Das Embryonenschiff - Matteo Blocher - E-Book
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Das Embryonenschiff E-Book

Matteo Blocher

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Beschreibung

Die 33-jährige Computerlinguistin Debria Handsen soll in einem Geheimprojekt der amerikanischen Regierung eine KI entwickeln, um die Kolonisierung eines erdähnlichen Exoplaneten zu ermöglichen. Dabei spielen tiefgefrorene menschliche Embryonen eine Schlüsselrolle. Je tiefer Debria jedoch in das Projekt eintaucht, umso mehr zweifelt sie an der Rechtfertigung für die Verletzung prinzipieller ethischer Grenzen und steht schließlich vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2022

 

Das Embryonenschiff

 

© by Matteo Blocher

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Gundel Steigenberger, Annette Böhler

Korrektorat: Birgit van Troyen

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Sigrid Braun

 

Coverbild ›Planet Centronos‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Colerianischer Herbst – Tiefer Fall‹

© 2020 by Paul Lung; Artwork by Mika Jänisen

Coverbilder ›Die X-Reihe‹

© 2019 by tab visuelle kommunikation, Stuttgart,

& Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-169-0

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Matteo Blocher

 

Das Embryonenschiff

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Science-Fiction

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kleine Köpfe sprechen über Menschen. Durchschnittliche Köpfe diskutieren Ereignisse. Große Köpfe diskutieren Ideen.

 

Eleanor Roosevelt

1.      Die Wahrheit

2.      Das Bild

3.      Der Jobwechsel

4.      Der Schmerz

5.      Das Unfassbare

6.      Die Langzeitstudie

7.      Die Auswahl

8.      Der Aufzug

9.      Das Redesign

10.      Virtuelle Realitäten

11.      Die Beratung

12.      Der Rundgang

13.      Biotechnologie

14.      Acantarius

15.      Schach

16.      Die Datenbank

17.      Die Konfrontation

18.      Die Management-Runde

19.      Bright Angel

20.      Reno

21.      Schadensbegrenzung

22.      Der Bericht

23.      Die Entschädigung

24.      Stressbewältigung

25.      Der Zoo

26.      Titan

27.      Die Traumexpertin

28.      Die Nachricht

29.      Die Übung

30.      Qualitätssicherung

31.      Das Klassentreffen

32.      Gegenmaßnahmen

33.      Der Tapetenwechsel

34.      Das Labor

35.      Die Softwareinstallation

36.      Der Orbit

37.      Geschichte

38.      Das Buch

39.      Das Café

40.      Der Chemieprofessor

41.      Der Detektiv

42.      Die Landung

43.      Der nächste Meilenstein

44.      Der Baumstamm

45.      Der Landeplatz

46.      Der Plan

47.      San Mateo

48.      Das Krankenzimmer

49.      Centurion

50.      Der Starttermin

51.      Das Reiseziel

52.      Die Therapeutin

53.      Eine alte Wunde

54.      Das neue Leben

55.      Die Villa

56.      Spurensuche

57.      Zwiegespräch

58.      Die Fotos

59.      Der Zettel

60.      Geschwister

61.      Das U-Boot

62.      Das Feuerwerk

63.      Fibonacci

64.      Bishop

65.      Die Aufnahme

66.      Der Kleiderschrank

67.      Die Offenbarung

68.      Die Erlaubnis

69.      Der Start

EPILOG

Danksagung

Der Autor

Hybrid Verlag …

 

 

Liste der Hauptpersonen

 

Breene, Gilvan - Drohnenpilot

Breene, Julara - Ärztin

Brinkob, Elliot - Bioinformatiker

Chen, Lee - Astronom

Erdstein, Marsha - Psychologin

Flodz, Helen - Rentnerin

Fuller, Gilvan - Student

Garcia, Sabena - Studentin

Gonsolez, Paul - Arzt

Greffin, Ronjo - Ingenieur

Greffin, Sabena - Professorin

Handsen, Debria - Linguistin

Horvat, Priscilla - Traumexpertin

Jord, Alexander - Informatiker

Kanchana, Rick - Projektleiter

Laarsen, Kriss - Astronom

Lusalle, Theodor - Arzt

McDaire, Nathan - Projektassistent

Mendini, Antonio - Professor

Mulcohen, Bruce - Ingenieur

Noralski, Drake - Arzt

Patel, Julara - Studentin

Reitman, Carlene - Biotechnologin

Rodena, Lisa - Psychologin

Sailert, Hank - Arzt

Srinavan, Ravi - Arzt

Starnberg, George - Rentner

Starnberg, Veronica - Rentnerin

Veluso, Luuk - Privatdetektiv

Wagner, Ronjo - Student

Wittgolt, Clemens - Linguist

 

 

Die Wahrheit

 

Wie jedes Jahr gab es eine kurze Ansprache, ehe Julara und ihre Geschwister die Geschenke auspacken und den Kuchen anschneiden durften. In den Vorjahren waren die Reden meist voll des Lobs für die Fortschritte gewesen, die sie im zurückliegenden Jahr erzielt hatten. In der Rückschau beschrieben ihre Eltern die Errungenschaften, auf welche die Schiffsbesatzung besonders stolz sein konnte. Bei der letzten Geburtstagsfeier hatten sie ihnen außerdem nützliche Hintergrundinformationen über ihre Reise geliefert.

Julara fieberte wie immer dieser Ansprache entgegen, doch der eigenartig ernste Gesichtszug ihres Vaters beunruhigte sie. Ungewöhnlich für einen Geburtstag, dachte sie. Anders als im Jahr zuvor, wirkte auch ihre Mutter äußerst angespannt. Julara fragte sich, was jetzt wohl kommen würde. Ging es um problematische Sensordaten, von denen bisher keiner wusste?

Einen Moment lang ließ sie den Blick in die Ferne schweifen. Der Gemeinschaftsraum, in dem die Raumfahrer üblicherweise ihre Mahlzeiten einnahmen, hatte sechs runde Fenster, mehr als alle restlichen Schiffskabinen, und so war die Enge des Schiffs hier weniger spürbar. Die Namen der hellsten Sterne, wie Rigel und Beteigeuze, kannten alle seit ihrer Grundschulzeit. Jularas Blick kehrte zurück und glitt über die Gesichter ihrer drei Geschwister. Auch sie schien die merkwürdig angespannte Atmosphäre zu verunsichern.

Endlich stand ihr Vater auf und hob kurz seine rechte Hand. »Meine lieben Kinder«, begann er bedächtig. »Wieder ist es an der Zeit, euren Geburtstag zu begehen. Heute handelt es sich dabei um ein ganz besonderes Ereignis, denn ihr seid nun stolze siebzehn Jahre alt geworden und habt damit die Volljährigkeit erreicht.«

Alle Augenpaare waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.

»Wie ihr wisst«, fuhr er fort, »ist unsere wichtigste Aufgabe, eine permanente Kolonie auf dem Planeten Acantarius zu gründen. An diesem Plan halten wir selbstverständlich fest, allerdings gibt es zwei kritische Parameter unserer Mission, über die wir noch einmal sprechen müssen.« Er zögerte und senkte für eine Sekunde die Augenlider, als schäme er sich, ehe er hinzufügte: »Und ich will nichts beschönigen, denn diese Parameter, so wie ihr sie jetzt kennt, entsprechen nicht der Realität.«

Julara fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. »Ihr habt uns angelogen?«

»Das lag daran«, erwiderte ihr Vater mit einem sachten Nicken, »dass ihr zu jung wart, um mit den Konsequenzen adäquat umzugehen. Nun seid ihr erwachsen. Bitte glaubt mir, dass es uns nicht leichtgefallen ist, euch die Wahrheit vorzuenthalten.«

»Um welche Parameter geht es denn, Dad?«, fragte Sabena.

Die hellblauen Augen ihres Vaters wanderten vom Tisch zur Datumsanzeige an der mattgelben Wand. Sein glattrasiertes Gesicht glänzte im sterilen Licht der Deckenlampen und er erweckte den Eindruck, verlegen zu sein.

Dann wandte er sich ihnen wieder zu. »Es geht um die Geschwindigkeit unseres Schiffs«, sagte er, »und die Distanz zu unserem neuen Heimatplaneten.«

»Erreichen wir ihn nicht in zwei Jahren?«

»Doch, Sabena, wir werden Acantarius wie geplant erreichen.«

Das klang ermutigend. Julara überlegte, worauf ihr Vater stattdessen anspielte. In der Grundschule hatten sie gelernt, dass ihr Schiff mit halber Lichtgeschwindigkeit unterwegs war. Es hatte sich gut ein Jahr vor ihrer Geburt auf den Weg gemacht. An Bord lagerten tiefgefrorene Embryonen, da das Raumfahrzeug nur für sechs Menschen ausgelegt war. Die befruchteten Eizellen, die erst nach der Landung zu Babys heranwachsen würden, sollten die genetische Vielfalt ihrer Kolonie sicherstellen. Was also stimmte nicht?

Ihr Vater lieferte die Antwort: »Wir nähern uns unserem Reiseziel mit einer Geschwindigkeit von 600 Kilometern pro Sekunde und es ist nicht 10, sondern knapp 84 Lichtjahre von der Erde entfernt.«

Nein, dachte Julara erschrocken und ihr Herz pochte nun bis zum Hals. Wie konnte ein Raumschiff, das zwischen den Sternen reiste, dermaßen langsam unterwegs sein? Es ergab keinen Sinn.

Ihre Augen suchten und fanden den Blick ihres Bruders Gilvan, der die Stirn runzelte. Im Kopfrechnen war er schon immer der Schnellste gewesen.

»Dann kann unser Schiff –«, setzte er an und schluckte, »die Erde unmöglich vor 18 Jahren verlassen haben.«

»Das ist korrekt.«

»So ein Quatsch«, entfuhr es Julara.

Ihr Vater sah sie eindringlich an. »Es tut uns leid, doch Gilvan hat recht. Bitte verzeiht uns, dass wir euch die tatsächliche Reisedauer verschwiegen haben.«

Die Entschuldigung alarmierte Julara noch mehr und sie beobachtete atemlos, wie Gilvan die Daten im Kopf überschlug. Seine Brauen zogen sich eng zusammen, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Einen Augenblick später wirkte er sehr betroffen und es schien ihm schwerzufallen, das Ergebnis auszusprechen.

Sein Vater tat es für ihn: »Unser Flug begann bereits vor über 42.000 Jahren.«

Es folgte ungläubiges Schweigen. Die im Raum schwebende Zahl hallte lange nach. Niemand rührte sich.

Im Zeitlupentempo sank Sabenas Kiefer herab, während sie ihren Vater anstarrte. »Unser Schiff ist schon –« Sie brach ab und strich sich eine ihrer dunklen Locken aus der Stirn.

Julara wollte es genauso wenig glauben. Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas musste hier faul sein. »Wieso behauptet ihr so einen Unsinn?«

»Es ist mein voller Ernst«, entgegnete ihr Vater ruhig. »Wir haben eine weite und außerordentlich lange Reise hinter uns. Das ist die Realität.« Er hielt ihrem Blick stand, bevor er sich wieder hinsetzte.

Nun platzte ihr der Kragen. »Und warum sagt ihr uns das ausgerechnet heute? Warum habt ihr uns vorher angelogen?« Sie schlug mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass die brennenden Kerzen wackelten. »Was fällt euch ein, uns unseren Geburtstag so zu vermiesen? Wenn es wirklich wahr ist, hattet ihr kein Recht, uns anzulügen.«

»Julara«, sagte Gilvan, »wenn du die Entfernung durch die Geschwindigkeit dividierst –«

»Hör auf damit«, unterbrach sie ihn. Formeln waren das Letzte, was sie jetzt brauchte.

Bei früheren Feiern war ihr Vater oftmals zu Späßen aufgelegt gewesen. Aber heute passte die Stimmung ganz und gar nicht. Wenn seine Behauptung stimmte, wäre eine Rückkehr zur Erde ausgeschlossen und Acantarius konnte sich nach wie vor als unbewohnbar herausstellen. Was sollte dann aus ihnen werden? War das der Grund, weshalb ihr Vater von weitreichenden Konsequenzen gesprochen hatte?

Plötzlich fürchtete Julara, dass es noch mehr gab, was ihnen verschwiegen wurde. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und nur die schlimmsten unter ihnen bekam sie zu fassen. Erneut sah sie hinaus auf das mit unzähligen Sternen durchsetzte Dunkel des Alls. Wussten ihre Eltern bereits, dass auf ihrem Zielplaneten lebensfeindliche Bedingungen herrschten? War ihre Familie dazu verdammt, für immer auf dem Schiff zu bleiben? Würde sie keinen der mitgeführten Embryonen je heranwachsen sehen? Ein intensives Gefühl der Angst stieg in ihr empor.

»Was euer Vater gesagt hat, entspricht den Tatsachen«, hörte sie ihre Mutter in sanftem Tonfall sagen. »Schnellere Raumfahrzeuge konnten die Schiffsingenieure damals nicht bauen. Deswegen sind wir schon seit Jahrtausenden unterwegs. Und weil diese Zeitspanne so schwer zu begreifen ist, haben wir bis zu eurer Volljährigkeit gewartet, um euch darüber aufzuklären. Wir haben in guter Absicht gehandelt. Bitte glaubt uns!«

»Aber Perennial ist doch kein Generationenschiff«, warf Gilvan irritiert ein. »Wegen des Platzmangels haben wir das Zygotendepot dabei. Das habt ihr uns immer so erklärt.«

»Und es stimmt auch«, bekräftigte ihre Mutter. »Allerdings habt auch ihr unseren Flug als gefrorene Embryonen begonnen. Ihr seid ebenfalls auf der Erde gezeugt worden.«

»Wie das?«, stieß Gilvan in einem Tonfall hervor, den Julara noch nie bei ihm erlebt hatte – ebenso wenig wie den Ausdruck auf seinem Gesicht. Wütend und entsetzt. Seit sie denken konnte, war Gilvan ein unerschütterlicher Optimist gewesen und der fröhlichste unter den Geschwistern. Ihn jetzt an diesem Tag, auf den sie sich seit Wochen gefreut hatten, so die Fassung verlieren zu sehen, trieb ihr heiße Tränen in die Augen.

»Bitte Mom, hör auf ...«, flüsterte sie.

Jularas Mutter, die direkt neben ihr saß, legte eine Hand auf ihre Schulter. »Es tut uns aufrichtig leid.«

Energisch schüttelte Julara sie ab, immer schockierter von der Enthüllung, je länger sie darüber nachdachte. Sie wurden auf der Erde gezeugt? Wie konnte das sein? Nichts ergab mehr einen Sinn.

»Was ist mit euch?«, fragte Ronjo, der das Geschehen bisher still verfolgt hatte. »Ihr habt uns immer erzählt, dass ihr beide vor der Mission auf der Erde gelebt habt.«

»Genau«, sagte Sabena. »Wer hat sich um euch gekümmert, als ihr klein wart?«

Für eine Weile herrschte im Gemeinschaftsraum eine unangenehme Stille. Einzig die Generatoren des Maschinenraums brummten im Hintergrund. Fragend blickte Julara zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her, die ihren Blick mit ernster Miene erwiderten. Als ihre Eltern dann schweigend der Reihe nach Gilvan, Sabena und Ronjo ansahen, setzte Jularas Herz einen Schlag aus. Da ist tatsächlich mehr, dachte sie entsetzt. Sie werden uns mehr als eine Lüge erzählen! Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, um die nächsten Worte ihrer Mutter nicht hören zu müssen.

»Euer Vater und ich sind nicht eure biologischen Eltern.«

Wieder senkte sich eine eisige Stille über den Tisch, nur Sabena flüsterte: »Aber wir sehen euch doch ähnlich.«

Julara spürte, wie der Kloß in ihrem Hals immer dicker wurde, und sie versuchte, etwas zu erwidern, brachte jedoch nur ein heiseres Stöhnen hervor.

Mit versteinertem Blick fuhr ihre Mutter fort: »Euer Vater und ich sind keine Menschen.« Der Klang ihrer Stimme veränderte sich. »Wir heißen Andrew und Ellora und man bezeichnet uns als Androiden. Wir sind menschenähnliche Wesen, deren Aufgabe es ist, euch aufzuziehen und euch unversehrt zum auserkorenen Zielplaneten zu bringen. Konstrukteure gestalteten unser Äußeres so, dass bestimmte Körpermerkmale von euch enthalten sind. Wir sollen euren leiblichen Eltern ähnlichsehen.«

In den Augen von Jularas Geschwistern machte sich blankes Entsetzen breit.

»Doch auch als eure Adoptiveltern werden wir euch tatkräftig dabei unterstützen, die neue Zivilisation aufzubauen.«

Julara kämpfte gegen Schwindel an, während sie die Frau anstarrte, die behauptete, nicht ihre Mutter zu sein. Ja, nicht einmal ein Lebewesen!

Ein Android war ein Roboter, der wie ein Mensch aussah, und sich auch so verhielt. Auch das hatten sie in der Schule gelernt. Konnten ihre Eltern wirklich Maschinen mit aufrechtem Gang sein? Die Vorstellung machte Julara rasend. Sie nahm ihren Kuchenteller und malte sich aus, ihn an die Wand zu schleudern. In Gedanken hörte sie bereits die Scherben klirren und sah den weißen Teller in tausend Stücke zerbrechen. Das Kunstporzellan würde zerbrechen, wenn die Kräfte, denen es ausgesetzt war, zu groß wurden. Julara wollte weit ausholen, doch ihr ganzer Körper verharrte wie erstarrt. Immer mehr Tränen liefen über ihre Wangen.

Auf dem Schiff galt jegliches Inventar als unendlich wertvoll, weshalb alles äußerst pfleglich und sorgsam behandelt werden musste. Von frühester Kindheit an war ihnen das eingetrichtert worden. Mit der anderen Hand fuhr sich Julara über ihr Gesicht und sah hinüber zu Gilvan, der kreidebleich ins Nichts starrte.

Plötzlich hob Ronjo seinen Arm und deutete zur Datumsanzeige. Sein Gesicht wirkte gefasst, doch seine Hand zitterte. »Und was ist damit?«

»Das Datum müssen wir korrigieren«, entgegnete ihr Vater prompt.

Er drehte seinen Kopf in Richtung der Anzeige und alle folgten seinem Blick. Als das Display auf ein neues Datum sprang, schreckte Julara wie elektrisiert zurück.

An der Wand stand: Mittwoch, der 31.7.44097.

Stumm stierten sie auf die roten Leuchtziffern. Erst jetzt fiel Julara auf, dass es eine fünfte Stelle an der Jahresanzeige gab, die all die Jahre leer gewesen war. Ihr Schwindelgefühl wuchs und sie musste mehrmals blinzeln. Vor ihren brennenden Augen vollführten die Ziffern einen grellen Tanz.

Ihre Mutter, die sich nun Ellora nannte, räusperte sich. »Es gibt eine weitere Sache, die ihr wahrscheinlich schon ahnt.« Sie seufzte leise, bevor sie verkündete: »Ihr seid weder Vierlinge noch sonst miteinander verwandt.«

»Und wo sind unsere echten Eltern?«, fragte Sabena mit zittriger Stimme.

»Sie haben vor sehr langer Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika gelebt. Leider sind wir ihnen nie begegnet.«

»Ihr wart vor dem Start auf der Erde?«

»Ja, Sabena, das war nicht gelogen.« Ellora schaute sie mitfühlend an. »Aber ihr müsst begreifen, dass, von gefrorenen Embryonen abgesehen, nur Androiden eine solche Reise unbeschadet überstehen können. Nach allem, was wir wissen, haben eure Eltern ein erfülltes Leben geführt. Ihr dürft sie demnächst in unserem VR-Raum kennenlernen.«

Julara zwang sich, ruhig zu atmen, und blickte erneut auf das Sternenmeer, das ihr Schiff von allen Seiten umgab. Mit einem Mal hasste sie die Sterne, obwohl all diese leuchtenden Punkte keinerlei Schuld an ihrer Lage trugen.

Nur mit Mühe gelang es ihr, ihren Zorn zu bändigen und den Kuchenteller wieder abzustellen. Stattdessen holte sie Luft, neigte sich nach vorne und blies die Geburtstagskerzen so heftig aus, dass einige Wachstropfen auf den Tisch sprühten.

In Gedanken formulierte sie ihren Wunsch: Lieber Gott, wenn es dich gibt, lass es nicht wahr sein. Lass mich morgen früh aufwachen und feststellen, dass alles bloß ein böser Traum gewesen ist.

Wie in Trance stand sie auf, drehte sich um und lief zur Tür hinaus.

 

Das Bild

 

Wie um fünf Uhr abends üblich, herrschte auf der Straße vor dem Fernbahnhof in Albuquerque reger Verkehr. Die Taxifahrerin fuhr schwungvoll in eine Haltebucht und nannte Ronjo den Preis. Weiter gemütlich in den Rücksitz versunken legte er den rechten Handballen auf sein Felopad und der Scanner erkannte das Venenmuster. Ronjo erhöhte den Betrag, bevor er das Bestätigungsicon berührte, um die Rechnung zu begleichen. Das Taxameter neben dem Lenkrad piepste mehrmals leise, woraufhin die Fahrerin sich bei ihm für das üppige Trinkgeld bedankte. Während er ausstieg, winkte sie ihm noch zum Abschied freundlich zu. Kaum war die Seitentür ins Schloss gefallen, drängte ihr Wagen, ohne zu blinken, von der Haltebucht auf die Fahrbahn zurück und machte Jagd auf den nächsten Kunden.

Beim Betreten der Bahnhofshalle hob Ronjo den Blick zur Anzeigetafel und stellte fest, dass kein Grund zur Eile bestand, denn sein Express nach San Francisco ging erst in zwanzig Minuten. Bei Reisen plante er stets großzügige Zeitpuffer ein, da ihm unnötige Hektik ein Gräuel war. Davon abgesehen mochte er gelegentliche Geschäftsreisen. Die Firmenzentrale seines Arbeitgebers Maxxoma Spacetec befand sich in Albuquerque und von ihm als leitendem Ingenieur wurde erwartet, dass er die dortigen Kollegen einmal im Monat persönlich traf. Seine Firma hatte vor kurzem einen prestigeträchtigen Auftrag an Land gezogen. Sie sollte die geplante Forschungsstation auf dem Jupitermond Kallisto mit einem Lebenserhaltungssystem ausstatten.

Ronjo durchquerte die Bahnhofshalle und steuerte auf die Business-Lounge zu. Nachdem die gläserne Automatiktür hinter ihm zugeglitten war, trat sofort wohltuende Stille ein. Er nahm an einem der hohen Fenster Platz, stellte die Aktentasche ab und griff nach seinem Felopad. Mit einem leisen Aufseufzen begann er, einen Krimi von Tom Clancy zu lesen. Durch einen Zufall hatte er diesen Autor auf einem antiquarischen Büchermarkt entdeckt. Seine Schaffensphase reichte fast ein Jahrhundert zurück. Natürlich gab es sämtliche Romane auch in digitaler Form. Spannend fand Ronjo nicht nur die Krimis an sich, sondern auch die Ingenieurskunst des späten 20. Jahrhunderts.

Nach einer Weile bemerkte er in den Augenwinkeln, dass ihn eine ältere Frau, die ihm schräg gegenübersaß, immer wieder ungläubig anstarrte. Er beschloss, sie zu ignorieren. Unter Kollegen und Freunden galt er als kontaktfreudiger Mensch, aber an Tagen wie heute wollte er seine Ruhe haben. In der Firma war er von einer Besprechung zur nächsten gehetzt und zu Mittag hatte er nur ein kleines Tomaten-Käse-Sandwich und zwei Äpfel gegessen. Bei diesem Gedanken meldete sich prompt sein Magen mit einem dezenten Knurren. Die Lounge bot zwar eine Reihe von Snacks an, doch in der Business-Klasse des Zugs erwartete ihn ein schmackhaftes Mehrgangmenü, wofür er seinen Hunger gerne aufhob. Einen kurzen Moment dachte er an das Trüffel-Steinpilz-Risotto bei seiner letzten Reise, das mit grünem Spargel und gerösteten Walnüssen serviert worden war.

Ronjo versuchte, sich auf das Buch zu konzentrieren, aber das Gefühl, dass mit der weißhaarigen Frau etwas nicht stimmte, ließ ihn nicht los. Sie blickte weiter in seine Richtung und schüttelte den Kopf.

Etliche Minuten vergingen, doch die Situation blieb unverändert. Irgendetwas musste die Dame auf dem Herzen haben und so holte Ronjo schließlich tief Luft, legte seine Lektüre zur Seite und zwang sich zu einem Lächeln.

Sie schien auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. »Wissen Sie, es ist schon merkwürdig«, flüsterte sie konspirativ und spielte einen Augenblick lang mit ihrer Halskette. »Sie erinnern mich an jemanden.«

»Tue ich das?«

»Ja, an meinen Ehemann, als er noch jünger war.«

Oh nein, schoss es Ronjo durch den Kopf. Die Dame will um jeden Preis ein Gespräch mit mir anfangen. Bei Zugfahrten erlebte er das ständig. »Viele Leute sehen einander ähnlich«, entgegnete er kühl.

»Nein, Sie begreifen nicht! Sie sehen aus wie mein Mann, als wir geheiratet haben. Ich kann es wirklich kaum glauben.«

Sie fing an, in ihrer Handtasche zu wühlen, und Ronjo konnte sich nur mühsam davon abhalten, den Blick wieder in seine Lektüre zu versenken. Wenigstens beobachtete sie keiner der anderen Wartenden.

»Hier«, sagte sie endlich. »Ich habe es gefunden.« Sie hielt ihm eine alte Fotografie entgegen. »Unser Hochzeitsfoto, aufgenommen vor zweiundvierzig Jahren.«

Als Ronjo das Bild mit Daumen und Zeigefinger ergriff, um einen Blick darauf zu werfen, vergaß er sofort sein Buch und die anderen Fahrgäste.

Unmöglich.

Die Frau lächelte triumphierend. »Zuerst glaubte ich, Sie wären sein Bruder, aber George, mein Mann, war ein Einzelkind.«

Ronjo schluckte benommen und brachte zunächst keinen Ton hervor. Das hatte nichts mit einer zufälligen Ähnlichkeit zu tun, die bei zwei Menschen manchmal vorkam. Der Mann auf dem Bild sah exakt so aus wie er selbst. Gut, eine Spur jünger vielleicht, und eine bogenförmige Narbe zog sich über seine Stirn. Doch das waren die einzigen Unterschiede. Dieser George hatte sogar seinen Schnurrbart so gestutzt, wie es auch Ronjo am besten gefiel.

»Wo wurde dieses Bild aufgenommen?«, fragte er, bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen.

»In Rutland, Vermont, wo wir geheiratet haben.«

Vermont kannte er nur vom Hörensagen und niemand aus seiner Verwandtschaft wohnte dort. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Irgendeine Erklärung musste es ja geben. Außerdem ärgerte er sich über sein Misstrauen der Frau gegenüber zu Beginn des Gesprächs.

»Ich heiße Ronjo Greffin«, sagte er, während er ihr das Foto zurückgab.

»Veronica Starnberg«, erwiderte sie prompt. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits.« Er räusperte sich. »Gibt es in der Familie Ihres Ehemanns den Namen Greffin?«

Veronica Starnberg sann darüber nach. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Kann ich mit Ihrem Mann telefonieren?«

»Sicher.« Sie kramte erneut in ihrer Handtasche und hielt ihm eine altmodische Visitenkarte aus festem Papier entgegen.

Mit einem dankenden Nicken schob er das Kärtchen in die Tasche seines Jacketts.

»Wissen Sie, Georges Stimme klingt genau wie Ihre. Und so einen Anzug hat er ebenfalls.« Sie zeigte auf seinen Oberkörper. »Das kann doch kein Zufall sein, Mr. Greffin.«

»Es fällt mir in der Tat schwer, hier an Zufall zu glauben, Ms. Starnberg. Es muss einen Grund für die Ähnlichkeit geben. Ich sollte mit Ihrem Mann sprechen.«

»Ja, unbedingt.«

Kurz darauf verkündeten die Lautsprecher die Abfahrt des Zuges nach San Francisco und sie verabschiedeten sich. Ronjo stieg in seinen Waggon, wo ihn eine gutgelaunte Zugbegleiterin begrüßte.

Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 380 km/h legte der Zug die Strecke in gut fünf Stunden zurück. Auch beim Abendessen ging ihm das Gesicht auf dem Hochzeitsfoto nicht aus dem Sinn. Die Ähnlichkeit war viel zu stark. Er schwor sich, der Sache auf den Grund zu gehen.

 

Am nächsten Abend, nachdem sein vierjähriger Sohn Tim eingeschlafen war, kam Ronjos Frau Sabena zurück in die Küche, wo er gerade das schmutzige Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine einräumte. Er fühlte sich fahrig und abgehetzt. Sabena hatte ihn ermutigt, der Sache mit George Starnberg nachzugehen. Ein Anruf konnte nicht schaden. Selbst wenn es sich nur um einen harmlosen Zufall handelte, wäre die Angelegenheit damit erledigt.

Im Wohnzimmer nahmen sie auf dem Ledersofa an der rückwärtigen Wand Platz. Ronjo zückte die Visitenkarte und wählte die Nummer. Nach dem dritten Klingeln begrüßte sie eine weibliche Stimme.

Veronica Starnberg aktivierte den Videomodus, wandte den Kopf ruckartig zur Seite und rief: »George!« Sie trug dieselbe Perlenkette um den Hals wie bei der Begegnung in der Bahnhofslounge.

Als ihr Mann auf dem Wandbildschirm erschien und geradewegs in die Kamera blickte, war ihm seine Betroffenheit sofort anzusehen. Ronjo kannte bisher nur das Hochzeitsbild, doch auch im fortgeschrittenen Alter mit dem schütteren grauen Haar und Falten im Gesicht ließ sich die Ähnlichkeit nicht leugnen. Neben ihm nahm Sabena einen tiefen Atemzug.

Alle waren zunächst sprachlos.

»Meine Gattin hatte recht, Mr. Greffin«, brummte der Mann auf dem Schirm schließlich. »Ich konnte es erst gar nicht so richtig glauben.«

»Ihr seid euch unglaublich ähnlich«, bestätigte Sabena mit schwacher Stimme.

»Ich würde Ihnen gerne einige persönliche Fragen stellen«, sagte Ronjo, »wenn Sie einverstanden sind.«

»Legen Sie los.«

»Wo sind Sie geboren?«

»In Milwaukee.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein, leider nicht.«

»Geschwister?«

»Nein.«

»Und Ihre Eltern?«

»Mein Vater war Einzelkind und starb vor zehn Jahren. Ein Jahr später ist auch meine Mutter gestorben, aber sie hat eine Schwester, die in Chicago lebt.«

Ronjo räusperte sich dezent. »Haben Sie vielleicht einen Halbbruder? Oder eine Halbschwester?«

Der ältere Herr wirkte belustigt. »Davon weiß ich nichts.«

»Wäre es denkbar, dass es Halbgeschwister gibt, von denen Sie nichts wissen?«

Es entstand eine kurze Pause. »Mein Vater war beruflich viel unterwegs. Möglicherweise gab es eine Affäre.«

Eigentlich hatte Ronjo damit gerechnet, den Starnbergs wäre das Telefonat peinlich. Das traf scheinbar nicht zu, stellte er erleichtert fest. Ebenso wie er selbst schien George Starnberg der Sache schnellstmöglich auf den Grund gehen zu wollen.

Seine Frau Veronica hatte das Gespräch mit einem Stirnrunzeln verfolgt und wandte nun ein: »Dann müssten Ihre Eltern Ihnen aber ebenfalls etwas verheimlichen.«

Ronjo nickte, während er Sabenas Hand warm auf seinem Unterarm spürte. »Ganz recht. Oder einer meiner Großeltern.«

»Sie meinen«, schlussfolgerte George Starnberg, »dass einer Ihrer Opas nicht Ihr leiblicher sein könnte.«

»Genau. Wenn Ihr Vater mein richtiger Großvater wäre, könnte dies die Ähnlichkeit erklären.« Ronjo holte hörbar Luft. »Doch es gibt noch eine weitere Variante. Bevor Ihre Mutter Ihren Vater kennengelernt hat, könnte sie ungewollt schwanger geworden sein und das Kind zur Adoption freigegeben haben.«

»Ich rede mit meiner Tante in Chicago. Sie und meine Mutter hatten eine sehr enge Beziehung.«

»Sehr gut. Und ich werde umgehend mit meinen Eltern sprechen.« Ronjo richtete sich auf. »Mr. Starnberg, dürfen wir Sie kommende Woche wieder anrufen?«

»Selbstverständlich. Und nennt mich bitte George, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass wir kein bisschen verwandt sind. Also bis bald.«

Die zwei Gesichter verschwanden vom Bildschirm.

 

 

Der Jobwechsel

 

Im ersten Licht der Morgendämmerung zog Debria Handsen die Aluminiumtür ihres Apartments leise hinter sich zu. Während sie die Treppe hinuntereilte, huschte ein vorfreudiges Lächeln über ihre Lippen. Sie überquerte die schmale Gasse vor dem nagelneuen Wohnkomplex. Auf dem Weg zu den Parkplätzen begegnete sie einem übergewichtigen Mann, der seinen Hund spazieren führte und grüßend die Hand hob. Die riesige Dogge zerrte an der Leine und versuchte Debria zu beschnuppern, doch ihrem Besitzer gelang es, sie zurückzuhalten.

In ihrem Mietwagen drückte sie den Anlasser und lenkte das Auto rückwärts aus dem Carport. Der Hund fing laut zu bellen an. Durchs Seitenfenster sah sie, wie der Mann weiter an der Leine zerrte. Erst als Debria in die Hauptstraße einbog, verhallte das Kläffen hinter ihr.

Vor ein paar Wochen hatte sie ein Headhunter angerufen. Er ließ partout nicht locker und nach drei Gesprächen konnte er sie überzeugen, ihren Posten zu kündigen, um in ein Projekt einzusteigen, das nach seinem Dafürhalten zu den ambitioniertesten des 21. Jahrhunderts zählte. Zunächst war sie misstrauisch gewesen, aber als er ihr das zukünftige Gehalt nannte, konnte sie nicht widerstehen. Damit würde ihr Studienkredit viel schneller abbezahlt sein als mit einer Stelle als Junior-Professorin. Wann immer sie an diese Aussicht dachte, fiel ihr eine große Last vom Herzen. Sie würde endlich ihre Zukunft planen können, ohne dabei den bleiernen Klotz von Schulden am Bein zu haben.

Debria beschleunigte. Im Rückspiegel sah sie das angerostete Ortsschild ihres neuen Wohnorts. Population 399 stand unter dem Namen. Mein Zuzug macht dann wohl die 400 voll, dachte sie amüsiert. Der Ort verfügte sogar über einen Frisör, bei dem sie sich spontan die Haare hatte schneiden lassen, um sich auf ihren beruflichen und finanziellen Neuanfang einzustimmen.

Mit einer Hand fuhr sie durch ihren rotblonden Haarschopf, atmete tief durch und genoss den Moment der Freiheit. Ein schnurgerader Highway, umgeben von endlosem Brachland, erstreckte sich bis zum Horizont. Ein paar Quellwolken zogen über den Himmel und die aufgehende Sonne verlieh der Landschaft einen rötlich-braunen Schimmer. Bald war sie in ihrem Auto auf der Straße allein. Die Genugtuung, fernab vom alltäglichen Irrsinn des Hochschulbetriebs zu sein, stimmte Debria fröhlich, obwohl sie natürlich damit rechnete, dass es auch an ihrer neuen Arbeitsstätte schnell stressig werden würde. Niemand bezahlte ein solches Gehalt, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu verlangen.

Sie musste wieder an die Worte des Headhunters denken: das ehrgeizigste Projekt des Jahrhunderts. Gewiss war das maßlos übertrieben, doch sie brauchte den neuen Job. Von der schlechten Bezahlung abgesehen, hatte sich an der Uni seit längerer Zeit eine Routine eingeschlichen, die sie am Tag müde machte und nachts oft nicht schlafen ließ.

Tatsächlich wusste sie wenig über ihre neue Stelle. Der Personalchef, der ihr den Arbeitsvertrag zugeschickt hatte, bat um Geduld, was die Details betraf. Ihre Expertise wurde gebraucht, soviel war klar. Das Projekt beinhaltete die Entwicklung von Software, die menschliche Sprache effizient und zuverlässig verarbeiten konnte. Es galt strengste Geheimhaltung und ihr Arbeitsplatz befand sich in einem militärischen Sperrgebiet. Immerhin hatte er durchblicken lassen, dass es um die Erforschung des Weltraums ging. Als Debria daraufhin fragte, ob sie Alien-Botschaften entschlüsseln sollte, verwies der Headhunter zum wiederholten Mal auf die strikten Geheimhaltungsklauseln, an die er gebunden sei. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.

Neben dem Traumgehalt hatte sie auch ihre Neugier dazu getrieben, den Vertrag zu unterschreiben. Immerhin rückte der Personalchef danach mit einigen Informationshäppchen heraus. Das Projekt drehte sich unter anderem um Quantencomputer, bahnbrechende Biotechnologien und ultrawiderstandsfähige Nanomaterialien. Das alles klang zu verlockend, um Nein zu sagen und bestätigte Debria in ihrer Entscheidung.

Ihre Kündigung hatte allerdings noch weitere Gründe gehabt. Einer davon waren die kalten Winter an ihrem früheren Wohnort. Es wäre ein Leichtes gewesen, wegen des Wetters an eine Universität im Süden der USA zu wechseln. Mit ihren dreiunddreißig Jahren hatte sie bereits ein beträchtliches Netzwerk in der akademischen Welt geknüpft. Auf Konferenzen war sie stets eine begehrte Referentin. Namhafte Unternehmen luden sie zu Gastvorträgen ein und renommierte Zeitschriften publizierten ihre Artikel. Ihre Karriere befand sich klar auf einem aufsteigenden Ast.

Zum Unibetrieb gehörte jedoch der lästige Papierkrieg um Forschungsmittel. Debria war ehrgeizig, wenn es um ihre computerlinguistischen Modelle ging, und um diese angemessen umzusetzen, brauchte sie millionenschwere Investitionen. Die Konkurrenz um die Forschungsgelder war hart. Anstatt ihre Sprachsoftware fortzuentwickeln und zu perfektionieren hatte sie in den letzten Jahren immer mehr Zeit mit Kosten-Nutzen-Analysen verbracht. Wochenlang waren Anträge auszufüllen und wenn der Bewilligungsausschuss einen Antrag ablehnte, ging der Zirkus sofort wieder von vorne los. Ihr künftiges Projekt mit dem sonderbaren Namen Perennial plagten dagegen keine Geldsorgen, das hatte der Personalchef wiederholt beteuert.

Einen Ortswechsel wünschte sie sich noch aus zwei ganz persönlichen Gründen. Zum einen war die Beziehung mit ihrem langjährigen Partner Oliver in die Brüche gegangen, als sie erfahren hatte, dass er sie mit einer Erstsemesterstudentin aus Namibia betrog. Zum anderen wollte sie näher bei ihrer Mutter sein, seit ihr Vater bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war. Ihre Mutter litt sehr darunter, auf sich gestellt in Kalifornien zu wohnen. Bei jedem Anruf bekniete sie ihre Tochter, sie doch öfters zu besuchen. Jetzt konnte sie ihrer Mutter diesen Wunsch leichter erfüllen und wurde gleichzeitig ihre finanziellen Sorgen los.

Das Piepsen ihres Tempolimit-Watchdogs riss Debria aus ihren Gedanken. Kopfschüttelnd fragte sie sich, wozu man hier ein Tempolimit brauchte. Sie nahm ihren Fuß vom Gaspedal und warf einen Blick in den Rückspiegel. Eine leere Schnellstraße, sonst nichts.

Sie schaltete das Radio ein und blieb bei einem Sender hängen, der melodische Softrock-Oldies spielte. Der Reiseassistent zeigte eine Distanz von fünfzig Kilometern bis zum Bestimmungsort an. Die Außentemperatur betrug bereits zu dieser frühen Stunde stolze 32° Celsius. Die Eiseskälte des Nordens lag weit hinter ihr. Perfekt, befand sie. Der Jobwechsel war die richtige Entscheidung.

Dann zirpte ihr Kommunikator und das Radio reduzierte seine Lautstärke.

»Nathan McDaire«, meldete sich eine raue Männerstimme. »Ich bin der Chefassistent von Rick Kanchana. Hatten Sie eine gute Fahrt bisher?«

»Alles bestens«, antwortete Debria. »Viel Verkehr scheint es in dieser Gegend nicht zu geben.« Sie studierte ihr Armaturenbrett. »In einer halben Stunde müsste ich da sein.«

Auf dem Display neben dem Tachometer erschien das Bild eines jungen Mannes. Auffällige Koteletten umrahmten sein schmales Gesicht und gaben ihm einen markanten Eindruck. »Ich hole Sie am Eingang B3 ab.«

Mit einem sanften Gong verschwand das Bild wieder. Ein Freund langer Worte scheint der Assistent nicht zu sein, dachte sie. Zumindest wusste sie nun, wie er aussah.

Kurz darauf gelangte sie an eine Kreuzung, bog links ab und merkte, dass der Verkehr allmählich zunahm. Sie passierte ein monumentales Solarthermie-Kraftwerk. Angeblich eines von vielen Hundert in Nevada. Später wand sich die Landstraße durch karges hügeliges Gelände. Schroffe Felsen, in deren Schatten rotblättrige Sträucher wuchsen, säumten die Straße. Die Außentemperatur stieg weiter an. Über dem dunklen Asphalt flimmerte die sengend heiße Luft.

Auf einer Anhöhe erblickte Debria schließlich ein großflächig umzäuntes Areal, aus dem Antennentürme und riesige Satellitenschüsseln herausragten. Bodenschwellen zwangen sie, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Links und rechts, soweit das Auge reichte, war das Sperrgebiet mit einem hohen doppelreihigen Maschendrahtzaun gesichert. Stacheldrahtrollen glitzerten im Sonnenlicht. Über ihr Auto surrte eine Beobachtungsdrohne hinweg.

Nachdem sie an zwei Militärkontrollen von Soldaten durchgewunken wurde, näherte sich Debria einem weiteren gläsernen Wachhaus. Die Ampel stand auf Rot und sie ließ das Seitenfenster heruntergleiten. Zwei Frauen in orangefarbenen Signalwesten traten heran, verifizierten Debrias Identität anhand ihrer biometrischen Daten und beschrieben ihr den Weg. Die Ampel schaltete auf Grün.

Im Sperrgebiet funktionierte der Reiseassistent nicht, doch mit der Beschilderung fand sie rasch die richtigen Abzweigungen. Hier begegneten ihr keine weiteren Militärfahrzeuge mehr. Als sie an einem weitläufigen Parkplatz entlangfuhr, erspähte sie McDaire, der mit einer hektischen Geste auf einen Stellplatz deutete.

Nach einer kurzen Begrüßung schnappte sie sich ihre Aktentasche und verriegelte den Mietwagen. Die Wüstensonne brannte sengend heiß herab. McDaire klagte über die Hitze hier oben und hielt zielstrebig auf ein langgestrecktes hellgelbes Gebäude zu. Debria wusste, dass sich ihre neue Arbeitsstelle unter der Erde befand. Ein ausgeklügeltes Spiegelsystem brachte Tageslicht in die meisten unterirdischen Räume. Laut Personalchef imitierten zusätzliche Lampen an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht nur Sonnenstrahlung, sondern berücksichtigten dabei auch die Tageszeit. Ihre Gesundheit würde also keinen Schaden nehmen.

Während sie einen breiten Gang entlangschritten, reichte ihr McDaire eine laminierte Zugangskarte, die zusätzlich zu biometrischen Kontrollen verwendet wurde. Sein eigener Ausweis war vorne am Gürtel befestigt und Debria tat es ihm gleich, als er sagte, dass sie die Karte jederzeit und überall im Sperrgebiet gut sichtbar zu tragen habe. Danach schwieg der Mann.

Nachdem sie eine sich automatisch öffnende und schließende Glastür durchschritten hatten, sank die Temperatur merklich. Der fensterlose Korridor verlief nun leicht abschüssig. Sonnenlicht drang nur noch durch schmale Deckenschlitze herein. Am hinteren Ende hockte ein bulliger Wachmann neben einer Drehtür. Er grinste, als Debria ihm zunickte.

Sie trat in die Tür. Eine handgroße Leuchte schaltete von Rot auf Grün und die drei Türflügel begannen, brummend zu rotieren. McDaire folgte dicht hinter ihr.

In zügigem Tempo setzten sie den Weg ins Innere des Gebäudekomplexes fort. Ein niedriger Durchgang führte sie zu einem Aufzug, dessen Tür offenstand.

»Wir nennen unsere Einrichtung den Bunker«, erklärte McDaire. »Gefährlich wird es hier unten aber nicht. Sämtliche Waffentests finden woanders statt.«

Debria wurde dennoch mulmig zumute, als sich die Aufzugstür lautlos schloss. Neben dem Panel prangte das Projektlogo, ein weißes geschwungenes P auf einem quadratischen violetten Hintergrund. Unter dem Halbkreis des Buchstabens war in kleinerer Schrift zu lesen: far beyond borders. Weit jenseits aller Grenzen. Sie rätselte über die genaue Bedeutung des Mottos. Welche Grenzen wollte das Projekt denn überschreiten? Die Grenzen des Weltalls?

Derweil ging es rasant nach unten und sie spürte Druck in den Ohren. Die Anzeige auf dem Panel zählte in Fünferschritten abwärts, bis sie bei minus Achtzig stehenblieb. Mit einem sanften Gong sprang die Tür auf und gab den Blick auf einen hell erleuchteten Korridor frei.

Debria staunte nicht schlecht. Vor ihr lag ein breiter Gang mit holzgetäfelten Wänden, der von warmem Licht durchflutet wurde. McDaire zeigte an die Decke. »Alles echtes Sonnenlicht.«

Wieder legten sie eine beachtliche Strecke zurück. Der Bunker musste riesige Ausmaße haben und Debria verlor bald die Orientierung, obwohl an den Kreuzungen grüne Plastikschilder mit Kürzeln und Pfeilen angebracht waren. In regelmäßigen Abständen unterstrichen bunte Keramiktöpfe mit großblättrigen Grünpflanzen, die einen saftigen Pfirsichgeruch verströmten, die stilvolle Atmosphäre. Die Wände zierten Aquarelle und Farbfotografien in Posterformat. Debria hatte an der Graduate School einen Astronomiekurs belegt und erkannte die Große Magellansche Wolke und die berühmte Strudelgalaxie M51. Weltraumforschung schien bei Perennial eine zentrale Rolle zu spielen.

Nach der Passage eines weiteren Kontrollpunkts sah sie vor einer Bürotür zwei Männer stehen, die bei ihrem Anblick ihre Unterhaltung abrupt beendeten. Debria strich ihre hellgraue Kostümjacke glatt, bevor McDaire die Vorstellung übernahm. Sie schüttelte die Hände des Projektleiters Rick Kanchana und Alexander Jords, dem Chefinformatiker des Projekts. Nach der Unterzeichnung des Vertrags hatte sie kurz mit Kanchana im Videomodus telefoniert. Jetzt, wo sie ihm gegenübertrat, fühlte sie sich unwohl, da sie einen ganzen Kopf größer war und auf ihn hinunterblicken musste. Vor ihr stand der Mann, der das ehrgeizige Vorhaben leitete.

Mit ernster Miene hieß er sie willkommen und überließ sie dann der Obhut von Alexander Jord, bevor er mit McDaire in seinem Büro verschwand.

Alexander Jord wandte sich in die Richtung, aus der Debria gekommen war. »Wir gehen in einen unserer kleineren Besprechungsräume«, sagte er mit einem entspannten Lächeln.

Sie mochte den Afroamerikaner auf Anhieb. Er war mittelgroß und schlank, mit einem spitzen Gesicht und feinen Lachfalten um die Augen. Sein Alter schätzte sie auf Anfang vierzig. Er trug ein kurzärmliges, von einem Kreismuster bedecktes Hemd, an dessen Brusttasche seine grüne Zugangskarte baumelte. Auf seinem Kopf fanden sich nur noch wenige Haare, dafür sprossen umso mehr auf seinen muskulösen Unterarmen.

»Ziemliches Labyrinth hier unten«, meinte Debria, bestrebt Schritt zu halten.

»Ja, anfangs kommt einem das so vor.« An der nächsten Kreuzung bogen sie rechts ab. »Wir nennen uns übrigens im Projekt alle mit Vornamen. Ich bin also Alexander.«

»Schön. An meiner Uni haben mich auch alle Debria genannt.«

»Eine Ausnahme gibt es aber. Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum unser Chef unbedingt bei den Nachnamen bleiben will. Nur unsere Chefpsychologin darf ihn Rick nennen.«

»Ich werde darauf achten«, versprach Debria.

Kurz darauf betraten sie das Besprechungszimmer. In seiner Mitte stand ein auf Hochglanz polierter Tisch umgeben von vier Designerstühlen. Wieder war Debria von der edlen Atmosphäre beeindruckt. Allein die Möbel und die hochrankenden exotischen Zimmerpflanzen mussten ein Vermögen gekostet haben. Alexander bedeutete ihr, Platz zu nehmen und fragte, was sie gerne trinken würde.

»Kaffee wäre nett.«

»Kommt sofort.« Er steuerte auf einen Wandautomaten zu und schob eine mit dem Projektlogo bedruckte Porzellantasse hinein. »Eine bestimmte Sorte oder Geschmacksrichtung?«

»Ich lass mich überraschen.«

Alexander drückte mehrere Tasten und wenig später kam er mit zwei dampfenden Tassen und einem Körbchen voller Sahne-, Zucker- und Süßstoffpäckchen zurück.

Wohlig sog Debria den Duft ihres Getränks ein. »Mein Lieblingsgeschmack«, sagte sie lachend.

»Unsere Maschinen sind die reinsten Hellseher.«

Sie rührte Süßstoff und Sahne in den Kaffee.

»Alles was ich dir jetzt erzähle«, begann Alexander, »unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe, die es bei uns im Projekt gibt.« Er mühte sich, ernst zu klingen, doch Debria erkannte sofort, dass ihm dies als Frohnatur schwerfiel.

»Ich habe meinen Arbeitsvertrag gelesen«, beruhigte sie ihn und sah, wie das spitzbübische Lächeln schnell zurückkehrte. Ihn über den Rand der Tasse weiter betrachtend, nahm sie einen Schluck. Der Kaffee schmeckte köstlich.

»Daran zweifle ich nicht, Debria. Dennoch wird es nicht leicht sein, einiges von dem, was hier unten vor sich geht, zu verdauen. Bitte vergiss auch dann die Vertragsklauseln nicht. Es darf nichts, wirklich gar nichts an die Öffentlichkeit gelangen. Was du hier erfährst, darf nicht einmal die Grüne Zone verlassen.«

Debria presste die Lippen aufeinander und bewegte Daumen und Zeigefinger von links nach rechts an ihrem Mund entlang.

»Was das ist, erläutere ich dir gleich«, ergänzte Alexander. »Dein Reißverschluss muss zugezogen bleiben.«

Wortlos nickend versuchte sie, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren. Reichte es nicht, dass sie all die strikten Klauseln unterschrieben hatte?

»Gut, fangen wir mit der Historie des Perennialprojekts an.« Alexander ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. »Die damalige Präsidentin Jennifer Grandler hob es vor dreißig Jahren aus der Taufe. Als unsere Astronomen ständig auf neue erdähnliche Himmelskörper stießen, beauftragte sie ein Team von Wissenschaftlern, zu evaluieren, welchen Aufwand es erfordern würde, einen dieser Exoplaneten zu besiedeln.«

Konzentriert hörte Debria zu. Exoplaneten waren Planeten, die um andere Sterne kreisten. Manchmal wurden sie auch extrasolare Planeten genannt, da sie nicht zum Sonnensystem gehörten. Sie wusste, dass Himmelsforscher die ersten von ihnen bereits Ende des 20. Jahrhunderts entdeckt hatten. Mittlerweile waren Millionen davon klassifiziert und Nachrichtensender berichteten gelegentlich über spektakuläre Funde. Beim Großteil handelte es sich um Gasplaneten, die relativ einfach aufgespürt werden konnten. Anders sah es bei den deutlich kleineren erdähnlichen Gesteinsplaneten aus. Debria hatte kürzlich dazu eine Reportage gesehen. Dass sich Staatsoberhäupter für die Sache interessierten, verblüffte sie allerdings. Als Grandler es gerade als zweite Frau ins höchste Amt des Landes geschafft hatte, war Debria noch im Kindergarten gewesen.

»Damals gab es eine zweite Gruppe von Forschern im Dienst der Präsidentin«, fuhr Alexander fort, »die sich intensiv mit fundamentalen Bedrohungsszenarien wie Pandemien, Kometeneinschlägen, Supervulkanen und Bioterrorismus befasst hat. Für die meisten Zukunftsforscher steht schon lange fest, dass die Menschheit die Erde verlassen muss, wenn sie dauerhaft fortbestehen will.« Er ließ seine Worte einen Moment lang wirken. »Stephen Hawking hat einmal Folgendes gesagt: Wenn wir die einzigen intelligenten Wesen der Galaxie sind, dann müssen wir unser Überleben sichern. Ich denke, dass die Zukunft der menschlichen Rasse langfristig im Weltraum liegt. Bemerkenswert, findest du nicht?«

Debria nippte an ihrem Kaffee. »Und wir scheinen Hawkings Rat ja zu beherzigen. Die Mond- und Marskolonien entwickeln sich großartig und die Suche nach Rohstoffen im Asteroidengürtel kommt gut voran. Soviel ich weiß, sind auch auf einem der Jupitermonde Kolonien geplant.«

»Nur wie lange würden diese durchhalten?«

»Was meinst du damit?«

»Na, wenn es auf der Erde keine Menschen mehr gäbe.«

»So schnell sterben wir doch nicht aus«, protestierte Debria, verblüfft über die Lässigkeit, mit der Alexander ein solches Szenario in den Raum stellte.

»Aber es ist längerfristig vorstellbar«, sagte er. »Die Geschichte des Lebens auf unserem Planeten ist in allererster Linie eine Geschichte des Aussterbens. Das Artensterben ist hier der Normalfall und auch wir sind nicht davor geschützt.«

»Das leugnet niemand, doch die Idee, die Galaxie zu besiedeln, um das zu verhindern, halte ich für ziemlich weit hergeholt.«

»Das ist sie keinesfalls. Wir sollten unser Sonnensystem als Spielwiese betrachten. Wir nutzen es, um für Ziele zu üben, die zwar deutlich weiter entfernt sind, dafür aber echte langfristige Überlebenschancen bieten. Von der Erde abgesehen haben wir im Sonnensystem nur lebensfeindliche Planeten und Monde, wo Kolonien nur mit enormem Aufwand bestehen können. Jenseits unseres Systems befinden sich jedoch Tausende neuer Erden inmitten von habitablen Zonen, wo es flüssiges Wasser gibt. Auf solchen Planeten könnten große Gruppen mit erheblich weniger Aufwand dauerhaft wohnen.«

»Aber was ist mit dem Aufwand, den es benötigt, um dorthin zu gelangen?«, wandte Debria ein. »Das Ganze wäre sehr viel aufwändiger als der Betrieb unserer Marskolonien.«

Alexanders Augenbrauen hoben sich. »Das ist richtig, doch unser Projekt hat eine vergleichsweise günstige Lösung gefunden.«

»Menschen, die zu fernen Sternen reisen?«, fragte Debria mit sich überschlagenden Gedanken. »Darum geht es in diesem Projekt?«

»Ich gebe zu, es hört sich zunächst fantastisch an und auch hierfür habe ich ein Zitat parat: Schwerer als Luft? Solche Flugmaschinen sind unmöglich. Der Ausspruch stammt von Lord Kelvin, einem berühmten britischen Physiker. Und damals ging es nicht um Mondraketen, sondern um Flugzeuge. Tja, die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt und wir entdecken nach wie vor explosionsartig neues Wissen.«

Debria starrte ihn an. »Ihr wollt ernsthaft zu den Sternen jenseits des Sonnensystems fliegen?«

»Erst einmal nur zu einem.«

»Das sprengt alle Dimensionen.«

»Da gebe ich dir recht.«

»Weit jenseits aller Grenzen ...«

»... lautet unser Motto.«

»Hmm.«

»Hmm«, echote Alexander.

»Das ist tatsächlich machbar? Ich dachte, wir müssten darauf noch mindestens ein Jahrhundert warten.«

»Wir werden dir alles ausführlich erklären.«

»Und wozu braucht ihr Linguisten?« Trotz ihrer Skepsis spürte Debria, wie ihre Neugierde nach dem ersten Schock wieder aufkeimte. »Gibt es eine fremde Intelligenz dort draußen?«

»Nun«, entgegnete Alexander und verzog amüsiert den Mund, »auf sprechende Aliens sind wir bisher nicht gestoßen. Unsere Astrobiologen gehen davon aus, dass es auf etlichen Planeten, die für uns in Frage kommen, primitive Lebensformen gibt. Auch das werden dir meine Arbeitskollegen erklären.«

»Okay, ihr habt also erdähnliche Planeten aufgespürt, die vielen Menschen ein dauerhaft neues Zuhause bieten könnten?«

»Genau.«

»Und wie kommen wir dahin? Baut ihr Schiffe, die mit Überlichtgeschwindigkeit fliegen?«

Alexander zeigte mit einem breiten Lachen seine perlweißen Zähne. »Das wäre genial. Ich muss dich aber enttäuschen, Debria. Obwohl hier erstklassige Wissenschaftler und Ingenieure arbeiten, ist es bisher niemandem geglückt, den guten alten Einstein zu überlisten. Unser bestes Stück erreicht 600 Kilometer pro Sekunde.«

Sie legte den Kopf argwöhnisch zur Seite. »Nicht sonderlich schnell für ein Sternenschiff.«

Alexander schwieg kurz, bevor er fragte: »Mit welchem Tempo warst du auf dem Weg hierher unterwegs?«

»Tja, ich habe mich brav an die Geschwindigkeitsbegrenzung von Nevada gehalten.«

»Sprich 120. Dabei reden wir aber von zurückgelegten Kilometern pro Stunde«, sagte der Informatiker mit einem süffisanten Unterton. »Bei unserem Schiff handelt es sich um Kilometer pro Sekunde, also über zwei Millionen Kilometer pro Stunde, was immerhin 0,2 Prozent der Lichtgeschwindigkeit entspricht. Wir könnten in zwölf Minuten auf dem Mond und in einem guten Tag auf dem Mars sein.«

»Bei interstellaren Flügen geht es aber um ganz andere Entfernungen.«

»Schon klar, doch leider lassen sich beliebig schnelle Raumfahrzeuge nicht so einfach bauen.«

»Wieso nicht?«

»Das liegt zunächst am Energieaufwand fürs Beschleunigen. Wir nutzen quantendynamische Plasmatriebwerke, die von Helium-3-Fusionsreaktoren betrieben werden. Deren Treibstoff erhöht das Gesamtgewicht und Raumsonden, die ihren Treibstoff auf dem Weg einsammeln, sind technisch leider noch nicht möglich. Der Bremsvorgang verschlingt ebenfalls Unmengen an Energie und deshalb sind mehr als 600 km/s aktuell nicht drin. Eine Verdopplung oder Verzehnfachung der Höchstgeschwindigkeit ändert wenig an der Grundproblematik.«

»Die Reisezeit ist um einiges länger als ein Menschenleben«, sagte Debria mit einem zustimmenden Nicken. »Erreichen erst die Ururenkel der Start-Crew das Ziel?«

»Fünf Generationen sind bei weitem nicht genug, liebe Kollegin. Unser Projekt ist schnell von der Entwicklung eines Mehrgenerationenschiffs abgerückt, weil der Verlauf einer derartigen Mission schwer vorhersehbar wäre – und Vorhersehbarkeit ist unsere oberste Maxime.«

Plötzlich kam Debria ein Gedanke. »Ihr friert die Raumfahrer ein!«

»Eine naheliegende Option«, sagte Alexander anerkennend. »Leider ist unsere Kälteschlaf-Technologie noch nicht so weit. Die Leiterin unserer Biotechnologieabteilung glaubt, dass Menschen frühestens in ein paar Jahrzehnten erfolgreich aufgetaut werden können.«

»Und was ist die Alternative?«

»Wir frieren Embryonen ein.«

Debria betrachtete den Informatiker mit gehobenen Augenbrauen. »Ihr schickt Embryonen zu den Sternen?«

»Insgesamt 5000 Stück, denn die Kolonie braucht genetische Vielfalt, um –«

»Aber dann müsstet ihr ja auch gefrorene Frauen mitnehmen.«

»Wir haben künstliche Gebärmaschinen entwickelt. Daran wird schon lange geforscht. Inzwischen funktionieren sie tadellos.«

Debria wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Das Bild eines menschlichen Fötus tauchte vor ihrem inneren Auge auf und sie stellte sich vor, wie dieser in einer Maschine herumschwamm und langsam heranwuchs. Sie hatte schon vor einiger Zeit von dieser Idee gehört, aber dass die Praxis zuverlässig funktionierte, war ihr neu. Viele Menschen würden den Ansatz sicherlich ablehnen.

Alexander rückte seinen Stuhl näher an den Konferenztisch. »Du findest die Idee abstoßend. Das ist bei den meisten neuen Mitarbeitern so. Radikale Innovationen stoßen zuerst immer auf Ablehnung, egal ob es Webstühle, Autos oder Anrufbeantworter sind. Auch bei den ersten Reagenzglas-Babys gab es einen Riesenaufschrei. Später gewöhnten sich die Leute daran, wie sie sich an fast alles gewöhnen. Nun schätzen viele Paare eine solche Behandlung, wenn sie sich dadurch ihren Kinderwunsch erfüllen.«

»Wenigstens braucht man da Frauen zum Kinderkriegen. Die sind bei eurem Ansatz ja überflüssig.«

»Wurden Männer überflüssig«, fragte Alexander, »als Frauen anfingen, Samenbanken zu besuchen?« Als Debria nicht antwortete, fuhr er fort: »Das wurden sie nicht. Beide Geschlechter werden gebraucht. Bei unseren Gebärmaschinen handhaben wir es genauso. Frauen liefern die Eizellen und Männer die Spermien. Die Sache ist alles andere als romantisch, dennoch ist die künstliche Befruchtung nicht zum Regelfall geworden und die meisten Babys entstehen nach wie vor auf die klassische Art.« Der Computerexperte sah sie mit einem Grinsen an. »Macht ja auch mehr Spaß.«

»Und wer kümmert sich um die Babys nach ihrer Geburt?«

»Jetzt kommen wir zum Grund, warum wir dich eingestellt haben. Diese Frage ist der entscheidende Knackpunkt. Die Antwort lautet: Wir haben Androiden entwickelt, die die Kinder großziehen werden.«

Debria lehnte sich zurück und atmete tief ein. Embryonenschiffe und künstliche Intelligenz? Darum ging es hier? Und sie war von Aliens ausgegangen. Schlagartig erkannte sie, warum das Projekt als ehrgeizigstes Unterfangen aller Zeiten galt. Aber weswegen die Geheimhaltung? Die Androidenentwicklung beschäftigte Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten.

Debria nahm wieder eine aufrechte Haltung ein. »Ihr baut also ein Raumschiff, auf dem Androiden in ferner Zukunft Kinder versorgen sollen?«

»So ist es.«

»Auch wenn ich dieses Konzept prinzipiell plausibel finde, glaube ich nicht, dass eure Mission gelingen wird. Es gibt einfach zu viele Gründe für ein Scheitern.«

Alexander richtete sich auf und griff nach seiner Tasse. »Lass uns nach dem Mittagessen weiterreden. Habe ich schon erwähnt, dass wir hier ausschließlich erstklassige Köche beschäftigen? Doch vorher muss ich noch etwas erledigen.«

Bevor Debria etwas sagen konnte, war er schwungvoll an ihr vorbeigegangen. Sie folgte ihm leicht verzögert mit hämmerndem Herz und schwirrendem Kopf. Diese Mission kann niemals gut gehen, dachte sie. Und warum all die Geheimhaltung? Diese Frage ging ihr erneut durch den Kopf.

 

 

Der Schmerz

 

Julara fühlte sich elend und kraftlos, kein Wunder nach allem, was in letzter Zeit passiert war. Seit Stunden lag sie schon auf ihrem Bett, starrte auf die Lüftungsschlitze an der Decke und versuchte, ihre finsteren Gedanken zu vertreiben. Die Offenbarung an ihrem Geburtstag hatte das Familienleben, wie sie es gewohnt waren, unwiderruflich zerstört.

Jetzt, am späten Dienstagvormittag, saßen sie normalerweise im Klassenzimmer, doch Andrew und Ellora ließen den Unterricht seit fast einer Woche ausfallen. Erst morgen sollte die Schule wieder beginnen. Julara sehnte sich inzwischen danach, weil sie hoffte, dass die Schule sie ablenken und eine gewisse Normalität in ihr Leben zurückbringen würde.

Was sie und die anderen momentan durchlebten, kam ihr nicht bloß unwirklich, sondern geradezu bedrohlich vor. Alle empfanden es so, selbst Gilvan, obwohl er es nicht zugeben wollte. Sie und Sabena hatten nach der geplatzten Geburtstagsfeier noch einmal miteinander gesprochen. Ihre Schwester hatte Julara sogar den Arm gekniffen, um ihr zu beweisen, dass sie in keinem bösen Traum feststeckte. Doch auch ohne Sabenas Hilfe hatte Julara schon vorher tief in ihrem Inneren gespürt: Es ist alles bittere Realität. Unablässig musste sie daran denken, wie ihr sogenannter Vater seinen Brustkorb für sie geöffnet hatte. Was für ein verstörender Anblick es gewesen war: Schläuche, Kabel, Platinen, Chips, ja sogar eine Heizung, die seine Körpertemperatur simulierte. Der Gedanke daran trieb sie beinahe in den Wahnsinn. All die Jahre hatte keiner etwas gemerkt.

Jularas leibliche Eltern waren seit Ewigkeiten tot, gestorben und begraben auf einem 84 Lichtjahre entfernten Planeten, zu dem sie niemals zurückkehren konnten. Selbst wenn sich Acantarius als unbewohnbar herausstellen würde, musste ihr Schiff rasch zu einem neuen Planeten aufbrechen. Welch trostlose Aussicht, dachte Julara. Am Ende dieser Reise würden Gilvan, Sabena, Ronjo und sie längst tot sein und in Särgen ziellos im Weltall umhertreiben, um vielleicht irgendwann von einem Schwarzen Loch verschluckt zu werden. Diese Vorstellung ließ sie frösteln. Die Androiden hingegen würden fortbestehen, denn ihre Systeme ließen sich herunterfahren und konservieren. Durch ihre Adern floss kein Blut, sondern Strom und lange Raumflüge stellten sie vor keine allzu großen Probleme. Und gefrorene Embryonen gab es genug an Bord.

Jularas trübe Gedanken kreisten auch um ihre Geschwister, von denen sie nun wusste, dass sie nicht mit ihr verwandt waren. Besonders bei Gilvan bereitete es ihr Mühe, sich ihn nicht als ihren Bruder vorzustellen. Seit sie denken konnte, hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Er war jederzeit für sie da gewesen, wenn sie ihn brauchte. Ein richtiger Bruder eben. Im Alter von elf Jahren hatte sich Julara einmal beim Sport so sehr am Fuß verletzt, dass sie drei Tage still im Bett liegen musste. Damals hatte Gilvan pausenlos an ihrem Bett gesessen, um mit ihr rumzualbern und sie abzulenken.

Julara durfte ihre biologischen Eltern nun kennenlernen, ja sogar mit ihnen interagieren, wenn sie wollte. Das Schiff verfügte über einen hochentwickelten VR-Raum, wo sie schon viele Schulstunden verbracht hatten. Julara wollte Ärztin werden, daher übte sie virtuell, starke Blutungen zu stillen und Knochenbrüche zu schienen. Ihre Geschwister und sie nutzten das System aber auch in ihrer Freizeit, um Bergwandern, Fahrradfahren oder Joggen zu gehen. Es gab sogar Reiseführer in der Online-Bibliothek, die ihnen die verschiedensten Orte auf der Erde zeigten. Julara war gerne im VR-Raum, doch es widerstrebte ihr, ihren leiblichen Eltern virtuell zu begegnen. Vermutlich lag es daran, dass es ihr gegenwärtig schwerfiel, sich überhaupt zu irgendetwas aufzuraffen. Selbst kleinste Aktivitäten, egal ob Zähneputzen oder Haarebürsten, fand sie ermüdend. Sie wusste, dass dies Anzeichen für eine Depression waren, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhielten. Julara sehnte sich danach, allein zu sein, denn die Gespräche, die ihre künstlichen Eltern so eminent wichtig fanden, arteten im Nu in hitzige Debatten aus. Heute beim Frühstück war genau das wieder passiert.

Die beiden hatten sich mit Adoptiveltern verglichen, die von ihren Kindern geliebt wurden, obwohl keine Blutsverwandtschaft vorlag. Weshalb sollte es auf ihrem Raumschiff anders sein? Julara nannte den Vergleich lächerlich und fragte, was in anderen Familien wohl los wäre, wenn die Kinder herausbekämen, dass Brennstoffzellen statt Kartoffeln ihre geliebten Eltern antrieben.

Andrew hatte es dann, wie üblich, mit seiner rationalen Schiene versucht. Eine Reise, wie wir sie unternehmen, ist nur mithilfe von Androiden möglich, und er erinnerte sie an das Privileg, für dieses Vorhaben ausgewählt worden zu sein. Nicht wenige Erdbewohner hatten davon geträumt, eines Tages auf einem Exoplaneten zu landen. Sie würden die ersten vier Menschen sein, die dieses Ziel erreichten. Das war etwas ganz Besonderes, das müsse Julara doch einsehen. Sie gehörte zur Gründerpopulation einer neuen Zivilisation. Die nachfolgenden Generationen würden sie sicher als Heldin verehren und sie alle seien daher in einer beneidenswerten Situation, argumentierte ihr künstlicher Vater.

Die zukünftige Heldin sah das völlig anders und in ihr brodelte es unaufhörlich. Das ganze Geschwafel von Heldentum und Pioniergeist machte Julara nur noch wütender. Obendrein wurde sie das flaue Gefühl nicht los, dass es weitere Lügen gab, von denen sie noch nichts wusste. Das Vertrauensverhältnis zu ihren selbsternannten Adoptiveltern war jedenfalls grundlegend erschüttert.

Würden sich die Wogen wieder glätten? Heilte die Zeit tatsächlich alle Wunden, wie die beiden behaupteten? Julara hatte da ihre Zweifel. Momentan konnte sie es sich jedenfalls nicht vorstellen.

Ellora beharrte weiterhin darauf, es sei zu riskant gewesen, sie früher mit der Wahrheit zu konfrontieren. Sie wiederholte die Gründe, die sie dazu bewogen hatten, abzuwarten, bis sie alt genug waren. Doch stimmte das wirklich? Ronjo war in der Schiffsdatenbank auf Dokumente gestoßen, die belegten, dass die Mehrheit der Elternpaare ihre Adoptivkinder bereits vor dem Grundschulalter einweihten. Ellora reagierte überrascht auf den Einwand und verifizierte dann offensichtlich blitzschnell den Datenbankinhalt, bevor sie darauf hinwies, dass es bei beiden Varianten Vor- und Nachteile gäbe. Auch auf der Erde hätten viele Eltern entschieden, das Thema mit ihren Kindern erst zu einem späteren Zeitpunkt zu besprechen.

Heute beim Frühstück war es dann zu einem weiteren unerfreulichen Gesprächsthema gekommen. Seit dem Geburtstag nahmen Andrew und Ellora keine Mahlzeiten mehr zu sich. Auf ihrem Sternenschiff galten Lebensmittel schon immer als knappes Gut. Aus Neugier fragte Sabena, was denn all die Jahre mit dem Essen passiert war, das sie vor ihren Augen verspeist hatten. Wurde es weggeworfen? Oder recycelt? Julara erkannte sofort, wie unangenehm ihren Androideneltern die Sache war. Zwar hatten sie sich seit jeher mit kleineren Portionen begnügt, aber irgendwas musste mit den runtergeschluckten Bissen ja geschehen sein. Notgedrungen räumte Andrew schließlich ein, dass sich unterhalb seines Brustkorbs ein rundes Sammelbecken befand. Auf einem autarken Raumfahrzeug durften keine Ressourcen verschwendet werden. Logisch. Nur war Julara in diesem Moment nicht nach Logik zumute gewesen.

Sie würgte ihren angekauten Bissen Brot hinunter, während am Frühstückstisch eine gespenstische Stille einsetzte. Schließlich stand sie wortlos auf und ließ den halbvollen Teller stehen, was sonst nie vorkam. Sie versteckte sich in ihrer Kabine, weil sie die Debatten nur noch schwer ertragen konnte. Ihr Vater hätte bestimmt argumentiert, dass alles Essen im Sammelbecken in einem einwandfreien Zustand erhalten geblieben war.

Typisch für ihn. Logisches Denken, rationales Argumentieren, überzeugende Schlussfolgerungen. Ein Stück weit ähnelte Ronjo ihm in dieser Beziehung. Bislang war Julara davon ausgegangen, er hätte diese Eigenschaft von seinem Vater geerbt. Von wegen!

Sie griff nach ihrem Felopad, das auf dem Nachttisch lag, und tippte auf eines der zahlreichen Symbole. Das Display zeigte an, dass Gilvan allein in seiner Kabine war. Julara rappelte sich hoch und schwang die Füße auf den Boden.

Als sie an seiner Tür läutete, dauerte es länger als gewöhnlich, bis er ihr öffnete. Fast wollte sie wieder kehrtmachen, da ging die Schiebetür mit einem leisen Zischen doch auf.

Sie blickte hinein und erschrak. Gilvan stand mit verschränkten Armen da, die hellblonden Haare ungekämmt. In einer Ecke schimmerte sein Saxofon unter einem Haufen schmutziger Wäsche. Die Kabine wirkte nicht nur unaufgeräumt, sondern geradezu vergammelt. Es roch muffig und schal. Julara fragte sich, wann er das letzte Mal geduscht hatte. Ihre Eltern duldeten ein solches Verhalten normalerweise nicht, doch im Moment ließen sie ihnen mehr Freiheiten als sonst.

Julara wusste, dass er genauso mies drauf war wie sie, auch wenn er das nicht offen zugeben wollte. Vielleicht waren das verwahrloste Zimmer und die Weigerung zu duschen seine Art auszudrücken, wie es in ihm aussah.

Mit gesenktem Blick winkte Gilvan sie herein, als suche er etwas auf dem Fußboden.

»Hast du Lust, eine Runde Tischtennis zu spielen?«, fragte sie ihn.

»Hmm.«

»Hast du?«

Er richtete seinen athletischen Körper auf, den Julara schon immer bewundert hatte.

»Jetzt gleich?«, fragte er überrascht.

»Ja, klar.«

»Na, ich weiß nicht ...«

»Komm schon.«

Er sah sie flüchtig an, kratzte sein verstrubbeltes Haar und brummte dann: »Okay, meinetwegen.«

Die beiden verließen seine Kabine und gingen den schmalen Gang entlang. Für die dauerhafte Gesundheit einer Raumschiffcrew galt regelmäßiger Sport als unverzichtbar. Als Julara noch jünger gewesen war, hatte sie sich oft gewundert, wieso ihre Eltern, trotz all der Ermahnungen, selbst so wenig Sport trieben. Aber natürlich brauchten sie Bewegung genauso wenig wie Essen. Statt beim Training ins Schwitzen zu geraten, ölten sie heimlich ihre Gelenke oder tauschten die Brennstoffzellen aus.

Das Tischtennisspiel war eine Wohltat und Julara gab alles. Schmetterbälle schienen genau das Richtige gegen ihren aufgestauten Ärger zu sein und aggressives Offensivspiel war auch ganz nach Gilvans Geschmack. Er schmetterte, was das Zeug hielt und fluchte jedes Mal lauthals, wenn der Ball die Platte verfehlte. Sie mussten beide loswerden, was sich in ihnen aufgestaut hatte.

Als ihnen nach einer Stunde der Schweiß über die Gesichter rann, fing Gilvan den kleinen weißen Ball mit der linken Hand auf und kam auf Julara zu. »Etwas hat mir den Vormittag keine Ruhe gelassen«, murmelte er.

Sie betrachtete ihn gespannt. Sein Kopf glühte vor Spieleifer.

»Was denn?«

Er zögerte. »Ich ... hab mich gefragt, inwieweit unsere biologischen Eltern einverstanden waren.«

»Dass wir auf einem Raumschiff zur Welt kommen?«

»Genau.« Er fuhr sich über die Stirn. »Wussten sie, dass ihre Embryonen ins All geschickt werden? Wussten sie, dass Androiden uns großziehen würden? Und wenn ja, warum haben sie zugestimmt?«

»Alles berechtigte Fragen«, sagte Julara.

Gilvan nickte. »Vielleicht können wir es im VR-Raum herausfinden.«

Ihr Interesse war plötzlich geweckt. Gilvan hatte vollkommen recht. Was für Leute waren ihre leiblichen Eltern gewesen? Wie hatten sie gelebt? Sie musste ihre Scheu überwinden, wenn sie es herausfinden wollte.

An ihrer Kabinentür angelangt sagte Gilvan: »Ich fand das Spiel echt klasse.«

»Ich auch.«

»Und ich bin froh, Julara, dass du mich überredet hast.« Dann, einem Impuls folgend, zog er sie an sich und schlang seine muskulösen Arme um sie. »Hey, lass uns morgen wieder trainieren«, flüsterte er in ihr Ohr, bevor er die Umarmung löste.

Julara lächelte. Der Schweiß lief ihr immer noch den Rücken hinunter.

»Also ich geh jetzt duschen«, sagte sie laut. »Du sicher auch, oder?«

Sie verabschiedeten sich mit einem Grinsen.