Die akademische Hintertreppe - Claus Leggewie - E-Book

Die akademische Hintertreppe E-Book

Claus Leggewie

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Beschreibung

Wissenschaft ist Teamwork, Kommunikation dabei das A und O. Ob Tagung oder Vorlesung, Fußnote oder Drittmittelantrag, ob Klatsch, »Vorsingen« oder Zettelkasten – alles gehört zum akademischen Alltag und wird hier mit einem Schuss Selbstironie vorgestellt: von A bis Z.

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Die akademische Hintertreppe
Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens
Leggewie, Claus; Mühlleitner, Elke
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593402765
Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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|5|Für Franka

|9|Vorwort

Die Hintertreppe der Wissenschaft ist nur Mitwirkenden zugänglich und denen, die auf der Gästeliste stehen. »Backstage« geht es chaotisch und lästerlich zu, Pizzakartons und Klamotten liegen herum, Tontechniker, Maskenbildner und schräge Vögel laufen durcheinander. »Man kommt, wie man ist, und man gibt sich, wie man ist« (Wilhelm Weischedel). Doch dann geht der Vorhang auf und Wissenschaftler kommunizieren von der erleuchteten Vorderbühne mit ihren diversen Zielgruppen: mit ihresgleichen, mit Politikern, Unternehmern und Sponsoren, mit einem bisweilen zickigen Mediensystem und nicht zuletzt mit »interessierten Laien«, die erst mal skeptisch dreinschauen.

Von der Sehnsucht akzeptiert, ja ein wenig geliebt zu werden, ist Wissenschaft in der öffentlichen Kommunikation heute wesentlich bestimmt. Dem Standort nützen, immerzu verständlich reden und bequem sein: Gegen solche Zumutungen sollen hier der Eigensinn und die Autonomie der Wissenschaftskommunikation aufgerufen werden. Das führt keineswegs zurück in den Elfenbeinturm, im Gegenteil: Wer die viel beschworene Wissensgesellschaft ernst nimmt, für den ist der »gut informierte Bürger« (Alfred Schütz) kein passiver Resonanzkörper |10|wissenschaftlicher Wunder- und Schandtaten, die man mit Oh! und Ah! bloß zur Kenntnis nimmt. → Wissenschaft als Kommunikation sieht in Laien von vornherein Teilhaber, die zum Fortschritt des Wissens wesentlich beitragen.

Wie Wissenschaftler mit ihrer Umwelt, mit ihren Objekten und untereinander kommunizieren, beschreibt dieses Lexikon von A(bstract) bis Z(unft). Es widmet sich den kleinen Formen wie der Fußnote und der Widmung genauso wie der wissenschaftlichen Massenkommunikation auf großen Konferenzen und in der Wissensshow im Fernsehen. Alle Formate und Reichweiten kommen vor: mündliche Konversation, Korrespondenz und Publikation. Das Lexikon schreitet den gesamten Zyklus vom ersten Staunen bis zur Präsentation »gesicherten« Wissens in Vorlesungen und Lehrbüchern ab. Dabei wird erinnert und geordnet, etwa in Archiven, Zettelkästen und Bibliographien, man speichert und überliefert im Kanon oder in der Enzyklopädie, visualisiert im Tafelbild oder per Powerpoint, inszeniert (sich) im Vortrag und auf der Konferenz und unterrichtet in den verschiedensten Formaten. Man trifft ehrgeizige Individualisten im Exzellenzwettbewerb genau wie Altruisten beim Mannschaftsspiel.

Moderne Wissenschaft ist im Gutenberg-Zeitalter entstanden und nutzt dessen große Errungenschaften Buch, Zeitschrift und Bibliothek. Unser besonderes Augenmerk gilt der Tatsache, dass diese alten Medien seit geraumer Zeit zur Wissenschaft im Cyberspace (→ Cyberscience) zusammenlaufen und zur wissenschaftlichen Kommunikation von Mensch zu Mensch, die zwischen Mensch und Computer getreten ist. Es ist gut möglich (aber nicht zwingend), dass dieser Medienwandel |11|auch neue Denkformen und Wissensordnungen hervorbringt, die zum einen visueller und performativer sind, zum anderen mehr Kooperation erlauben und erfordern.

Wie jedes Lexikon ist auch dieses nicht vollständig, und es wird unschwer zu erkennen sein, dass die Verfasser aus den Kulturwissenschaften kommen. Wer diesen, um gleich anzufangen, → Bias beheben will, möge uns gerne mitteilen, was es zu ergänzen und zu berichtigen gibt.

Gießen, im August 2007

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|12|Abstract

»Dieses Lexikon beschreibt in 177 Einträgen, wie Wissenschaftler kommunizieren: als Kollegen in Instituten und Laboren und mit Geldgebern, Entscheidungsträgern, skeptischer Öffentlichkeit, interessierten Laien ...« Auch der Klappentext eines Buches ist eine Art Abstract (von lat. abstractus: abgezogen, abgesehen). So nennt das American National Standards Institute die »gekürzte, akkurate Darstellung des Inhalts eines Dokuments«, die auf jede Interpretation und Wertung verzichtet; unsere DIN 1426 verordnet Vollständigkeit, Genauigkeit, Objektivität, Kürze und Verständlichkeit. Dabei kommt man nach einer Faustregel mit 100 bis 250 Worten aus.

Anders als es das Wort nahelegen könnte, wird der Inhalt eines Werks mit einem Abstract konkreter, und er erspart kostbare Kommunikationszeit: Entweder wird rasch erkennbar, dass man das betreffende Dokument für eigene Zwecke nicht benötigt, oder das gerafft vorgetragene Argument ist nunmehr bekannt und man kann sich die umständliche Herleitung und Begründung sparen. Weil Abstracts somit vor allem erlauben, etwas nicht zu lesen, fungieren sie als Wegweiser der Wissenschaftskommunikation. Besucher von → Konferenzen konsultieren vorab die gesammelten Abstracts der anberaumten → Referate, die ihnen die Veranstalter wie Appetithäppchen ausgelegt haben (wobei deren Verfasser oft erst nach Ablieferung überlegen, was sie eigentlich als Hauptgericht auftragen wollen ...). Englischsprachige Abstracts von Publikationen in weniger verbreiteten Wissenschaftssprachen (wie dem Deutschen) bieten die Chance, Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit der globalen scientific community immerhin als Zehnzeiler |13|mitzuteilen, aber nicht allein für entlegene Fächer und periphere Regionen ist die Publikation eines solchen Kondensats lebenswichtig.

Gemessen an seiner strategischen Bedeutung führt dieses Stenogramm der Wissenschaftskommunikation ein Schattendasein. Wer quality abstracts abfassen will, muss sich auf die hohe Kunst des Epitomisierens (Kurzschneidens) verstehen und einen Text auf seine Quintessenz hin komprimieren. Man darf völlig unoriginell sein, das aber in eigenen Worten. Berufsmäßige und ehrenamtliche »Indexer«, die weltweit Zigtausende von → Zeitschriften, → Dissertationen und Konferenzpapieren durchforsten, könnte man insofern als unauffällige und geräuschlose Butler des Wissenschaftsbetriebs bezeichnen, die einem das schlechte Gewissen nehmen. Denn welcher Wissenschaftler schafft es, auch nur die Standardwerke der eigenen Disziplin wirklich durchzuarbeiten? Periodika mit gesammelten Abstracts erlauben Spezialisierung genau dadurch, dass diese generalistische Form des Überblicks entstanden ist.

Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Da selbst hochspezialisierte Juristen unmöglich sämtliche Entscheidungen in ihrem Gebiet zur Gänze lesen können, verschaffen sie sich einen Überblick in den Leitsätzen der Gerichte – wie denen zu einem 2003 ergangenen Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main zur (wie passend) »urheberrechtlichen Zulässigkeit von ›abstracts‹«: »1. Die Erstellung und Veröffentlichung von ›abstracts‹ ... für einen juristischen Auskunftsdienst verletzt nicht generell fremde Urheberrechte. 2. Die Frage, wann ein ›abstract‹ eines juristischen Fachbeitrages die Originallektüre ersetzt, kann nicht generell für alle Arten von Schrifttum oder für alle potenziellen Adressaten |14|des ›abstracts‹ beantwortet werden. Maßgeblich (sind) vielmehr die objektive Eignung zur Ersetzung nach Umfang, Inhalt und Darstellungsform und die subjektiven Bedürfnisse des Lesers.« (JurPC Web-Dok. 54/2004)

Zur Frage, wer Abstracts schreiben darf – die Urheber einer wissenschaftlichen Leistung oder auch Dritte – entschied das Gericht, Abstracts von Fachliteratur dürften auch ohne Zustimmung des Rechtsinhabers publiziert werden. Analog wies das Landgericht Frankfurt 2006 die Klage großer Tageszeitungsverlage gegen das Internet-Portal www.perlentaucher.de ab, das Feuilletonartikel referiert; die »kurze Wiedergabe des Inhalts geschützter Texte (verstößt) weder gegen urheberrechtliche noch wettbewerbs- und markenrechtliche Bestimmungen«. Auch wertende Abstracts, die in die Nähe einer → Rezension kommen, sind erlaubt. Das musste die FAZ melden – und ging in die nächste Instanz. Unterdessen entschied das Berliner Kammergericht, dass es seitens der zitierten Autoren einen »Anspruch auf tatsachengemäße Zusammenfassungen« gibt.

Der Rechtsstreit hat exemplarische Bedeutung für das Abstract im Zeitalter des Internet, wo Zusammenfassung und Vollartikel miteinander verlinkt sein können. So gut wie jedem Publikationsformat ist heute ein Abstract (oder Summary) vorangestellt (seltener: angehängt); oft sind → Bibliographien miterfasst und Links zu Datenbanken hergestellt. Wer sich derart als Wissenschaftler resümiert, wird wahrgenommen in einem elektronischen Netzwerk von Informationen, das auf Stich- und Schlüsselworte abgesucht wird. Im amerikanischen Raum entstanden, sind Abstracts somit ein höchst erfolgreicher und zukunftsweisender Globalisierungsexport, der im hiesigen Wissenschaftsbetrieb (in |15|dem Vortragende oft die Hälfte der ihnen zugedachten Zeit darauf verwenden, umständlich nicht zu der Sache zu kommen, die sie unter den strengen Blicken des Moderators am Ende auch nicht mehr auszubreiten wissen) lange verpönt war. Heute übt man diese Kunstform mit Studierenden ein, um den (auch in Rezensionen) üblichen Kardinalfehlern vorzubeugen: die Hervorhebung des referierten Autors als Person, die Abweichung vom Aufbau des vorliegenden Werks, die Hinzufügung neuer Informationen und kritischer Bewertungen oder, bewahre, der »in eigener Sache zu Gehör gebrachte Fanfarenstoß« (Ludger Lüdtkehaus). Insofern sind Waschzettel und Klappentexte von Büchern meist keine guten Abstracts ...

Akkreditierung

AQAS, ZEvA oder AQUIN sind neue, nicht sonderlich beliebte Abkürzungen im Hochschulwesen. So heißen Agenturen, die Bachelor- und Master-Studiengänge akkreditieren (von lat. accredere: Glauben schenken); erst eine erfolgreiche Begutachtung durch ein Fachkollegium verleiht dem Studiengang (oder einer Bildungseinrichtung als Ganzer) das Gütesiegel (Akkreditat), das Studierende zur Aufnahme eines Studiums bewegen kann. Für ein solches Glaubenszeugnis müssen Hochschulen über 10.000 Euro berappen. Die Agenturen arbeiten gewinnorientiert und liegen im Trend der Zeit, der privaten Instanzen mehr zutraut als staatlichen Behörden; allerdings überwacht der parastaatliche Deutsche Akkreditierungsrat die Verfahren aus der Ferne. Akkreditierungen werden von den Heimgesuchten oft als Zusatzlast im Dauerstress der → Evaluationen beargwöhnt|16|. Die Agenturen wehren sich, indem sie behaupten, Evaluationen seien eine Reformwerkstatt, während Akkreditierungen Verbraucherschutz böten.

Archiv

Auf dem Presidio-Hügel über San Francisco residiert das Büro eines ehrgeizigen, ja unmöglichen Projektes, das sich auch eine begehrte Internet-Domain gesichert hat: www.archive.org. Das Archiv der Archive, also eine Kollektion von allem, was jemals an Texten, Tönen und Bildern im Internet zirkulierte – das ist ein verrückter Traum und dennoch ein naheliegender Gedanke der neuen Zeit. Archive des Gutenberg-Zeitalters waren ursprünglich Abteilungen einer Verwaltung oder anderen Großorganisation, in denen nicht mehr im Gebrauch befindliche Schrift-, Bild- und Tondokumente registriert, erhalten und (eventuell) zugänglich gemacht wurden. Das geschah zunächst aus praktischen Gründen: Wie Steuerzahler gehalten sind, Finanzdokumente eine Zeit lang aufzubewahren, müssen Ämter, Gerichte und Unternehmen ihren Schriftverkehr archivieren, um notfalls den Beweis ihres korrekten Verhaltens in der Vergangenheit antreten zu können. Auf dieser Grundlage bildeten sich Archive aller Art – von Staaten, Ländern, Städten, Parlamenten, Parteien, Bistümern, Pfarreien und Firmen.

Von → Bibliotheken unterscheiden sich Archive dadurch, dass sie unveröffentlichtes Material aufbewahren, oftmals ganz ungeordnet. Dabei wird stets Wichtiges von Unwichtigem geschieden, und zwar aus heutiger Perspektive im Blick auf ungewisse Zwecke in der Zukunft, in der vermutlich andere Relevanzkriterien gelten |17|werden. Die Auswahl und die im Blick auf lange Aufbewahrungszeit erforderliche Konservierung vergänglicher Dokumente werten diese unweigerlich zum Kulturgut auf, womit das Interesse Außenstehender geweckt ist. Und aus dem desinteressierten Lageristen, der einem zerfledderte Akten auf den Tisch knallt, wurde der diplomierte, in Berufsverbänden organisierte Archivar mit Herrschaftswissen und, je nach Temperament, Sendungsbewusstsein. Er soll nicht nur Material aufbewahren und ordnen, sondern auch neue Bestände besorgen, was in Unternehmen und Verwaltungen oft daran scheitert, dass Minister oder Manager Akten mitnehmen oder durch den Schredder jagen.

Stets weiß ein Archivar mehr als das Archiv: Mag er sich auch als der im Aktenstaub ergraute → Hiwi tarnen, er ist es, der oft genug erst auf Funde und Zusammenhänge aufmerksam macht. Wie verklausulierten Danksagungen zu entnehmen ist, hat bisweilen erst der Kellner die Suppe schmackhaft gemacht. Die Flure und Teeküchen des Archivs sind Brutstätten des → Gerüchts – wer war schon (vor mir) da, wer hat was gesehen, wo gibt’s noch was zu holen? »Ins Archiv gehen« ist das Bauhandwerk von Historikern und Philologen, die in unaufgeräumten Kellern und Dachböden die Kärrnerarbeit der Dechiffrierung leisten, und das bedeutet praktisch: hier ein Dekret in Sütterlin-Schrift oder eine Kurzschrift entziffern, dort in Detektivmanier apokryphe Briefpassagen verknüpfen. Unter Historikern hat das Archiv seit Leopold von Ranke fast mythische Bedeutung. Ad fontes – zu den Quellen! Der Schlachtruf erhebt den Archivbesuch zur conditio sine qua non und macht daraus auch einen Initiationsritus. Unveröffentlichte Quellen zu erschließen, war der Königsweg zur |18|historiographischen Erkenntnis, und den Vogel schoss ab, wer nicht schon stark frequentierte Findbücher abarbeitete, sondern beispielsweise einen in privatem Besitz befindlichen Nachlass ans Licht hob. Der größte Teil der Archivarbeit ist routiniertes Abhaken und ergebnislose Suche – bis vielleicht doch ein spektakulärer Fund gelingt, der ein Ereignis, eine Person oder eine ganze Ära in ein neues Licht rückt.

Die unausgesprochene Aufgabe des Archivs besteht darin, etwas einstweilen aus der aktuellen Erinnerung zu tilgen; die Auslagerung von zentnerweise Akten in den Gedächtnisspeicher Archiv erlaubt vorübergehendes Vergessen, bis (aus welchen Gründen auch immer) Erinnerung reaktiviert und Belegdokumente wieder ans Licht geholt werden. Archive enthalten mit anderen Worten Information, die dem Kommunikationsprozess zeitweise entzogen wurde, deren Aktualisierung aber jederzeit möglich ist. Allein schon die Tatsache der vorherigen Aufbewahrung verleiht ihr jenen Reiz, den Kinder bei der Erkundung des elterlichen Dachbodens verspüren.

Was ist archivwürdig, was geht verloren, wer hat Zugang? Darin liegt das Politikum des Archivs, das etymologisch nicht zufällig auf das griechische Wort für herrschen (archein) zurückgeht. Archivalien repräsentierten das Gesetz und die Ordnung: Hier entschied sich, was geheim bleiben und was öffentlich werden sollte. Diese Funktion machte Archive zu Zwischenlagern der Herrschaftskommunikation, die in imposanten Staats- und Kirchenbauten Stein wurden. »Akten« werden meist erst nach einer Frist von 30 bis 40 Jahren freigegeben und auch das oft nur stückweise; »sensible« (personenbezogene) Daten bleiben im »Giftschrank« und verlängern |19|die Frist auf den Todeszeitpunkt der betreffenden Person oder einen Zeitraum von über 100 Jahren. Akten der Staatssicherheit dienten in ganz Ostmitteleuropa als wichtige Quelle der Erkenntnis und Aufklärung, gelegentlich aber wurden sie auch ein Medium der Denunziation und Diversion (Irreführung).

War die Geschichtswissenschaft lange auf Staatsarchive und die dort aufbewahrte politische Geschichte großer Männer fixiert, lenkten das Aufkommen sozialer Bewegungen und die neue Kulturgeschichte den Blick auf die privaten »Archive von unten« und die mündliche Überlieferung (oral history) der kleinen Leute. Und war bislang eine Fixierung auf das geschriebene Wort feststellbar, fallen Tonarchive und fotografische oder filmische Dokumente nun stärker ins Gewicht. Das macht Archivieren aufwändiger: Mehr Material erscheint sammlungswürdig, und immer mehr muss investiert werden, um unwiederbringliche Verluste zu vermeiden.

Lösen digitale Medien das Archiv aus seiner Herrschaftsfixierung, bringt das Internet eventuell sogar eine Demokratisierung der Archivpolitik? Internetarchive räumen auf den ersten Blick viele Probleme aus dem Weg: Nicht nur entstauben sie Archive, sie tragen auch der Tatsache Rechnung, dass wichtige Dokumente künftig ohnehin nur in entmaterialisierter Form vorhanden sein werden. Die Digitalisierung beseitigt zunächst auch die notorische Platzknappheit, insofern neue Medien eine vielfache Speicherkapazität aufweisen (→ Cyberscience). Schließlich wird nicht nur mehr aufbewahrt und gesichert, eine intelligente Suchmaschine kann auch den lebenden Aktenhüter unterstützen (oder ihn wegrationalisieren). Den Traum vom unbegrenzten Archiv |20|mit unbeschränktem Zugang träumt seit 1996 der MIT-Informatiker Brewster Kahle, der geistige Vater des erwähnten Internet-Archivs in San Francisco. 2005 waren darin rund 40 Milliarden private und öffentliche Webseiten und Beiträge in Usenets durch automatische Indexprogramme als Momentaufnahmen gespeichert und via Wayback Machine großenteils zugänglich – als eine Art virtuelles Menschheitsgedächtnis.

Dessen Vorteilen stehen ebenso viele Probleme gegenüber: die unauslotbare Tiefenstruktur statischer Webseiten und die Existenz von Metadaten, auch der mögliche Datenverlust durch rasche Überholung der Hardware und Software sowie nicht zuletzt die Schranken, die das Urheberrecht setzt (→ Copyright). Der Trugschluss eines demokratischen Internetarchivs besteht wohl darin, dass in ihm zwar nicht mehr Menschen allein bestimmen, welche Dokumente aufbewahrt und entfernt werden; aber Suchmaschinen stellen als menschengemachte Selektiermaschinen ihrerseits Ordnungen des Wissens dar, die politischen und kommerziellen Interessen gehorchen.

Argument

So sehr man dann die Strenge eines Logikers herbeisehnt, |22|der Pseudo-Argumente zerpflückt, so bedeutsam bleiben »akzeptanzrelevante Figuren« für argumentierendes Reden im wissenschaftlichen Alltag. Manche Figuren importieren strategische Elemente und passen damit streng genommen nicht in eine Argumentation, die auf gegenseitige Überzeugung abstellt und Einstellungsänderungen einzig durch reflexives Lernen bewirken will. Dessen Kriterien sind Wahrheit, Richtigkeit und Angemessenheit, während das berühmte »Angebot, das man nicht ausschlagen kann«, also Drohungen und strategische Redeweisen, Verhandlungsprozesse auszeichnet. Deren Ziel ist der Kompromiss (bekanntlich das Lebenselixier der Demokratie), welcher der machtabstinenten und rein formalen Logik des Arguments fremd bleibt. Aber stets besitzen wissenschaftliche Argumente »machtaffine« Aspekte, zum Beispiel die Reputation eines Sprechers.

Und wie löst man den deutsch-amerikanischen Eingangsdisput? Schopenhauer hätte vielleicht folgende Variante, eine fallacia non causae ut causae (Täuschung durch Annahme des Nicht-Grundes als Grund), anzubieten |23|gehabt: »Ein unverschämter Streich ist es, wenn man nach mehreren Fragen, die ›der Gegner‹ beantwortet hat, ohne dass die Antworten zu Gunsten des Schlusses, den wir beabsichtigen, ausgefallen wären, nun den Schlusssatz, den man dadurch herbeiführen will, obgleich er gar nicht daraus folgt, dennoch als dadurch bewiesen aufstellt und triumphierend ausschreit. Wenn der Gegner schüchtern oder dumm ist, und man selbst viel Unverschämtheit und eine gute Stimme hat, so kann das recht gut gelingen.«

Auflage

»Meine Weltauflage beträgt eine Million«, posaunt der Erfolgsautor beim Stehempfang. »Was für ein Angeber«, denken die Umstehenden, können einen gewissen Neid aber nicht unterdrücken. Angaben und Gerüchte zum Marktwert eines Wissenschaftlers entsprechen dem Muster von Börsenfernsehen. Üblich sind (im geisteswissenschaftlichen Geschäft) Auflagen von 200 bis 500 Stück für ein Fachbuch, was sich neuerdings auch per Book on demand erreichen lässt. 1.500 verkaufte Exemplare sind für eine Monographie schon sehr respektabel, 5.000 fast ein sensationeller Erfolg und 25.000 ein seltener Bestseller, den einem kaum jemand vergönnt. Weil dies kaum jemand erreicht, gilt »Auflagemachen« generell als unfein. Solider wirken Longseller von Physikern oder Philosophen, über Jahrzehnte aufgelegte und revidierte Lehrbücher und Standardwerke, die auch nach deren Tod mit den Namen der Autoren verbunden bleiben.

|24|Aufsatz

Der Aufsatz ist den meisten aus der Schule in mehr oder weniger guter Erinnerung. Die Abfassung dauerte eine oder zwei Schulstunden, als Hausaufgabe auch länger, eingeübt wurde die »konzentrierte Niederschrift über ein Thema«. So setzt man sich im Deutsch-Zentralabitur beispielsweise mit einer These Hugo von Hofmannsthals auseinander: »Für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte«; dabei sollen »persönliche Erfahrungen und Beispiele aus der Literatur« einbezogen werden. Wer formale Prinzipien und eine Propädeutik des wissenschaftlichen Stils beachtet, hat sich damit für das konzentrierte Niederschreiben eines wissenschaftlichen Aufsatzes qualifiziert.

Das paper, wie es neudeutsch heißt, reproduziert nicht nur bekannten Stoff, es soll dem Fachpublikum Neues unterbreiten. Dankbar ist dieses, wenn es weder halbgare Werkstattberichte noch abgehangene Meterware vorgesetzt bekommt, sondern ein solides work in progress, das zu denken gibt. Bei Naturwissenschaftlern ist der meist nur wenige Seiten umfassende Aufsatz die Hauptform schriftlicher Publikation (→ Zeitschrift). In den → Geisteswissenschaften ähnelt das Verhältnis von Aufsatz und Buch eher dem von Etappe und Ziel oder auch von Frucht und Extrakt. Anders gesagt: Wer eine Dissertation im Bibelumfang erarbeitet hat, tut gut daran, der Gemeinde auch eine kurze Predigt zum Thema anzubieten.

In beiden → Kulturen nimmt allerdings das »Aufsetzen«, also der Entwurfs- und Diskursanteil im Aufsatz deutlich ab, Methoden- und Datenteil nehmen dafür an |25|Umfang und Bedeutung zu. Da Wissenschaftler ständig Produktivität unter Beweis stellen müssen, bilden Aufsätze ihre »Output-Legitimation«. Das heißt: Forscher geben Lebenszeichen ab und horchen auf das Echo in Gestalt weiterer Artikel, also auf Anschlusskommunikation. Ein articulus (Abschnitt) fügt gemäß der Herkunft des Wortes (von lat. artus) Teile eines Gesamtwerkes zu einem kollektiven Œuvre zusammen. Wer Glück hat, löst eine ganze Kette von → Zitaten aus; der große Rest ist folgenlose Überkommunikation. Diese akademische »Tonnenideologie« (Wilfried Menninghaus) steuert Drittmittelzuwendungen, die wiederum dafür sorgen, dass mehr Aufsätze geschrieben und publiziert werden. Manche Autoren überlegen sich gut, was auf die → Publikationsliste kommt; früher ließ man »populärwissenschaftliche« oder »essayistische« Beiträge in Zeitungen weg, heute sogar Beiträge in Journalen, die nicht »referiert«, also von → Peers begutachtet worden sind. Naturwissenschaftler, die häufig im Team publizieren, müssen dafür sorgen, dass sie auch mal an die erste Stelle der Autorenzeile rücken, die eine akademische Hackordnung, aber auch eine genaue Arbeitsteilung erkennen lässt.

Die deadlines von Aufsätzen, also der vereinbarte Abgabetermin (und das im Klageton gehaltene Gespräch darüber), strukturieren den akademischen Jahreskalender: Schon wieder hat man leichtsinnig einen neuen Handbuchartikel übernommen, bevor das Referat vom vergangenen Jahr für den Tagungsband abgeschlossen war. Da viele heute Autor und morgen Herausgeber sind, kennen alle das Spiel, wie man Fristen überzieht, Gründe für späte Absagen erfindet und einen Aufsatz-Torso so zurechtredigiert, dass er halbwegs lesbar wird. |26|Stets gibt es offizielle und inoffizielle Termine, die ein Herausgeber dem einen verrät und dem anderen nicht.

Die digitale Informationstechnologie hat das Fallbeil des Abgabetermins entschärft und das Aufsatzschreiben generell neu eingerahmt. Dazu tragen Aufsatzdatenbanken bei, die Bibliotheken, Fächer und Verlage anbieten. Per Stichwortsuche kann man erheben, was zu einem Thema publiziert wurde. Folgenreicher für das Genre Aufsatz ist, wenn Autoren ihre Publikationen als PDF (plattformunabhängiges portables Dokumentenformat) ins Netz stellen. Pre-prints (Vorabdrucke) von Aufsätzen ziehen oft gar keine »ordentliche« Print-Publikation mehr nach sich und bilden in einzelnen Fächern (wie der Chemie) schon einen beachtlichen Teil der Veröffentlichungen. Den Ansehensgewinn dieses Formats unterstrich die Verleihung der renommierten Fields-Medaille an den Mathematiker Grigori Perelman, der seinen Beweis der Poincaré-Vermutung auf dem Pre-print-Server arXiv publizierte, das unterdessen mehr als 400.000 E-prints aus der Physik, Mathematik, Computer Science und Biologie vorhält. Das bringt den wissenschaftlichen Aufsatz ein Stück zurück zu seinem literarischen Ursprung: dem Aufsetzen, das des verbessernden Kommentars durch andere bedarf und deswegen eine unfertige Form behält. Aufsatzschreiben wäre dann wieder Probekommunikation.

Begehung

»Wir werden gerade begangen«, raunt die Institutsleiterin dem Kollegen auf dem Gang zu, und damit spricht sie einen jener seltsamen Begriffe aus, den außerhalb der Universität niemand versteht. Begehungen kennt man |27|höchstens von Baustellen, wenn die Sicherheit der Arbeitnehmer inspiziert wird. Die Institutsleiterin hat anderen Besuch im Hause – und heikle Kommunikation vor sich: Ihr Sonderforschungsbereich wird von einer Schar hochrangiger Kollegen unter der Regie der Deutschen Forschungsgemeinschaft besucht, die am Ende des zweiten Tages das Urteil fällen: förderungswürdig oder nicht. Bei solchen Gelegenheiten regredieren sogar Weltstars zu ängstlichen Schülern mit Aufregungsflecken am Hals. In eilends aufgeräumten, mit Postern dekorierten Projekträumen werden die Gutachter mit Mineralwasser und Kekssortimenten versorgt, und man beantwortet ihre Fragen ausgesucht zuvorkommend. Die Prozedur, die einem strengen Zeitregime unterworfen ist, wird oft mehrfach geprobt. Selbst ärgste Rivalen bekommen ein Dauergrinsen geschenkt, der Uni-Präsident ist aufgekratzt wie noch nie. Hinter dieser Prüfung für Fortgeschrittene steht offenbar die Idee, Qualität und Erfolgsaussicht eines wissenschaftlichen Vorhabens seien am besten durch Augenschein zu beurteilen; face to face könne man am besten erkennen, ob sich die Mitglieder der Forschergruppe tatsächlich kennen und schätzen, wie es hic et nunc um den Geist des Teams bestellt sei, das sich monatelang in Antragsprosa geübt hat, wie stark die Universitätsleitung ein Vorhaben unterstütze und welchen Eindruck Doktorandinnen und Post-Docs vermitteln. Mancher Gutachter nutzt die asymmetrische Situation für eine Demonstration seiner Macht – was sich freilich rächen könnte: Schon bald wird der gepiesackte Kollege ihn selbst begehen.

|28|Beobachtung

Wissenschaft beginnt mit der kommunikativen Grundoperation des Beobachtens. Über spontanes Wahrnehmen reicht beobachtendes Handeln insofern hinaus, als es das Wahrgenommene de- und rekonstruiert. Das setzt schon ein, wenn das Kleinkind den Blicken und dem Lächeln der Mutter oder dem Spiel von Licht und Schatten folgt und seine Beobachtungsgabe später mit Opas Lupe, einem Chemiebaukasten oder einem Mikroskop verfeinert – Protoformen der Forschung, die sich am Nachthimmel, an Flora und Fauna oder an Eindrücken in der Fremde bewähren. Beobachten heißt, eine Unterscheidung zu treffen zwischen sich (dem Subjekt) und der Welt der Objekte. Wissenschaft zeichnet sich sodann durch die Zunahme von Beobachtungen zweiter Ordnung aus, wie Systemtheoretiker die selbstbezügliche Beobachtung der Beobachter beziehungsweise die Selbstreflexion des Vorgangs der Beobachtung nennen. Indem man dabei »blinde Flecken« entdeckt, stößt man auf das letztlich unauflösbare Problem der Abhängigkeit des Beobachteten vom Beobachter. Die teilnehmende Beobachterin im Feld kann Zuschauen und Mitmachen nur schwer trennen, auch wenn sie das Feldgeschehen mithilfe von Notizen, Transkripten und Videoaufnahme aufzeichnet und audiovisuelle Betrachtung und Wahrnehmung damit versprachlicht. Die Daueroperation des Beobachtens kann zu einer professionellen Deformation führen: Wissenschaftler beobachten sich konstant und wissen darum.

|29|Berufungsverfahren

Die Rekrutierung neuer Kolleginnen an einem Institut oder Fachbereich geht auf dem langen Weg von der Ausschreibung einer Position über Auswahl und Anhörung der Kandidaten (→ Vorsingen) bis zu ihrer Berufung selten ohne unerquickliche Streitereien und politische Einmischung ab. Der Grund liegt nicht nur in der Eitelkeit des beteiligten Personals und den amateurhaften Entscheidungsstrukturen, sondern auch in der Freiheit wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen, die in solchen Verfahren abrupt zu Eindeutigkeit gezwungen werden. Dabei kommen oft faule Kompromisse heraus: Weil weder A noch B durchzusetzen waren – wurde es C. Was sich nach Erteilung des → Rufs in (Bleibe-)Verhandlungen mit dem bisherigen und prospektiven Arbeitgeber über Gehalt, Ausstattung und Sonderwünsche abspielt, erinnert entfernt an Geschäftskommunikation; in Wahrheit binden meist Beamtenrecht, knappe Ressourcen und Rücksichten auf Kollegialität beiden Seiten die Hände, was sich zeigt, wenn wirklich mal ein teurer Superstar eingekauft werden soll. Die Bestellung des eigenen Nachwuchses läuft häufig auf Mittelmaß und die unangefochtene Selbstrekrutierung eines akademischen Juste Milieu hinaus, das weder → Originalität noch Überraschungen schätzt.

Beweis

»Beweisen Sie mir das!« Streng hört sich dieser politische Moment einer wissenschaftlichen Kommunikation an, der Augenblick, in dem die diskursive Freiheit endet und Kausalitätszwang eintritt. Zwei Mathematiker |30|stehen mit dem Stück Kreide vor der Tafel, Rechts und Staatsanwalt kreuzen im Gerichtssaal rhetorisch die Klingen – nun muss entschieden werden, was wahr ist. Beweise spielen in vielen Disziplinen eine zentrale Rolle. Für Juristen ist ein Sachverhalt dann bewiesen, wenn er im Gerichtsverfahren aufgrund richterlicher Überzeugung festgestellt worden ist, und die spannende Frage (und Stellschraube) ist stets, wer die Beweislast hat. In der Mathematik zählt der Nachweis, dass aus einem Satz von Aussagen eine weitere Aussage folgt, in der formalen Logik die korrekte Herleitung einer zu beweisenden Behauptung mithilfe von Schlussregeln aus Prämissen und Axiomen. Um den Beweis ordentlich führen zu können, gelten Regeln und Verfahren, deren Beherrschung den Fachmenschen als solchen ausweist und legitimiert – er soll möglichst gut, ja elegant beweisen. Und dieser Perfektionsdrang lässt Nebenfächler verzweifeln, die Recht oder Mathematik doch nur anwenden wollten.

Für cartesianische Logiker und Forensiker ist der Stoff hingegen fast nebensächlich. Der Alltag der Wissenschaftskommunikation ist für sie eine Serie von Unfällen, also Fehlschlüssen und Trugschlüssen, bei deren Benennung man nebenbei Latein- und Griechischkenntnisse unter Beweis stellen kann: proton pseudos, petitio principii, circulus vitiosus etc. Auch (wir) Aufklärer, schrieb Friedrich Nietzsche, »leben noch von dem Christenglauben, der auch der Glaube Platons war, daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist«. Die Geschichte der gescheiterten Gottesbeweise zeigt, dass nicht alles beweisbar ist. Es mag sein, dass die Fixierung auf → Kausalität daraus folgt, dass wir dieses Scheitern nicht gern akzeptieren.

|31|»The proof of the pudding is in the eating.« Auch an Inspektor Maigret und Miss Marple erfreut ja wesentlich ihre schöne Beweisführung, wenn sie den Mörder aus einer Versammlung Ahnungsloser (bis auf einen) herausschälen. In der Wissenschaft geht das wie im Kriminalroman auf zwei Weisen: Entweder sind die Prämissen als wahr bekannt und wird das zu Beweisende als unvermeidliche Folgerung abgeleitet, oder das zu Beweisende wird vorläufig als wahr vorausgesetzt und zurück auf die notwendigen Bedingungen geschlossen. Doch während der Kommissar am Ende das Geheimnis lüftet, bleiben selbst in den »harten« Wissenschaften alle Fragen offen: Letztgültige Beweise für nicht-triviale Konstrukte gibt es nicht, und am Horizont taucht immer schon der Gegenbeweis auf. Computer führen nicht aus dem Dilemma: Sie machen die Beweisführung undurchsichtig und softwareabhängig und befreien auch nicht von der Paradoxie des »schweren Beweises«: Das Ergebnis liegt auf der Hand, nicht-trivial ist nur die wundergleiche Demonstration.

Bias

Jemand hat einen bias (engl.), wenn er oder sie voreingenommen ist für einen Standpunkt, der ein objektives und neutrales Urteil über einen Sachverhalt erschwert und Messungen verzerrt. Diese Voreingenommenheit kann generell oder situativ vorhanden sein und sie kann systematische oder zufällige Fehler erzeugen. Unter Kommunikationsgesichtspunkten ist der Vorwurf, jemand sei biased, ein Paradox vom Typ »Alle Kreter lügen«, da niemand ohne Vorurteil (also unbiased) ist.

|32|Bibliographie

Alles verzeichnen, was jemals zu Goethe erschienen ist? Selbst daran machen sich immer wieder »Arbeitstiere« (Robert Musil), denen es genug der Ehre ist, wie ein Planet um eine Sonne zu kreisen und von ihrem Licht beschienen zu werden. Eine annotierte oder kritischräsonierende Bibliographie, die Werke nicht nur alphabetisch oder nach Schlagworten verzeichnet, sondern auch knapp bewertet, leistet Dienste, die ihre Nutznießer regelmäßig unterschätzen; die emsigen Herausgeber solcher Mammutunternehmen bleiben meist unerwähnt und unbedankt. Aber manche wissenschaftliche Karriere begann genau damit, dass einer als → Hiwi mit bibliographischer Wühlarbeit für den Handapparat oder die Aufsatzpublikation der Chefin betraut wurde.

Wie → Archive und → Bibliotheken sind Bibliographien (von gr. biblios und graphein: Bücherbeschreibung) elementare Speichermedien, die auch Buchhändlerinnen, Antiquare und Bibliothekare täglich benutzen. Allgemeine Bibliographien streben Vollständigkeit an; sie sind zeitlich unbeschränkt oder umfassen bestimmte Epochen. Auf diese Weise entwickelten sich raumfüllende Nationalbibliographien, die ISBD-Standards (International Standard Bibliographic Description) weltweit kompatibel machten. Fachbibliographien wählen demgegenüber thematisch aus, und unterhalb dieser Ebene gibt es noch Bücher-Verzeichnisse, die sich auf bestimmte Publikationsformen (wie Hochschulschriften oder Zeitschriften), Medienarten (wie Hörbücher oder Online-Publikationen) oder auf Titel von einer und über eine Person beschränken. Besagte Goethe-Bibliographie kann alphabetisch, nach Gattungen und Werken |33|des Meisters oder chronologisch angelegt sein und sollte am besten mit einem Index alle diese Ordnungen verbinden. Wer dabei die Orientierung verliert, für den gibt es wiederum Bibliographien der Bibliographien.

Bibliographieren ist erste wissenschaftliche Pflicht, mit der man sich kommunikativ in eine lange Ahnenreihe von Autoren hineinstellt. Wer sich einem Thema zuwendet, prüfe sorgfältig und respektvoll, was andere dazu publiziert haben; das schützt vor Doppelarbeit, bringt einen aber auch auf gute Ideen. Womit schon der Kürteil beginnt. Bibliographien sind eine Art Menükarte für Bibliophage, die einen Bücherberg auf der einen Seite ihres Schreibtischs ablegen, das Hereingeschlungene auf Notizblöcken oder im PC verarbeiten und auf der anderen Seite beschriebene Blätter ausstoßen. Die dann im Publikationsfall, man ahnt es, erneut in einer Bibliographie landen können, nicht zuletzt in der eigenen: Denn das Rückgrat jedes wissenschaftlichen Lebenslaufs ist die → Publikationsliste eigener Werke, die wie ein Baum gewachsen ist und entsprechende Lebensringe ausgebildet hat.

Die Effekte der »neuen Medien« auf das Bibliographieren sind zweischneidig: Einerseits erleichtert es die systematische Suche und regelmäßige Aktualisierung kolossal, dass Bibliographien online verfügbar sind wie der Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK), der die synchrone Suche in Bibliothekskatalogen des In- und Auslands sowie in bibliographischen Datenbanken des Buchhandels ermöglicht. Andererseits wird Bibliographieren mit oberflächlichem Surfen verwechselt, dessen Resultate oft sämtliche bibliographische Kriterien und Regeln brechen. Alles zu Goethe? Steht sicher nicht in → Wikipedia ...

|34|Bibliothek

Für den begeisterten Wissenschaftler ist das ein wunderschönes Bild: In langen Reihen sitzen Gleichgesinnte, schauen konzentriert auf vor ihnen aufgeschlagene Texte, blättern Bücher durch, machen Notizen in Kladden oder Laptops, lassen den Blick aus dem Fenster schweifen und auf Personen, die einen freien Platz suchen oder in Regalen und Zeitschriftenboxen nach Lesestoff suchen oder am Computer-Terminal bibliographieren. An hier und da eingestreuten Dienstplätzen verrichtet das Bibliothekspersonal seine Arbeit, Bedienstete händigen Bücher aus oder bringen sie sogar zum Platz. Der Geräuschpegel ist gewöhnlich niedrig, man hört Schritte, Murmeln und Flüstern, das Klappern der Tastaturen, ein Stühlerücken oder das Summen der Klimaanlage, selten hingegen Gelächter oder gar Handy-Klingeln. Nur die Bibliothekarin hinter ihrem leicht erhöhten Tresen darf in normaler Lautstärke reden. Das Erstsemester erkennt man am fragenden Blick und unsicheren Schritt auf dem Laufsteg (Führungen sollen die Schwellenangst nehmen), ergraute Emeriti scheinen schon zum Inventar zu gehören, während amtierende Professoren sich eher selten persönlich blicken lassen.

Die Bibliothek vereinigt zwei scheinbar konträre Handlungsweisen: die fast autistische Versenkung in Bücher mit kollektiver, schon von der Sitzordnung gleichgerichteter Leseaktivität. Man driftet in innere Imagination ab und ist doch nie allein, hat teil an einer kollektiven Veranstaltung ganz individueller Rezeption. Dabei geht es locker zu, neuerdings machen sich ganze Arbeitsgruppen mit ihren Rucksäcken, Laptops und Wasserflaschen auf dem Boden breit, um gemeinsam für |35|die nächste Klausur zu üben. Vom langen Sitzen und starren Schauen werden einem die Glieder steif, man räkelt und streckt sich oder schlendert auf einen Snack in die Cafeteria, wo man eventuell Bekannte für einen Plausch trifft – oder sogar eine Bekanntschaft fürs Leben schließt. Für manche ist eine Bibliothek weniger Wissenstempel als Flirtbörse und Heiratsmarkt.

Je nach Vorliebe, Öffnungszeiten und Schreibaufgabe kann man ganze Tage an solchen Orten verbringen, die seit ihren altorientalischen Ursprüngen in Ninive und Alexandria Bibliothek heißen und in der wortlosen Kommunikation mit und unter Wissenschaftlern eine zentrale Institution bilden: als Speicher publizierten, überwiegend gedruckten Materials, als nie versiegende Quelle kostenfreier oder preiswerter Information und Steinbruch für Neuentdeckungen, als Social Club. Auch die politische Rolle von Bibliotheken war enorm: Hof, Dom- und Klosterbibliotheken wurden säkularisiert, das städtische Bürgertum machte Büchereien zu Vehikeln der Nationsbildung, die Arbeiter betrieben unter der Parole »Wissen ist Macht« die Bücherhallenbewegung und Volksbüchereien. In Bibliotheken konzentriert sich die indirekte, fast geräuschlose Kommunikation mit dem Weltwissen.

Die Bücherhalle, wie man in Hamburg sagt, ist zugleich festes Haus und imaginäre Letternrepublik. Bibliotheken sind überall entstanden und gepflegt worden, wo mit Leidenschaft, System und Zukunftssinn Bücher gesammelt wurden: in privaten Klöstern und Gelehrtenstuben, in Residenzen und Stiften, in öffentlichen Schulen und Public Libraries, in Akademien und Universitäten, in den Kreis- und Hauptstädten großer Bildungsnationen von Alexandria über Admont und |36|Wolfenbüttel bis Washington D.C. In großen Nationalbibliotheken kamen so Millionen Bücher und Zeitschriften zusammen, in der Weimarer Anna Amalia-Bibliothek wahre Schätze, deren durch Brand und Wasser verursachter Verlust dem gebildeten Publikum Tränen in die Augen getrieben hat. Orte wie diese sind ihrer Aura wegen auch für Menschen attraktiv, deren eigene Bücherei das sprichwörtliche Zweitbuch kaum übersteigt. Bibliotheken nutzen diese Aufmerksamkeit für »Events« in ihren hohen Hallen, die die große Mehrheit gleichwohl noch als Hort des Bildungsbürgertums abschrecken oder kalt lassen.

Sammeln, Ordnen, Erhalten, Verteilen: diese Logistik wissenschaftlicher Fertigkeiten übernehmen außer bibliophilen Sammlern berufsmäßige Bibliothekare, die sich neuerdings, da auch in den ältesten Büchertempel neueste Informationstechnologie Einzug hält, zu multimedialen Informationsmanagern mausern. Ähnlich wie Archivare helfen sie als Türöffner und Wegweiser, sofern sie mehr wissen als der Katalog und insbesondere ungeschulte Benutzer, die sich in alphabetischen und systematischen Wissensordnungen leicht verlaufen. Das unterdessen selbst verwissenschaftlichte Bibliothekswesen bahnt eine Schlucht durch gigantische Informationsmengen, die sich Schätzungen zufolge weltweit alle sieben Jahre verdoppeln (und vermutlich noch rascher an Redundanz zunehmen). Da ohnehin viel zu viel (und alles doppelt und dreifach) publiziert wird, bieten die Bibliothek und ihr Personal trotz einer oft mehrere Etagen unter die Erde reichenden Bücherakkumulation eine Chance zur Reduktion von Komplexität.

Die Bibliothek – ein akademisches Biotop? Das wäre dann doch stark übertrieben: Für das Gros der Benutzer |37|ist sie eher eine Pein, vollgestopft mit unverständlichem Paukstoff, der überdies allzu oft nicht vorrätig, geklaut, verstellt, vollgeschmiert oder verstümmelt ist. Zeitschriften sind oft nur als Torso vorhanden, da sie in fetten Jahren bestellt und in mageren storniert wurden. Lesesäle sind häufig überbelegt, schlecht temperiert oder von Umbaulärm erfüllt. Fernleihkopien treffen ein, wenn der Abgabetermin für die Examensarbeit oder den wissenschaftlichen Aufsatz längst überschritten ist, und manche attraktive Publikation ist nur noch über ein saftiges Entgelt direkt beim Wissenschaftsverlag erhältlich. Man muss nicht erwähnen, dass zu allem Überfluss die Cafeteria verwahrlost, die Toiletten verstopft, das Personal unfreundlich und die Kommilitonen schlecht drauf sein können – und man einen solchen Ort am liebsten rasch wieder verlässt.

Bibliothek ist kein geschützter Begriff, ihr Ort wird virtuell, und im WWW kann heute jeder alles publizieren |38|