er macht ihn zu einem angeborenen Attribut der großen Einzelnen und der tragischen Helden der Menschheitsgeschichte.3 Eigensinn ist entweder vorhanden – er ist dann das Privileg einer kulturellen Elite – oder eben nicht. Wo er fehlt, sind es bloß Massenmenschen, mit denen man es zu tun hat: Sie tragen zum Fortschritt der Gattung nichts bei, mit ihnen braucht man sich nicht weiter zu beschäftigen. Von einer Dialektik zwischen Ordnungsmacht und Eigensinn weiß Hesse nichts. Dass Eigensinn unter bestimmten Bedingungen begünstigt werden kann, ist ihm ebenso wenig klar wie die Tatsache, dass diese Bedingungen nicht ohne Weiteres auf ein umfassendes laissez faire hinauslaufen. Eigensinn ist immer eine bestimmte, eine konkrete Reaktion auf vorgegebene Verhältnisse und von diesen abhängig. Hesse aber macht ihn zur charakterlichen Konstante: zu einer Invariante, die gegeben sein mag oder nicht. Damit wird nicht allein der Begriff vollkommen diffus und verschwimmt mit allen möglichen anderen Form des Widerstands. Auch die hässlichen Seiten des Eigensinns werden dadurch der Sichtbarkeit entzogen.

Hesse sieht nicht, dass die meisten Menschen beides in sich tragen und in sich beides gegeneinander austragen: die unterdrückende Macht und den Eigensinn, der durch sie ausgelöst wird und sie in begrenztem Rahmen infrage stellt. Sein Begriff des Eigensinns ist, mit anderen Worten, unpsychologisch. Niemanden, der Hesse ein wenig kennt, wird das weiter wundern, darin liegt ja die fantastische Realitätsferne seiner Texte, durch die sie sich so ausgezeichnet für die Adoleszenz eignen, die den Eigensinn verklären muss, damit sie wenigstens einen kleinen Rest von ihm ins Erwachsenendasein retten kann.

Was mich interessiert, ist nicht so sehr der Eigensinn der großen Geister, nicht der Eigensinn der Genies und sogenannten Ausnahmemenschen. Es sind die kleinen Formen des Widerstands inmitten der vielen anonymen Lebensläufe, die sich im Großen und Ganzen den geltenden Regeln unterworfen haben. An ihnen wird deutlich: Eigensinn ist keine Ausnahmebegabung, er ist eine Überlebensstrategie gerade dann, wenn man keine Ausnahmebegabung ist, eine Überlebensstrategie also der ›kleinen Leute‹ und der normalen Menschen, die sich zu den großen Umstürzen weder berechtigt noch befähigt fühlen. Eigensinn ist das Lebendige in den Menschen und zwar in allen Menschen. Skurrile Hobbys, Marotten und Zwangshandlungen, die sich an der Grenze zur Pathologie befinden, gehören auch dazu. Auch das neurotische Symptom, das die verdrängende Macht umgeht und an anderer Stelle durchbricht, ist eine Kundgabe von Eigensinn.

Eigensinn ist nichts Ursprüngliches, er ist immer eine Reaktion und insofern vermittelt. Jede Romantik glaubt, der Ursprung wäre anwesend und ›ewig neu‹. Deswegen sei es möglich, seiner in der Gegenwart unmittelbar teilhaftig zu werden. Insofern ist Eigensinn – anders als bei Hesse – ein unromantischer Begriff, und in diesem Sinne wird er hier auch besprochen.

3

Das Verhältnis von unterdrückenden und unterdrückten Instanzen ist historisch bestimmt, und es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Konstellation von Familie, Gesellschaft und Einzelwesen in den letzten Jahrzehnten verändert hat. In der Summe hat zugenommen, was man früher Konformismus nannte (ein fast ausgestorbener Begriff); neutraler ausgedrückt, ein adaptives Verhalten, bedingt vor allem dadurch, dass die Schutzräume des Sozialstaates durch den neoliberalen Paradigmenwechsel verschwanden. Durch ihn wandelte sich die Vorstellung von Gesellschaft zu der einer alternativlosen Schicksalsinstanz. Man kann ihre Regeln verstehen und weiterkommen, man kann an ihren Strukturen scheitern, in keinem Fall aber lassen sich Letztere ändern. Die Angst vor dem, was die Zukunft bringt, hat zugenommen. Dass man ihr entsprechend agiert, ist ganz natürlich. Dass die Kindererziehung, wenn auch nur in manchen Ländern und Schichten, weniger autoritär ist als früher, dass in Schule und Ausbildung zweifellos weniger Gewalt ausgeübt wird als noch in den 1950er Jahren, ändert nichts an diesem Umstand. Familie und Bildung sind keine Schutzräume, sondern selbst durchdrungen von den gesellschaftlichen Gewalten. An die Stelle der körperlichen Strafe sind Überwachung und Disziplinierung getreten; was Foucault als ein zentrales Entwicklungsmoment der Neuzeit festhielt, hat durch den neoliberalen Umbau des sozialstaatlich orientierten Kapitalismus nun auch die Kindererziehung erreicht. Das umfassende Gefühl, dass die guten Zeiten vorbei sind – die ökologischen Prognosen kommen zur ökonomischen Unsicherheit dazu – macht Selbsterhaltung für diese und die kommenden Generationen zur vordringlichen Aufgabe.

So haben sich die Spielräume des Eigensinns bei Kindern und Erwachsenen verändert. Darin besteht die Aktualität des hier thematisierten, weit in die Vormoderne zurückreichenden Märchens, das von der Unterdrückung des Eigensinns berichtet. Vormoderne und Nachmoderne bilden, wie wir sehen werden, ein kompliziertes Bezugssystem.

Das Märchen jedoch, das dem eigensinnigen Kind am Ende zynisch »Ruhe unter der Erde« zusichert, ist unvollständig. Denn geht das Wechselspiel von Autorität und Eigensinn verloren, wird auf die eine oder die andere Seite entschieden. Die leere Ordnung, der geschmeidig-starre Konformismus, das auswendig gelernte Leben: Sie haben eine Kehrseite, die im Märchen nicht thematisiert wird. Es sind: Amok, Zusammenbruch, Selbstzerstörung bzw. Zerstörung ›des Liebsten, was man hat‹, schizoide Entgrenzung, ein blindes Aufbegehren um seiner selbst willen, das den Bezug zu dem, wogegen aufbegehrt wird, verliert. Alles Reaktionsweisen, die einen Raum, in dem der Eigensinn Platz hat, nur noch pathologisch, um den Preis des Realitätsprinzips erzeugen kann. Auch davon handeln die folgenden Texte. Wo kann es in diesem Szenario ›gesunden‹ Eigensinn geben?

4

Zuletzt aber: Der Eigensinn sollte nicht überschätzt werden. Er ist, wie Hegel das in der ›Phänomenologie des Geistes‹ formuliert hat, »Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt«4, also in gewisser Hinsicht ein bürgerliches Phänomen. Kluges und Negts Buch über ›Geschichte und Eigensinn‹, das die wichtigste Inspirationsquelle meines Projekts darstellt5, steht auch unter diesem Stern. Es erscheint unter dem Gesichtspunkt problematisch, dass es eine spezifisch bürgerliche Form des Widerstands universalisiert. Kämpfer und Revolutionäre sind nicht eigensinnig. Sie mögen es vielleicht sein, aber der Eigensinn bildet nicht die primäre Maxime ihres Handelns. Sie planen, kombinieren und agieren in Übereinstimmung mit den Entwicklungsimpulsen der historischen Wirklichkeit. Sie sind nicht ›unten‹, sie sind Politiker, Manager des Umsturzes. Deswegen fällt ihnen die Mutation zur unterdrückenden Macht, wenn sie den Sieg errungen haben, manchmal so leicht.

Demgegenüber regt sich der Eigensinn dort, wo die Unterdrückung im Prinzip akzeptiert wird, aber so beschaffen ist, dass sie Regungen der Freiheit zulässt. Er agiert spontan, partiell und inkonsequent, so wie es im Märchen nur ein Glied des toten Körpers ist, das sich gegen das Begrabensein wehrt. Der junge Genosse in Brechts ›Die Maßnahme‹ handelt eigensinnig; darin besteht die Kritik, die die professionellen Revolutionäre an ihm üben: Er stellt das System der Unterdrückung als Ganzes nicht in Frage, sondern reagiert nur auf dessen Auswirkungen im Einzelnen. Dadurch, so ihr Vorwurf, bestätigt er zugleich die Macht dieses Systems.

Eigensinn ist eine schwache Kraft, aber dafür ist sie ubiquitär. Er ist der Rest; Adorno hätte gesagt, das Nichtidentische; das, was den Zugriff subvertiert, ohne sich aus eigenem Vermögen (und vielleicht: Wollen) zu einer integralen, die Verhältnisse verändernden Macht zusammenschließen zu können, ein konsequenzloser Widerstand, in geheimer Komplizenschaft mit dem System verbunden, gegen das er sich regt und auf das er doch angewiesen ist.

Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des Märchens

Ein sehr kurzer Text

Dieses Märchen ist wie ein Faustschlag, von einer Brutalität, der ich wenig an die Seite zu stellen wüsste. Zu einem Teil verdankt sich das seiner Kürze. Jedes literarische Genre lebt von einer mittleren Erwartungsdauer; die mag beträchtlich über- oder unterschritten werden, regelt aber dennoch die Wahrnehmung der Rezipienten. In diesem Märchen aber steht nicht bloß kein Wort zu viel, sondern eher stehen etliche zu wenig. Die Geschichte hört auf, ehe sie richtig angefangen hat, die Erwartung, die durch das »Es war einmal« sich aufbaut, sinkt in sich zusammen, ehe sie sich stabilisiert hat. Dazu ist ›Das eigensinnige Kind‹ frei von jeder Ironie, jeder aphoristischen Zuspitzung im Sinn des ›Er ward geboren, nahm ein Weib und starb‹. Es ist kein Kabarett, kein launiger Geburtstagsspruch, keine fröhliche Wissenschaft, sondern furchtbarer Ernst: die Quintessenz eines verlorenen Lebens, von dem es mehr nicht zu sagen gibt.

Die Kürze des Textes reproduziert die Kürze des in ihm geschilderten Lebens. Wie kurz war es? Handelt das Märchen vom Tod eines Penners oder vom Ende eines rebellierenden Jugendlichen? Schildert es die Geschichte eines Schulverweigerers oder erzählt es vom Totschlag eines schreienden Säuglings, angesichts dessen Mutter oder Vater die Nerven verloren? Wie auch immer: Das Leben, von dem hier berichtet wird, ist zu kurz.

Ein zweiter Grund für die verstörende Bündigkeit, mit der dieses kürzeste der Grimm’schen Märchen seine Bahn durchläuft, liegt in seiner kollektiven Verfasstheit. Das hat sich kein Einzelner ausgedacht, um eine Pointe zu landen. Die mündliche Tradierung schied vielmehr alles Unnötige aus und reduzierte den Erfahrungsgehalt auf die kürzestmögliche Form.

Nun haben Jacob und Wilhelm Grimm in den Text der ihnen mündlich mitgeteilten Märchen massiv eingegriffen. Im Einzelfall ist der Weg von der Transkription bis zur Ausgabe letzter Hand außerordentlich weit.1 Vor die historisch-dokumentarischen Interessen, die Reste einer im Volk sich selbst dichtenden Poesie zu bergen, schoben sich nach und nach künstlerische und pädagogische Intentionen2. In gewisser Weise spiegelt der Bearbeitungsprozess, den viele Märchen durchliefen, selbst das Verschwinden der kollektiven Überlieferung, die die Grimms durch ihre Sammeltätigkeit aufhalten wollten.

Dennoch ist diese Schicht in vielen Texten noch deutlich erkennbar. Das Märchen vom eigensinnigen Kind zeigt keine Spuren redaktioneller Eingriffe. Von der ersten Auflage bis zur Ausgabe letzter Hand ist es derselbe Wortlaut. Es ist ausformuliert, aber nicht auserzählt. Für ihn scheint doch zu gelten, dass die Grimms das Endprodukt eines kollektiven Verdichtungsprozesses aufnahmen, in dessen Verlauf alles, was sich in der mündlichen Erzählsituation nicht bewährte, vorab aussortiert worden war.3

Gute und böse Märchen

In der Märchensammlung der Brüder Grimm gibt es nicht wenige ›schlimme‹ Märchen – mehr jedenfalls, als den meisten bewusst sein dürfte.

»Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun Nachmittag mit einander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: ›du sollst das Schweinchen und ich der Metzger seyn;‹ hat darauf ein bloß Messer genommen, und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn, dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; deßwegen dann die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweifelung gerieth, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhängte. Der Mann kam vom Felde und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrübt, daß er kurz darauf gestorben ist.« (Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Berlin 1812, 103. Das Märchen findet sich nur in der ersten Ausgabe.)

Märchen wie dieses hat die sanfte Pädagogik nach 1968 aus unserem Gedächtnis entfernt; in der Furcht, sie könnten die Kinder traumatisieren oder ihnen zum schlechten Vorbild dienen. Doch auch die kanonischen Märchen werden zensiert. Dass die böse Mutter am Ende von ›Sneewittchen‹ in glühende Pantoffeln gesteckt wird und darin tanzen muss, bis sie tot umfällt, weiß kaum ein Kind mehr, und wenn ja, dann nicht aus den bearbeiteten Fassungen, die in den Regalen der Kinderzimmer stehen, nicht aus den Märchentheaterinszenierungen der Kindergärten und der Städtischen Bühnen in der Weihnachtszeit. Dass Hänsel und Gretel am Ende nur zum Vater zurückkehren, weil die Mutter in der Zwischenzeit gestorben ist (was die beunruhigende Frage nach dem Verhältnis von Mutter und Hexe, Verstoßen- und Gegessenwerden, aufwirft), ist zur Angelegenheit der Märchenforscher geworden.4

Die hinter solchen Flurbereinigungen stehende Pädagogik betrachtet die heranwachsenden Kinder im Prinzip als Container, die mit möglichst vielen guten und möglichst wenigen schlimmen Erfahrungen aufzufüllen seien. Sie gedieh auf dem Boden einer sozialstaatlichen Friedensordnung, die die Schrecken der Wirklichkeit ein wenig zurückdrängte und ihre Bearbeitung überflüssig erscheinen ließ. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, da diese Ordnung zerfällt, da die Mafia den Sozialstaat ersetzt, neue Kriege heraufziehen und die Zukunft der menschlichen Gattung in Frage steht, erscheint diese Pädagogik anachronistisch. Ballerspiele ersetzen die mit viel gutem Willen desinfizierten Geschichten. Sie sind die wahren, wenn auch nicht legitimen Nachfolger der brutalen, bösen und pessimistischen Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm.

Freilich überwiegen in den ›Kinder- und Hausmärchen‹ die Geschichten, die Hoffnung machen. Unter ihnen lassen sich – idealtypisch – zwei Linien unterscheiden. Die erste wird durch die Märchen repräsentiert, die von psychischen Konflikten handeln und in denen – im weitesten Sinne – ein Entwicklungsprozess im Zentrum steht: ›Sneewittchen‹ oder ›Rapunzel‹ etwa gehören zu diesem Typus. In der zweiten Linie haben sich historische Erfahrungen niedergeschlagen. Sie wurzeln häufig in der frühen Neuzeit, reichen aber in Einzelfällen sehr viel weiter zurück. Es geht hier freilich nicht – oder nur höchst selten – um ein Entweder-Oder: beide Linien überkreuzen und überschneiden sich häufig in den einzelnen Märchen.

Jedenfalls werden in beiden Linien die Geschichten der ›Kleinen‹, der Erniedrigten, Umhergetriebenen und Verachteten erzählt – der Däumlinge und Dummlinge, also der schwarzen Schafe der Familie; der aus Lohn und Brot geworfenen, durchs Land irrenden Soldaten, die nichts verstehen außer dem Kriegshandwerk; der von ihrem Grund und Boden getrennten, in eine hochspezialisierte Tätigkeit gezwungenen ehemaligen Bauern –, die aufgrund ihres Urvertrauens in die Welt – aufgrund der Tatsache also, dass sie der Welt vertrauen, ohne sie zu kennen – gegen alle Wahrscheinlichkeit Karriere machen, zu Reichtum kommen, die schöne Königstochter heiraten usf.

Viele der Grimm’schen Märchen reflektieren historisch das Ende der germanischen Familien- und Gemeindeordnung. Der mittelalterliche Feudalismus hatte sie überformt, aber nicht zerstört.5 Die neuzeitlichen Verhältnisse – in Deutschland die Zerstörung der Familien durch den Dreißigjährigen Krieg, dann die Entstehung einer geldvermittelten Marktwirtschaft, deren Absurdität in einigen Märchen wie ›Hans im Glück‹ mit erheiterndem Befremden dargestellt wird – gehen ihr nun ans Leben. Wenn in diesen Märchen die Zurückgesetzten ihr Glück machen, dann artikuliert sich darin ein spezifischer Widerstand gegen diese historischen Zumutungen.

Jedoch scheint der Eigensinn, von dem in unserem Märchen die Rede ist, eines historischen Kontextes nicht zu bedürfen. Das Dorf mit der Mutter, der anonym belassenen Gemeinde und dem strafenden Gott über allem steht außer der Zeit. Eine, wie es scheint, überhistorische Familiensituation wird hier entworfen: Welche, wenn nicht eine psychoanalytische Interpretation, wäre hier am Platz? Zweifellos rückt dieser Aspekt durch den stark verdichteten Charakter des Märchens in den Vordergrund; das historisch Passagere, so die Annahme, wurde in diesem Fall durch den Überlieferungsprozess ausgeschaltet. Dennoch wirkt Geschichte wie ferner Schlachtenlärm in das Gebilde hinein. Wie in vielen anderen Märchen gibt es nur einen Elternteil – der Tod vieler Mütter bei der Geburt oder im Wochenbett, der Tod der Väter im Krieg waren die Gründe für die Beschädigung vieler Familien. Die Selbstverständlichkeit, mit der das hier wie anderswo ohne jede Begründungspflicht festgehalten wird, lässt erkennen, dass es sich um weit verbreitete Erfahrungen gehandelt haben muss.