Das Ende der Mittelschicht - Daniel Goffart - E-Book

Das Ende der Mittelschicht E-Book

Daniel Goffart

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Beschreibung

Wir Kinder aus der Mittelschicht besuchten funktionierende Schulen, studierten kostenfrei und freuten uns über Festanstellung, Altersvorsorge und Kündigungsschutz. Wir hatten bezahlten Urlaub und demonstrierten gegen Volkszählung und Überwachungsstaat. Wie naiv wir waren! Heute entmündigt Deutschland sich selbst – mit jedem Klick bei Apple, Google und Facebook.Die Mittelschicht muss Abschied nehmen von der Welt, wie wir sie kannten. Die High-Tech-Gurus raunen das Wort disruption, doch kaum jemand spricht über das wahre Ausmaß dieser angekündigten »Zerstörung«. Dabei wird die »Revolution 4.0« zum digitalen Vernichtungsfeldzug auf dem Arbeitsmarkt. Hunderte Berufe verschwinden, und niemand weiß, wie unsere sozialen Sicherungssysteme überleben sollen. Was aber geschieht mit einer Gesellschaft, die auf Teilhabe, Arbeit und dem Wohlstand einer breiten Mittelschicht beruht?Daniel Goffart tritt den Verharmlosern und Beschwichtigern in Politik und Wirtschaft mit Zahlen und Fakten entgegen und zeigt, was getan werden muss, um die Wertschöpfung im Zeitalter der Digitalisierung gerecht zu verteilen.

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Für Tina, Marius und Golo

Ungekürzte und aktualisierte Ausgabe© Piper Verlag GmbH, München 2020© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort zur aktualisierten Ausgabe

Prolog

1. Der verkannte Charme des deutschen Durchschnitts

2. »Wir schaffen das!« – Wirklich?

3. Jobkiller Digitalisierung

4. Wer bietet mehr?

5. Die Plattformökonomie

6. Schöne neue Arbeitswelt

7. Vom Auto zur App?

8. Der perfekte Sturm

9. Von der Kita bis zum Capital Club

10. Geschlossene Gesellschaft – Members only

11. Geht Demokratie ohne Mittelschicht?

12. Marketing, Manipulation, Machtmissbrauch

Ausblick: Was muss getan werden?

Zum Schluss: »Lassen Sie uns reden!«

Anmerkungen

Vorwort zur aktualisierten Ausgabe

Als die ersten Recherchen für dieses Buch im Jahr 2017 begannen, war eine Pandemie vom Ausmaß der Corona-Krise für die allermeisten Menschen nur als Sujet eines Thrillers oder Horrorfilms vorstellbar. Auch beim Erscheinen der ersten Ausgabe im Frühjahr 2019 gab es keinen Hinweis darauf, dass eine Jahrhundert-Katastrophe unmittelbar bevorstand. Und selbst jetzt, mehr als ein Jahr nach der Ankunft des Covid-19-Virus in Europa, wissen wir nur, dass sich unsere Hoffnungen auf ein schnelles Ende dieses Alptraums nicht erfüllt haben.

Schon heute steht fest, dass die Corona-Krise die Schulden von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten in eine neue Dimension katapultiert hat. Die Folge: auf die Virus-Pandemie folgt die Schulden-Pandemie – mit weitreichenden Konsequenzen für Zinsen, Wachstum, Wohlstand und für das Leben der arbeitenden Mitte in unseren westlichen Gesellschaften. Die Notenbanken sind gezwungen, ihren ohnehin schon waghalsigen Kurs der indirekten Staatsfinanzierung mit noch einmal erhöhtem Tempo fortzusetzen. Nur so lässt sich nach Überzeugung der Zentralbanken die Gefahr steil steigender Zinsen abwenden, die sich aus dem massiven globalen Schuldenaufbau ergibt.

Begleitet wird diese internationale Entwicklung von einem neuen Misstrauen in die Globalisierung. Die in den Lockdown-Phasen vielfach gerissenen Lieferketten unserer arbeitsteiligen Exportwirtschaft und ihrer Just-in Time-Produktionen haben bei führenden Managern und Politikern die Überzeugung reifen lassen, dass man künftig wichtige Güter anders und vor allem heimatnäher herstellen muss. Durch diese absehbare Verlagerung von Produktionskapazitäten droht eine Fragmentierung der Weltwirtschaft, eine Entkoppelung. Dieses »decoupling« hatte sich zwar schon vorher angedeutet, aber nicht in dem Ausmaß, wie es uns jetzt bevorsteht. Vor allem China und die USA werden in der Post-Corona-Periode ihre Wirtschaft schneller entkoppeln. Sie wollen – auch aus Gründen hegemonialer Selbstbehauptung – mehr auf eigene Stärke setzten, eigene Herstellung und Produkte bevorzugen und auf die ökonomische Kraft ihres gewaltigen Binnenkonsums vertrauen. Die meisten anderen Ländern werden darauf mit einer noch protektionistischeren Politik reagieren, um ihre heimischen Unternehmen und Arbeitnehmer vor den globalen Verwerfungen zu schützen, die sich aus diesem »decoupling« ergeben.

Die post-pandemische Welt wird deshalb gekennzeichnet sein von einer stärkeren Beschränkung der ökonomischen und politischen Freizügigkeiten, die bislang für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte galten. In der Pharmabranche hat diese Entwicklung bereits begonnen.

Den heimischen Beschäftigten nutzt diese Entwicklung allerdings nur auf den ersten Blick. Zwar werden viele Unternehmen, die sich gegen künftige Störungen und Unterbrechungen ihrer Lieferketten absichern wollen, die Produktion aus preiswerten Regionen in ihre kostenintensiveren Heimatmärkte zurückverlagern. Doch wird dieser Trend nicht den heimischen Arbeitnehmern helfen, sondern nur das Tempo der Automatisierung und Digitalisierung beschleunigen, was den Druck auf die Löhne der arbeitenden Mitte eher erhöht.

Diese ökonomische Veränderung wird auch politische Konsequenzen mit sich bringen: Der im Zuge der Entkoppelung der Weltwirtschaft bereits eingesetzte und sich künftig verstärkende Rückzug auf das Nationale dürfte von den Populisten aller Art höchstwahrscheinlich als willkommenes Konjunkturprogramm genutzt werden.

Die geostrategischen Kraftfelder dieser Entwicklung liegen in China und den USA, während Europa Gefahr läuft, in dieser bipolaren Welt zwischen den beiden Supermächten zerrieben zu werden. Bedauerlicherweise zeigt sich auch nach dem Ende der Trump-Administration, dass der neue US-Präsident Joe Biden den Kurs des »America first« fortsetzen wird, wenn auch mit einer verbindlicheren Rhetorik. Und im Gegenzug wird China, das schneller als andere Länder mit neuer Stärke aus der Corona-Krise hervorgegangen ist, kein Jota von seinem erklärten Ziel abweichen, bis spätestens 2035 zum mächtigsten und wichtigsten Land der Welt aufzusteigen.

Was bedeutet all das für die Mitte unserer Gesellschaft, die im Zentrum dieses Buchs steht? Nun, der sich seit Jahrzehnten abzeichnende Trend der Marginalisierung der Mittelschicht wird sich in der Post-Corona-Welt mit erhöhter Geschwindigkeit fortsetzen. Es sind eben vor allem die Beschäftigten, die kleinen Selbstständigen und die mittelständischen Unternehmer, die als produktiver Kern unserer Gesellschaft die aufgetürmten Schulden abtragen und die Lasten dieser Krise schultern müssen, die sich im Bund und in den Ländern auf mehr als 1,3 Billionen Euro belaufen. Die in den folgenden Kapiteln ausführlich beschriebenen Faktoren wie Demografie und Digitalisierung werden durch die Pandemie nur noch wirkungsmächtiger – und sie werden deshalb den Druck auf die Mittelschicht weiter verstärken.

Nehmen wir beispielsweise die Demografie, also den Altersaufbau unserer Bevölkerung. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Staaten künftig viel mehr Geld als bisher in die Gesundheitssysteme stecken müssen und dass Vorsorge, entsprechende Klinikstrukturen und ausreichende Krankenversicherungen kein Luxus sind, sondern überlebenswichtige Notwendigkeiten darstellen. Doch weil die meisten entwickelten Länder stark alternde Gesellschaften aufweisen, wird die künftige Finanzierung dieser Ausgaben die verdeckten Schulden der heutigen umlagefinanzierten Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme nur weiter erhöhen. Hinzukommt die Tatsache, dass in den kommenden Jahren – also genau in der Periode, in der die Lasten der Pandemie getilgt werden sollen – die Generation der Babyboomer in Rente geht. Damit fehlen der Volkswirtschaft binnen weniger Jahre nicht nur drei bis vier Millionen meist gut ausgebildete und produktive Arbeitskräfte – nein, der Rentenversicherung erwachsen mit diesem neuen Heer der Anspruchsberechtigten auch noch riesige finanzielle Lasten, für deren Tragfähigkeit bislang niemand ein realistisches und politisch auch durchsetzbares Modell entwickelt hat.

Die politischen Parteien stehen deshalb vor der schwierigen Aufgabe, ehrliche Lösungen anzubieten und gleichzeitig Zustimmung einzuwerben. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die linke Hälfte des politischen Spektrums vorschlagen wird, zur Finanzierung immer mehr Schulden aufzunehmen und die sogenannten »Reichen« mit höheren Einkommens- und Vermögenssteuern oder gar noch mit einer Art einmaliger Sonderabgabe nach dem Vorbild der Lastenausgleichsabgabe nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kasse zu bitten.

Dagegen flüchten sich Union und FDP in den Irrgarten schöner Scheinversprechen. Ihren Konzepten zufolge soll allein ein kräftiges Wachstum der Wirtschaft in den kommenden Jahren alles ermöglichen, was geboten scheint: zum Beispiel höhere Investitionen – vor allem in Gesundheit, Bildung, Klimawandel und Infrastruktur. Gleichzeitig wird der Verzicht auf höhere Steuern versprochen ebenso wie ein Verzicht auf neue Schulden und auf höhere Sozialabgaben. Und zu guter Letzt sollen in einer Frist von zwanzig Jahren auch noch die Corona-Schulden in Milliardenhöhe getilgt werden.

Ich will den künftigen politischen Debatten nicht vorgreifen, aber beide Konzepte sind unehrlich. Die einen wollen den Bürgern weismachen, dass ein stärkeres Abkassieren der »Reichen« und neue (vermeintlich billige) Schulden alle Probleme lösen. Und die anderen wollen niemandem wehtun und versprechen einfach das Blaue vom Himmel herunter, ohne zu sagen, wo das ganze Geld für die vielen Versprechen wirklich herkommen soll. Allein auf das Wachstum zu vertrauen, erscheint mir jedenfalls ziemlich gewagt.

Schon jetzt zeichnet sich ab, welche tiefen Wunden die Pandemie in die Wirtschaft und die Gesellschaft schlagen wird. Ein weiterer Faktor, dessen Veränderungswucht durch die Corona-Krise noch einmal erheblich gesteigert wurde, betrifft die Digitalisierung. Schon vorher verlagerte sich ein immer größerer Teil der Wirtschaft und insbesondere des Handels auf digitale Plattformen. Die monatelange Schließung der Geschäfte haben diesen Trend deutlich beschleunigt. Internetkraken wie Amazon und andere machen den Profit ihres Lebens, während der stationäre Handel um seine Existenz kämpft. Was das am Ende für unsere Innenstädte bedeutet, werden wir wohl erst am Ende der Pandemie sehen. Vergitterte Schaufenster, leerstehende Geschäfte und eine fortschreitende Verödung unserer innerstädtischen Lebens- und Kulturräume werden vermutlich die Folge sein.

Das Arbeitsleben wird sich ebenfalls enorm verändern. Nach mehr als einem Jahr im Homeoffice erscheint es als kaum vorstellbar, nach der Pandemie wieder fünf Tage die Woche von morgens bis abends ins Büro zurückzukehren. Auch das wird zur Leerung der Innenstädte und zur zunehmenden Vereinsamung vieler Menschen beitragen.

Man muss nicht so weit gehen wie der US-Ökonom Nouriel Roubini, nach dessen Analyse der Welt nach Corona »ein Jahrzehnt der Verzweiflung droht«, aber die negativen Konsequenzen sind unübersehbar.

Der andauernde Ausnahmezustand hat für viele Menschen zudem psychische Folgen und soziale Konsequenzen. Nach einer Allensbach-Umfrage im Auftrag der deutschen Versicherungswirtschaft vom Dezember 2020 ist der ohnehin schon abnehmende Zukunftsoptimismus der Bundesbürger noch einmal schlagartig gesunken. Angst um den Job und die eigene Existenz bestimmen die Seelenlage, ebenso wie die Unsicherheit über die Zukunft. Beklagt werden auch gesellschaftliche Veränderungen wie zunehmende Aggression und Ungeduld sowie Vereinsamung und abnehmende Hilfsbereitschaft. Vor allem die »Generation Mitte«, also die mehr als 35 Millionen 30- bis 59-Jährigen in Deutschland, leidet unter einer sich eintrübenden Perspektive. Dabei sind sie die Gruppe, auf die es in den nächsten Jahren ankommen wird: Sie erziehen Kinder und bilden sie aus, sie finanzieren die sozialen Sicherungs- und Bildungssysteme, sie stellen 70 Prozent der Erwerbstätigen und erwirtschaften mehr als 80 Prozent der steuerpflichtigen Einkünfte. Wenn diese Gruppe der Leistungsträger den Mut verliert, leidet das ganze Land.

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge warnt eindringlich vor den sozialen Folgen der Corona-Krise und einer wachsenden Spaltung der Gesellschaft. So würden hauptsächlich sozial bedingte Faktoren das Risiko einer Infektion erhöhen, meint Butterwegge unter Verweis auf »katastrophale Arbeitsbedingungen« wie etwa in der Fleischindustrie. Das gelte auch für hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse in den Gemeinschaftsunterkünften von Flüchtlingen, Werkvertragsarbeitern der Baubranche und Saisonkräften in der Landwirtschaft. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass zwischenzeitlich bis zu sieben Millionen Menschen in Deutschland in Kurzarbeit waren, was den Betroffenen die akute Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes täglich vor Augen führte. Zudem haben die Aufgabe zahlreicher Geschäfte und hunderttausende Entlassungen in der Gastronomie, der Touristik und der Kulturbranche zu drastischen Einkommensverlusten geführt – und das in Bereichen, die ohnehin von eher schlechter oder nur mäßiger Bezahlung geprägt sind.

Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch Krisengewinner – etwa der Lebensmittel- und Versandhandel, die Digitalwirtschaft sowie die Pharmaindustrie. Hier wurden teilweise enorme Extraprofite realisiert, ohne dass freilich davon etwas bei den Beschäftigten angekommen wäre. Auch die Aktionäre der börsennotierten Unternehmen, die mit Staatshilfen und Kurzarbeitergeld gerettet wurden, können sich freuen. So übernahm die Bundesagentur für Arbeit durch die Zahlung des Kurzarbeitergeldes im vergangenen Jahr beispielsweise einen großen Teil der Lohnkosten von BMW. Gleichzeitig zahlte der Konzern seinen Aktionären Dividenden von insgesamt 1,64 Milliarden Euro aus. Allein die beiden Großaktionäre Susanne Klatten und Stefan Quandt erhielten mehr als 750 Millionen Euro. Diese verteilungspolitische Schieflage zwischen den Erbringern und Empfängern staatlicher Hilfen hat die ohnehin seit Jahren wachsende Spreizung bei den Vermögensverhältnissen in Deutschland weiter verschärft.

Auch die Löhne und Gehälter sind in der Pandemie gesunken. Laut Statistischem Bundesamt kam es 2020 – erstmals seit Beginn der Erhebung 2007 – zu einem Rückgang der Nominallöhne um rund 0,6 Prozent. Gemeinsam mit einem gleichzeitigen Anstieg der Verbraucherpreise um knapp 0,5 Prozent trifft die Beschäftigten somit ein realer Verdienstverlust von mehr als einem Prozent.

Der Abstieg der Mittelschicht ist nicht erst durch die Pandemie in Gang gesetzt worden. Es gibt zahlreiche Entwicklungen, die schon lange vor Corona den Druck auf die arbeitende Mitte immer weiter erhöht haben – sie werden diesem Buch ausführlich beschrieben und analysiert. Allerdings hat die Pandemie die Wirkung dieser Faktoren noch einmal beschleunigt und uns so die Bedeutung des Themas in drastischer Klarheit vor Augen geführt.

Daniel Goffart,Berlin, im März 2021

Prolog

Von den Babyboomern bis zur Generation Golf: Die Wohlstandskinder geraten unter Druck

Wir waren immer viele – in der Klasse, im Hörsaal und später im Beruf. Die Geburtenrate stieg in den Sechzigerjahren steil an, der Höhepunkt wurde 1964 erreicht. Nie zuvor und auch nie mehr danach kamen in der Bundesrepublik so viele Kinder zur Welt. Wir Sechziger und später auch die Siebziger wurden jahrelang in Containerbauten unterrichtet, weil man mit dem Neubau von Schulen nicht nachkam. Vierzig und mehr Schüler in einem Klassenraum waren keine Ausnahme, sondern die Regel. Es war laut, eng und stickig. Wir lernten, uns im Gedränge zurechtzufinden und auch durchzusetzen.

Als wir erwachsen wurden, stapelten sich unsere Bewerbungsmappen in Wäschekörben, aber das war egal, denn irgendwie hat fast jeder aus der Generation der »Babyboomer« und der nachfolgenden Jahrgänge seinen Platz gefunden. Wir besuchten gute öffentliche Schulen, studierten kostenfrei an funktionierenden Universitäten oder erlernten wie unsere Väter und Mütter einen Beruf, der uns ernähren und die Ausbildung unserer Kinder sichern sollte. Irgendwann erfüllte sich vielleicht sogar der Traum vom Häuschen im Grünen oder von der eigenen Wohnung in der Stadt. Für unsere Gesundheit wurde gesorgt, wir konnten wochenlang in Urlaub fahren, und die Rente war sicher.

Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, dann sind Sie vermutlich 40 Jahre oder älter, stammen aus der breiten deutschen Mittelschicht und merken seit Längerem, dass Ihnen dieses so erfolgreiche und vertraute Lebensmodell immer mehr abhandenkommt. Sie hören zwar von den riesigen Chancen der Globalisierung und lesen viel über den Segen der digitalen Zukunft; aber Sie sehen auch die wachsende Kluft zwischen den kühnen Visionen der Start-up-Philosophen und Ihren eigenen Berufserfahrungen. Sie horchen auf, weil in den Talkshows immer häufiger das Wort disruption geraunt wird. Und Sie vermuten völlig zu Recht, dass Politiker und Wirtschaftsführer uns über das wirkliche Ausmaß dieser angekündigten »Zerstörung« bewusst im Unklaren lassen.

Eigentlich wollen Sie sich von diesen Debatten nicht verunsichern lassen, denn Ihr Leben ist in den vergangenen zwanzig Jahren schon anstrengend genug geworden. Vielleicht hatten Sie im Stillen sogar einmal auf eine Atempause von der Globalisierung gehofft. Aber die rasanten Veränderungen an Ihrem Arbeitsplatz und der Blick in unsere Nachbarländer belehren Sie eines Besseren. Tief drinnen wissen Sie, dass wir trotz des bisherigen Wandels gerade erst am Anfang eines neuen Zeitalters stehen. Und Sie ahnen, dass zwischen Ihrer beginnenden Verunsicherung und der wachsenden Enttäuschung, Angst und Wut vieler Mitbürger ein Zusammenhang bestehen könnte.

Dabei ist vieles von dem, was uns in den kommenden zwanzig Jahren noch bevorsteht, schon von kritischen Wissenschaftlern, engagierten Managern und weitsichtigen Politikern erkannt und aufgeschrieben worden. Meist geschieht das aber nur isoliert und in einzelnen Sektoren. Die einen erforschen die umwälzenden Veränderungen der Arbeit und den ersatzlosen Wegfall ganzer Berufsbilder. Andere wiederum analysieren, ob und wie weit unsere auf Maschinen, Anlagen und Autos beruhende Industrie in der digitalen Revolution überleben kann. Wenn ein Mercedes künftig nur noch ein großes Handy mit Batterie und Rädern ist, werden die Deutschen nicht mehr viel daran verdienen.

Genauso drängend sind die Fragen nach den Konsequenzen dieser ökonomischen Umwälzungen für unsere Sozialsysteme. Diese beruhen vollständig auf dem nunmehr bedrohten Lebensmodell der Mittelschicht – dem jahrzehntelangen Dauerarbeitsverhältnis in Festanstellung. Biografische Brüche, Jobverlust oder Zeiten von Selbstständigkeit, Weiterbildung und beruflicher Neuorientierung sind im deutschen Sozialsystem eigentlich nicht vorgesehen. Sie werden bei der Rentenversicherung rein technisch als »Ausfallzeiten« betrachtet, weil in solchen Phasen keine regelmäßigen Beiträge gezahlt werden können. Auch der Schutz vor Lebensrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit beruht auf regelmäßigen Beiträgen und ist für den ganz überwiegenden Teil der Berufstätigen nur finanzierbar, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die ständig steigenden Kosten teilen. Wie aber können diese Solidarsysteme überleben, wenn die klassische Festanstellung nicht mehr der Normalfall ist, sondern nur eine von vielen Beschäftigungsformen?

Hinzu kommt das bekannte, aber in absehbarer Zeit trotzdem kaum lösbare demografische Problem unserer überalterten Gesellschaft. Renten- und Lebensversicherungen sind jetzt schon unter starken Druck geraten. Und natürlich fragen sich jenseits von Rentenberechnungen und Versicherungsstatistiken viele Sozial- und Politikwissenschaftler mit wachsender Sorge, wie dieser massive Wandel der Arbeitswelten auf unser Zusammenleben und auf unsere Demokratie einwirkt.

Nicht zuletzt müssen wir künftig mit einer massiven Einschränkung unserer bürgerlichen Freiheit leben. Sie ist bereits in vollem Gange und geschieht schrittweise, fast unbemerkt. Doch es ist nicht der Staat, der unsere Freiheitsräume beschneidet. Das von Liberalen und Linken lange gepflegte Feindbild der übermächtigen Staatsmacht ist zumindest in Deutschland überholt. Heute sind es die großen Internetkonzerne, die unsere Selbstbestimmung bedrohen, die uns immer mehr erfassen, analysieren und manipulieren. Das Schlimme ist, dass wir das alles irgendwie wissen und trotzdem täglich an unserer digitalen Entmündigung mitwirken. Wer kennt nicht dieses Ohnmachtsgefühl, wenn beim Anklicken einer Website oder einer App wieder einmal dem neuesten Update zugestimmt werden muss? Manchmal rafft man sich auf und beginnt, in einem Akt digitalen Ungehorsams die mehrseitigen »Erläuterungen« zu lesen. Doch was folgt daraus? Vielleicht verweigert man einmal die erbetene Zustimmung und verlässt aus Protest die betreffende Seite. Aber oft genug gibt es keine sinnvolle Alternative, oder es fehlt gerade wieder einmal die Zeit, um danach zu suchen. Also bleibt man bei Google, Amazon & Co. Man stimmt allen Updates »freiwillig« zu und ahnt, dass sich unser Freiheitsraum damit jedes Mal ein Stückchen mehr verengt.

Das ist nicht übertrieben. Wer den entsprechenden Einstellungen bei Google und anderen Anbietern nicht ausdrücklich widersprochen hat, wird jetzt schon bei jedem Schritt und bei jeder Fahrt »getrackt«, also digital verfolgt oder, freundlich gesagt, »begleitet«. Natürlich erhält man dann irgendwann als »Service« auch jede Menge »Angebote« entlang seiner Wegstrecke und wird ständig mit bezahlten »Informationen« versorgt. Doch was ist das, wenn man genauer hinsieht? Eine gut gemeinte »Empfehlung«? Eine Erweiterung meiner Möglichkeiten? Oder die mit Algorithmen gesteuerte Überwachung der Nutzer, um sie zu besseren, sprich gefügigen Konsumenten zu machen?

Wir stehen damit erst am Anfang. Angesichts der neuen Dimensionen in der virtuellen Welt kann ich nur mit einem müden Lächeln an 1987 zurückdenken. Damals wurde mit großen Demonstrationen gegen die »Volkszählung« protestiert, weil sie als Ausforschung durch den Staat empfunden wurde. Waren wir früher zu naiv, oder ist man heute zu sorglos? Vermutlich beides.

Dabei stellen sich die Fragen des Persönlichkeitsschutzes dringender denn je. Allerdings bestehen die Antworten der allermeisten Konsumenten nur in gleichgültigem Schulterzucken, vor allem bei jungen Leuten. »Ist halt so«, heißt es dann, »kostet ja auch nichts« oder »kann man eh nichts gegen machen«. Doch was geschieht mit meiner persönlichen Freiheit, wenn ich in der neuen Welt überall digitale Spuren hinterlasse? Wo bleiben meine Rechte als Kunde, wenn ich schon beim zweiten Aufruf eines Produkts im Internet erkennen muss, dass der Preis für das Angebot gestiegen ist? Wie kann es sein, dass Firmen wie Cambridge Analytica und Facebook durch das Sammeln und Verknüpfen von Millionen Daten sogar die Wahlen in den USA manipulieren können – ohne dass dies zu irgendeiner rechtlichen Konsequenz führt? Werden wir überhaupt noch in der Lage sein, unsere fortschreitende digitale Entmündigung in allen Lebensbereichen zu verhindern?

Es ist absehbar, dass jede Tätigkeit, jede Transaktion künftig digital erfasst wird. Spätestens mit der Abschaffung des Bargelds sind wir dann in der Hand großer Unternehmen, die unsere Einkäufe abwickeln, unsere Transaktionen beobachten und unsere Finanzen analysieren. Eine Horrorvorstellung. Dagegen ist die düstere Vision von George Orwells 1984 nicht mehr als ein etwas altbacken klingender Science-Fiction-Roman.

Wir müssen gar nicht weit in die Zukunft schauen, um die vielen bedenklichen Veränderungen zu erkennen. Sie sind nicht nur auf die digitale Welt beschränkt. Unbestreitbar ist schon jetzt ein Auseinanderdriften der Gesellschaft zu spüren, nicht nur bei der Vermögensverteilung. Die einst so homogene Mittelschicht spaltet sich auf. Sie zerfällt in einzelne Gruppen, die sich am höchst unterschiedlichen Erfolg der verschiedenen Bildungswege und Berufsbilder orientieren. Damit verbunden sind stärkere Spreizungen bei den Einkommen sowie eine zunehmende Ausdifferenzierung der Lebensstile. Die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land spielt dabei eine bedeutende Rolle. Regelmäßig beklagen Politiker, Verbände und Unternehmer, dass die ländlichen Lebensräume den Anschluss verlieren und immer mehr zurückfallen. Aber eine Entwicklung zum Besseren oder gar eine Trendumkehr ist nicht erkennbar.

Jahrzehntelang wurde die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf Grafiken in Form einer Zwiebel dargestellt. Die Ober- wie die Unterschicht waren nur als kleine Zipfel erkennbar; die überwiegende Zahl der Menschen fand sich in der großen bauchigen Mitte wieder. Heute müssten die Grafiker die Form unserer Gesellschaft eher als Birne zeichnen. Aus dem kleinen Zipfel der Unterschicht ist eine breite Masse geworden, die sich ohne großen Übergang bis zur schmaler gewordenen Mitte fortsetzt.

Auch der abnehmende Kontakt und Austausch zwischen den verschiedenen Gruppen deutet auf die Erosion der Gesellschaft hin. Während in der alten Bundesrepublik die Ober- und Mittelschichten noch direkte Berührungen bei der Ausbildung, der Kultur und auch beim Sport hatten, ist heute ein zunehmender Absonderungsprozess zu beobachten. Das beginnt bereits im frühen Kindesalter. Die explosionsartige Zunahme privater Kitas, privater Schulen und privater Universitäten entwertet nicht nur den seit Jahrzehnten chronisch unterfinanzierten öffentlichen Bildungsbereich; sie führt im weiteren Lebensverlauf auch zur Herausbildung abgeschirmter Zirkel und Gesellschaftskreise, in denen die Elite und ihre Zöglinge weitgehend unter sich bleiben können.

Die ehemals breite Mittelschicht hingegen schrumpft kontinuierlich, wie alle einschlägigen Studien belegen. Das Versprechen auf »Wohlstand für alle«, ausgelöst durch das »Wirtschaftswunder« und eine jahrzehntelange Kultur der Stabilität und Teilhabe, ist schon jetzt Vergangenheit. Kaum noch eingelöst wird auch das »Aufstiegsversprechen«, das jedem unabhängig von seiner Herkunft soziale Mobilität ermöglichen sollte. Unsere Eltern empfanden den Satz »Mein Kind soll es einmal besser haben« noch als Verpflichtung und Lebensauftrag. Davon ist nur wenig geblieben. Die soziale Durchlässigkeit nimmt immer weiter ab. Wer heute in den sogenannten bildungsfernen Schichten zur Welt kommt oder in Deutschland mit einem Migrationshintergrund aufwächst, hat nur geringe Chancen auf einen sozialen Aufstieg.

Bereits Ende der Neunzigerjahre wurde die »Deutschland AG« zerschlagen, ein Netzwerk von Verflechtungen zwischen großen Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen. Mit ihr verschwand das ausbalancierte und konsensorientierte Modell des »rheinischen Kapitalismus«, das auch in der Wirtschaft von dem rheinischen Motto »Leben und leben lassen« geprägt war. An seine Stelle trat das Diktat des Shareholder Value. Der Untergang des Traditionskonzerns Mannesmann und die Invasion der »Heuschrecken« in Gestalt von Firmenjägern und Investmentfonds waren die für jedermann sichtbaren Zeichen einer radikalen Veränderung.

Die garantierten Beschäftigungssicherheiten der arbeitenden Mittelschicht schwanden, und der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat alter Prägung wurde durch einen »Gewährleistungsstaat« ersetzt. Dieser gewährleistet inzwischen nur noch eine Grundversorgung als Absicherung gegen Lebensrisiken wie Krankheit und Arbeitslosigkeit, ermöglicht aber nicht mehr den Statuserhalt. Ausschlaggebend waren die Hartz-IV-Gesetze der Agenda 2010. Das Reformpaket war zwar ökonomisch erfolgreich; dennoch sind die Sozialkürzungen bis zum heutigen Tag umstritten, weil sie zum Sinnbild für die neue Zeit der Unsicherheit und Auflösung wurden. Kein Wunder, dass die SPD als selbst ernannte Partei der Arbeitnehmer immer noch schwer an diesem Erbe trägt und ständig neue Versuche unternimmt, den als solchen empfundenen »Agenda-Fluch« abzuschütteln.

Schon mit Einsetzen der Globalisierung hörte Deutschland auf, eine Mittelstandsgesellschaft im klassischen Sinne zu sein. Mittlerweile übt die Mittelschicht fast überhaupt keinen echten Einfluss mehr auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes aus. Das Kapital und seine Eigentümer lassen sich von den traditionellen Machtinstrumenten und Interessenvertretern der Mittelschicht nicht mehr beherrschen. Sichtbarster Ausdruck dafür ist der massive Bedeutungsverlust von Gewerkschaften und Volksparteien.

Die Globalisierung löste die Mittelschicht aus ihrer alten nationalen Wirtschafts- und Binnenordnung heraus und setzte sie einem scharfen internationalen Wettbewerb aus, dessen weltweite »Wertschöpfungsketten« Flexibilität und Anpassung erzwangen. Für den Großteil der deutschen Arbeitnehmer hatte diese Entwicklung einen Verlust an Sicherheit und Wohlstand zur Folge. Die lange Phase der Reallohnverluste in Deutschland zwischen den Jahren 2000 und 2010 spricht für sich. Oftmals wird dabei übersehen, dass durch die Koppelung der Altersversorgung an die Lohnentwicklung auch Millionen Rentner unter dem Strich mit weniger Geld auskommen mussten.

Dass die Deutschen und damit vor allem die arbeitende Mitte sich nicht gegen diese Lohnspirale nach unten wehrten, ist wohl nur mit der langen Konsens- und Stabilitätskultur der Bundesbürger zu erklären – mit der wir in Europa allerdings eine bemerkenswerte Sonderstellung einnehmen. Während nämlich neben den deutschen Arbeitnehmern nur noch Griechen und Portugiesen nach Abzug der Inflation weniger Geld erhielten, stiegen die Reallöhne seit Einführung des Euro in Spanien, Irland, Italien und Frankreich deutlich an.

Diese besondere Form des »Maßhaltens« und die enorme Verdichtung und Rationalisierung der Arbeitsprozesse sind gewichtige Gründe, warum die deutsche Industrie international so wettbewerbsfähig ist. Qualitativ hochwertige Produkte, gepaart mit einer optimierten Herstellung bei insgesamt moderaten Personalkosten im Verhältnis zur Produktionsmenge, sind die Ingredienzen des deutschen Exporterfolgs. Doch der gute Wille, die Zuverlässigkeit und die lange Bescheidenheit beim Thema Lohnzuwachs haben der deutschen Mittelschicht nicht genützt. Am Erfolg ihrer Arbeitgeber sind die allermeisten Beschäftigten nicht beteiligt. Sie profitieren weder von den kräftig gestiegenen Aktienkursen noch von den guten Gewinnen ihrer Unternehmen. Das ist einzig und allein den Eigentümern und den Vorständen vorbehalten. Die angestellten Manager lassen sich ihre Arbeit nicht nur mit üppigen Gehältern, sondern zusätzlich noch mit Aktienoptionen und Bonuszahlungen vergolden. Dagegen ist die seit Jahren geforderte »Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital« eine Phantomdebatte geblieben.

Während sich zwischen 2000 und 2010 die Gehälter in den deutschen Vorstandsetagen mehr als verdoppelten, lebt der Großteil der Arbeitnehmer inzwischen von der Hand in den Mund. Eine Familie mit Durchschnittseinkommen hat heute kaum noch die Möglichkeit, ihre angespannte Lage durch Sparen und Vermögensbildung zu verbessern oder angesichts der demografischen Bedrohung etwas für das Alter zurückzulegen. Der finanzielle Abstieg dieser Menschen ist absehbar. Immer mehr Ökonomen warnen vor der Gefahr einer grassierenden Altersarmut, ohne dass jedoch etwas Durchgreifendes passiert.

Die »Normalität« ist das Fundament des Mittelstands, doch diese Normalität bröckelt. Zu verschwinden drohen die Normalarbeitsverhältnisse, die Normalbürger, die Normalbiografien, der Normalarbeitstag und der als »Otto Normalbürger« bezeichnete Durchschnittskonsument. Immer mehr Menschen arbeiten stattdessen in »unnormaler«, also in sogenannter »atypischer Beschäftigung«. Dazu zählen geringfügige und befristete Arbeitsverhältnisse, Zeit- und Leiharbeiter sowie Teilzeitkräfte mit weniger als 20 Wochenstunden. Ihre Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Heute trifft es mehr als jeden fünften Beschäftigten, was insgesamt 7,7 Millionen Menschen entspricht.

Dabei stehen die wirklich umwälzenden Veränderungen noch bevor. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche wird die beschriebene Entwicklung zu einer armen neuen Mittelschicht noch einmal radikal beschleunigen. Die Revolution 4.0 ist nicht bloß eine nahtlose Fortführung der vorangegangenen wirtschaftlichen Umbrüche, sondern ein radikaler und in seiner Geschwindigkeit und Ausbreitung gemeinhin völlig unterschätzter Wandel. Wir stehen am Beginn der digitalen Epoche und wollen nicht wahrhaben, dass es die Welt, wie wir sie kannten, in wenigen Jahren nicht mehr geben wird.

Warum? Dutzende Studien prophezeien die Vernichtung von Millionen Jobs sowie einen durch digitale Transparenz und Vergleichbarkeit erzwungenen gnadenlosen Wettbewerb. Hunderte Berufe, die jetzt noch einen festen Platz in unserem Alltag haben, werden durch künstliche Intelligenz und die Verknüpfung der Computersysteme überflüssig.

Am Anfang dieses digitalen Vernichtungsfeldzugs stehen die einfachen Jobs. Aber auch die Berufe im Dienstleistungssektor übernimmt künftig Kollege Computer. Im Touristikbereich ist das schon deutlich zu erkennen, und auch bei Banken und Versicherungen vollzieht sich ein tief greifender Wandel. In vollem Gange ist die Veränderung bereits bei den Medien – kaum eine Branche wurde durch den Siegeszug des Internets so früh und so nachhaltig durchgeschüttelt wie das Geschäft mit Zeitungen, Büchern und Magazinen.

Auf die westlichen Industrieländer rollt ein digitaler Tsunami zu. Das McKinsey Global Institute schätzt, dass allein durch hoch entwickelte Algorithmen und denkende Maschinen in den kommenden Jahren weltweit 140 Millionen Wissensarbeiter (!) durch Technik ersetzt werden. Die einfachen Tätigkeiten sind da schon gar nicht mehr mit eingerechnet.

Natürlich werden durch die Digitalisierung aller Produkte und Lebensbereiche auch neue Arbeitsplätze entstehen. Es fällt zwar schwer, den Prophezeiungen der Optimisten über eine angeblich bevorstehende Vollbeschäftigung zu glauben. Aber ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt in der Tat, dass im Zuge der Umbrüche vergangener Jahrhunderte stets die Beschäftigung zunahm und auch ganz neue Arbeitsbereiche entstanden. Möglich wurde das, weil die Produktivität der Arbeit durch den technischen Fortschritt kontinuierlich erhöht wurde. Diese steigende Produktivität schlug sich auch in einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen nieder.

Als Beispiel mag der berühmte »Heizer auf der E-Lok« dienen, der in den politischen Debatten der Vergangenheit stets als Sinnbild des Strukturwandels galt. Zwar wurden durch die Umstellung von Dampf- auf Elektrozüge alle Männer arbeitslos, die zuvor die Kohle vom Tender in die Heizkessel der Lokomotiven geschaufelt hatten; umgekehrt aber führte die Elektrifizierung der Eisenbahnen dazu, dass immer mehr Züge fuhren, immer mehr Gleise gebaut und immer mehr Stellwerke erforderlich wurden. Das alles war nur mit mehr Arbeitskräften zu schaffen.

Bei diesem Beispiel aus der alten Industriewelt gibt es allerdings einen gewaltigen Unterschied zur Digitalisierung: Während man früher den arbeitslos gewordenen Heizer nahtlos für den Bau neuer Gleisstrecken und Bahnhöfe einsetzen konnte, ist es in unserer komplexen technischen Welt von morgen mehr als fraglich, ob solche direkten, gleichzeitig stattfindenden Jobwechsel noch gelingen.

Ein Berufskraftfahrer, der in naher Zukunft durch selbstfahrende Autos arbeitslos wird, oder eine Verkäuferin, die durch automatische Kassen ihren Job verliert, schaffen wohl nur in Ausnahmefällen eine Umschulung zum Webdesigner oder zur Programmiererin. Im Zuge der Digitalisierung werden gleichzeitig alte Jobs verschwinden und neue entstehen. Aber diejenigen, die ihre alte Arbeit verlieren, werden nicht diejenigen sein, die den Anforderungen der neuen Arbeitsplätze gerecht werden.

Diese »Ungleichzeitigkeit« wird in wenigen Jahren zuerst jene treffen, deren Tätigkeit durch Maschinen ersetzbar ist oder deren Berufsbilder durch technische Neuerungen verschwinden. Massiv gefährdet sind alle, die heute nur eine gering qualifizierte Arbeit ausüben und älter als 40 Jahre sind, mithin eine Umschulung oder Weiterbildung nur sehr viel schwerer absolvieren können als junge Menschen.

Damit stellt sich die große gesellschaftliche und politische Frage der digitalen Zukunft: Was soll mit der enormen Anzahl von Menschen geschehen, denen der digitale Wandel die Arbeit nimmt und für die es in der neuen Arbeitswelt keine Alternative oder keine neue berufliche Perspektive gibt?

Natürlich wird man versuchen, so viele Betroffene umzuschulen, wie es nur geht. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass die Mehrheit der heute Geringqualifizierten in der hochkomplexen Welt der Hochleistungs-IT vermittelbar sein wird. Überlässt man diese digital Aussortierten dann sich selbst und riskiert damit eine weitere Verarmung eines wachsenden Teils der Gesellschaft? Oder alimentiert man die Opfer der Ungleichzeitigkeit, so weit es geht, aus den sozialen Sicherungssystemen, bis diese irgendwann unter der Last Millionen Betroffener zusammenbrechen?

Ganz neu wird sich in der nahen digitalen Zukunft auch die Frage stellen, ob unsere heute schon polarisierte, gereizte und in Teilen sogar gespaltene Gesellschaft eine weitere Verschärfung der sozialen Situation aushalten würde. Welche Wahlentscheidungen wären zu erwarten? Was würde es für die politischen Entscheidungsträger und unsere Demokratie bedeuten, wenn die populistischen und radikalen Parteien weiteren Zulauf durch das wachsende Heer enttäuschter und hoffnungsloser Menschen erhielten, denen sich in der neuen Welt kaum noch eine Perspektive bietet?

Selbst diejenigen, die im Arbeitsleben bleiben und sich in ihrem Job behaupten können, müssen mit einer ganz neuen Berufswelt zurechtkommen. Vor allem die Struktur der Arbeit wird sich vollkommen verändern. Aus den verbleibenden Arbeitnehmern werden »Projektteilnehmer«. Die noch von Menschen zu erledigenden Dienstleistungen werden in immer kleinere Einheiten zerlegt und in weitaus stärkerem Maße als bisher an Fremdfirmen beziehungsweise Selbstständige vergeben.

Die Arbeit der Zukunft wird entweder in Mega-Konzernen oder Mikro-Unternehmen stattfinden, die auf ein industrielles Öko-System mit Millionen wertschöpfender Einzelunternehmer zurückgreifen können. Dieses Heer der Digitalnomaden wird in einer global vernetzten Plattformökonomie im weltweiten Wettbewerb ihre mobile und jederzeit verfügbare Dienstleistung zum günstigsten Preis anbieten müssen. Die sozialversicherungspflichtige Festanstellung als klassische Lebensgrundlage der Mittelschicht ist damit endgültig Vergangenheit. Wir werden uns künftig nicht nur auf eine sehr viel höhere Zahl von Modernisierungsverlierern und auf ein digitales Prekariat einstellen müssen, sondern auch auf eine neue, aber ärmere und wesentlich kleinere Mitte. Die Digitalgesellschaft der Zukunft wird ein äußerst heterogenes und fragiles Gebilde darstellen, das mit der Stabilität und der Größe der klassischen Mittelschicht nicht mehr zu vergleichen ist.

Man kann dieser These sicher einige ökonomische, technische oder sozialpolitische Argumente entgegensetzen – sie werden im weiteren Verlauf des Buchs genannt. Volkswirte, Informatiker und Politikwissenschaftler beschäftigen sich höchst kontrovers mit diesem Thema. Streit und Konflikte sind programmiert. Es gibt aber auch kluge und gebildete Menschen, die der technischen Veränderung mit Ruhe und philosophischer Gelassenheit entgegenblicken. Sie lassen sich nicht von der Sorge um die Zukunft anstecken, denn ihre Hoffnung ist die Utopie.

Sie stellen ungewöhnliche Fragen wie diese: Was ist so schlimm daran, wenn die Computer künftig die Arbeit übernehmen? Haben wir Menschen dann nicht viel mehr Zeit und bedeutend weniger Stress? Besteht dann nicht die einmalige Gelegenheit, unsere freigesetzte Energie wesentlich sinnvoller einzusetzen als für die schnöde Erwerbsarbeit – etwa für ehrenamtliche Aktivitäten, für gesellschaftliche, künstlerische oder karikative Aufgaben? Oder einfach nur für unsere persönlichen Belange, für die Pflege von Freundschaften, für die Vertiefung familiärer Bindungen. Könnten wir dann nicht endlich einmal mit echter Muße unsere Bildung auffrischen, kreativ sein und den persönlichen Horizont erweitern? Und wäre die Welt nicht eine viel bessere, wenn möglichst viele Menschen so leben könnten, ohne Erwerbszwang, befreit von eintöniger und sinnentleerter Arbeit? Würde so nicht der Bildung, der Erkenntnis und einem neuen, altruistischen Zeitgeist zum Durchbruch verholfen? Ist am Ende nicht sogar die Digitalisierung die entscheidende Voraussetzung für eine wirklich humane Arbeitswelt und die Herausbildung einer Gesellschaft, die nach humanistischen Idealen strebt?

Der Nachteil an sozialen Utopien ist, dass sie selten mit ökonomischen Grundlagen in Übereinstimmung gebracht werden. Karl Marx ist die wohl berühmteste Ausnahme unter den Philosophen, und er hat es auf eine intellektuell eindrucksvolle Weise versucht. Aber wir mussten weder seine gesammelten Werke lesen noch seinen 200. Geburtstag abwarten, um den dramatischen Misserfolg seiner Utopie im realen Leben zu verfolgen. Mit der Berliner Mauer brach nicht nur ein schändliches Bauwerk zusammen, sondern auch das marxistische Theoriegebäude. Die klassenlose Gesellschaft ist nicht nur gescheitert, sie hat nie existiert, denn auch im Sozialismus sicherten sich Parteikader und Funktionäre weitgehende Privilegien.

Die Menschen sind eben nicht gleich, sondern höchst unterschiedlich. Sie wollen Freiheit, aber auch Sicherheit. Beide Wünsche stehen in einem enormen Spannungsverhältnis zueinander.

Von den vielen Gesellschaftsmodellen im Verlauf unserer Geschichte ist es der Demokratie mit einer freien, sozialen und ökologischen Marktwirtschaft bislang noch am besten gelungen, die widerstreitenden Interessen zwischen wirtschaftlicher und individueller Freiheit sowie sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit auszutarieren. Die spannende Frage wird sein, ob dieser Ausgleich in der digitalen Marktwirtschaft der Zukunft auch noch gelingt. Die Folgen eines Scheiterns will man sich nicht ausmalen.

Wir brauchen deshalb viele kluge Köpfe, die neue Ideen und sicher auch Utopien entwickeln, damit wir passende Antworten auf die veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen der digitalen Gesellschaft finden. Vielleicht wird es mithilfe der künstlichen Intelligenz möglich sein, unsere Computer und Maschinen eines Tages so zu programmieren, dass sie weitgehend autonom Dienstleistungen und Produkte hervorbringen, von deren Verwertung wir dann unser Leben in einer weitgehend arbeitsfreien Welt finanzieren können. Wer weiß?

Möglich ist vieles, wenn neue Technik und neues Denken zusammentreffen. Als 1972 der Bericht des Club of Rome die vermeintlichen Grenzen des Wachstums aufzeigte, sahen viele im Verzicht die einzige Möglichkeit, eine weitere Zerstörung des Planeten abzuwenden. Die Wissenschaftler waren in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis gelangt, dass bei anhaltendem Bevölkerungswachstum und einer stetigen Zunahme von Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelproduktion und Rohstoffausbeutung die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Verlauf der nächsten hundert Jahre erreicht werden.

Die weitgehende Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch galt damals noch als Utopie. Knapp fünfzig Jahre später wissen wir es besser. Mittlerweile ist es in vielen Industriezweigen durch technische Entwicklungen gelungen, Herstellung und Nachhaltigkeit zu vereinen. Mehr Wohlstand und weniger Umweltverschmutzung sind möglich. Die Energiebranche beispielsweise ist auf dem besten Weg, immer mehr Strom zu produzieren, ohne die Luft zu verpesten.

Vielleicht ermöglicht in weiteren fünfzig Jahren ein Quantensprung bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz die Schaffung einer weitgehend arbeitsfreien Welt mit einer ausreichenden Lebensgrundlage für alle Menschen. Allerdings stellt sich bei dieser Utopie die Frage, wo dann das Zentrum der künftigen Entscheidungen liegen wird: in den mit künstlicher Intelligenz vollgestopften Hochleistungscomputern gewaltiger Rechenzentren oder immer noch im menschlichen Gehirn? Werden dann die Computer herrschen oder noch die Menschen?

1. Der verkannte Charme des deutschen Durchschnitts

Warum die Mittelschicht trotz ihrer Erfolge zum Auslaufmodell wird

Wer eine klassische Mittelstandsfamilie der alten Bundesrepublik kennenlernen will, der könnte meine Eltern in Aachen besuchen. Sie wurden geprägt durch eine Kindheit im Krieg, die traumatische Erfahrung der totalen Zerstörung und die Aufbaujahre nach 1945. Wie bei Millionen anderer Menschen ihrer Generation standen »typisch deutsche« Werte im Vordergrund: Fleiß, Zuverlässigkeit und Bescheidenheit sowie natürlich Disziplin und Ordnung. Hochgehalten wurden auch Hilfsbereitschaft und Höflichkeit. Wir Kinder sollten immer »tüchtig sein« und »etwas erreichen« wollen. Das knapp bemessene Taschengeld erhielten wir mit der obligatorischen Mahnung zur Sparsamkeit.

Im Laufe der späteren Jahre lernten wir dann noch, dass man stets »für später« vorsorgen und überhaupt »immer an morgen denken« sollte. Die Bemerkung »Du lebst einfach in den Tag hinein!« galt als schlimmer Vorwurf, ebenso wie die Feststellung, man habe »einfach die Hände in den Schoß gelegt«. Es wurde hart gearbeitet, ohne zu klagen. Niemand sprach über »Stress« oder gar »Burn-out«, dieser Anglizismus war damals noch unbekannt. Die Feststellung, man sei »urlaubsreif«, galt schon als Eingeständnis äußerster Schwäche; ansonsten hieß es »Zähne zusammenbeißen«. Die ganze Schufterei hatte keinen »Sinn«, sondern höchstens einen Zweck, schließlich wolle man ja »irgendwann auch mal etwas vom Leben haben«. Wann dieses »irgendwann« eintreten würde, blieb allerdings offen. Anders als heute war Hedonismus kein Alltagsphänomen, sondern bestenfalls ein theoretischer Begriff aus dem Lexikon. In Umkehrung zum beliebten Millenniumsmotto »Das gönne ich mir« lebte die bundesdeutsche Gründergeneration eher nach der Devise: »Arbeite jetzt, lebe später.«

Natürlich sollten wir Kinder es »einmal besser haben« als unsere Eltern, obwohl es denen eigentlich zunehmend gutging. Wenn ich mich heute in meinem weiteren Bekanntenkreis umsehe, gewinne ich immer häufiger den Eindruck, dass sich der elterliche Wunsch nach Aufstieg nicht bei allen ihren Kindern erfüllt hat. Die allermeisten meiner Kollegen, Freunde und Bekannten im Alter zwischen 30 und 60 Jahren arbeiten in guten Berufen. Sie konnten oft auch den formalen Bildungsstand ihrer Eltern übertreffen, nicht aber deren Wohlstand erreichen. Das gilt nicht nur für die Chefarztkinder, sondern auch für mittlere Karrieren. Ohne Zweifel leben wir heute besser, freier und vielfältiger als unsere Eltern; wir geben inflationsbereinigt wahrscheinlich auch mehr Geld aus als sie, zumindest für persönlichen Luxus. Aber beim Blick in die Zukunft stellen sich heute mehr Fragen als früher. Und es gibt im Gegensatz zu früher eine wachsende Zahl von Akademikern, die höchstens mittelmäßig verdienen und deshalb kein Vermögen bilden können.

Bleiben wir bei dem durchaus typischen Beispiel meiner Eltern. Mein Vater, 1933 geboren, musste in den Kriegswirren zwar immer wieder die Schule verlassen, schaffte aber nach dem Krieg eine Lehre als Werkzeugmacher und arbeitete sich dann mit Abendschule und viel Fleiß zum technischen Zeichner und danach zum Maschinenbau-Konstrukteur bei einem Tochterunternehmen der Weltfirma Bosch hoch. Diesen für ihre Generation typischen Aufstiegswillen zeigte auch meine Mutter, geboren 1936. Sie absolvierte eine Lehre als Kauffrau und arbeitete zunächst im Lohnbüro einer Aachener Süßwarenfabrik, bis es ihr dort zu eintönig wurde. Sie mochte Sprachen, lernte Englisch, belegte Kurse in Französisch und Italienisch und büffelte zusätzlich Stenografie und Maschinenschreiben. Sich einfach mit dem Erstbesten zufriedenzugeben war ihre Sache nicht. Schließlich fand sie ihren Traumjob als Büroleiterin eines Anglistik-Professors an der Universität Aachen. Die Atmosphäre dort an der Hochschule und die vielen Begegnungen mit den Studenten gefielen ihr wesentlich besser als die langweilige Arbeit in einer klassischen Buchhaltungsabteilung.

Meine Eltern zogen vier Kinder groß, weshalb meine Mutter auch immer wieder aus dem Beruf ausschied, um sich der Erziehung zu widmen, während mein Vater arbeitete und viele Überstunden machte. Drei von uns vieren studierten, meine ältere Schwester machte eine Ausbildung als Biologie-Laborantin. Wir fuhren jedes Jahr im Sommer in den Familienurlaub, manchmal waren sogar noch zusätzliche Skiferien im Winter möglich. Meine Eltern kauften von ihrem Ersparten und einem großen Kredit ein geräumiges Reihenendhaus am Aachener Stadtrand, mit Garten, Kirschbaum und einer Garage, in der das Familienauto stand.

Unsere Nachbarn waren normale Angestellte, Techniker, Lehrer, mittlere und höhere Beamte in der Stadtverwaltung, Juristen, Handwerker und ein Redakteur. Man grillte zusammen, und die Kinder des Schulrats und des promovierten Oberstaatsanwalts spielten mit denen des Schreiners, des Schmieds und des Buchbinders. Auch die Erwachsenen waren miteinander im Austausch. Man half sich gegenseitig, bei der Aufsicht über die Kinder, bei Reparaturen oder wenn es einmal Ärger mit den Ämtern gab. Später nutzten wir die Beziehungen in der Nachbarschaft, wenn einer von uns Jugendlichen einen Ferienjob brauchte. Wir bekamen Arbeit in Fabriken, auf dem Bau oder in Handwerksbetrieben. Es war ziemlich anstrengend, aber wir verdienten auch gut. Wochenlange Ferienpraktika ohne Bezahlung machte damals niemand von uns. Warum auch? Wir brauchten Geld für unsere Mopeds, das nächste Interrail-Ticket nach Italien oder den Griechenland-Urlaub mit Rucksack, Isomatte und ohne Eltern.

Bei allen Unterschieden in Temperament, Ausbildung und Geschmack verband uns Nachbarn damals das Bewusstsein, dass wir alle mehr oder weniger aus einem Holz geschnitzt sind. Wir kannten keine Hierarchie und keinen Dünkel, weil wir uns nicht auf verschiedenen Stufen sahen. Natürlich gab es ökonomische Unterschiede. Der einfache Beamte in der Stadtverwaltung, dessen Frau damals nicht zur Arbeit ging, sondern sich als klassische Hausfrau noch ausschließlich um Kinder und Eigenheim kümmerte, konnte sich nicht das Leben leisten, das andere Nachbarn, ein paar Reihenhäuser weiter, führten, die eine recht gut gehende Anwaltskanzlei betrieben. Und ich lernte damals schon, dass ein funktionierender Dachdeckerbetrieb weitaus mehr einbringt als ein Lehrergehalt, die Akademiker mithin finanziell nicht von vornherein besser dastanden.

Trotzdem fühlten sich alle in der Reihenhauszeile meiner Eltern nicht nur räumlich eng verbundenen. Man fand sich auch in einem Leben wieder, das nach gleichen Regeln und Werten funktionierte und das auf einem Fundament solidarischer Nachbarschaft stand. Wir waren einfach Teil einer breiten Mittelschicht, die vom kleinen Buchhalter bis zum promovierten Studienrat reichte. Niemand fühlte sich als etwas Besseres.

Oberschicht? Das waren die anderen, zum Beispiel die Vorstände von Bosch, die mein Vater gelegentlich bei der Arbeit erlebte und von denen er sprach wie über Menschen vom Mars. Die Oberschicht war weit weg, für uns unerreichbar, so wie die Filmschauspieler, die man nur aus dem Fernsehen kannte, oder wie die Eigentümer von Unternehmen, die so hießen wie die Gründer. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich als Junge mit glänzenden Augen die Geschichte von Ferdinand Porsche im Lexikon verschlungen habe. Es gab tatsächlich einen Mann, der die Traumautos meiner Kindertage einfach nach seinem Familiennamen benannt hatte! Ja, das war die Oberschicht, die Porsches, die Siemens-Sippe oder die Grundigs und Neckermanns.

Noch heute fällt es mir schwer, die Finanzen meiner Eltern nachzuvollziehen. Oder besser gesagt: Mir ist es absolut schleierhaft, wie sie mit dem mittleren Angestelltengehalt meines Vaters und der periodischen Halbtagsarbeit meiner Mutter ein Haus, viele Urlaube sowie das Studium und die Ausbildung ihrer vier Kinder finanzieren konnten. »Wir waren sparsam«, antwortet mein Vater heute auf entsprechende Fragen von mir. Aber wenn wir die damaligen Gehälter unter Einrechnung der Inflation mit denen von heute vergleichen oder den damaligen Kaufpreis für unser Reihenhaus in Bezug zu den heutigen Immobilienpreisen setzen, dann räumt mein Vater ein: »Wir haben damals offenbar mehr bekommen für unser Geld.«

Eine 45-jährige Freundin von mir ist gelernte Bauzeichnerin. Sie hat neben ihrer Arbeit noch einen zusätzlichen Abschluss als Bautechnikerin gemacht und verfügt somit über eine vergleichbare berufliche Qualifikation wie mein Vater damals. Außerdem hat sie schon eine Reihe von Berufsjahren im In- und Ausland hinter sich. Sie arbeitet in einem technischen Planungsbüro und ist mit sehr komplexen Bauausführungen und anspruchsvollen Kunden aus der Großindustrie betraut. Telefonkonferenzen in englischer Sprache mit den Bauherren sind an der Tagesordnung. Ihr Gehalt liegt knapp über 2100 Euro netto – viel mehr wird in der Branche nicht gezahlt. Ein befreundeter Architekt verdient wenig mehr als sie – rund 2300 Euro netto bei einer Menge unbezahlter Überstunden.

Ein Auto fährt meine Freundin nicht, sie hat auch kein teures Hobby. Ihre Urlaube fallen eher bescheiden aus. Der einzige Luxus, den sie sich leistet, ist eine hübsche Drei-Zimmer-Altbauwohnung in Berlin-Mitte, die fast die Hälfte ihres Gehalts verschlingt. Vier Kinder hätte sie weder in ihrer Wohnung unterbringen noch ihnen ein Studium finanzieren können. Eigentlich ist es auch nur sehr schwer möglich, mit diesem Gehalt eine größere Familie einfach nur zu ernähren und zu versorgen.

Der Vergleich soll nicht überbewertet werden, zumal die Lebenshaltungskosten in den Zentren deutscher Großstädte heute sicherlich andere sind als damals am Aachener Stadtrand. Dennoch zeigt er deutlich, wie sehr sich die Dinge verschoben haben. Die Mittelschicht hat es heute ungleich schwerer, ein kleines Vermögen zu bilden, als zur aktiven Zeit unserer Elterngeneration. Die Bezahl- und Vergütungssysteme haben sich zum Nachteil der arbeitenden Mitte kontinuierlich nach unten entwickelt, während Mieten und Immobilienpreise förmlich explodiert sind – zumindest in den Städten. Insgesamt liegt die Eigenheimquote in Deutschland zwar konstant bei 43 Prozent. Aber seit dem Jahr 2000 sind die durchschnittlichen Kaufpreise für Wohnimmobilien um ein Viertel gestiegen. Das bedeutet, dass ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung zunehmend unerschwinglich geworden ist – von den extremen Preisentwicklungen in den Ballungszentren gar nicht erst zu reden. Nicht zuletzt ist die Belastung der arbeitenden Mitte durch Steuern und Abgaben im Laufe der Jahre immer mehr gewachsen.

Aufschlussreich ist das Beispiel eines Freundes von mir aus dem oberen Bereich der Mittelschicht. Er hat eine mustergültige akademische Ausbildung durchlaufen und an mehreren Universitäten gearbeitet, wobei seine Forschungsaufenthalte im Ausland unter dem Strich immer mehr Geld verschlungen haben, als er verdiente. Mit seinen 39 Jahren kann er jetzt auf anerkannte Forschungsarbeiten verweisen, weshalb er es nach vielen Bewerbungen endlich geschafft hat, an der Universität Potsdam eine Stelle als Junior-Professor zu ergattern. Sein Bruttogehalt dort liegt bei 4169 Euro. Das ist einerseits kein schlechtes Gehalt, aber andererseits für einen Professor mit seinen Qualifikationen doch recht bescheiden.

Seit zwei Jahren sucht mein Freund in Potsdam eine größere Wohnung. Leider sind die Kaufpreise in der Landeshauptstadt durch die Decke gegangen, und nennenswertes Eigenkapital hat er bislang noch nicht bilden können. Wenn aber sogar ein Universitätslehrer keine angemessene Wohnung mehr kaufen kann, dann stimmt etwas nicht.

Dieses Gefühl hatte auch Timm Bönke, Professor für Öffentliche Finanzen an der Freien Universität Berlin. Anhand der Daten der Rentenversicherer hat er die Erwerbsbiografien von westdeutschen Männern der Jahrgänge 1935 bis 1972 ausgewertet. So konnte er sich ein Bild davon machen, welches reale Gesamteinkommen die einzelnen Jahrgänge in den ersten vierzig Jahren ihres Lebens erzielt haben.

Bis 1950 ging es mit jedem Geburtsjahrgang bergauf, und zwar für alle Verdienstklassen, egal ob Arbeiter oder leitender Angestellter. Der in den Aufbaujahren der jungen Bundesrepublik erwirtschaftete Wohlstand kam bei allen Männern an, die heute 69 bis 84 Jahre alt sind.

Die erste Spaltung setzte nach den Zahlen von Bönke bei denen ein, die nach 1950 geboren wurden. Das obere Fünftel der Einkommensbezieher erzielte weiterhin steigende Gehälter und mehrte seinen Wohlstand. Die unteren Lohngruppen dagegen stagnierten zunächst und fielen dann weiter zurück. Die breite Schicht der mittleren Verdiener blieb ab dem Geburtsjahr 1958 mit ihrem Einkommen zunächst noch auf dem steigenden Niveau der Älteren. Dann aber erreichten die Jahrgänge der Babyboomer das erwerbsfähige Alter, und man kann genau verfolgen, dass ab dem Jahrgang 1965 ein Niedergang bei den Löhnen und Gehältern einsetzte. Die späteren Jahrgänge schafften es in aller Regel nicht mehr, das Lebenseinkommen ihrer Vorgänger zu halten. Es ging im Gegenteil immer stärker bergab.

Als Gründe nennt Bönke die steigende Arbeitslosigkeit ab den Siebzigerjahren und ein generell sinkendes Gehaltsniveau. Auch die kontinuierlich gestiegene Steuer- und Abgabenlast spielt eine erhebliche Rolle. Aus dem Zahlenwerk wird deutlich, was viele beim Vergleich der Generationen schon lange spüren: Die besten Jahre der Mittelschicht liegen bereits in der Vergangenheit.

Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher teilt diesen Befund. Er kann die vielen Zahlen in einem einzigen Satz zusammenfassen: »Die Mitte bröckelt.« Das von Fratzscher geleitete Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) befasst sich seit einigen Jahren intensiv mit der wachsenden Ungleichheit und der Veränderung der Gehalts- und Einkommensstrukturen in der Bundesrepublik. Die Mitte definiert das DIW so wie auch die OECD in Paris: Dazu gehört, wer über ein Einkommen verfügt, das zwischen 70 und 150 Prozent des Median-Einkommens liegt, also des Mittelwerts dessen, was alle arbeitenden Menschen in Deutschland verdienen. Der Median lag 2019 bei 2503 Euro brutto für einen Single. Dieses Gehalt teilt Deutschlands Arbeitnehmer exakt in eine reichere und eine ärmere Hälfte. Die Spanne der statistisch erfassten Einkommen reicht dabei von der Aushilfsputzkraft bis hin zum Millionengehalt eines Topmanagers.

Kritiker wenden bei dieser Median-Methode oft ein, dass »unten« sehr viele mitgezählt werden, die eigentlich gar nicht dazugehören, also beispielsweise die Minijobber unter den Studenten, obwohl diese später einmal wesentlich besser verdienen. Dadurch werde, so die Argumentation, mit ökonomischen Daten ein falsches Gesellschaftsbild gezeichnet. Die Kritik gipfelt in dem Vorwurf einer statistischen »Umdefinition der Mitte«.

Dieser Behauptung muss entgegengehalten werden, dass jede Median-Berechnung immer nur eine Momentaufnahme darstellen kann. Würde man in solche Statistiken eine Sozialprognose für Studenten einrechnen, also beispielsweise einen »Aufstiegsfaktor für zeitweilige Minijobber mit akademischem Hintergrund«, dann könnte man die Statistik getrost vergessen. Studenten sind statistisch und methodisch gesehen nun einmal arm, auch wenn sie zum Glück berechtigte Hoffnung hegen dürfen, dass es ihnen nach dem Examen finanziell einmal besser gehen wird.

Natürlich ist es auch schwierig, zum Kreis der armen Menschen die Ehefrau eines gut verdienenden Anwalts zu zählen, die mit einem Minijob in der Galerie oder dem Modegeschäft ihrer Freundin eher einem Hobby nachgeht als dem unverzichtbar notwendigen Lebenserwerb. Wenn die Wissenschaftler aber saubere Zahlen ermitteln wollen, können sie weder die Motivation der Beschäftigten noch deren Aufstiegschancen in späteren Jahren mit einrechnen. Ebenso unsauber wäre es, ganze Gruppen wie zum Beispiel die Minijobber aus der Berechnung herauszunehmen. Es hat ja auch noch niemand vorgeschlagen, die Einkommensmillionäre zu ignorieren, weil deren Top-Verdienste die Löhne von sehr vielen einfachen Angestellten statisch nach oben verzerren.

Bleibt man also bei der Methode zur Ermittlung des Median-Einkommens, dann fällt das Ergebnis in Deutschland sehr ernüchternd aus. Die Einkommensgrenze, bis zu der es die gesamte untere Hälfte der arbeitenden Bevölkerung schafft, liegt für einen Single bei gerade einmal 22 000 Euro pro Jahr, das sind etwas mehr als 1800 Euro pro Monat. Die Behauptung konservativer und liberaler Sozialstaatskritiker, Deutschland sei ein Paradies mit 40-Stunden-Woche und eingebauter sozialer Hängematte, lässt sich vor dem Hintergrund dieser Zahlen einfach nicht halten.

Rechnet man die in der OECD-Definition zugrunde gelegte Spanne von 70 bis 150 Prozent auf die Einkommen um, dann verfügt die ökonomische Mitte in Deutschland über Einkommen zwischen 16 000 und 33 000 Euro pro Person. Für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern sind die Beträge gut doppelt so hoch. Unverkennbar hat sich der von Fratzscher attestierte Schrumpfungsprozess der Mitte vor allem in diesem Einkommensbereich niedergeschlagen. Vom Ende der Neunzigerjahre bis 2015 ging diese Gruppe um sieben Prozent auf gut 41 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung zurück.

Lenkt man den Blick auf die gesamte Breite der Mittelschicht, ergibt sich kein anderes Bild. Nach einer neuen Studie des DIW setzt sich der Trend zur Auflösung der Mittelschicht sogar ungebrochen fort. Seit 1991 ist diese einst so dominante Gruppe um mehr als drei Millionen Menschen geschrumpft. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sank von 60 auf 54 Prozent. Noch stärker zurück ging der Anteil der Mittelschicht am Gesamteinkommen der Bevölkerung. Die neue Mitte schrumpft nicht nur, sie ist auch wesentlich ärmer.

Am Arbeitsmarkt schwindet die Bedeutung der Mittelschicht ebenfalls, obwohl es immer mehr Jobs gibt. Im Jahr 2019 waren das knapp 45 Millionen Beschäftigte, davon knapp 34 Millionen sozialversicherungspflichtig. Das ist ein absoluter Rekordwert. Nie zuvor hatten so viele Frauen und Männer eine Arbeit. Vergleicht man die Zahlen mit denen von 2005, dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung, wird die Dimension des Beschäftigungsaufbaus deutlich: Mehr als 6,5 Millionen Menschen sind seitdem zusätzlich auf dem Arbeitsmarkt aktiv.

Von diesem robusten Aufschwung hat die Mitte allerdings nicht profitiert. Für die DIW-Forscher ist es »ein überraschender Befund, dass der relativ starke Beschäftigungsaufbau bislang nicht zu einer Stabilisierung der Bezieher mittlerer Einkommen in Deutschland geführt hat«. Dabei hätte die arbeitende Mitte eine Verbesserung ihrer Situation mehr als verdient, denn sie ist der Lastesel des deutschen Sozial- und Steuerstaates. Legt man das durchschnittliche Brutto-Haushaltseinkommen von rund 49 000 Euro zugrunde, dann fällt auf, dass in keiner anderen Einkommensgruppe die relative Belastung so hoch ist wie in dieser. Allen politischen Sonntagsreden zum Trotz wird die arbeitende Mitte vom Fiskus seit vielen Jahren gnadenlos ausgebeutet. Die letzte spürbare Erleichterung bei den Steuertarifen stammt noch aus der rot-grünen Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und ist fünfzehn Jahre her.

Während der vierzehn Regierungsjahre von Angela Merkel haben sich CDU, CSU und FDP zwar in jedem Wahlkampf mit dem Versprechen überboten, die Steuern zu senken; herausgekommen ist dabei jedoch das Gegenteil, nämlich eine kräftige Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Energiesteuern. Zwar soll jetzt nach dem Beschluss der Großen Koalition der Solidarzuschlag ab dem Jahr 2021 für 90 Prozent der Steuerpflichtigen gesenkt werden. Aber bis heute gibt es eben nur eine entsprechende Ankündigung im Koalitionsvertrag. Papier ist geduldig – vor allem in der Politik. Bis zur Einlösung des Versprechens im Jahr 2021 fließt noch viel Wasser den Rhein und die Spree hinunter. Außerdem weiß man nie, ob diese Bundesregierung überhaupt noch eine vierjährige Legislaturperiode durchhält.

Dabei könnte sich der Fiskus eine stärkere Entlastung seiner Bürger durchaus leisten. Die Einnahmen des Staates sind in den vergangenen Jahren förmlich explodiert und haben sich deutlich besser entwickelt als die allgemeinen Lohnzuwächse und das nationale Wirtschaftswachstum. Vergleicht man die Steuerbelastung der Mittelschicht mit anderen europäischen Ländern, dann liegt Deutschland weit in der Spitzengruppe. Die ohnehin geringen Gehaltssteigerungen der letzten beiden Jahrzehnte wurden durch Inflation und kalte Progression aufgezehrt, also durch den Effekt, dass ein höherer Verdienst oft auch zu einer höheren Besteuerung führt. Das bedeutet im Ergebnis, dass heute immer mehr Menschen vom Finanzamt wie Spitzenverdiener eingestuft werden, obwohl sie das nun wirklich nicht sind.

Der nachdrücklichste Beweis für die permanente Ausplünderung der Mittelschicht durch den Staat spiegelt sich in der Tatsache wider, dass man ab einem Jahresgehalt von 54 950 Euro bereits mit dem Spitzensteuersatz belegt wird. »Die Steuersätze steigen zu schnell und zu stark an«, sagt Michael Hüther, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft (IW) in Köln. Dass inzwischen vier Millionen Menschen und damit jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland steuerlich in die Reihe der Spitzenverdiener eingruppiert und entsprechend abkassiert wird, hält Hüther für »steuerpolitisch unvertretbar und schädlich«. Vor sechzig Jahren musste man noch das Zwanzigfache des Durchschnittseinkommens verdienen, ehe man den Spitzensteuersatz bezahlen musste. Heute reicht dafür das 1,3-Fache.

Hinzu kommt, dass der unersättliche Fiskus auch bei allen Reserven zulangt, die sich die Mittelschicht für die Ausbildung der Kinder oder das eigene Alter mühsam abspart. Die ab 2005 geltende nachgelagerte Besteuerung und die Sozialversicherungspflicht von Erträgen aus Lebensversicherungen oder Versorgungswerken vernichtet bei der Auszahlung einen guten Teil des extra Ersparten. Dagegen werden Erbschaftsteuern fast gar nicht mehr erhoben und die Kapitalerträge der wirklich Reichen pauschal mit 25 Prozent besteuert.

Aber das ist noch nicht alles. Die arbeitende Mitte zahlt neben den viel zu hohen Steuern auch noch sehr hohe Abgaben für Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung. Auch hier ist keine Entlastung in Sicht – im Gegenteil: Steigende Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt kosten immer mehr Geld und müssen von den Beitrags- und Steuerzahlern finanziert werden. Im Ergebnis wird das dazu führen, dass die Beiträge für die Sozialversicherungen unweigerlich steigen werden. Im Gegenzug hat die Mitte vom Staat nicht viel zu erwarten. Mit einem Durchschnittseinkommen verdient man zu viel, um Fürsorgeleistungen oder Hilfen wie BAföG für die studierenden Kinder zu erhalten. Aber man verdient auch zu wenig, um von Steuersparmodellen und Beitragsbemessungsgrenzen bei den Sozialversicherungen zu profitieren.

In einem klaren Missverhältnis zu den immer größeren Steuereinnahmen des Staates stehen die damit finanzierten Leistungen für die Bürger. Schulen, Universitäten und Straßen sind in einem schlechten Zustand, Spielplätze und Parks verkommen, Sportanlagen und Schwimmhallen werden geschlossen. Verwaltungen und Justiz sind kaum noch in der Lage, die Bedürfnisse der Bürger (und der kleinen Unternehmer und Selbstständigen) angemessen zu erfüllen. Der Rechtsstaat, das höchste Gut in einer Demokratie, ist permanent überfordert und deshalb in seiner Funktionsfähigkeit zunehmend eingeschränkt.