Das Ende der Welt, wie wir sie kannten - Claus Leggewie - E-Book

Das Ende der Welt, wie wir sie kannten E-Book

Claus Leggewie

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Beschreibung

Über Klimakultur und die Erneuerung der Demokratie. Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, schwindende Ressourcen und der Raubbau an der Zukunft der kommenden Generationen bilden einen beispiellosen sozialen Sprengstoff. Die Analyse der sich auftürmenden Krisen zeigt, wie Demokratien dabei unter die Räder kommen, wenn sie nicht radikal erneuert werden und den Weg aus der Leitkultur der Verschwendung finden.

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Claus Leggewie | Harald Welzer

Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie

Sachbuch

Fischer e-books

In Memoriam André Gorz (1923–2007)

Am Ende, oder: Klimawandel als Kulturwandel

It's the end of the world as we know it.

R. E. M.

Weltuntergang? Nein, nicht die Welt gerät aus den Fugen, wie man in letzter Zeit lesen konnte, wohl aber die Strukturen und Institutionen, die der Welt, wie wir sie kannten, Namen und Halt gaben: kapitalistische Märkte, zivilisatorische Normen, autonome Persönlichkeiten, globale Kooperationen und demokratische Prozeduren. Als moderne Menschen sind wir gewohnt, linear und progressiv zu denken – nach vorne offen. Sicher gab es auf dem Weg von Wachstum und Fortschritt Zäsuren und Rückschläge, aber unterm Strich ging es immer weiter aufwärts. Die Denkfiguren von Kreislauf und Abstieg gerieten in Misskredit, Endlichkeit wurde undenkbar.

Das war die Welt, wie wir sie kannten: Märkte expandierten über ihre periodischen Krisen hinweg in eine gefühlte Unendlichkeit, Staaten sicherten die soziale Ordnung und den Weltfrieden, der flexible Mensch verwandelte Naturgefahren per Technik und Organisation in beherrschbare Risiken. Nur manchmal und dann vorübergehend schien die Leitidee des Fortschritts außer Kraft gesetzt zu sein. Selbst ein Zivilisationsbruch wie der Holocaust und ein Völkermord wie in Darfur konnten die Grundüberzeugung nicht erschüttern, auf dem besten aller Wege zu sein. Globale Mobilität und Kommunikation machten die Welt klein und zugänglich, auch die Demokratie vollendete 1989 ihren Siegeszug. Die Welt wurde uns damit immer bekannter.

Dass sie so, wie wir sie kannten, nicht mehr wiederzuerkennen ist, liegt nicht an der Natur, die bei aller Gesetzlichkeit immer Sprünge gemacht hat, sondern an dem von Menschen verursachten Wandel des Klimas. Das Weltklima kann an tipping points mit unkalkulierbarer Dynamik gelangen und umkippen, wenn nicht rasch – genau genommen: im kommenden Jahrzehnt – radikal anders gewirtschaftet und umgesteuert wird. Die kurze Spanne bis 2020 – nur zwei, drei Legislaturperioden, einen kurzen Wirtschaftszyklus, zwei Sommerolympiaden weiter – entscheidet über die Lebensverhältnisse künftiger Generationen.

Damit ist eine Perspektive der Endlichkeit in den linearen Fortschritt eingezogen, die dem modernen Denken fremd, geradezu ungeheuerlich ist. Risiken verwandeln sich zurück in Gefahren. Nicht nur die Rohstoffe sind endlich, mit ihnen könnten auch die großen Errungenschaften der westlichen Moderne zur Neige gehen, als da sind: Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft und Demokratie.[1] Der Klimawandel ist somit ein Kulturwandel und ein Ausblick auf künftige Lebensverhältnisse. Das meint nicht »in the year 2525«, es betrifft eine überschaubare Zeitgenossenschaft. Wer 2010 zur Welt kommt, kann das Jahr 2100 noch erleben; ohne rasches und entschlossenes Gegensteuern wird die globale Durchschnittstemperatur dann um vier bis sieben Grad Celsius gestiegen sein und unsere Nachkommen eine Atemluft vorfinden, wie sie heute nur in engen und stickigen Unterseebooten herrscht.

Während wir – das sind in diesem Fall die Bewohnerinnen und Bewohner der Länder des atlantischen Westens – noch glauben, das Zentrum der Weltgesellschaft zu bilden und ihre Zukunft nach Belieben gestalten zu können, driften wir längst aus diesem Zentrum heraus, und andere Mächte rücken in die Mitte. Der wirtschaftliche und machtpolitische Einflussgewinn von Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland wird sich trotz ihrer aktuellen Probleme fortsetzen, und auch andere {11}werden dieser Aufstiegsbewegung folgen. Die Figuration der Weltgesellschaft verändert sich und damit die Rolle, die wir in ihr spielen. Und Probleme, die vorerst nur die europäische Peripherie – Island, Lettland oder Ungarn – plagen, zeigen dem Zentrum seine eigene Zukunft.

Unser Selbstbild und unser Habitus sind, nach 250 Jahren überlegener Macht, Ökonomie und Technik, noch an Verhältnisse gebunden, die es so gar nicht mehr gibt. Dieses Nachhinken unserer Wahrnehmung und unseres Selbstbildes hinter der Veränderungsgeschwindigkeit einer »globalisierten Welt« findet sich auch auf anderen Ebenen unserer Existenz – etwa in Bezug auf die Energie-, Umwelt- und Klimakrisen. Obwohl es nicht den geringsten Zweifel daran gibt, dass die fossilen Energien endlich sind und die zunehmende Konkurrenz um Ressourcen bei gleichzeitigem Rückgang der verfügbaren Mengen zuerst zu Konflikten, wahrscheinlich auch Kriegen führen wird und dann zu einer Welt ohne Öl, pflegen wir politische Strategien und Lebensstile, die für eine Welt mit Öl entwickelt worden sind. Während das Artensterben in beispielloser Geschwindigkeit voranschreitet, die Meere radikal überfischt und die Regenwälder gerodet werden, wird unser Handeln von der Vorstellung geleitet, es handele sich dabei um reversible Prozesse. Die Zerstörung wird mit illusionären Korrekturvorstellungen bemäntelt, und trotz der Evidenz des Klimawandels bleibt das Gros der Politiker – das gängige Krisenmanagement zeigt es – auf kurzatmige und illusionäre Reparaturziele fixiert. Wer im Blick auf Quartalsbilanzen und Wahltermine vor allem Arbeitsplätze in scheiternden Industrien bewahren will, betreibt eine Politik von gestern.

Die Geschichte kennt Beispiele von Zivilisationen, die länger erfolgreich waren als die Kultur des Westens. Sie sind untergegangen, weil sie an Strategien, die für ihren Erfolg und Aufstieg gesorgt hatten, unter veränderten Umweltbedingungen zäh festgehalten haben. ›Was mag‹, fragte Jared Diamond, {12}›derjenige gedacht haben, der auf der Osterinsel den letzten Baum gefällt und damit den unaufhaltsamen Untergang einer 700 Jahre lang erfolgreichen Kultur besiegelt hat? Wahrscheinlich, dass Bäume schon immer gefällt wurden und dass es völlig normal sei, wenn auch der Letzte fällt.‹ [2] Wir sind alle Osterinsulaner: Würde man nach einer schlichten Überlebensregel selbstverständlich davon ausgehen, in einem Jahr nur soviel an Ressourcen zu verbrauchen, wie die Erde per annum zur Verfügung stellen kann, dann müssten wir diese Jahresration auf 365 Tage verteilen und dürften sie nicht vor dem 31.Dezember ausgeschöpft haben. Der Tag, an dem man so zu rechnen begann, war Silvester 1986, der erste Earth Overshoot Day. Nur zehn Jahre später wurden bereits 15 Prozent mehr des Jahresbudgets verbraucht, der Scharniertag fiel also in den November, und 2008 war dieser Zeitpunkt bereits am 23.September erreicht.[3]

Bei Fortschreibung des aktuellen Verbrauchs wird das Budget 2050 schon nach sechs Monaten aufgezehrt sein. Wir hängen keinen romantischen Naturvorstellungen an, aber solche scheinbar naiven Rechnungen entlarven den vermeintlichen Realismus, der den frivolen Zukunftsverbrauch der kapitalistischen Wachstumsökonomie auszeichnet. An dem waren eben nicht nur gedankenlose Banker beteiligt. Die größte Massenbewegung nach dem »Ausbruch« der Finanzkrise im September 2008 war der Ansturm auf die Showrooms der Autohäuser, um die Abwrackprämie kassieren zu können.

Gerade in Deutschland dreht sich alles um einen Industriezweig, der in Zukunft gar nicht mehr die Rolle spielen darf, die er in der Vergangenheit einmal hatte. Wer die Automobilindustrie päppelt (und dann auch noch mit so unsinnigen Maßnahmen wie mit einer Verschrottungsprämie), gibt für Überlebtes Geld aus, das für die Gestaltung einer besseren Zukunft nicht mehr verfügbar ist. Solche Rettungspläne folgen der Auto-Suggestion, eine Welt mit mehr als neun Milliarden {13}Bewohnern könnte so aussehen wie Europa heute, mit achtspurigen Straßen und ausufernden Parkplätzen.

Wir müssen heraus aus den Pfadabhängigkeiten und Vergleichsroutinen. Die akute Weltwirtschaftskrise wird mit der Großen Depression der 1930er Jahre verglichen und überschreitet bereits deren Parameter! Doch das verkennt noch den Ernst der Lage. Die Welt durchlebt nicht nur eine historische Wirtschaftskrise, ihr steht auch die dramatischste Erwärmung seit drei Millionen Jahren bevor. Es mag sich bombastisch oder alarmistisch anhören: Aber die Große Transformation, die ansteht, gleicht in ihrer Tiefe und Breite historischen Achsenzeiten wie den Übergängen in die Agrargesellschaft und in die Industriegesellschaft.

Der Klimawandel ist deswegen ein Kulturschock, weil es immer schwieriger wird, zu ignorieren, wie stark sich unsere Wirklichkeit bereits verändert hat und wie sehr sie sich noch verändern muss, um zukunftsfähig zu sein. Was Techniker decarbonization (Entkohlung) nennen und Ökonomen als Low Carbon Economy (karbonarme Wirtschaft) ausmalen, kann nicht auf die Veränderung einiger Stellschrauben der Energiewirtschaft beschränkt bleiben – 80 Prozent unseres komfortablen Lebensstils ruhen auf fossilen Energien. Am Horizont der Großen Transformation steht eine postkarbone Gesellschaft mit radikal veränderten sozialen, politischen und kulturellen Parametern.

Eine Gesellschaft, die die Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurskunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebraucht werden), sie muss – das ist die zentrale These unseres Buches – selbst eine politische werden: Eine Bürgergesellschaft im emphatischen Sinn, deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren aktiven Beitrag nicht überleben kann. Auch wenn diese Zumutung so gar nicht in die Zeit hineinzupassen scheint: Die Metakrise, mit der wir {14}zu kämpfen haben, fordert mehr, nicht weniger Demokratie, individuelle Verantwortungsbereitschaft und kollektives Engagement.

Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie: Unser Buch verbindet eine auf aktuelle Daten gestützte Zeitdiagnose mit einem wirklichkeitsnahen Politikentwurf. Wir sind keine Klimaforscher im herkömmlichen Sinne [4], nehmen den Klimawandel aber als eine Heuristik künftiger Kulturverhältnisse, als ein Findbuch guten Lebens. Kultur ist eine Antwort auf drei Fragen: wie die Welt im Inneren beschaffen ist, wie sie sein soll und wie sie vermutlich werden wird.[5] Im ersten Kapitel stellen wir die Gründe und Ausmaße der aktuellen Metakrise dar, deren bloße Ausrufung noch nicht zu einem Kurswechsel führt, eher zu Verleugnung und Resignation. Im zweiten Kapitel beschreiben wir die Kluft zwischen Wissen und Handeln – warum Menschen nicht tun, was sie wissen, sondern sich lieber an die »Zuständigen« wenden, an Markt, Technik und Staat. Im dritten Kapitel tragen wir dazu eine Kritik des laufenden Krisenmanagements vor, das sich auf überholte Instrumente verlässt und in alten Mustern verharrt. Im vierten Kapitel behandeln wir den Wettstreit autoritärer und demokratischer Ansätze zur Überwindung der globalen Krise, und im Schlusskapitel loten wir die Chancen einer Demokratisierung der Demokratie aus.

Das ist alles andere als ein Weltuntergangsszenario. Wir wünschen uns Leserinnen und Leser, die froh sind, die alte Welt hinter sich lassen zu können, und die an der Gestaltung einer besseren mitwirken wollen. Denn bei aller Absturzgefahr bieten Wirtschaftskrise und Klimawandel Spielräume für individuelles Handeln, für demokratische Teilhabe und globale Kooperation. Diesem Großexperiment unter Zeitdruck ist alle Welt unfreiwillig, aber wissend ausgesetzt.

Kapitel IDie Krise verstehen, oder: die Grenzen eines kulturellen Modells

»Ich kann Ihnen sagen, was in 200 Jahren geschehen wird, aber nicht, wie die Welt in zwei oder fünf Jahren funktioniert.«

Stanisław Lem

Manche Zeitläufe werden mit rasender Geschwindigkeit assoziiert, manche als langsam dahinziehender Strom bebildert. In welchen Zeiten leben wir gerade? Die Gespräche über die Krise ergeben ein zwiespältiges Bild: Das Land wirkt wie in Zeitlupe, aber auch wie in einem Thriller. Denn jede Nachrichtensendung verkündet die nächste Überraschung. Das deckt sich mit den weit auseinanderdriftenden Wahrnehmungen der historischen Zeit in der Welt, wie wir sie kannten: hier das verfallsrasante Stakkato der Wirtschaftsdaten, Meinungsumfragen und Wahltermine, dort religiöse Jenseits- und Endloserwartungen. Die Zocker starrten auf die Gewinnerwartung, die Frommen präparierten sich fürs Paradies.

Beide Zeithorizonte sind gleichermaßen unpolitisch. Sie verkennen die säkulare Zeitspanne, mit der eine politische Generation rechnen kann: Im Bezug auf den Klimawandel, die sich beschleunigende globale Erwärmung, heißen die Abschnitte näherungsweise 2020, 2050 und 2100. In spätestens zehn Jahren muss eine erhebliche Reduktion der Treibhausgase erreicht sein, damit die Kipp-Punkte des Klimas in zwei oder drei Dekaden vermieden werden und die Erde in hundert Jahren überhaupt noch bewohnbar ist. Die Leidtragenden heutigen Nichthandelns sind schon unsere Kinder und Enkel. Aus diesem Grund bildet die säkulare Zeitspanne, ein Jahrhundert, ein menschliches Maß; es umspannt drei bis vier Generationen {16}und damit den Horizont, bis zu dem Handlungen und ihre Folgen pragmatisch zu kalkulieren sind, weil man sich die Gegenwart mit den Menschen dieser Generationen teilt. »In hundert Jahren«, das klingt weit weg, es ist aber die Zeitspanne, die Menschen normalerweise für sich und andere in Aussicht nehmen, wenn sie darüber nachdenken, was sie hinterlassen wollen.

Dieses Zeitbewusstsein hat sich seit dem 13./14. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Uhr als Fixpunkt linearer Orientierung in die Zukunft entfaltet und seit der frühen Neuzeit verallgemeinert.[6] Es ist das politische Zeitmaß, das dem Gegenwartskult der Marktanbeter ebenso abhanden gekommen ist wie der Gegenwartsverleugnung politisch-religiöser Sektierer. Fundamentalisten denken in Ewigkeiten und steuern auf die Erlösung vom nichtigen Erdenschicksal zu; dafür nehmen sie die Gegenwart als Geisel. Und der Horizont der Neoliberalen reicht selten über die vierteljährliche Bilanzkonferenz hinaus, und für dieses Linsengericht verkaufen Shareholder die Zukunft. Gemeinsam ist beiden die Blindheit für die Risiken, die Verkennung der mittleren Frist. »In the long run we are all dead«, belustigte sich der Ökonom John Maynard Keynes über Prognosen längerer Reichweite, Apokalyptiker legen einen ähnlichen Zynismus an den Tag, aus genau umgekehrten Gründen.

Die Endlichkeit der Rohstoffe wird ignoriert, genauso wie die Begrenztheit eines Wachstumsmusters, das zyklische Krisen scheinbar routiniert verdaut, aber übersieht, dass sich das »Gelegenheitsfenster« für ein sinnvolles Gegensteuern gerade schließt. Die Bereitschaft, alle guten Vor- und Ansätze in Sachen Klima zu vertagen, weil gerade Finanz- und Wirtschaftskrise ist, zeugt von Blindheit. Der Unwillen oder die Unfähigkeit, die Endlichkeit der verfügbaren Optionen auch nur zu denken, zeigt die Schwerkraft, die die Vorstellung eines immerwährenden Fortschritts und Aufstiegs in unserem kulturellen Habitus hat. Die Zukunft ist wie jetzt, nur besser. Der {17}Fortschritt schreitet fort. Die Zukunft ist offene Zeit, Raum für ständige Verbesserungen. Die Vorstellung, dass die uns vorhergesagte Zukunft knapp bemessen sei, ja, schon hinter uns liegen könnte, scheint bizarr – genauso wie die Aussicht, dass, wenn wir jetzt nicht handeln, in zwanzig oder fünfzig Jahren keine Handlungsmöglichkeit mehr besteht. So etwas passt einfach nicht ins Zeitgefühl von Menschen, die nur auf kurzfristigen Gewinn oder langfristige Erlösung getrimmt sind.

Nothing spezial. Über die Entwirklichung von Risiken

9/15, die Insolvenz der Lehman Brothers-Bank im September 2008, stellte für die Welt einen schwereren Schock dar als 9/11, der Anschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Center, die im September 2001 als Symbol des westlichen Finanzkapitalismus attackiert wurden. Die Schockwellen des Finanzkollapses haben eine globale Krise ausgelöst, die schwerer sein und länger dauern dürfte als die Great Depression von 1929ff. Lehman Brothers steht für das keineswegs überwundene System organisierter Verantwortungslosigkeit, das nach irrwitzigen Hoffnungen auf Superrenditen und Schnäppchen Millionen Menschen die Arbeit und ihren Lebensunterhalt kostet, Kinder und alte Leute in eine neue Armut stürzt und die Handlungsfähigkeit der Staaten und öffentlichen Dienste nachhaltig beschädigt.

Diese Folgen für die Realwirtschaft gehen einher mit einer symbolischen Entwirklichung: Die verdampften Billionen entziehen sich genau wie die für das Krisenmanagement aufgebrachten Gelder dem Blick wie ein Wolkenkratzer, der direkt vor einem steht und dessen Höhe man nicht ermessen kann. Nichts Besonderes – nothing spezial, just crisis, kommentierte der lettische Finanzminister Atis Slakteris in schönem Pidgin-Englisch den finanziellen Kollaps seines Landes.[7]

{18}

Lettland, das unterdessen seine Lehrer und Krankenschwestern entlassen muss, ist überall. Eine zuvor den wenigsten Deutschen bekannte Bank namens HypoRealEstate hat bis zu ihrer Verstaatlichung mehr als hundert Milliarden Euro verschlungen, was mehr als einem Drittel des Bundeshaushalts 2008 entspricht. Man war gewohnt, schon vor dreistelligen Millionenbeträgen, die im Zusammenhang etwa des Ausbaus der Kinderbetreuung kursierten, eine gewisse Achtung zu haben und daher zu verstehen, dass es schwer war, sie in einem Bundeshaushalt unterzubringen; nun vermag der Unterschied zwischen fantastischen Beträgen wie 90, 300 oder 800 Milliarden Euro gar keine realistische Vorstellung mehr abzurufen. Selbst die Experten verstehen wohl kaum, wofür die Summen gebraucht und ausgegeben werden und was es bedeutet, sie eventuell irgendwann einmal zurückbezahlen zu müssen. Mit der Rhetorik der täglichen Überbietung entsteht ein virtueller Raum, eine merkwürdige Spiegelung der fiktionalen Geldwirtschaft, die die Krise hervorgebracht hat.[8]

Eine Folge des Entwirklichungseffekts der Fantastilliarden ist die erneute Verdrängung des Klimawandels, der erst in den letzten Jahren in der öffentlichen Meinung wie in den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungszirkeln führender Nationen die ihm gebührende Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Umsatzrückgänge in Wirtschaftszweigen wie der Autooder der Stahlindustrie um mehr als ein Drittel scheinen das nahezulegen, doch wird das Kalkül, den Klimaschutz zur Rettung von Arbeitsplätzen in gestrigen Industrien hintanzustellen, nicht aufgehen: Es macht keinen Sinn, Arbeitsplätze gegen Überlebensmöglichkeiten kommender Generationen zu verrechnen, zumal Investitionen in zukunftsträchtigen Wirtschaftssektoren wie erneuerbaren und smarten Energietechnologien, intelligente Energienutzung, innovative Bauformen, Ausbau des öffentlichen Verkehrs heute bereits höhere Renditen abwerfen als künstlich am Leben gehaltene Branchen.

{19}

Eine Dritte Industrielle Revolution, wie sie zum Beispiel der deutsche Bundesumweltminister fordert und die die Chancen des dringend gebotenen ökosozialen Strukturwandels überzeugend vorrechnet [9], wurde weder in Deutschland noch in den USA noch in einem anderen Industrie- oder Schwellenland resolut in Angriff genommen, obwohl die Milliarden, die für Konjunkturprogramme mit ungewissen Effekten aufgewendet worden sind, nun für Umsteuerungsprozesse hätten eingesetzt werden können. Hier wurde ein Gelegenheitsfenster geschlossen, eine Chance auf eine produktive Auswertung der Krisensituation kurzsichtig ignoriert, und dies zeigt eine fatale Unfähigkeit an, auf systemische Krisen angemessen zu reagieren. Eine Bank kann irgendwann wieder funktionieren, den Meeresspiegel kann man nicht wieder absenken.

Wir werden die Möglichkeiten »grüner Konjunkturprogramme« noch genauer behandeln – hier sei die Wirtschaftskrise zunächst nur unter einem statistischen und einem systematischen Aspekt eingeordnet. Statistisch werden wir das Volumen von Rettungspaketen und Konjunkturprogrammen mit jenen Kosten vergleichen, die für die Bewältigung von Zukunftsproblemen berechnet werden. Der systematische Aspekt ist wichtiger: Die Finanzkrise steht insofern in einem engen Zusammenhang mit der Umwelt- und Klimakrise, als auch für die Maximierung der Renditen ausschließlich die Gegenwart zählt und die negativen Folgen kurzfristiger Handlungsrationalitäten ignoriert werden. Bei der Kreditvergabe interessierte weder Banken noch Schuldner, wer mittelfristig die Rechnung begleichen könnte, ebenso wenig wie bei der Schuldenpolitik der Industrienationen vor dem Zusammenbruch der Finanzmärkte. Auch die bedeutete nichts anderes als die Überstellung der Rechnung an kommende Generationen, deren Möglichkeiten zur Gestaltung ihrer Lebenswelt erheblich eingeschränkt sein werden.

Die Finanzkrise hat verdeutlicht, auf welche Weise im Kapitalismus {20}»Individuen wie Kollektive ihre Zukunft gleichsam vor der Zeit verbrauchen können«.[10] Indem die Staatsschulden der OECD-Länder seit Jahrzehnten kontinuierlich ansteigen und die Kredite, die man bei der Umwelt aufnimmt, durch irreversible Zerstörungen von Naturressourcen Zukunft verbrauchen, verlagert sich ein Grundmuster kapitalistischen Wirtschaftens vom Raum in die Zeit. Denn in einer globalisierten Welt gibt es kein Außen mehr, das diesem Wirtschaftssystem Treibstoff in Form von Rohstoffen – Öl, Gas, Holz, Getreide etc. – zuführt. Sie hat, wie Albrecht Koschorke gesagt hat, nur noch ein Außen zur Verfügung: die Welt künftiger Generationen, an der nun Raubbau betrieben wird. Damit gerät ein zentraler Mythos der westlichen Kultur in Bedrängnis – die hybride Vorstellung, mit einer Welt tendenziell unaufhörlichen Wachstums die hinderliche Dimension der Endlichkeit überwunden zu haben. Die virulente Krise des Erdsystems macht aber drastisch klar, dass unsere luxuriöse Existenz damit weiterhin konfrontiert ist. Und da eine solche Erkenntnis unserem System genauso fremd und furchterregend ist wie dem Individuum die eigene Sterblichkeit, gibt es ein ziemlich starkes Motiv, Krisen zu ignorieren oder ihre Bewältigung auf ein nicht genauer zu bestimmendes »Später« zu vertagen.

So stellt die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen – die Begrenztheit von Boden, die Erschöpfung der Wasservorräte und die Grenzen der Belastbarkeit der Luft – die Schnittfläche einer multiplen Krise dar. Klimawandel, klassische Umweltprobleme, Energiekrise, Wasser- und Ernährungskrise sowie das Wachstum der Weltbevölkerung kumulieren sich zu einer übergeordneten Metakrise, die die Überlebensbedingungen des Erdsystems in Frage stellt. Keine der Teilkrisen ist neu, über alle weiß die Weltöffentlichkeit oft schon seit Jahrzehnten Bescheid: Der Bericht des Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« (und seither eine beeindruckende Serie weiterer Berichte) formulierte das Kernproblem in aller Klarheit, {21}es folgten eine Reihe von UN-Konferenzen, die allen erdenklichen Krisenphänomenen Manifeste, Beschlüsse und Aktionsprogramme widmeten; und das Phänomen des anthropogenen Klimawandels ist seit den ersten Studien in den 1980er Jahren ebenso präsent. Seit den 1970er Jahren haben Einzelautoren, soziale Bewegungen und Umweltinstitute problembewusste Ansätze zu einer politischen Ökologie und nachhaltigen Gesellschaft vorgelegt. Sie haben partielle Reformen und rhetorische Anpassungen bewirkt und soziale Milieus, die Nachhaltigkeit praktizieren, aber keinen politischen Wandel.

Verantwortlich für diese Indolenz ist – neben einer Reihe psychologischer Faktoren, auf die wir später zu sprechen kommen werden – die ungebrochen riskante Denkform, zugunsten eines definierten Zweckes »beherrschbare« Schäden anrichten zu können und deren Behebung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Diese Figur taucht in der unlösbaren Endlagerproblematik im Fall der Atomenergie ebenso auf wie dann, wenn technisch überholte Kohlekraftwerke als Übergangstechnologien fortgeführt werden, wenn trotz besseren Wissens überhöhte Fangquoten für den Kabeljau festgelegt werden und wenn die Sanierung der Staatsfinanzen auf das Jahr 2020 terminiert wird. Oder wenn im Kyoto-Prozess die Vertragspartner eingegangene Verpflichtungen zur Reduzierung von Treibhausgasen mit dem Hinweis aufschieben, in zehn Jahren würden sie sich dann umso heftiger ins Zeug legen. Andere Beispiele ließen sich hinzufügen – sie alle sind charakterisiert durch ein kognitiv durchaus vorhandenes Problembewusstsein, die technokratische Formatierung des Problems und die Vertagung der absehbaren Folgen auf einen späteren Zeitpunkt. Den dazugehörigen Politikstil nennt man dilatorisch – Probleme auf die lange Bank schieben.

Dieses Nichthandeln steht unter dem Imperativ, Bedingungen zu schaffen, unter denen »die Wirtschaft wächst«; erst solches Wachstum schaffe Handlungsmöglichkeiten für Wohlfahrt, {22}Wohlstand und eventuell die bessere Einrichtung der Welt. Der »Wohlstand für alle« ist in den westlichen Ländern in der Tat gewachsen, der Wohlfahrtsstaat hat Risiken der Lebensführung zunehmend eingedämmt, was beides als Prototyp für Lebensentwürfe andernorts Schule gemacht hat. Doch verdeckte der Gewinn an Lebensqualität materieller wie immaterieller Art von der Dreizimmerwohnung bis zur Fernreise die Kollateralschäden – zum Beispiel Gesundheitskosten infolge schädlicher Arbeits- und Umweltbedingungen, die ja auch immer erst »später« auftreten. Die Krise des Erdsystems zeigt nun aber, dass die einkalkulierten und scheinbar gut versicherten Folgeprobleme nicht mehr in der Zukunft liegen, sondern uns »jetzt« und nicht »später« auf die Füße fallen.

Biblische Plagen, kulminiert

Wie die Weltgesellschaft sich auf spektakuläre Weise selbst ans Ende ihrer Möglichkeiten bringt, können wir an der Klimakrise demonstrieren. Sie stellt ein besonderes (und besonders gravierendes) Krisenphänomen dar, das eng mit älteren wie dem Bevölkerungswachstum, der globalen Ernährungskrise, der Verschmutzung und Belastung der Umwelt und der Vergeudung von Ressourcen zusammenhängt. Die Klimakrise verstärkt diese Stressfaktoren und weist mit ihnen wiederum eine strukturelle Gemeinsamkeit auf, die man in einem Wort zusammenfassen kann: Überentwicklung. Die Kombination der einzelnen Krisen führt zu einer Metakrise, zur Infragestellung des komplexen Zusammenwirkens aller Teilsysteme und damit zur Gefahr eines Systemzusammenbruchs, der nur durch entschlossenes Gegensteuern abzuwenden ist. Das wird nicht erst seit der Finanzkrise vertagt, der Klimawandel hatte in der Wahrnehmung der Entscheidungseliten schon vorher keine »systemische Relevanz«.

{23}

Klimatische Veränderungen begleiten die gesamte Erdgeschichte, häufig in dramatischer Weise und mit katastrophalen Folgen. Klimastabilität gibt es ebenso wenig wie eine freundliche Natur. Und das Klima ist etwas anderes als das Wetter, dessen Launenhaftigkeit ein beliebtes Konversationsthema ist und manche, etwa nach einem (gefühlt) kühlen Sommer oder einem langen Winter, nicht an den langfristigen Wandel des Klimas glauben lässt. Diesen fühlt nur, wer sich informieren lässt. Wenn heute vom Klimawandel die Rede ist, meint man die Folgen der anthropogenen (von Menschen gemachten) globalen Erwärmung und deren abrupten und ungewöhnlich steilen Anstieg seit den 1970er Jahren. Hauptursachen dafür sind die Verbrennung fossiler Rohstoffe, großflächige Entwaldungen und veränderte Nutzungen in der Landwirtschaft seit dem Beginn der Industrialisierung.

Treibhauseffekt nennt man die Erwärmung der Oberflächentemperatur der Erde durch strahlungsaktive Gase. Das sind Kohlendioxidemissionen (CO2), die aus der Nutzung fossiler Energieträger für Industrie und Verkehr und Entwaldung, Verrottung und Torf entstehen, ferner Methan (CH4), vornehmlich aus Gasquellen, und Lachgas (N2O), insbesondere aus der Viehzucht sowie (Fluor-)Kohlenwasserstoffe. Die Konzentration von Kohlendioxid und Methan in der Atmosphäre liegt höher als jeder Wert in den vergangenen 650 000 Jahren. Die historische Erwärmung steht außer jedem Zweifel. Sie lässt sich am Anstieg der mittleren globalen Temperaturen der Bodenluft und Ozeane, am ausgedehnten Abschmelzen von Eis und Schnee und am Anstieg des mittleren globalen Meeresspiegels messen. Jahresdurchschnittstemperaturen werden seit 1850 aufgezeichnet; und es kann kaum Zufall sein, dass die elf der zwölf wärmsten Jahre seither in die Zeitspanne von 1995 bis 2007 fallen.[11]

Was auch bereits jeder wettersensible Mensch mittleren Alters beobachten kann, sind mehr Niederschläge im Norden {24}und mehr Dürren im Süden, mehr heiße Tage und Nächte weltweit und mehr starke tropische Wirbelstürme im Nordatlantik. Über Satellitenbeobachtung, aber auch mit bloßem Auge erkennbar ist der Rückgang der Schnee- und Eisbedeckung, dramatisch bei den polaren Eisschilden. Dadurch wird der Meeresspiegel wahrscheinlich schneller steigen; seit 1961 geschieht das um 1,8 Millimeter, seit 1993 mit rund drei Millimetern pro Jahr. Bei der Klimakonferenz in Kopenhagen im März 2009 mussten die Prognosen des UN-Weltklimarates IPCC über den Anstieg des Meeresspiegels nach oben korrigiert werden, bis 2200 könnte er um 3,50 Meter steigen – der sichere Untergang vieler Inseln und Küstenstädte auch in Mitteleuropa. Ähnlich beunruhigende Korrekturen gab es über den Ausstoß von CO2, der weltweit viel stärker ist, als in den drastischsten bisherigen Prognosen über die rapide Versauerung der Ozeane und das Auftauen der Permafrostböden.

»Wie steht es wirklich um unsere Erde?«, sorgte sich die Bild am Sonntag (1.März 2009). Hiobsbotschaften werden nie gern entgegengenommen, und man hat die Erkenntnisse der Klimaforschung lange als Spekulation oder interessengeleitete Übertreibung, wenn nicht gar als grün-ökologisches Komplott abgetan. In der öffentlichen Diskussion wird meist übersehen, dass die Klimaforscher auf der Basis bereits gemessener Evidenz über Temperatur- und Meeresspiegelanstiege oder das Ausmaß des Gletscherschwundes argumentieren und ihre Messmethoden und die Datenbasis ständig erweitern und verfeinern. Modelle, Prognosen und Annahmen bilden die Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisse über und Warnungen vor den Folgen des weiteren Anstiegs der Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere. Sie gibt es bereits seit gut zwanzig Jahren, und auch hier erhärtet sich die Evidenz mit zunehmender Präzision zu einem fast vollständigen Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und Politikberatung. Die regelmäßigen Sachstandsberichte des UN-Weltklimarates {25}(IPCC), die beides auf neuartige Weise kombinieren, haben dazu beigetragen, dass der anthropogene Klimawandel und seine Folgen die öffentliche Debatte erreicht haben, wenigstens zeitweise.

Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), das führende und weltweit anerkannte Institut zur Erdsystemanalyse in Deutschland, schätzt folgende Risiken als besonders bedeutsam ein:

Gefahren für einzigartige Systeme: Korallenriffe, Tier- und Pflanzenarten, seltene und besonders artenreiche Lebensräume, Inselstaaten, tropische Gletscher oder indigene Bevölkerungsgruppen können erheblichen Schaden nehmen oder unumkehrbar zerstört werden.

Extreme Wetterereignisse: Häufigkeit, Stärke und Folgeschäden von extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen, Überschwemmungen, Dürren oder tropischen Wirbelstürmen nehmen zu.

Die ungleiche Verteilung der Auswirkungen: Unterschiedliche Regionen, Länder und Bevölkerungsgruppen werden unterschiedlich schwer von Klimafolgen betroffen. Die ärmsten Länder, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, sind häufig überdurchschnittlich stark betroffen und am wenigsten imstande, sich vor seinen Folgen zu schützen.

Das Risiko grundlegender Veränderungen im Erdsystem: Der Treibhausgas-Ausstoß könnte das Klimasystem der Erde über kritische Grenzen hinaus belasten, so dass wichtige Prozesse im Gesamtgefüge »kippen« und von da an grundsätzlich anders ablaufen können.

Beispiele dafür sind das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes, eine großflächige Versteppung des Amazonas-Regenwaldes oder die Schwächung des Nordatlantikstromes. Untersuchungen seit der Jahrhundertwende haben deutlich gemacht, dass einige der befürchteten Folgen erheblich {26}schneller eingetreten sind als prognostiziert, womit auch mögliche Kipp-Punkte schneller erreicht werden könnten: [12] »Auch ein sich selbst verstärkender Treibhauseffekt kann nicht ausgeschlossen werden, falls das Klimasystem aufgrund der Erwärmung beginnt, Treibhausgase freizusetzen.« [13]

Auch wenn das alles in wissenschaftlicher Terminologie abgefasst ist, liest es sich wie ein Katalog biblischer Plagen: Der Anstieg des Meeresspiegels bedroht küstennahe Gebiete und Inseln. Es gibt extreme Wetterereignisse, namentlich Hitzewellen und Trockenperioden, stoßartige Erhöhungen der Niederschlagsmengen und Hochwasser, eventuell auch scharfe Kälteeinbrüche und eine Häufung und Intensivierung tropischer Wirbelstürme. Die Erwärmung und Übersäuerung der Ozeane ruiniert den Fischfang und verändert eventuell Meeresströmungen. Es kommt zur Ausbreitung wärmeliebender Schädlinge und Krankheitserreger, was die Gefahr von Epidemien und Pandemien steigert. Als abgeleiteter Effekt kommt es zur Verschiebung von Jahreszeiten, Vegetationszonen und Lebensräumen, was in nördlichen Zonen auch positive Erwartungen weckt, doch muss man mit überwiegend negativen Wirkungen des Auftauens der Permafrostböden und des Austretens von Methanhydraten aus dem Meeresboden rechnen. Bei ungebremster Erwärmung wird es mehr Insekten geben, das Wasser wird knapp und schlechter, die Sterblichkeit in kälteren Zonen sinkt, die hitzebedingte steigt. Ernteschäden werden sich mehren, insgesamt dürften Nahrungsmittelmenge und -qualität sinken, Hochwasser und Starkwinde werden große materielle Schäden verursachen. Vorzeichen solcher Möglichkeiten haben der Hurrikan Katrina, die Hitzetoten in europäischen Großstädten, der Wassernotstand in China, die Trockenheit in der argentinischen Pampa und die Buschfeuer in Australien [14] in der jüngsten Vergangenheit geliefert.

Zu den bedrohlichsten kumulativen Effekten, die man auch {27}bereits messen kann, gehört die Austrocknung der Amazonas-Regenwälder, neben den Ozeanen der wichtigste Kohlenstoffspeicher des Planeten. Sie heißen die »grüne Lunge« der Welt, weil sie mehr als doppelt so viel Kohlenstoff absorbieren, wie durch die Verbrennung fossiler Energieträger verursacht wird. Diese sogenannte »Senkenfunktion« ist nun in Gefahr, weil sich am Amazonas das Pflanzenwachstum verlangsamt und absterbende Pflanzen zusätzliche Kohlenstoffemissionen in die Atmosphäre abgeben – derzeit mehr als das gesamte gemeinsame Emissionsvolumen von Europa und Japan.[15] Auch beim Anstieg der Meeresspiegel kumulieren sich Effekte des Klimawandels, weil sich das Wasser durch den Temperaturanstieg ausdehnt und das Abschmelzen des Polareises und der Gletscher die Wassermenge erhöht. Dies geschieht, wie alle Beobachtungen der letzten beiden Jahre zeigen, in einem bisher nicht vorhersehbaren Ausmaß.

Der Umstand, dass es komplexe Wechselspiele und Selbstverstärkungen gibt, versieht die Prognosen über die weitere Entwicklung systematisch mit Unsicherheiten. Bei gleichbleibenden Emissionen sagt das IPCC einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen um 0,2 Grad Celsius je Dekade voraus; wenn die Emissionen kontinuierlich weitersteigen, was sie derzeit tun, wird der Temperaturzuwachs höher sein. Die unterschiedlichen Szenarien, die für verschiedene Emissionsmengen bzw. -zuwächse gerechnet wurden, ergeben eine Untergrenze von 1,1 Grad Temperatursteigerung bis zum Ende des Jahrhunderts und einen oberen Wert von 6,4 Grad. Das ist keine graduelle Differenz, sondern bedeutet einen Unterschied von Lebensformen, weil der Temperaturzuwachs regional höchst unterschiedlich ausfällt und das Leben in einigen bislang bewohnbaren Zonen der Erde unmöglich machen wird. Der Anstieg der Meeresspiegel wird nach den gegenwärtigen (wahrscheinlich nach oben zu korrigierenden) Prognosen zwischen 18 und 59 Zentimetern liegen, was ebenfalls zu ganz {28}anderen Größenordnungen im Tidenhub oder bei Spring- und Sturmfluten führen kann.

Abbildung 1:

Anstieg des CO2-Anteils – der liegende Hockeyschläger.

Diese Grafik war im Detail heftig umstritten, aber fast alle Kurvenbilder, die den bisherigen und wahrscheinlichen weiteren Klimawandel abbilden, weisen dieselbe Verlaufsrichtung auf: Eine relativ lange Stabilität geht seit drei bis vier Jahrzehnten in einen sprunghaften und sich beschleunigenden Anstieg von Treibhausgasemissionen, Temperaturen und Pegeln über. Wie kam es zu diesem plötzlichen und rasanten Ansteigen? Treibhausgase haben sich seit Beginn der Industrialisierung vermehrt, doch seit 1970 betrug die Zunahme etwa 70 Prozent. Der lange Trend ist vor allem auf die Nutzung fossiler Brennstoffe {29}zurückzuführen, auf veränderte Landnutzung, die Entwaldung und den Abbau von Biomasse. Während der letzten fünfzig Jahre wäre es natürlicherweise vermutlich zu einer Abkühlung gekommen, die tatsächliche Erwärmung liegt also eindeutig an der Vermehrung der anthropogenen Antriebsfaktoren. Den steilsten Anstieg verzeichnet die Emissionsstatistik für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – die neue, in zwei machtvolle Blöcke geteilte Weltordnung lieferte die Basis für einen ungeheuer dynamischen Wirtschaftsaufschwung im Westen wie im Osten, getragen von ideologisch antagonistischen Regimen, die aber in ihren Vorstellungen von Naturbeherrschung und unbegrenztem Fortschritt übereinstimmten. Und dann folgte eine nachholende Industrialisierung in allen Regionen der Welt, in die sich das westliche Konsummodell ausbreitete. Emissionsintensiv sind zu den größten Anteilen Energieversorgung, Industriebetriebe und Land- und Forstwirtschaft, zu kleineren Anteilen Verkehr sowie Wohn- und Betriebsgebäude und Abfall. Wenn man dies auf Lebensbereiche aufteilt, treiben neben Industrie und Landwirtschaft vor allem unsere alltäglichen Verrichtungen den Klimawandel voran. Die drei großen Brocken sind Mobilität, Wohnen und Heizen sowie Ernährung, konkreter: dass wir im Durchschnitt zu viel Auto fahren, zu viel heizen und zu kalorienreich essen. Diese Botschaft wird verständlicherweise nicht gern gehört.

Wider alle Evidenz

Können wir den Daten, Modellen und Prognosen der Wissenschaft trauen? Wie bei jeder wissenschaftlichen Entdeckung melden sich Skeptiker, so auch beim Klimawandel. Sie behaupten, es sei überhaupt nicht nachgewiesen, dass es sich bei all dem um einen anthropogenen Vorgang handele, und die möglichen Folgen würden maßlos übertrieben.[16] Nun funktioniert {30}Wissenschaft so, dass sich methodisch überprüfbare Befunde und ihre Interpretationen einer weltweiten Bewertung durch Kolleginnen und Kollegen zu stellen haben, um als gültig, als state of the art, akzeptiert zu werden. Die Aussagen in den Sachstandsberichten lauten nie: Das wird mit Sicherheit geschehen, vielmehr werden Bandbreiten möglicher Entwicklungen mit Wahrscheinlichkeitsgraden versehen. Die verteilte Prüfung wissenschaftlicher Veröffentlichungen durch die Mitglieder der scientific community sorgt für einen strukturellen Konservatismus, der schon Max Planck zu der sarkastischen Übertreibung veranlasste, neue Sichtweisen würden sich nicht durch ihre empirische Triftigkeit durchsetzen, sondern nur durch das Sterben der alten Fachvertreter.

Dieses Beharrungsvermögen war aber gar nicht der Grund, weshalb sich die These so langsam durchgesetzt hat, dass man mit einem gefährlichen, sich beschleunigenden und wesentlich vom Menschen verursachten Wandel der globalen Lebensbedingungen konfrontiert ist. Während sich nun nahezu hundert Prozent der mit dem Thema befassten Ozeanologen, Glaziologen, Meteorologen, Physiker etc. einig sind, folgt ein Teil der Öffentlichkeit einigen Spaßmachern, die jede öffentliche Auseinandersetzung auch braucht, und bezahlten Gegenexperten – allein Exxon Mobil soll mehr als sieben Millionen Dollar für wissenschaftliche Gutachten und Artikel ausgegeben haben, die den anthropogenen Klimawandel negieren [17], und in den USA hat es eine ganze Industrie von Denkfabriken gegeben, die nach dem Muster der Pro-Tabak-Kampagne wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskreditieren versucht haben. Die Bush-Administration nährte den Zweifel vor allem unter US -Amerikanern, den damals größten Verursachern von Treibhausgasen. Die Auswertung der Medienberichterstattung belegt [18], dass die US-Bevölkerung zwar sehr wohl auf dem Laufenden und problembewusst war, die von der Lobby erreichte Ausbalancierung zugunsten der Klima-Skeptiker den Druck auf das Weiße {31}Haus und den Kongress aber bis heute verringerte. Die Öffentlichkeit konnte anzweifeln, dass Klimawandel hinreichend belegt sei, die Entscheider behaupten, sie könnten nicht handeln, bevor sie von den Experten Klarheit bekämen, was wirklich los sei. Experten-Kontroverse und Medien-Alarmismus führen jedenfalls eher zu Apathie als zur individuellen und kollektiven Handlungsbereitschaft. Erst jüngst hat das Heartland Institute, Speerspitze der »Klima-Skeptiker«, seine verbliebenen Truppen versammelt und einen gewissen Respekt unter Wissenschaftsjournalisten gefunden.[19]

Skepsis ist immer gut, Propaganda nicht. Vor dem Hintergrund des überwältigenden Konsenses der Klimaforscher und vor allem angesichts des bedrückenden Umstands, dass all ihre Prognosen Jahr für Jahr von der Entwicklung überholt werden, darf man den anthropogenen Klimawandel als gegeben annehmen. Wir kennen keinen seriösen Klimaforscher, der sich darüber wegen reichlich fließender Forschungsmittel freuen würde, und nicht hofft, dass er doch unrecht hat. Den verbliebenen Skeptikern, die sich einem ja ohnehin in jedem Privatgespräch und bei jeder Paneldiskussion zeigen und schwer zu überzeugen sind, darf man entgegnen, dass die Folgen des Klimawandels auch dann ernste Folgen bleiben würden, wenn es sich um eine »natürliche« Klimaschwankung handeln würde und die weltweite Übernutzung der Naturressourcen davon in keiner Weise tangiert wäre. Weshalb die Dekarbonisierung der Gesellschaft bereits gut gewesen wäre, als der Klimawandel noch gar nicht entdeckt war.

Der Klimawandel als kulturelles Problem

Der Klimawandel ist hinsichtlich seiner Ursachen und physikalischen Auswirkungen ein Gegenstand der Naturwissenschaften, im Blick auf die Folgen ist er Gegenstand der Sozial- und {32}Kulturwissenschaften, die sich damit bisher erstaunlich wenig befasst haben. Meteorologen haben eine Erklärung, warum im Indischen Ozean während der Sommermonate gewaltige Zyklone auftreten, die hohe Flutwellen mit verheerenden Schäden auslösen, wie 1970 in Pakistan und 2008 in Birma; uns interessiert, dass solche Ereignisse den Verlust sozialer Gewissheiten bedeuten, also Krisen in dem Sinne darstellen, dass »ein etablierter, gesichert oder verlässlich erscheinender Sachverhalt fraglich oder instabil zu werden droht«.[20] Das heißt: Wie das Fraglichwerden kulturell wahrgenommen, mit »Sinn« ausgestattet, in soziale Verhaltensweisen überführt wird und kulturelle Referenzrahmen bildet.

Schon die Wahl des Begriffs Wandel oder Katastrophe verdeutlicht diese symbolische Dimension: Wer Klimawandel oder sozialer Wandel sagt, assoziiert etwas Allmähliches, Graduelles und Langfristiges; wer von der Klimakatastrophe spricht, meint eine Eruption, eine Zäsur, ein Drama. Und auch diese Begriffswahl hat eine kulturhistorische Fundierung. Der Begriff »Katastrophe« kam nämlich erst in der Neuzeit auf; bis dahin hatte man entsprechende Ereignisse kosmologisch und religiös ausgedeutet, als übernatürlich bedingte Einstürze der menschlichen Existenz. Seit die Natur wenigstens punktuell und temporär beherrschbar wurde, gab es Katastrophen, wann immer sozial-kulturelle Schutzvorkehrungen massiv zusammenbrachen. So gingen dramatische Naturereignisse und -prozesse in die kollektive Erfahrung und Erinnerung ein und in die Zukunftsvorsorge; und aus der unberechenbaren Bedrohung durch Naturgewalten wurde die bewusst eingegangene (und im wahrsten Sinne des Wortes versicherbare) Beziehung zu einer Natur, deren Risiken permanent durch Technik gezähmt werden müssen. So etablierte sich die für die Neuzeit grundlegende Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft, die handlungsleitend für Schadensereignisse aller Art wurde und das Management der Naturrisiken dafür zuständigen {33}Abteilungen übertrug – den Ingenieuren, dem Katastrophenschutz und nicht zuletzt Versicherungen. Genau damit traten aber neue Risiken zutage, die wieder nur durch mehr technische Innovation einzudämmen waren – das ist das Spiel, das risikobewusste Menschen mit der Natur treiben. Es ist zunehmend die Frage, wie vernünftig es ist.[21]

Klimawandel lässt sich schwer in bekannte Katastrophenereignisse einordnen, hat aber viel mit ihnen gemeinsam. Er ist kein solches Zäsurereignis wie das welterschütternde Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, über das die Zeitgenossen erregt diskutierten. Aber er führt zu Katastrophen wie dem Hurrikan Katrina, der als transnationales Medienereignis um die Welt ging und – bei entsprechender symbolischer Aufladung – eine ebenso tiefgreifende Zäsur hätte sein können wie die »Reaktorhavarie« von Tschernobyl 1986 oder eben ein Erdbeben. Klimawandel ist auch etwas anderes als der in Los Angeles und anderen Erdbebenzonen der Welt latente »Big Bang«, bildet aber wie dieser eine Dauerirritation des Bewusstseins, die darin besteht, dass bald schon etwas Bestimmt-Unbestimmtes eintreten könnte. So rechnen viele auch das mysteriöse Bienensterben in Nordamerika oder den Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko dem Klimawandel zu, obwohl beides damit nichts zu tun hat. Nicht minder unterscheidet sich Klimawandel von Erscheinungen wie wirtschaftlichen Depressionen, Bankenkrisen oder politischen Umstürzen, er kann aber in seinen soziopolitischen und sozioökonomischen Aspekten vergleichbare Folgen haben. Und öfter, als man bisher geglaubt hat, sind auch Gewaltaktionen und Kriege in ihrem Destruktionspotential mit dem Klimawandel nicht nur verwandt, sondern durch diesen mitverursacht worden.

Der Klimawandel weist also eine eigentümliche Informationsqualität auf. Das dürfte damit zu tun haben, dass ein ereignisunabhängiger Wandel mit »plötzlichen« Vorfällen einhergeht. Ersteres führt zu einer hintergründigen Verunsicherung {34}der Öffentlichkeit, Letzteres zu schockartigen Erfahrungen. Ein Indiz für diese Ambivalenz war die breite Thematisierung des Klimawandels im Jahr 2007 auf der Grundlage der Berichte des UN-Klimarates, die eine starke und nahezu weltweite Resonanz auslösten und in die Schlagzeilen kamen, obwohl die Klimaforscher seit mindestens zwanzig Jahren davor warnen, was hier faktisch kommuniziert wurde. Es war aber die Dimension des »blauen Planeten«, die durch die Medien besondere Durchschlagskraft bekam – die Bild-Zeitung titelte: »Die Erde schmilzt!« Derlei verweist auf eine Besonderheit, die für sämtliche Bereiche ökologischer Risikokommunikation zutrifft: die Schwierigkeit der Übersetzung naturwissenschaftlicher Befunde in eine Geschichte, die die allgemeine Lebenserfahrung und Lebenswelt ansprechen kann. Eine dritte Besonderheit, ebenfalls an vielen ökologischen Prozessen nachweisbar, besteht in der Transnationalität des Problems und seiner politisch-technischen Lösungsperspektiven. Die vielleicht gravierendste Eigenart des Klimawandels liegt in der Verwässerung von Ursache-Wirkungs-Ketten. Die Ursachen für die heutigen Probleme reichen ein halbes Jahrhundert und länger zurück, und alles, was man heute tun kann, hat nur höchst unsichere und zeitlich weit entfernte Erfolgsaussichten. Hier ist die zeitliche Beziehung zwischen Handlung und Handlungsfolge, generationenübergreifend verlängert, ein ganz neues Problem.

Der Klimawandel hat bereits jetzt tiefgreifende Auswirkungen auf die globalen Lebensbedingungen: Anbauzonen verschieben sich, Überlebensräume schwinden. Und es wird vermehrt Wanderungen von Klimaflüchtlingen geben, einer Bevölkerungsgruppe, von der man vor zehn Jahren kaum eine Ahnung hatte, die es aber schon länger gibt und mit dem Absinken von Inseln und der Bedrohung von Küstenregionen zweifellos größer werden wird. Im Klimawandel bilden sich Verlierer- und Gewinnergruppen heraus; dadurch können {35}bestehende Gerechtigkeitslücken tiefer werden, nicht nur zwischen dem Norden und dem Süden, sondern auch zwischen den Generationen. Im Klimawandel liegt eine erhebliche Gefährdung überkommener Standards des Lebens und Handelns, gerade deswegen, weil die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die Dringlichkeit des Klimaschutzes die institutionellen Arrangements der betroffenen Gesellschaften unter erheblichen Zeitdruck setzen – und das ist eben nicht die Natur, das sind der Markt, der Staat, die Demokratie und die Zivilgesellschaft.

Obwohl es sich beim Klimawandel um ein globales Problem par excellence handelt, wird in der Klimapolitik kulturell ganz unterschiedliche Wahrnehmungsmuster einkalkulieren müssen, wer erfolgreich handeln möchte. Der Wasserspiegel wird an allen Küsten, auf den Hallig-Inseln, in Dubai und Jakarta mehr oder weniger ähnlich ansteigen. Aber die Mechanismen der Wahrnehmung und Anpassung an dieses Phänomen werden sich kulturell danach unterscheiden, wie Wasser, Fluten und Überschwemmungen gedeutet werden und historisch gemanagt wurden.[22] Dabei könnte es ein voreiliger Schluss sein, der technologisch besser ausgerüstete Norden, der sich schwimmende Häuser und gewaltige Deichbauten leisten kann, sei automatisch besser dafür gewappnet als die Bevölkerung der südlichen Welthälfte (s. S.200 zu Manila).

Klimawandel ist ein typisches Phänomen der »Glokalisierung«, der Wechselwirkung lokaler Handlungen und Unterlassungen mit globalen Auswirkungen. Weltklimapolitik kann aber nur funktionieren, wenn man sich der kulturellen Differenz der Klimawelten stellt. So stellt der Klimawandel den Prototyp der Problemszenarien einer globalisierten Welt dar: Keine Entscheidung bleibt in ihren Folgen auf das Lokale beschränkt, aber umgekehrt gibt es keine transnationale Institution und schon gar keine Weltregierung, die das Problem in globaler Perspektive angehen könnte. Dieses Muster wird für {36}Fragen künftiger Konfliktlösungen und Ab- oder Aufrüstungen vorbildlich sein, etwa für die Lösung von Ernährungsproblemen oder den Aufbau nachhaltiger industrieller Infrastrukturen.

Der Klimawandel hat regional ganz unterschiedliche Auswirkungen; seine sozialen Folgen hängen auch davon ab, welche Bewältigungskapazitäten jeweils vorhanden sind.[23] In Nordeuropa, wo der Lebensstandard hoch, die Ernährung gut, der Katastrophenschutz hervorragend ist und Schäden materiell kompensiert werden können, rechnet man damit, dass sich die sozialen Folgen in Grenzen halten; eine Region wie Zentralafrika, die ohnehin unter Armut, Hunger, fehlenden Infrastrukturen und Gewaltkonflikten leidet, wird von umweltbedingten negativen Veränderungen weit härter erwischt. Es kommt also zu Effekten mehrfacher Benachteiligung: Die voraussichtlich am stärksten betroffenen Länder haben die geringsten Möglichkeiten, die Folgen zu bewältigen; diejenigen, die am wenigsten tangiert sind oder von veränderten klimatischen Bedingungen sogar profitieren, verfügen zugleich über mehr Kapazitäten, mit klimabedingten Problemen fertig zu werden. Die schon bestehenden globalen Asymmetrien und Ungleichheiten in den Lebenschancen vertiefen sich durch den Klimawandel.

Für Europa sind die Folgen des Klimawandels vergleichsweise harmlos, obwohl abschmelzende Gletscher, extreme Wetterereignisse, Murenabgänge, Überflutungen usw. für die Landwirtschaft und die Tourismusindustrie nicht angenehm sind. Zudem zeigt sich auch hier ein Nord-Süd-Gefälle. Während man im Norden Europas vom Anbau neuer Früchte, Getreide, Wein etc. träumt, wird die Mittelmeerregion mehr als bisher von Dürre und Wasserknappheit betroffen sein. Generell haben die europäischen Länder bislang noch hervorragende Kapazitäten, um die Folgen des Klimawandels zu begrenzen bzw. zu kompensieren oder sie eventuell sogar positiv zu wenden; {37}auch Gegenmaßnahmen wie ein verbesserter Küstenschutz sind vielerorts bereits eingeleitet. Die sozialen Folgen werden hier vor allem indirekter Art sein und Fragen erhöhten Drucks auf die Grenzen durch wachsende Migration aus den benachteiligten Ländern, Kosten für Schadensereignisse und veränderte Sicherheitslagen betreffen.

Ähnliches gilt für Nordamerika. Die landwirtschaftlichen Möglichkeiten verbessern sich in vielen Regionen, allerdings ist in manchen Gegenden mit verschlechterten Wintersportbedingungen, Überflutungen oder Wassermangel zu rechnen. Hitzewellen können ebenfalls ein großes Problem werden, und besonders die Küstenregionen werden unter Hurrikans und Überflutungen leiden. Auch hier sind wie in Europa Kompensationsmaßnahmen bereits eingeleitet.[24] Hinsichtlich der Bewältigungskapazitäten gilt, mit regionalen Unterschieden, dasselbe wie für Westeuropa. Insgesamt birgt die Ungleichverteilung der sozialen und ökonomischen Folgen der Klimaerwärmung gravierende Konfliktpotentiale in sich.[25]

Jährliche Investitionskosten für eine Reduktion des Anstiegs des weltweiten Energiebedarfs um 50 %

Erstes Bankenstützungspaket der US-Notenbank November 2008

130 Mrd. Euro

600 Mrd. Euro

Rendite: 17 %

Rendite: 0

Peak Oil

200 Jahre Industriegeschichte basierten auf der Grundüberzeugung, dass fossile Energien – erst Holz und Kohle, dann Erdöl und schließlich Erdgas – im Übermaß und zu Billigpreisen vorhanden waren. Die erste Ölkrise 1973, als Bundeskanzler Helmut Schmidt verkehrsfreie Sonntage anordnen musste, erschütterte diese Gewissheit, nicht aber die Politik zusätzlichen {38}Verbrauchs, der – dank der vom OPEC-Kartell ausgelösten Preisexplosionen – nun auch andernorts, vor Schottland und in Alaska, befriedigt werden konnte. Auf diese Weise wurden auch die industriellen Nachzügler Oiloholiker, die ihren Energiehunger aus nicht erneuerbaren Energien stillten. Die Preise für Rohöl kletterten, Atomkraftwerke wurden errichtet, aber nie wurden Öl und Gas so teuer, dass Verbraucher, Energiewirtschaft und Politik zum radikalen Umschalten auf alternative Energien – Wind, Sonne, Biomasse, Geothermie und so weiter – gezwungen waren. Und Einsparungen durch höhere Energieeffizienz haben wir großenteils in höheren Sprit- und Stromverbrauch umgesetzt.

Heute noch werden 80 Prozent des globalen Primärenergieverbrauchs aus Kohle, Öl und Gas gedeckt, und der soll den gültigen Prognosen zufolge mit durchschnittlich 1,6 Prozent jährlich anwachsen. Allein der Erdölverbrauch, der ein Drittel des Primärenergieverbrauchs ausmacht, soll von 84 Millionen Barrel täglich im Jahr 2005 auf 116 Millionen Barrel bis 2030 ansteigen,[26] bei erschwertem Zugang. Wolfgang Sachs hat die Bedeutung des Öls herausgearbeitet: »Ohne Öl würde das industriewirtschaftliche System zusammenbrechen: Industrie und Arbeitsplätze basieren in weiten Teilen auf der Nutzung und Verarbeitung von Rohöl; Verkehr und Mobilität – zu Wasser, zu Lande und in der Luft – sind hauptsächlich auf raffinierte Ölprodukte angewiesen; und ebenso sind es Plastik, Medikamente, Dünger, Baustoffe, Farben, Textilien und vieles mehr. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wuchs die Abhängigkeit vom Öl immer mehr; es avancierte zu einer politisch, ökonomisch, ja sogar kulturell unersetzlichen Ressource. Öl prägt wie kein anderer Stoff die Lebensstile in aller Welt.« [27]