Das Empathietraining - Karim Fathi - E-Book

Das Empathietraining E-Book

Karim Fathi

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Beschreibung

Empathie - eine Universalkompetenz für erfolgreiche Konfliktklärung Konflikte sind in unserem Leben unvermeidbar. Überall und jederzeit können sie auftreten. Dabei vergessen wir oft, dass Krisen und Konflikte auch Chancen bergen. Doch wie stellen wir es an, dass keiner verliert und wir sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen? Der Schlüssel zu dieser Frage lautet: (Selbst-)Empathie. Empathie ist eine in uns allen angelegte Universalkompetenz. Egal ob es darum geht, mit belastenden Emotionen umzugehen, Meinungsverschiedenheiten optimal zu lösen oder generell gute Beziehungen zu pflegen – jede Art des funktionierenden Miteinanders setzt ein gewisses Maß an Empathie voraus. Dieser Ratgeber vermittelt bewährte Konzepte aus den Bereichen Coaching und Beratung und richtet sich an alle Menschen, die ihre Empathiefähigkeit verbessern möchten, um sich fit für Krisen und Konflikte zu machen. Dabei spielt der Umgang mit Stress, dem Empathiekiller Nr. 1, eine zentrale Rolle.

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Karim FathiDas EmpathietrainingKonflikte lösen für ein besseres Miteinander

Über dieses Buch

Empathie – eine Universalkompetenz für erfolgreiche Konfliktlösung 

Konflikte sind in unserem Leben unvermeidbar. Überall und jederzeit können sie auftreten. Dabei vergessen wir oft, dass Krisen und Konflikte auch Chancen bergen. Doch wie stellen wir es an, dass keiner verliert und wir sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen? Der Schlüssel zu dieser Frage lautet: (Selbst-)Empathie. Empathie ist eine in uns allen angelegte Universalkompetenz. Egal ob es darum geht, mit belastenden Emotionen umzugehen, Meinungsverschiedenheiten optimal zu lösen oder generell gute Beziehungen zu pflegen – jede Art des funktionierenden Miteinanders setzt ein gewisses Maß an Empathie voraus. 

Dieser Ratgeber vermittelt bewährte Konzepte aus den Bereichen Coaching und Beratung und richtet sich an alle Menschen, die ihre Empathiefähigkeit verbessern möchten, um sich fit für Krisen und Konflikte zu machen. Dabei spielt der Umgang mit Stress, dem Empathiekiller Nr. 1, eine zentrale Rolle.

Dr. Karim Fathi ist zertifizierter Konfliktberater, M.A., Friedens- und Konfliktforscher, Doktor der Philosophie zum Thema „Integrierte Konfliktbearbeitung im Dialog“ und Mitbegründer der Akademie für Empathie in Berlin. www.karimfathi.de, www.empathieakademie.de

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © kubkoo/www.istockphoto.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-866-4

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-867-1 (EPUB), 978-3-95571-869-5 (PDF), 978-3-95571-868-8 (MOBI).

Für meine drei größten Lehrmeisterinnen

Oriane

Ophelia

Rebeca

Einführung

„Hey, du studierst doch Friedens- und Konfliktforschung! Davon ist gerade nichts zu sehen! Du solltest viel friedlicher sein!“, pflegte mir vor vielen Jahren meine damalige Ehefrau zu sagen, wenn wir miteinander stritten. Ich entgegnete ihr dann meistens: „Moment mal, das ist unfair! Ich bin jetzt gerade kein neutraler Mediator, sondern in einem Konflikt mit dir! Ich bin sauer auf dich und ich habe ein Recht darauf, das zum Ausdruck zu bringen!“

Noch Jahre später, als Konfliktberater, kamen mir diese Situationen immer wieder in den Sinn. Ich fragte mich: Ist es nicht legitim, die eigenen Interessen in einem Streit zu verteidigen? Was meinte meine damalige Ehefrau eigentlich mit „friedlich“? Bedeutet das, immer nachzugeben oder so weit Zugeständnisse zu machen, bis wir uns „irgendwo in der Mitte“ treffen? Ist es überhaupt möglich, in emotional aufwühlenden Situationen seinen Standpunkt so zu vertreten, dass es nicht weiter eskaliert? Auf der anderen Seite fragte ich mich, ob ich es mir damals nicht etwas zu leicht gemacht hatte. Sicher, als Konfliktpartei bin ich „parteiisch“. In solchen Fällen vertrete ich meine Position gegenüber jemand anderem. Als Mediator bin ich hingegen nicht direkt in die Situation involviert. Da bin ich „allparteilich“ und habe die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten im Blick. Dies führte mich letztlich zur Kernfrage, die mein Wirken als Konfliktberater und Mitbegründer der Akademie für Empathie wesentlich mitbestimmen sollte: Kann ich als Konfliktpartei meine Interessen gegenüber jemand anderem vertreten und zugleich die Bedürfnisse meines Gegenübers im Blick haben? Mit anderen Worten: Ist es möglich, in emotional aufwühlenden und ausweglos erscheinenden Situationen dennoch zu Lösungen zu kommen, von denen alle profitieren und in denen keiner verliert?

Diese Frage ist durchaus relevant – erfahrungsgemäß begegnet sie uns jeden Tag. Denn: Krisen und Konflikte sind in unserem Leben unvermeidbar. Ob mit den eigenen Lebenspartnern1, Verwandten, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen oder wildfremden Menschen. Überall und jederzeit können in unserem Alltag Konflikte auftreten. Zugleich bergen Krisen und Konflikte auch Chancen und das Potenzial, voneinander zu lernen. Ohne Konflikte können wir uns nicht über problematische Muster in unserem Verhalten und Denken bewusst werden, sie überdenken und uns entwickeln. Außerdem geben uns Krisen und Konflikte die Möglichkeit, zu erfahren, was unserem Gegenüber – und auch uns selbst – wirklich wichtig ist. Daher sind Konflikte und Krisen durchaus sinnvoll, wenn wir sie intelligent und achtsam austragen. Die Kunst eines friedlichen und harmonischen Privat- und Berufslebens besteht also weniger in der Abwesenheit von Krisen und Konflikten, sondern eher in der Frage, wie wir mit ihnen umgehen.

Wie können wir Krisen und Konflikte so lösen, dass keiner verliert und wir sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen? Aus der Praxis weiß ich, dass es nicht einfach, aber durchaus möglich ist. Doch der Erfolg hängt von einer entscheidenden Kompetenz ab: Empathie. Ein wesentlicher Aspekt von Empathie ist die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse meines Gegenübers wahrzunehmen und in der Lösungssuche zu berücksichtigen. Ist Empathie eine Universalkompetenz? Tatsächlich machen wir von der Akademie für Empathie seit Jahren die besondere Erfahrung, dass unsere Kunden und Mitstreiter mit Empathie sehr unterschiedliche Hoffnungen verbinden: eine friedlichere Welt, harmonischere Beziehungen, einen konstruktiveren Umgang mit den eigenen Emotionen, leistungsfähigere Teams, mehr beruflichen Erfolg etc. Mit anderen Worten: Empathie ist eine in jedem von uns angelegte Kompetenz, die uns hilft, besser mit unseren Krisen und Konflikten umzugehen und zu einem erfüllteren Leben zu finden. Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass im Grunde jeder von uns – auch ohne kostenaufwendiges Training oder Beratung – die eigene Empathie und damit auch eine höhere Konflikt- und Krisenfähigkeit entwickeln kann.

Wie geht das? Wir wollen mit dem vorliegenden Ratgeber entsprechende Wege aufzeigen. Maßgeblich initiiert wurde dieses Buch von zwei wunderbaren Menschen, die wir in der damals entstehenden Akademie für Empathie dabei begleiten durften, ihre Krise erfolgreich zu bewältigen. Sylvia und Bernd Mohn – so nennen wir die beiden – möchten mit diesem Ratgeber allen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe in Krisen und Konflikten ermöglichen und sie an ihren Erfahrungen teilhaben lassen. Im Zuge des gemeinsamen Projekts entwickelten wir unser „Empathie-3.0-Programm“, das wir Ihnen in diesem Buch vorstellen möchten.

Der Fokus dieses Ratgebers liegt auf Beziehungskonflikten. Sie gehören unserer Erfahrung nach zu den herausforderndsten und zugleich alltäglichsten Konflikten. Alltäglich sind sie, weil wir Menschen als soziale Wesen ständig mit anderen in Beziehung treten. Ob Nachbarn, Arbeitskollegen oder unseren Liebsten. Herausfordernd sind sie, weil sie meistens emotional stark aufgeladen sind und sich, anders als Sachkonflikte, meist nicht mithilfe einer einfachen Vereinbarung lösen lassen. Wenn ich z. B. mit meiner Frau darüber einen Konflikt habe, ob wir ins Kino oder in den Club gehen, sprechen wir von einem Sachkonflikt. Wir können uns darüber verständigen, ob und unter welchen Umständen sich nicht doch alles unter einen Hut bringen lässt, und dann zu einer Entscheidung kommen (zuerst ins Kino, dann in den Club etc.). Sobald eine Entscheidung gefallen ist, ist das Problem gelöst. Bei Beziehungskonflikten ist es nicht ganz so einfach. Hier geht es nicht nur um das „Was“, sondern vor allem um das „Wie“. Womöglich mag sich meine Frau darüber aufregen, warum ich immer alles entscheiden will, und ich mag mich vielleicht darüber aufregen, dass sie sich immer so eingeschnappt verhält, wenn ihr mal etwas nicht passt. Solche Konflikte sind nicht mit einer einzigen Vereinbarung vorbei. Sie können jederzeit wieder aufflammen, wenn wir den Eindruck haben, dass eine(r) von uns wieder dieses unliebsame Verhalten zeigt („Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass es mich nervt, wenn du …!“). Bei Beziehungskonflikten sind wir besonders gefordert, an uns zu arbeiten – sowohl nach innen (Umgang mit unseren Wahrnehmungen und Gefühlen) als auch nach außen (Umgang mit dem anderen). Aber hier liegt auch eine große Chance auf höhere Lebensqualität.

Wie kann ich mich und andere Menschen besser verstehen und auch von ihnen besser verstanden werden? Wie kann ich tragfähigere Beziehungen herstellen? Wie kann ich gelassener mit meinen belastenden Gedanken und Emotionen umgehen? Wie komme ich zu mehr Harmonie mit mir selbst und meinen Mitmenschen? Wie gehe ich gestärkt auch aus emotional belastenden Konflikten und Krisen hervor? Der vorliegende Ratgeber richtet sich an jeden, der sich von diesen Fragen angesprochen fühlt. Das können z. B. Menschen sein, die direkt von Krisen und Konflikten betroffen sind oder die vorbeugend ihre Problemlösungsfähigkeiten verbessern wollen. Auch Menschen, die sich in einer helfenden Position befinden – z. B. als Coach oder Berater –, können von diesem Buch profitieren. Vor allem richtet sich dieser Ratgeber an alle Menschen, die ihre Empathiefähigkeit verbessern möchten, um aus Beziehungskonflikten gestärkt hervorzugehen.

Dieses Buch kann und will keine professionelle Hilfe in Form von Coaching, Beratung oder gar Therapie ersetzen. Es vermittelt bewährte und einfache Anwendungen aus diesen Bereichen und macht sie für die Bewältigung von Alltagsproblemen in der Selbstpraxis nutzbar. Sie werden in diesem Buch mehrere aufeinander abgestimmte Übungen vorfinden. Es handelt sich dabei um bewährte Übungen aus unterschiedlichen Traditionen und wissenschaftlichen Disziplinen, für Sie kompakt und einfach anwendbar aufbereitet. Die Übungen betragen einen durchschnittlichen Zeitaufwand von zehn Minuten pro Tag. Bei einigen Übungen empfiehlt es sich, sie mehrere Tage zu wiederholen und zu reflektieren, bei anderen reicht eine einmalige Anwendung. Alle Übungen zusammen ergeben ein abwechslungsreiches, knapp 70-tägiges Selbstlernprogramm, mit dem Sie – bei einer durchschnittlichen Praxis von zehn Minuten pro Tag – Ihre Empathie und Krisenfähigkeit entwickeln, erheblich steigern und langfristig verankern können. Wahrscheinlich werden Ihnen 70 Tage lang erscheinen. Erfahrungsgemäß braucht es aber einen solchen Zeitraum, um tatsächlich neue Gewohnheiten des Denkens und Handelns zu entwickeln. Warum das so ist, können Sie in Kapitel 9 erfahren.

Sollten Sie sich dazu entschließen, das Selbstlernprogramm in diesem Ratgeber umzusetzen, legen Sie sich am besten ein eigenes „Empathietagebuch“ an, in Form eines Notizheftes oder Schreibblocks. Aus dem Selbsttest im nächsten Kapitel können Sie schon mal grob ermitteln, wie sich die unterschiedlichen Dimensionen Ihrer Empathie auf Ihren Alltag auswirken und wo Sie noch besonderen Optimierungsbedarf bei sich spüren. Die Übungen lassen sich den einzelnen Aussagen in diesem Selbsttest zuordnen.

In den Kapiteln 1 bis 3 erfahren Sie, was wir von der Akademie für Empathie unter dem Konzept „Empathie 3.0“ verstehen, welche Rolle Empathie bei der Krisenbewältigung spielt und was es bedeutet, anderen Menschen empathisch bei der Bewältigung von Problemen zur Seite zu stehen. Damit schließt der erste Teil dieses Buches. Der zweite Teil umfasst die Kapitel 4 bis 8. Diese stellen Ihnen verschiedene Dimensionen von Empathie und Krisenfähigkeit vor. Im Rahmen der beigefügten Übungen haben Sie auch die Möglichkeit, diese Dimensionen selbstständig zu trainieren. Den Abschluss bilden Kapitel 9 und zusätzliches Material für Ihr Empathietraining (Anhang). In Kapitel 9 finden Sie eine Zusammenschau aller im Ratgeber befindlichen Übungen sowie weitere Anregungen für die Ausgestaltung und Umsetzung Ihres Trainingsprogramms, sollten Sie nicht die Motivation haben, die Übungen in der empfohlenen Reihenfolge und Weise umsetzen zu wollen.

Sie haben unterschiedliche Möglichkeiten, dieses Buch zu lesen. Sollten Sie ausschließlich am Selbstlernprogramm interessiert sein, reicht es, wenn Sie nur die Übungen in den Boxen lesen (und umsetzen). Wenn Sie mehr theoretisches Hintergrundwissen über die jeweiligen Übungen erlangen wollen, dargestellt anhand unterschiedlicher Fallbeispiele aus meiner Praxis, lohnt sich ein tieferer Blick in die einzelnen Kapitel. Eine Zusammenfassung finden Sie jeweils am Ende jedes Kapitels. Die Kapitel 1 bis 3 sind verhältnismäßig theorielastig. In den Kapiteln 4 bis 8 rückt die Fallgeschichte von Bernd und Sylvia in den Vordergrund. Die Kapitel 9 und Anhänge sind hingegen besonders relevant für das Selbstlernprogramm. Darin finden Sie Empfehlungen, wie Sie Ihre Tagespraxis zeiteffizient zusammenstellen können. In Tabelle 9.1 sind alle Übungen für Sie zusammengefasst.

Wir, das heißt auch Sylvia und Bernd Mohn, wünschen Ihnen viel Vergnügen und Inspiration beim Lesen und viel Erfolg und Spaß auf dem Weg zu höherer Empathie und Krisenfähigkeit!

Ihr Karim Fathi Berlin, Dezember 2018

1  Aus pragmatischen Gründen werde ich, wenn nicht anders erwähnt, auf die weibliche Bezeichnung weitgehend verzichten. Bezeichnungen wie z. B. „Konfliktarbeiter“ oder „Beteiligter“ verstehen sich in diesem Sinne geschlechtsneutral. Ich danke für Ihr Verständnis.

TEIL I: DIE GRUNDLAGEN DER EMPATHIE UND IHRE ROLLE IN KONFLIKTEN

1. Empathie 3.0 – eine Universalkompetenz für erhöhte Konflikt- und Krisenfähigkeit?

„Wahres Mitgefühl verbindet.“

Honoré de Balzac (1799–1850), französischer Philosoph und Romanautor

1.1 Was ist Empathie?

„Weißt du, ich würde noch nicht mal behaupten, dass ich empathisch bin!“, gestand mir vor einigen Jahren ein deutschlandweit führender Unternehmensberater und Coach in einer sehr anregenden Unterhaltung zum Thema Empathie. Ich entgegnete: „Das verwundert mich. Ich habe doch selber erlebt, wie du erfolgreich Gruppenprozesse leitest, Gespräche zu heiklen Themen moderierst und die Anliegen deiner Klienten spiegelst. Warum sollst du denn nicht empathisch sein?“ Er antwortete: „Ich habe keine Empathie, weil ich nicht nachfühle, was meine Klienten fühlen. Ich kann zwar erfassen, was meinen Klienten wichtig ist, aber ich empfinde keinerlei Anteilnahme. Ich simuliere sie nur.“ Was meinen Sie, wenn Sie diese Zeilen lesen: Ist dieser Berater empathisch oder nicht? Menschen, denen ich diese Geschichte erzähle, sind in der Regel geteilter Meinung. Und das nicht ohne Grund. Denn tatsächlich lässt sich Empathie unterschiedlich verstehen.

„Empathie“ stammt ursprünglich vom altgriechischen empatheia ab, welches sich mit „intensive Gefühlsregung“ und „Leidenschaft“ übersetzen lässt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich „Empathie“ als internationaler Fachterminus heraus. Hierzu wurde der Begriff neu zusammengesetzt und umgedeutet. Demnach bildet sich „Empathie“ aus En = „hinein / drin“ und path = „fühlen / leiden“. Seitdem bedeutet Empathie „Einfühlung“. Ähnlich wie „Sympathie“ wortursprünglich „Mitgefühl“ heißt (synpath

Noch bis in die 1980er-Jahre war Empathie eher negativ besetzt, weil der Begriff mit „emotionaler Ansteckungsfähigkeit“ und daher mit Schwäche assoziiert wurde. Stellen Sie sich beispielsweise folgende Situation vor: Ein Mitarbeiter sagt seinem Vorgesetzten: „Mein über alles geliebter Hund ist gerade gestorben und ich merke, dass ich nichts zustande bekomme. Könnte ich früher nach Hause gehen, um in Ruhe zu trauern? Ich werde die Fehlstunden natürlich nachholen.“ Ein derart empathischer Vorgesetzter antwortet: „Selbstverständlich dürfen Sie das, ich bitte darum! Ihre Geschichte geht mir äußerst nahe. Wissen Sie, ich werde mir jetzt auch freinehmen und Sie auf einen Drink einladen!“

Diese Geschichte spiegelt das Bild wider, das noch bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein vorherrschte: Wer zu sehr auf seine Gefühle hört, trifft nicht die besten Entscheidungen.

Die 1990er-Jahre leiteten ein Umdenken ein. Seitdem gilt Empathie als Modewort. Hierzu hat vor allem der in jenen Jahren erschienene Bestseller EQ: Emotionale Intelligenz von Daniel Goleman (2001) beigetragen. Entgegen der damals vorherrschenden Meinung belegte er, dass nicht die Unterdrückung der eigenen Gefühle, sondern erst eine intelligente Steuerung des eigenen Gefühlslebens zu vernünftigen Entscheidungen, effektiveren Beziehungen und sogar mehr beruflichem und privatem Erfolg führt.

Die 1990er-Jahre gingen noch mit einer weiteren Entdeckung einher, die die naturwissenschaftliche Grundlage von Empathie belegte – nämlich durch die Entdeckung der Spiegelneuronen. So wies der Hirnforscher Giacomo Rizzolatti nach, dass Affen unwillkürlich im Kopf nachspielen, was andere tun. Wenn z. B. ein Affe zusieht, wie ein Versuchsleiter nach etwas greift, feuert im Gehirn des Affen eine Zelle, die normalerweise dann aktiv ist, wenn er selbst die Hand ausstreckt. Indem er das Verhalten des Versuchsleiters in seinem Kopf spiegelt, versetzt er sich gleichsam in dessen Position. Inzwischen, um 2010 herum, konnten Forscher nachweisen, dass auch der Mensch solche Spiegelzellen im Gehirn hat (Ekstrom et al., 2010). Spiegelneuronen legen im Grunde nahe, dass es eine intuitive Kopplung von Mensch zu Mensch gibt. Dies zeigt sich z. B. eindrucksvoll in Mannschaftssportarten. Nur so lässt sich erklären, wie etwa Fußballspieler blitzschnell im Getümmel agieren können, ohne ins Grübeln über die Absichten ihrer Mitspieler zu verfallen.

Aber was lässt sich genau unter Empathie verstehen? Ist der Trickbetrüger empathisch, der präzise die Wünsche seiner Opfer erkennen und auf sie eingehen kann, um sie zu manipulieren? Und zugleich wenig Anteilnahme hinsichtlich des Schadens empfindet, den er ihnen bereitet?

Die Entdeckungen der 1990er-Jahre brachten ein umfassenderes Verständnis von Empathie mit sich. Und damit auch unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Ich führe im Folgenden vier wichtige Möglichkeiten an, wie wir den Empathiebegriff verstehen können. Ich werde auf sie noch an anderer Stelle zurückkommen:

Empathie mit anderen vs. Empathie mit sich selbst.

Eine grundsätzliche Unterscheidung ist die zwischen „Selbstempathie“ und „zwischenmenschlicher Empathie“. Selbstempathie bedeutet, die eigenen Emotionen bewusst wahrnehmen und kommunizieren zu können. Kaum ein Empathietrainer bestreitet heute noch, dass ein Zusammenhang zwischen „Empathie mit sich selbst“ und „Empathie mit anderen“ besteht. Denn erst wenn ich ein Bewusstsein für meine Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle habe, kann ich diejenigen anderer Menschen nachvollziehen. Dies gilt vor allem auch für unmittelbar erlebte Gefühle. In diesem Zusammenhang erregten kürzlich neuropsychologische Forscher an der Universität Wien mit einer klugen Studie Aufsehen. Sie verabreichten Testpersonen vermeintliche Schmerzmittel, bei denen es sich tatsächlich um Placebos handelte. Die Probanden verhielten sich daraufhin weniger empathisch, wenn sie Schmerzen bei anderen beobachteten. Dieser Effekt ließ nach, als ihnen erklärt wurde, dass auch die Wirkung der angeblich ihnen verabreichten Schmerztabletten abgeflaut sei. Dann waren sie sehr viel eher imstande, die Schmerzen anderer nachzufühlen. Einfühlung in sich selbst und Einfühlung in andere stehen also in einem direkten Zusammenhang (Rütgen et al., 2015).

Eindenken vs. Einfühlen.

Der Emotionsforscher Paul Ekman (2016) unterscheidet zwischen emotionaler Empathie (= fühlen, was andere fühlen), kognitiver Empathie (= erkennen, was andere fühlen) und Mitleid (= anderen helfen wollen). Wenn wir diese Unterscheidung auf den Coach in unserem Ausgangsbeispiel übertragen, könnten wir daraus schließen, dass er unempathisch

und

empathisch zugleich ist. Unempathisch ist er, da es ihm offensichtlich an innerer Anteilnahme und an Mitgefühl fehlt. Zugleich ist er empathisch, weil er sich zumindest verstandesmäßig sehr gut in andere Positionen hineindenken kann. Vielleicht kennen Sie den Unterschied auch aus persönlichen Beispielen. Wenn Sie z. B. einen traurigen Film sehen und Ihnen nach weinen zumute ist, lässt dies auf emotionale Empathie schließen – Sie fühlen im wahrsten Sinne des Wortes mit. Ein eindrucksvolles Beispiel für kognitive Empathie erzählte mir ein Coach, der in jungen Jahren einen Selbsttest durchführte. Er fragte sich systematisch, wie Menschen so geworden sind, wie sie sind. Innerhalb eines Zeitraums von mehreren Monaten versetzte er sich in die Sichtweisen unterschiedlichster Personen. Am schwierigsten fiel ihm das Sichhineindenken in das Leben eines Neonazis, aber selbst das gelang ihm. Er kam für sich zum Schluss, dass, wäre sein Leben von entsprechenden Umständen geprägt gewesen, er sich zu jeder dieser Positionen hätte hinentwickeln können. Was meinen Sie: Teilen Sie seine Einschätzung?

Empathie als Zustand vs. Empathie als festes Persönlichkeitsmerkmal.

Je nachdem, in was für einem emotionalen Zustand wir uns befinden, kann sich auch unsere Empathie ändern. Wenn wir von negativen Gefühlen überwältigt werden, wie z. B. von Wut, Angst oder Stress, fällt es uns in der Regel schwer, uns in andere Menschen einzufühlen. Umgekehrt fällt es uns mit positiven Gefühlen leichter. So wie unsere Gefühle kommen und gehen, können auch unsere Zustände variieren, in denen wir mal mehr und mal weniger aufnahmefähig und einfühlsam sind. Die Forschung nennt „Empathie als Zustand“ auch

state empathy

(Lazarus, 1991). Was meinen Sie: Deckt sich dies mit Ihrer persönlichen Erfahrung? Zugleich geht die Forschung davon aus, dass jeder Mensch eine bestimmte Grundausstattung an Empathie mit sich bringt. Sie ist – wie die rationale Intelligenz – als ein mehr oder weniger festes Merkmal in jedem von uns angelegt. Mit anderen Worten: Es gibt Menschen, die von Haus aus empathischer als andere sind. Diese Empathie lässt sich allerdings durchaus – wie ein Muskel – trainieren. Hier ist es wichtig, eine letzte Unterscheidung zu treffen:

Empathie als Werkzeug vs. Empathie als Wesensgrund.

Der Psychologe Arthur Ciaramicoli unterscheidet zwischen authentischer Empathie und funktionaler Empathie (Ciaramicoli & Ketcham, 2001). Funktionale Empathie deutet darauf hin, dass man sich Empathie wie ein Werkzeug aneignen kann. Hierzu gehören vielfältige Techniken und Modelle, die zu besserer Menschenkenntnis verhelfen. Der Illusionist Thorsten Havener z. B. beschrieb in seinem Buch

Ich weiß, was du denkst

(2009), seine Empathie beruhe im Wesentlichen auf einem antrainierten Blick für Details bei seinen Mitmenschen und seiner eingeübten Fähigkeit, passende Rückschlüsse zu ziehen. Dies erinnert an die Begabung des berühmten Romandetektivs Sherlock Holmes. Funktionale Empathie bedeutet auch, dass sich Empathie völlig wertfrei, auch für ausbeuterische und manipulative Ziele, verwenden lässt – von der Werbung bis hin zu Sadismus (inklusive Folter und Missbrauch). In diesem Zusammenhang spricht der Psychologe Fritz Breithaupt sogar von den „dunklen Seiten der Empathie“ (2017).

Authentische Empathie deutet hingegen an, dass Empathie auch aus unserem tiefen Wesenskern resultieren kann und aus der Intuition, dass wir alle irgendwie miteinander verbunden sind. Dieser Begriff ist werteorientiert – das heißt, je mehr Verbindung ich mit meiner Umwelt und mit meinen Mitmenschen empfinde, desto abwegiger ist es für mich, ihnen Schaden zuzufügen. Es wäre dann praktisch so, als würde ich mir selbst schaden, weil ich in gewisser Hinsicht mich selbst im anderen sehe. An dieser Stelle ist auch die Grenze zwischen Selbstempathie und zwischenmenschlicher Empathie nicht weit. Haben Sie sich schon einmal tief verbunden mit jemand anderem, vielleicht auch einer Gruppe oder sogar der ganzen Welt oder dem Universum gefühlt?

1.2 Was bringt Empathie?

Mit Empathie verbindet sich heute eine Vielzahl von Hoffnungen und Forderungen. In einer globalisierten Welt, die mehr denn je von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist, wird die Fähigkeit, den eigenen Egoismus zu überwinden und die Sichtweisen und Bedürfnisse anderer in die eigenen Handlungen einzubinden, zu einer notwendigen Kompetenz. Wer geht heute noch davon aus, dass vielfältige Herausforderungen – von politischen Krisen über Finanzkrisen, Flüchtlingskrisen, dem Wettrennen um die Rohstoffe bis hin zum Klimawandel – anders gestemmt werden können als durch internationale Kooperation?

Empathie führt auch zu einem produktiveren Zusammenleben. Inzwischen weisen viele Studien nach, dass empathisch arbeitende Gruppen erfolgreicher und leistungsfähiger sind, weil sie ihre kollektive Intelligenz besser ausschöpfen können. So verglich die US-Psychologin Anita Woolley von der Carnegie Mellon University mehrere Gruppen miteinander, die eine komplexe Aufgabe bearbeiten sollten. Dabei wurde untersucht, welche Gruppen zu einem besseren Ergebnis kamen. Auf der einen Seite wurden Gruppen getestet, die hinsichtlich ihres Geschlechts und ihrer Ausbildung relativ gleichförmig waren. Auf der anderen Seite wurden Gruppen beobachtet, die eine höhere Vielfalt hinsichtlich des Geschlechts und der Ausbildung aufwiesen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Gruppe mit einer höheren inneren Vielfalt kam zu deutlich besseren Problemlösungen. Sogar dann, wenn die gleichförmige Gruppe eine höhere Durchschnittsintelligenz aufwies. Die Gruppe mit der größeren Vielfalt konnte stets durch bessere Ergebnisse überzeugen, vor allem, weil sie von unterschiedlichen Perspektiven auf das Problem profitierte.

Das Entscheidende dabei war: Das Schmiermittel, um diese unterschiedlichen Sichtweisen zusammenzuführen, war Empathie. Die Studien wiesen nach, dass die hohe Leistung einer Gruppe nicht vom Durchschnitt oder der Höhe der individuellen Intelligenz der Gruppenmitglieder abhängig ist, sondern von typisch empathischen Faktoren: einer hohen durchschnittlichen sozialen Empfindsamkeit der einzelnen Gruppenmitglieder sowie einem hohen Maß an gleichberechtigter Einbringung in den Gruppendiskussionen. Empathie ist also ein Katalysator für höhere kollektive Intelligenz (Woolley et al., 2010). Frage an Sie: Um wie viel leistungsfähiger könnten unsere Unternehmen und Gesellschaften auf die Krisen unserer Zeit reagieren, wenn sie die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Menschen empathisch integrieren würde?

Was macht Empathie für ein friedliches Zusammenleben und eine höhere Leistungsfähigkeit von Gruppen so entscheidend? Ganz einfach: Empathie ist eine Universalkompetenz und in den unterschiedlichsten Situationen hilfreich. Ob es darum geht, mit Menschen verschiedener Kulturen, Werthaltungen, Denktraditionen etc. klarzukommen, Meinungsverschiedenheiten optimal zu lösen oder überhaupt gute Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Jede Art des funktionierenden Miteinanders setzt ein gewisses Maß an wechselseitiger Resonanz, an Empathie, voraus. Können Sie dies aus Ihrer Erfahrung bestätigen?

Darüber hinaus hilft uns Selbstempathie in einer Welt, die von immer mehr Unvorhersehbarkeit, Informationsdichte und Schnelllebigkeit geprägt ist, besser klarzukommen. Noch nie zuvor standen uns so viele Optionen zur Verfügung, wie wir unser Leben gestalten können. Bei aller sich hieraus ergebenden Verwirrung wird unsere Intuition, das Bauchgefühl, zu einer wichtigen Entscheidungsgrundlage. Haben Sie schon mal in einer verwirrenden Situation aus dem Bauch heraus eine Entscheidung gefällt? Und im Nachhinein hat sich erwiesen, dass Sie richtig entschieden haben? Um es kurz zu machen: Empathie vereinigt viele Kompetenzen.

Mit diesem Ratgeber möchte ich Empathie als Universalkompetenz fördern und Sie für unterschiedliche Krisen fit machen.

1.3 Stress: ein zuverlässiger Empathiekiller

Obwohl seit den 1990er-Jahren immer mehr Menschen den Nutzen von Empathie erkannt haben, haben nicht wenige den Eindruck, dass die Empathie in den letzten Jahrzehnten im Alltag nicht sonderlich zugenommen hat. Im Gegenteil: Einige Studien bestätigen sogar einen allgemeinen Rückgang von Empathie. Zu den bekanntesten gehört die Untersuchung der US-Psychologin Sara Konrath. Sie beobachtete über 14.000 US-Bürger, deren Empathiefähigkeit zwischen 1972 und 2009 stetig gesunken ist. Dabei warf sie die Frage auf, wie dies möglich sein kann, wo doch die Welt immer mehr zusammengewachsen und jeder Mensch via soziale Medien in der Lage sei, mit anderen überall in der Welt in Resonanz zu treten. Diesen Widerspruch zwischen abnehmenden sozialen Bindungen und zunehmender kommunikativer Vernetzung nennt Sara Konrath das „Empathie-Paradoxon“ (Konrath, 2012).

Wie kommt es, dass gerade in heutiger Zeit eine zunehmende Forderung nach Empathie zu beobachten ist und zugleich ein tatsächlicher Rückgang an zwischenmenschlicher Empathie? Eine Antwort darauf ist: Stress! Die Forschung bestätigt, dass Stress ein zuverlässiger Empathiekiller ist (Jumpertz, 2013). Denn starke, das persönliche Wohlbefinden einschränkende Emotionen lassen Menschen so sehr um sich selbst kreisen, dass der Blick auf den anderen verstellt ist. Können Sie dies aus Ihrer eigenen Erfahrung bestätigen? Studien wie z. B. der jährliche Gesundheitsreport der Bundesregierung belegen, dass immer mehr Menschen ihr Leben als Dauerstress empfinden. Dabei ist von einem steten Anstieg psychologischer Stresserkrankungen wie Burnout oder Depressionen die Rede (Knieps & Pfaff, 2016). Die Tendenz ist seit den 1980er-Jahren steigend und betrifft alle Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten und in allen Nationen zunehmenden Wohlstands (International Labour Organization, 2016). Kein Wunder also, dass Empathie in unserem Alltag nicht unbedingt zugenommen zu haben scheint.

Einige Menschen sagen sogar, dass Empathie in unserem stressigen Alltag eher eine Schwäche sei. Der US-Psychologe Kevin Dutton schlägt in seinem provokanten Buch Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann (2013) vor, dass wir uns mehr von der Rücksichtslosigkeit und der mentalen Härte des Psychopathen aneignen müssten, um im sozialen Überlebenskampf der modernen Ellenbogengesellschaft zu bestehen. Sollten wir Duttons Empfehlung befolgen, wäre jedoch ein großer Nachteil offensichtlich: Wenn wir weniger offen für Empathie wären, müssten wir auf die vielen oben dargestellten Vorteile, die uns Empathie bietet, verzichten. Ist es uns das wert? Noch grundsätzlicher stellt sich die Frage: Können wir uns authentisch mit unseren Mitmenschen und allem Leben verbunden fühlen und zugleich vor den Stressfaktoren unserer Umwelt schützen? Wie gehen wir mit Stress um, ohne dabei unsere Empathie zu verlieren? Ist beides miteinander vereinbar? Wie können wir auch in Krisen- und Konfliktfällen unsere Empathie aufrechterhalten?

1.4 Empathie 3.0: Wie sich Stressfähigkeit und Einfühlungsvermögen vereinbaren lassen

Bernd und Sylvia standen in ihrem Konflikt vor genau dieser Fragestellung: Wie können wir auch in Krisen- und Konfliktfällen unsere Empathie aufrechterhalten? Beide hatten einander in den vergangenen Jahren eine Vielzahl emotionaler Verletzungen zugefügt. Die Situation hatte sich zu einer unerträglichen Krise zugespitzt. Bei beiden lagen die Nerven blank. Und da sie permanent enormen Stress empfanden, fiel es ihnen verständlicherweise schwer, ihren Fokus von den eigenen Verletzungen weg zu verlagern und sich in die Position des anderen hineinzuversetzen. Dies machte ihnen in vielerlei Hinsicht zu schaffen. „Ich liebe meine Frau und ich merke, dass ich im Laufe des Beratungsprozesses mit Ihnen immer sensibler und verletzlicher werde. Das macht mir Angst, weil ich in meiner Beziehung mit Sylvia immer noch Rückschläge erleide, die ich nur schwer ertragen kann. Wie soll, wie kann ich mich davor schützen?“, gestand mir Bernd während des Prozesses. „Es belastet mich sehr, dass wir uns ständig streiten müssen. Aber ständig kommt eine erneute unsensible Geste von ihm, die mich total verletzt. Es tut mir weh, meinem Mann wehzutun. Ich gefalle mir dabei selber nicht, weil ich merke, dass ich in solchen Situationen nicht ich bin“, sagte uns Sylvia.

Die Aussagen von Sylvia und Bernd spiegeln das typische Dilemma wider, in dem wir uns befinden, wenn wir emotional belastende Konflikte konstruktiv und einvernehmlich lösen wollen. Insbesondere wenn wir Beziehungskonflikte mit Personen haben, vor denen wir nicht ohne Weiteres weglaufen können, weil wir einen Großteil unserer Lebenszeit mit ihnen verbringen: z. B. unsere Kinder, unsere Lebenspartnerin, unser Arbeitskollege. Einerseits ist es in unserem Interesse, den Konflikt möglichst so zu lösen, dass unsere künftige Beziehung nicht unnötig belastet wird. Andererseits ist es für eine einvernehmliche Lösung aber notwendig, dass wir uns für die Gefühle, Bedürfnisse und Verletzungen der anderen Person öffnen (warum das so ist und wie sich dies konkret darstellt, erläutere ich in späteren Kapiteln). Wie können wir uns öffnen, wenn wir verletzt sind? Wie können wir uns zugleich vor Verletzungen schützen? Sylvias Aussage gab noch einen weiteren Fingerzeig, der mir bei der Entwicklung unseres Empathieprogramms entscheidend geholfen hat. Sie wies darauf hin, dass sie in den Situationen, in denen sie nicht empathisch war, nicht sie selbst sei. Dabei eröffnete sich uns ein Empathiebegriff, der in der Forschung und in der gängigen Praxis des Empathietrainings nicht allzu verbreitet ist. Das Faszinierende dabei: Es ist nicht nur eine Empathie, die uns hilft, in stressigen Situationen einfühlsam zu bleiben und uns sogar vor Stress zu schützen. Es ist eine Empathie, die jedem von uns sofort zugänglich ist.

Sylvias Erfahrung verdeutlicht, dass ein Zusammenhang besteht zwischen unserem Einfühlungsvermögen (sich auf den anderen einlassen können), unserem Gefühl von Zentriertheit („man selbst sein“) und Gelassenheit („man selbst sein“ und zugleich nicht anfällig für Stress sein). Sie können das selbst testen: Erinnern Sie sich an eine stressige Situation, in der Sie im Nachhinein von sich sagen würden, dass Sie unausgeglichen und nicht ganz Sie selbst waren, z. B. in einem Streit. Sie standen im wahrsten Sinne des Wortes „neben sich“. Und im Nachhinein gefällt Ihnen nicht, wie Sie sich verhalten haben. Und jetzt erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie sich im Frieden mit sich selbst, ausgeglichen und gelöst gefühlt haben. Zentriert und gelassen. Wenn Sie nun beide Situationen miteinander vergleichen: In welcher Situation waren Sie fähiger, auf andere Menschen einzugehen und sie zu verstehen? In welcher Situation waren Sie fähiger, mit Stress umzugehen? Wenn Sie bestätigen, dass dies in beiden Fällen eher auf die zweite Situation zutrifft, haben Sie den Geschmack einer Empathie erlebt, die in der gängigen Forschung bis heute noch kaum beachtet wurde. Wir sprechen hier von einer Empathie, in der hohe Selbstempathie (Sie sind ausgeglichen und in sich selbst ruhend) und zwischenmenschliche Empathie (Sie können sich einfühlsam auf Ihre Umwelt einlassen) nicht mehr getrennt voneinander sind. Sie ergeben sich aus einer Art innerer Weisheit, die tief in jedem von uns angelegt ist.

Gängige Trainings vermitteln Empathie meist als eine konkrete Technik: Wir lernen Kommunikationsregeln, die uns helfen, besser zu überzeugen, zu deeskalieren und besser verstanden zu werden. Wir können lernen, unser Gegenüber besser zu „lesen“, indem wir uns für Mimiken, tiefere Motive etc. sensibilisieren. Wir können lernen, Menschen in psychologische Persönlichkeitstypen-Modelle einzuordnen, wir können uns darin üben, uns über Rollenspiele in die Lage anderer Menschen zu versetzen etc. Es gibt zahlreiche Zugänge zu mehr zwischenmenschlicher Empathie, die sich trainieren lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass all diese Zugänge in unserer Zusammenarbeit mit Sylvia und Bernd durchaus sinnvoll waren. Doch letztlich sind sie in emotional belastenden Situationen nur begrenzt hilfreich. Einen Durchbruch im Prozess erreichten wir, indem wir Bernd und vor allem Sylvia bei der Beantwortung der Frage begleiteten, wie sie wieder sie selbst sein könnten.

Wir sprechen dabei von „Empathie 3.0“. Es handelt sich nicht um eine Empathie im Sinn von „emotionaler Ansteckung“. Für dieses überholte Empathieverständnis verwenden wir den Arbeitsbegriff „Empathie 1.0“. Es handelt sich auch nicht um den in den 1990er-Jahren geprägten Sammelbegriff für unterschiedliche Kommunikationstechniken und Kompetenzen, wie z. B. kognitive Empathie, emotionale Empathie etc., die sich einzeln trainieren lassen. Dafür verwenden wir den Arbeitsbegriff „Empathie 2.0“. Vielmehr handelt es sich um eine grundlegende Qualität, die in uns allen angelegt ist und die wir vor allem dann spüren, wenn wir uns zentriert fühlen. Es ist unser natürliches Potenzial für Gelassenheit und zugleich auch unsere intuitive Verbindung mit allem Leben.2 Wir bezeichnen diese Art von Empathie als „Empathie 3.0“ (vgl. Tabelle 1.1).

Kriterien

Empathie 1.0

Empathie 2.0

Empathie 3.0

Seit wann?

Etwa Mitte 19. Jh. / Anfang 20. Jh.

Anfang der 1990er-Jahre

Etwa Mitte der 2000er-Jahre

Kernanliegen

Zwischenmenschlichkeit

Zwischenmenschlichkeit und Integration von Kopf und Herz

Mehr Wohlbefinden und Einklang mit sich und anderen durch Tiefe und Gelassenheit

Synonyme

Einfühlungsvermögen

Emotionale Intelligenz

Emotionale Weisheit

Tabelle 1.1: Empathiekonzepte im Laufe der Zeit

Das Potenzial von Empathie 3.0 besteht darin, mit emotionalem (Empathie hemmenden) Stress umgehen zu können, ohne auf Einfühlungsvermögen verzichten zu müssen. Wie wir zu dieser, in uns allen angelegten Empathie Zugang finden und in stressigen Konfliktsituationen anwenden können, soll in den folgenden Kapiteln näher dargestellt werden.

1.5 Zusammenfassung

Alle Welt redet heute von Empathie. Doch der Begriff wird uneinheitlich verwendet, zum Beispiel im Sinne von „Einfühlsamkeit und emotionaler Ansteckungsfähigkeit“ (Empathie 1.0) oder als Sammelbegriff für „kognitive und emotionale Empathie mit anderen und mit sich selbst“ (Empathie 2.0) oder als „emotionale Weisheit“, als Ursprung für zwischenmenschliche Empathie und Selbstempathie (Empathie 3.0).

Empathie hat viele Vorteile: Sie ist eine Universalkompetenz, das heißt, sie hilft in unterschiedlichen Situationen. Sie ist Grundlage eines funktionierenden, ja sogar besseren Miteinanders.

Stress wirkt sich hemmend auf Empathie aus.

Umgekehrt wirkt sich Empathie im Sinne von „Empathie 3.0“ stresshemmend aus. Empathie 3.0 ist in jedem von uns angelegt. Empathie und Stressfähigkeit (im Sinne von Gelassenheit) sind miteinander vereinbar.

1.6 Der Empathie-Selbsttest

Keiner der heute gängigen Empathie-Selbsttests bezieht sich auf die Qualitäten, die wir mit dem Begriff „Empathie 3.0“ umschreiben. Der von uns entwickelte Selbsttest beinhaltet 21 Fragen, nach deren Beantwortung Sie grob einschätzen können, wie es um unterschiedliche Facetten Ihrer Empathie steht. Es handelt sich um Fähigkeiten, die gezielt trainiert werden können (im Sinne von „Empathie 2.0“), und um Ihr in Ihnen angelegtes Potenzial zu natürlicher Gelassenheit und Verbindung („Empathie 3.0“). Legen Sie ein Tagebuch an und schreiben Sie auf der ersten Seite die Überschrift „Mein Empathieprofil“. Teilen Sie das Blatt mit einem senkrechten Strich in zwei Hälften und tragen Sie in die linke Spalte von oben nach unten die Ziffern 1 bis 21 ein. Ihnen steht es frei, ob Sie dazu auch die dazugehörigen Aussagen dazuschreiben wollen.

Lesen Sie die folgenden Aussagen genau durch und bewerten Sie jeweils den Grad Ihrer Zustimmung mit den Zahlen 1 bis 4:

1 – völlig abwegig

2 – trifft nicht zu

3 – trifft zu

4 – stimmt völlig

Tragen Sie nun in der rechten Spalte Ihres Empathietagebuchs neben die jeweilige Ziffer der Aussage Ihre Bewertungszahl ein. Wenn Sie sich mit der Bewertung einer Aussage nicht sicher sind, tragen Sie die Bewertungszahl ein, von der Sie glauben, dass sie der Wahrheit am nächsten kommt. Antworten Sie so aufrichtig wie möglich und möglichst spontan, ohne viel über die Aussagen nachzudenken.

Aussage

Bewertung (1 bis 4)

1. Andere sagen mir, dass ich gut zuhören kann.

2. Ich kann meine Gefühle gut benennen.

3. Wenn ich ein negatives Gefühl habe, kann ich genau sagen, um welche tieferen Anliegen es mir geht und welche Bedürfnisse von mir verletzt sind.

4. Ich kenne mein typisches Verhaltensmuster in Konflikten und ich bin mir über alternative Verhaltensoptionen bewusst.

5. Wenn ich mit anderen Menschen kommuniziere, gibt es in der Regel keine Missverständnisse.

6. Ich kann emotional schwierige Themen so ansprechen, dass die Situation nicht eskaliert.

7. Ich habe ein gutes Gespür dafür, welche Gedanken von mir meine Gefühle beeinflussen.

8. Niemand ist verantwortlich für meine Gefühle außer mir selbst.

9. Ich kann meine Gefühle zulassen – auch belastende.

10. Ich höre auf meine „innere(n) Stimme(n)“.

11. Ich weiß, wie ich belastende Gedanken loslassen kann.

12. Ich weiß, wie ich belastende Gefühle loslassen kann.

13. Ich fühle mich meistens im Kontakt mit meiner inneren Mitte.

14. Ich kann sehr gut eine Verbindung mit anderen Menschen herstellen.

15. Ich habe ein gutes Gespür für das „Gute“ hinter den Handlungen anderer Menschen.

16. Ich nehme bei mir bewusst unterschiedliche „Ich-Zustände“ wahr (z. B. Eltern-Ich, Kindheits-Ich, Erwachsenen-Ich3).

17. Ich habe ein gutes Gespür für die Ich-Zustände in anderen Menschen (z. B. Eltern-Ich, Kindheits-Ich, Erwachsenen-Ich).

18. Auch wenn ich selber im Konflikt bin, kann ich mich gut in andere Positionen hineinversetzen.

19. Intuitiv fühle ich mich mit allen Menschen verbunden (auch mit Personen, die ich nicht leiden kann).

20. Wenn ich im Frieden mit mir selbst bin, habe ich Frieden im Außen.

Dieser Selbsttest ist nicht dafür gedacht, zu bestimmen, ob Sie empathisch sind oder nicht. Vielmehr soll er die Selbstreflexion anstoßen, um Bereiche zu identifizieren, die für Ihr Trainingsprogramm besonders relevant sind. Erwarten Sie also bitte keine „Auflösung“ nach dem Schema „empathisch / nicht empathisch“.

2  Empathie 3.0 unterscheidet sich daher radikal vom aktuell diskutierten Empathieverständnis des Psychologen Paul Bloom. Dieser versteht Empathie vor allem als einen impulsiven Reflex der Einfühlung und kritisiert, dass Empathie dazu verführen könne, auf unbesonnene Weise zu reagieren. Dies begründet er mit seiner aktuellen Studie, in der er nachwies, dass Empathie rachsüchtiger machen könne. Sie könne zu Rachegefühlen führen, die aus Empathie für die Opfer entstehen und zu Vergeltungsschlägen verleiten, die niemandem helfen. Gerade wenn z. B. Populisten Missstände anprangern, womöglich sogar drastische Maßnahmen propagieren würden (etwa gegen ein anderes Land in den Krieg zu ziehen), würden sie ja häufig an die Empathie der Mitmenschen appellieren (Bloom, P. [2016]: „The Perils of Empathy“. Wall Street Journal, 02.12.2016. https://www.wsj.com/articles/the-perils-of-empathy-1480689513). Demgegenüber verstehen wir Empathie 3.0 als eine „reife Empathie“, die ursprünglich und authentisch in uns angelegt und Garant für besonnenes und selbstreflexives Handeln ist. Daher besteht eher eine Ähnlichkeit mit dem Konzept des Begründers der Neurobiologie zwischenmenschlicher Beziehungen, Daniel Siegel. Dieser spricht von „Mindsight“ – als der Hauptkompetenz zu „innerer Sicht“, welche zu höherer Gelassenheit, Krisenfähigkeit und zwischenmenschlicher Empathie beitragen soll (Siegel, D. [2012]: Mindsight – die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. Goldmann: München).

3  Weitere Informationen dazu, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbirgt, finden Sie in Abschnitt 7.2.1.

2. Empathie in der Begleitung von Menschen in Krisen und Konflikten

„Komplexe Probleme haben oft eine Lösung, die verständlich, einfach und unkompliziert ist. – Und zumeist falsch.“

Deutsches Sprichwort

„Der erste Schritt zur Lösung eines Problems ist, es mit jemandem zu besprechen.“

Peter E. Schumacher (1941–2013), Aphorismensammler und Publizist

2.1 Anderen Menschen helfen

„Du, mir geht es gerade gar nicht gut! Nach zehn Jahren Beziehung hat sie einfach Schluss gemacht! Ich brauche jemanden zum Reden!“ Wir alle erleben irgendwann Situationen, die uns so sehr überfordern, dass wir uns an Personen unseres Vertrauens wenden, um uns von ihnen helfen zu lassen. Oft besteht die Hilfe nicht mal in einer konkreten Sachleistung (wie z. B. Geld leihen etc.), sondern in einer Kommunikationsleistung. Das heißt, indem wir mit der Person unseres Vertrauens reden, fühlen wir uns im Anschluss besser imstande, unsere persönliche Problemsituation zu meistern. Diese Hilfe umfasst oft einen Ratschlag, eine Einschätzung der Situation aus einem anderen Blickwinkel, einen Trost, ein offenes Ohr oder eine Mischung aus allem. Die meisten Menschen haben nicht nur schon mal die Erfahrung gemacht, andere Menschen zu Rate zu ziehen. Auch umgekehrt haben sich die meisten schon mal in der Situation befunden, in eine Helferrolle zu schlüpfen und jemand anderem zur Seite zu stehen. Inzwischen gibt es sogar eine unüberschaubare Anzahl von Formen professioneller Hilfe – von Coaching über Training, Beratung und Therapie.4

Was bedeutet es eigentlich, anderen Menschen durch Kommunikation zu helfen? Welche Bedeutung hat dabei Empathie? Welche unterschiedlichen Arten des Helfens gibt es und worin bestehen die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Was muss man als Helfer beachten? Diesen Fragen widmet sich dieses Kapitel.

2.2 Was bedeutet es, anderen Menschen zu helfen?

„Ich möchte, dass Sie den Konflikt, den ich mit meiner Frau habe, lösen!“, sagte Bernd, als wir in unserem ersten Kennenlerngespräch die wechselseitigen Erwartungen klärten. Ich antwortete ihm sinngemäß: „Ich bedaure, damit kann ich leider nicht dienen. Wenn Sie eine Form von Hilfe suchen, bei der jemand den Konflikt für Sylvia und Sie löst, sind Sie bei einem Richter besser aufgehoben. Was ich aber für Sie tun kann, ist, Sie beide darin zu unterstützen, Ihren Konflikt aus eigener Kraft und möglichst einvernehmlich zu bewältigen. Und wenn dies nicht klappen sollte, so kann ich Ihnen zumindest versprechen, dass Sylvia und Sie mit meiner Hilfe mehr Klarheit über Ihre gemeinsame und auch persönliche Situation finden, sodass Sie ganz genau wissen, was Ihnen wirklich wichtig ist und was zu tun ist.“

Dieser Wortwechsel verdeutlicht eine wichtige Unterscheidung, die wir treffen müssen, wenn wir davon sprechen, anderen Menschen zu helfen: Es gibt die „Hilfe durch Ratschläge“ einerseits und die „Hilfe zur Selbsthilfe“ andererseits.

Bei der Hilfe durch Ratschläge suchen wir eine Person auf, die uns unser Problem konkret abnehmen und es lösen kann. Nachdem diese Person mit uns geklärt hat, wo der Schuh drückt, steuert sie geradewegs die Lösung an. Diese Form von Hilfe finden wir vor, wenn wir uns an einen Handwerker wenden, einen Finanzberater oder gar einen Chirurgen. Bei zwischenmenschlichen Konflikten können wir diese Form von Hilfe auch von einem Richter erhalten. Er wird uns zwar keinen Ratschlag erteilen, aber er wird unser Problem durch ein verbindliches Urteil lösen – unabhängig davon, ob wir mit dem Urteil zufrieden sein werden oder nicht. In all diesen Formen von Hilfe geben wir unser Problem an eine Person ab, die dieses Problem für uns löst. In all diesen Formen weiß der Helfer, was für den oder die Betroffenen am besten ist.

Im Falle von Sylvia und Bernd bestand meine Rolle und die meiner Beraterkollegen, die während des Prozesses mit ihren ergänzenden Perspektiven hinzukamen, in einer anderen Form von Hilfe. Ich umschreibe sie mit „Hilfe zur Selbsthilfe“. Diese Form von Hilfe startet mit einer ganz anderen Grundannahme: Der Helfer kennt nicht die optimale Lösung und weiß daher auch nicht, was für die hilfsbedürftige Person am besten ist. Seine Rolle besteht nun darin, die Person darin zu unterstützen, sich selbst und das Problem (bzw. die andere Konfliktpartei) mit anderen Augen zu betrachten und tiefer zu verstehen. Im Laufe des Prozesses ergibt sich so eine neue Sicht auf die Dinge. Auf dieser Grundlage können neue, einvernehmliche Lösungen, die vorher noch nicht wahrgenommen wurden, entwickelt werden.

Beide Formen der Hilfe – „Hilfe durch Ratschlag“ und „Hilfe zur Selbsthilfe“ – haben ihre Berechtigung. Sie finden sich auch weitgehend in der professionellen Problembegleitung von Menschen wieder – sprich: in Therapie und Beratung und im Coaching. In der professionellen Problembegleitung werden die zwei Formen der Hilfe „Fachberatung“ und „Prozessberatung“ genannt. Fachberatung ist weitgehend deckungsgleich mit dem, was ich mit „Hilfe durch Ratschlag“ umschrieben habe, und „Prozessberatung“ mit „Hilfe zur Selbsthilfe“. Bei der Fachberatung hat der Helfer gegenüber dem Klienten einen Wissensvorsprung hinsichtlich des Problems – er tritt als „Fachexperte“ auf. Wenn wir z. B. mit unserem defekten Computer einen IT-Berater zu Rate ziehen, wird er direkt unser Problem für uns lösen. Eine Fachberatung lohnt sich vor allem in Situationen, die wir als kompliziert bezeichnen können. Komplizierte Probleme sind wie knifflige Rechenaufgaben. Dabei ist das Problem für den Nicht-Profi schwierig zu lösen, aber es ist bekannt, klar benannt und die angestrebte Lösung kann durch die richtige Herangehensweise und durch logische Schritte erreicht werden. Während komplizierte Probleme bereits auf eine Lösung verweisen, ist bei den sogenannten „komplexen Problemen“ alles unklar. Weder wissen wir, wie das Problem gelöst werden kann, noch, was die Problemursache ist, noch, wie es sich konkret darstellt. Typische komplexe Probleme sind zwischenmenschliche Konflikte. Komplexe Probleme lassen sich gut durch Prozessberatung begleiten. Anders als bei der Fachberatung hat der Helfer hier gegenüber dem Betroffenen keinen Wissensvorsprung in Bezug auf das Problem. Die Beziehung zwischen Helfer und Betroffenem ist auf Augenhöhe und gemeinsam versuchen sie, die für den Betroffenen optimalsten Lösungen zu entwickeln. Die Leistung des Prozessberaters besteht darin, den gesamten Beratungsprozess so zu gestalten, dass der Klient zu einem tieferen Verständnis seiner Situation und zu neuen Sichtweisen und Lösungsperspektiven gelangt. Dies setzt aber auch vonseiten des Klienten eine entsprechende Mitwirkung voraus. Und die ist nicht zu unterschätzen. Würden sich Bernd und Sylvia entschließen, ihren Konflikt an einen Richter abzugeben, damit er den Konflikt für beide löst, müssten sie das Risiko eingehen, dass ihr Problem nicht einvernehmlich und über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. In einer Prozessberatung hingegen, würden zwar ihre Bedürfnisse bei der Problemanalyse und Lösungsfindung berücksichtigt, aber sie wären angehalten, ihre Situation aus eigener Kraft zu ändern. Und dies ist zwar ein lohnender, aber zugleich auch ein sehr unbequemer Prozess. Prozessberatung setzt vor allem darauf, nicht den anderen zu ändern, sondern bei sich selbst anzufangen. In Konflikten bedeutet dies, dass sich die Konfliktpartei nicht darauf versteift, dass der andere nachgibt. Vielmehr konzentriert sie sich darauf, den eigenen Anteil am Problem aufzudecken,5 Verantwortung dafür zu übernehmen, die eigenen Verhaltens- und Denkmuster zu ändern und sich dadurch als Mensch weiterzuentwickeln. Dies ist sehr mühsam, denn es ist stets einfacher, Änderungen in der Außenwelt anzustreben als bei sich selbst.

Beide Formen der Beratung, Fachberatung (Hilfe durch Ratschlag) und Prozessberatung (Hilfe zur Selbsthilfe) sind, je nach Situation und Problemlage, angemessen und können einander ergänzen. Fast noch wichtiger ist, dass beide einen wesentlichen gemeinsamen Nenner haben: nämlich Empathie. Ich behaupte dabei nicht nur, dass Empathie eine Grundlage für die Synthese beider Arten des Helfens liefert. Ich glaube sogar auch, dass Empathie im Sinne von „Empathie 3.0“ sogar eine neue Qualität schafft, die bislang in der Beraterszene zu wenig berücksichtigt wird. Näheres dazu im nächsten Abschnitt.

2.3 Empathie als Grundlage für erfolgreiches Helfen

Was haben Fach- und Prozessberatung gemeinsam? Sie setzen eine Beziehung zwischen einem Berater und einem Klienten voraus. Und Beziehungen werden durch die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir aufeinander hören und aufeinander eingehen, maßgeblich beeinflusst. Dabei spielt Empathie eine entscheidende Rolle.

Es leuchtet ein, dass ein empathisches Verstehen des Klienten eine wesentliche Grundlage dafür ist, zu erfassen, wo ihn eigentlich der Schuh drückt und was seine Bedürfnisse sind. Ist er im Falle einer IT-Beratung besser beraten, seinen PC reparieren zu lassen oder sich gleich einen neuen zu kaufen? Oder womöglich braucht er einen Laptop? Und was kann er im Rahmen seiner Möglichkeiten tun, um künftigen IT-Problemen besser vorzubeugen? Jede wirkungsvolle Beratung bezieht den Kontext des Klienten mit ein. Um in diesem Sinne optimal auf den Klienten eingehen zu können, bedarf es der Fähigkeit, seine Situation zu verstehen. Und damit bedarf es Empathie mit sich selbst und mit anderen.

Was bedeutet es, empathisch zu verstehen? Ich habe die Beobachtung gemacht, dass viele Menschen damit die positive Variante der sogenannten „Goldenen Regel“ meinen. Die Goldene Regel ist ein ethisches Gebot, das grundlegend für ein friedliches Miteinander ist und sich in den meisten Weltreligionen findet. Im Westen kennen wir es im negativ vermeidenden Sinne: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge keinem anderen zu.“ Die positive Variante davon, die ich oft im Alltag beobachte, heißt „Behandle andere Menschen so, wie du auch behandelt werden willst“. Und genau diese Variante ist im Sinne von empathischem Verstehen nicht immer optimal. Ein extremes Beispiel sind die sogenannten Helikopter-Eltern, die angeben, „das Beste für das Kind“ zu wollen, aber im Grunde nur ihre eigenen Sehnsüchte auf das Kind projizieren und für seine wirklichen Bedürfnisse blind sind. Ein anderes typisches Beispiel finden wir bei interkulturellen Begegnungen. Wenn Sie sich in einer Ihnen völlig fremden Kultur bewegen (z. B. als Franzose in Japan) und die Menschen ausschließlich so behandeln, wie Sie es in Ihrer Kultur daheim gewohnt sind (z. B. sie mit einem dreifachen Wangenkuss und besonders herzlich begrüßen), werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit ins Fettnäpfchen treten (in Japan ist eher eine Verbeugung üblich und keinerlei Körperkontakt mit Fremden). Von den eigenen Wünschen und Bedürfnissen auszugehen, ist, wenn wir anderen empathisch begegnen wollen, nicht immer die beste Wahl. In der Beratung bedeutet für uns empathisches Verstehen daher nicht die „Goldene Regel“, sondern die sogenannte „Platinregel“. Und die lautet sinngemäß: „Behandle Menschen so, wie sie behandelt werden wollen.“ Das klingt banal, ist aber in der Umsetzung eine echte Herausforderung. Denn oft meinen wir zu wissen, was das Beste für den anderen ist, weil wir unwillkürlich von uns selbst ausgehen. Doch in der Regel kann es nur der andere am besten wissen. Daher bedarf es einer ausgeprägten Fähigkeit, sich selbst zu beobachten (hierauf gehen wir im Kapitel 5 näher ein) und die besondere Situation und Bedürfnisse des anderen zu verstehen (das behandeln wir in den Kapiteln 7 und 8