Europa zuerst! - Claus Leggewie - E-Book

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Claus Leggewie

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Beschreibung

In der heutigen politischen Debatte spielt der europäische Rechtspopulismus mit fremdenfeindlichen Parolen eine viel zu große Rolle. Doch Claus Leggewie zeigt: Längst haben sich starke Gegenbewegungen gebildet, die sich ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa nicht nehmen lassen wollen. Mit genauem Blick beschreibt und analysiert Claus Leggewie, einer der wichtigsten Politologen Deutschlands, verschiedene proeuropäische Basisbewegungen und Netzwerke in verschiedenen Ländern des Kontinents: neue Parteien, Vereinigungen und NGOs. Er macht deutlich, warum sie die wahren Europäer sind, wie sie europafeindlichen Strömungen entgegentreten, aber auch, wie man den Stillstand der europäischen Institutionen überwinden kann. Leggewie macht Hoffnung: Das Europa der Zukunft ist basisdemokratisch, kosmopolitisch, bürgernah und sozial gerecht.

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Das Buch

Alle reden über Europa. Aber was ist das überhaupt? Und wer? Jenseits der Brüsseler EU-Institutionen hat sich längst ein quicklebendiges Netzwerk von Ideen und Initiativen gebildet – von zumeist jungen Europäern, die ihre Zukunft in einer globalisierten Welt selbst in die Hand nehmen wollen. Den fremdenfeindlichen Provinzialismus ewiggestriger Populisten und Nationalisten lassen sie sich nicht bieten. Claus Leggewie, einer der führenden Politikwissenschaftler Deutschlands, widmet sich den neuen europäischen »Agenten des Wandels«. Die Analyse ihrer Ideen und Initiativen ergibt eine spannende Reise quer durch Europa und entlang seiner Peripherie, die anschaulich macht, wie sehr Europa ein Kontinent der Zukunft ist.

Der Autor

Claus Leggewie, geboren 1950, ist Ludwig-Börne-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats »Globale Umweltveränderungen« der Bundesregierung und ist an vielen europäischen Instituten und Universitäten tätig.

CLAUS LEGGEWIE

EUROPA ZUERST!

EINE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG

ULLSTEIN

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Abbildungen im Innenteil (Schaubild 1 und 2):

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2016): Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation: Die vier großen I. Ein Beitrag zur deutschen G20-Präsidentschaft 2017, Sondergutachten 2016, Berlin: WBGU.

ISBN 978-3-8437-1621-5

© 2017 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Lektorat: Christian Seeger

Covergestaltung: Sabine Wimmer, berlin

Autorenfoto: Georg Lukas, KWI Essen

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch/ Über den Autor
Titel
Impressum
Einleitung: Ins Offene
I Gezeitenwechsel
Die autoritäre Welle
Etwas faul im Staate Dänemark
Paradies für Populisten: Italien
Vollendete Reaktion: Ungarn
Unterspülung der Demokratie
Deichbau
Glückliches Österreich
Noch nicht verloren: Polen
Ausgebürgert: Scheidung auf britisch
Pim hat es so gewollt: die Niederlande
Frankreichs Uhren gehen wieder
Iberische (und andere) Ausnahmen
Deutscher Herbst: die Entscheidung
Ante Portas
Türkei: Abwendung eines ungeliebten Partners
Russland: die eurasische Versuchung
Eleven Nine: nicht das Ende des Westens
Europas neue Barbaren?
Schiffbruch oder Alarmsignal? Die Lehren des Populismus
Responsiver werden
Resilienter werden
Resistenter werden
II Gegen den Strom
Themenwechsel
Drei Körbe
#1 Teilhabe
# 2 Solidarität
# 3 Nachhaltigkeit
#plus: Europa in der Weltgesellschaft
III Freibeuter: Praxis Europa
Renaissance des jungen Europa
Bewegung
Strategie
Reflexion
Agenten des Wandels: ein gutes Dutzend Europa19
@ Freiheit und Widerstand
@ Große Transformation
@ Erinnerung und Frieden
It’s Europe, stupid!
Anmerkungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

EINLEITUNG: INS OFFENE

Von unserer Zeit wollen wir nichts versäumen:vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist unsere Zeit.Wir haben nur dieses Leben zu leben inmitten dieses Krieges,möglicherweise dieser Revolution.Jean-Paul Sartre, 19451

Dieses Buch ist eine europäische Unabhängigkeitserklärung. Europa und die Europäische Union sind anziehend genug, um die aktuellen Anfechtungen zu überstehen und aus ihrer seit langem schwersten Krise kraftvoller hervorzugehen. Das kann aber nur gelingen, wenn selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger die Herausforderungen annehmen und der autoritären Welle entschieden widerstehen, die nicht nur in Europa anbrandet, sondern rund um den Globus läuft und mancherorts schon zu »Land unter« geführt hat.

Dass im politischen Raum derzeit »alles möglich ist«, wie in den letzten Monaten oft zu hören war, zeigt sich, wenn ein absoluter Außenseiter wie Donald Trump Amerika erobert, aber auch, wenn ebenso überraschend der Franzose Emmanuel Macron mit frischen Ideen in den Elysée einzieht. Mit Europa ist anderes und Besseres möglich als der von den Exiteers verschiedener Couleur beschworene Niedergang. In Österreich sind 2016 die Blau-Braunen zurückgeschlagen worden, in den Niederlanden reichte es im März 2017 f.r Geert Wilders bei weitem nicht zur Machtübernahme, und auch in Frankreich wurden Marine Le Pen ihre Grenzen aufgezeigt. Der Brexit, der am 29. März 2017 eingeleitete Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, hat nicht den von den Rechtspopulisten erhofften Dominoeffekt, sondern eine politische Katerstimmung ausgelöst. Die Präsidentschaft Trumps erzeugt nicht nur in den USA Widerstand – im Kongress, in den Bundesstaaten, in den Medien, in der Justiz, in den »sanctuary cities« und auf den Straßen und Plätzen –, sie stärkt auch Europas Widerstandskräfte. So wie Stalin nach 1945 als unfreiwilliger Geburtshelfer der Europäischen Gemeinschaft angesehen wurde, könnten Trump und Putin einmal als Wegbereiter ihrer Renaissance in die Geschichte eingehen.

Europäische Werte der Aufklärung, der Demokratie und der Bürgergesellschaft stehen auf dem Prüfstand, die Institutionen der Europäischen Union gehören reformiert. Entscheidend ist aber, dass sich die Europäer als eine europäische Gesellschaft konstituieren, die sich in ihrer ganz alltäglichen Praxis selbst hervorbringt. Was Ernest Renan einmal für die Nationen postuliert hat, sie seien »un plébiscite de tous les jours«, muss heute für ganz Europa gelten. Voluminöse Abhandlungen sind der Frage nachgegangen: »Was ist deutsch?« Nun ist es wirklich an der Zeit zu fragen, was europäisch ist.

Ob und wie es mit Europa weitergeht, haben »wir« in der Hand, und es geht in den aktuellen politischen Kämpfen gerade darum, wer dieses »Wir« ausmacht – eine muffige, vergangenheits­selige Ansammlung autoritärer Natio­nalisten oder vielmehr zukunftsfrohe europäische Weltbürger und Lokalpatrioten. Nichts spricht gegen ein Europa der Vater- und Mutterländer, wenn man darüber nicht vergisst, dass sie das Schicksal der Welt und der künftig auf dem Planeten lebenden Menschheit mitverantworten. Kluge Patrioten sind keine Natio­nalisten.

»Europa zuerst«, das klingt nach America first und ist doch das genaue Gegenteil. Der Slogan ist selbstverständlich kein Rückfall in finstere europäische Arroganz und gewiss keine Imi­tation der konfusen Ideen Donald Trumps. Geläutert durch die Verarbeitung seiner mörderischen Vergangenheit, muss Europa der Hafen von Freiheit und Demokratie in einem Meer imperialer Piraten sein, eine Alternative zu Trumps Amerika, Putins Russland und Erdoğans Türkei (wohlgemerkt nicht zu »den« Amerikanern, Russen und Türken). Eine Unabhängigkeitserklärung ist keine Feinderklärung. Europa schottet sich nicht ab, es bleibt der Welt zugewandt, es pflegt und stärkt die wechselseitige Abhängigkeit von seinen Nachbarn nah und fern. Gegen Trump halten wir Europäer die Integrität westlicher Werte und Institutionen hoch. Russland ist nicht Putin und gehört selbstverständlich ins europäische Haus. Mit allen Nachbarn, besonders denen an der mediterranen, afrikanischen und nahöst­lichen Peripherie, wollen wir uns gemeinsam entwickeln. Für derart kooperative Lösungen der Krisen in aller Welt muss sich Europa bereithalten, wenn »alternative Fakten« endlich als Lügen entlarvt sind und der autoritäre Größenwahn sich als gefährliche Illusion entpuppt hat.

Europa wird bisweilen abgetan als »Welt von gestern«. So lautete der Titel des letzten Werks von Stefan Zweig, 1942 post­hum erschienen als Rückblick vor allem auf das Wien der Jahrhundertwende, jene kreative Epoche des Aufbruchs in die Moderne, die vierzig Jahre später aus der Zeit gefallen schien, als allerorts die autoritären Regime Hitlers, Stalins und ihrer Kollaborateure den Ton angaben. Vom Weltmachtswahn dieser Regime wurde Europa fast zerdrückt, der Zweite Weltkrieg hätte seine Existenz fast vernichtet. Aus dieser Trümmerwelt ist die Europäische Union erwachsen. Doch ihre in siebzig Jahren errungene Fähigkeit, neue Kriege in Europa zu verhindern, zieht bei den Nachgeborenen heute kaum noch und verschafft ihr bei jüngeren Europäern keine Daseinsberechtigung mehr. Europa als Idee und Institution, auch als politische Motivation muss sich heutigen Generationen neu und anders begründen und erschließen. Genau das geschieht gerade in den Bürgerinitia­tiven, Demos und Parteigründungen für ein anderes und besseres ­Europa, um die es in diesem Buch gehen soll.

So schutzlos Europa heute dazustehen scheint, so krisenanfällig seine Volkswirtschaften sind und so verzagt es sich selbst als kulturelle Macht präsentiert – dieses Buch möchte belegen, dass Europa selbstverständlich eine »Welt von morgen« sein kann. Dazu muss es sich seiner Feinde, seiner Schwächen, auch seiner beschämenden Vergangenheit bewusst sein, vor allem aber selbstbewusst auf seine Stärken bauen, die nicht nur in der Wirtschaftskraft eines Marktes von einer halben Mil­liarde Produzenten und Konsumenten liegen, sondern vor ­allem geistiger und kultureller Natur sind.

Nach den Phasen imperialer Expansion und totalitärer Unterdrückung hat sich Europa in Gestalt der Europäischen Union zu einer reflexiven Weltmacht entwickelt, die in vieler Hinsicht als Modell supranationaler Kooperation und interkultureller Verständigung hervorgetreten ist und gewiss nicht die pauschale Ablehnung verdient, die ihr von rechts und links außen so oft entgegenschlägt. Da sich Russland und Amerika, die ehemaligen Besatzungs- und Schutzmächte des Kalten Krieges, in (unterschiedliche, sich aber fatal ergänzende) Autokratien zu verwandeln drohen, ist die Herausbildung und Bekräftigung ­eines gemeinsamen europäischen Standpunkts umso wichtiger, zumal sich China und die sogenannten Schwellenländer in einer multipolaren Welt kaum als alternative Führungsmächte anbieten.

Manche mögen diese Haltung eurozentrisch nennen, doch was spricht ernsthaft gegen eine Affirmation guter europäischer Traditionen, wenn man diese nicht als unumstößliche Gewissheiten begreift oder »leitkulturell« missversteht? Ein aufgeklärter Eurozentrismus, der ausdrücklich nicht »ethnozentrisch« ist, also nicht nur das Eigene gelten lässt und das Andere als »Fremdes« verpönt, ist für die Renaissance Europas Voraussetzung.

Die Reise durch die europäische Gesellschaft, zu der ich die Leserinnen und Leser einlade, führt von der Kampfzone in die Ideenwerkstatt und weiter ins Reallabor. Sie führt auch von der Sphäre der Parteien und Parlamente in den zu Unrecht vorpolitisch genannten Raum der Bürgergesellschaft und wieder zurück. Auffällig ist ja, wie sehr in den letzten beiden Jahren die europäische Öffentlichkeit, darunter Menschen, die sich nur mäßig für Politik interessieren, durch Abstimmungen wie das Brexit-Votum, die Präsidentschaftswahlen in den USA und in Frankreich oder die Bundestagswahl in Deutschland in den Bann geschlagen werden. Wahlen, die manche schon abschaffen oder abschreiben wollten (Colin Crouch prägte das Bonmot, man hätte zwar eine Stimme, aber keine Wahl), zeigen ihre Bedeutung für jeden Einzelnen. Derzeit ist ein Rückstrom von Nichtwählern zu beobachten, der zu großen Teilen populistischen Strömungen zugutekommt. Sie machen die andere Seite der Bürgergesellschaft sichtbar, die der frühere Bundesprä­sident Joachim Gauck einmal »Dunkeldeutschland« genannt hat. Entscheidend für Europa wird sein, ob man diesen Zyklus von »Abwanderung und Enttäuschung« (Albert O. Hirschman) unterbrechen und umkehren kann.

22. Mai 2016: Präsidentschaftswahl Österreich – Van der Bellen (Grüne) 50,3 %, Hofer (FPÖ) 49,7 %; Wahlwieder­holung 4. Dezember 2016: Van der Bellen 53,8 %, Hofer 46,2 % (Wahlbeteiligung 72,4 %).

23. Juni 2016: Brexit-Referendum Großbritannien – 51,89 % der Wähler (= 37,44 % der Wahlberechtigten) stimmen für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europä­ischen Union (Wahlbeteiligung: 72,2 %).

2. Oktober 2016: Referendum über Flüchtlingskontingente in Ungarn – 98,5 % Ja (bei einer Beteiligung von 39,9 %. 50-Prozent-Quorum nicht erreicht, deswegen ungültig).

8. November 2016: Präsidentschaftswahl USA – Wahlmän­nerkollegium Donald Trump 304 (= 26,4 % der Wahlberechtigten), Hillary Clinton 227. General Election Trump 46,09 %, Clinton 48,18 % (Wahlbeteiligung 60,2 %).

4. Dezember 2016: Referendum über Parlamentsreform in Italien – Nein 59,11 %, Ja 40,89 % (Wahlbeteiligung 65,47 %).

15. März 2017: Parlamentswahlen Niederlande – 21,3 % Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD, Ministerpräsident Mark Rutte), 13,1 % Partij voor de Vrijheid (PVV, Geert Wilders), CDA 12,38 %, D66 12,23 %, Grüne 9,13 % (Wahlbeteiligung 81,9 %).

16. April 2017: Verfassungsreferendum Türkei: Ja 51,18 %, Nein 48,82 %.

23. April 2017 und Stichwahl 7. Mai 2017: Präsidentschaftswahl Frankreich – Emmanuel Macron (En Marche!) 65,9 %, Marine Le Pen (Front National) 34,1 % (Wahlbeteiligung: 74,7 %).

19. Mai 2017: Präsidentschaftswahl Iran – Staatspräsident Hassan Rohani 57,1 %, Ebrahim Raissi 38,3 % (Wahlbeteiligung 73,1 %).

8. Juni 2017: Parlamentswahl Großbritannien – Konservative 42 %, Labour 40 %, Ukip 1,3 % (Wahlbeteiligung 68,7 %).

11./18. Juni Parlamentswahl Frankreich – Ergebnis des zweiten Wahlgangs: Macron: 49,1 %, 350 Sitze (= absolute Mehrheit), Konservative 27 %, 137 Sitze, Front National 8,8 %, 8 Sitze, Linkspartei 7,5 %, 27 Sitze, Sozialisten 6,1 %, 44 Sitze (Wahlbeteiligung 42,6 %).

24. September 2017: Bundestagswahl Deutschland

15. Oktober 2017: Nationalratswahl Österreich

Bis 23. Mai 2018: Parlamentswahl Italien

Wahlen haben eine zunehmend plebiszitäre Note bekommen, die das Establishment abstraft und (nicht wirklich charisma­tische) Führer in Ämter wählt, für die sie durchweg nicht im Mindesten geeignet sind. Zu dieser Personalisierung gehört die ex­treme Flatterhaftigkeit der Wähler, die Meinungsforscher zur Verzweiflung bringt und nach verfehlten Prognosen als Schar­latane dastehen lässt. Es ist bemerkenswert, wie rasch demoskopische Vorsprünge bzw. Rückstände dahinschmelzen, Protestparteien wie UKIP in der Versenkung verschwinden, Par­teibindungen sich lösen, Hoffnungsträger verbraucht sind und Leistungsbilanzen ignoriert werden. Wahlen werden wichtig genommen, aber sie dienen in einem wachsenden Maß der Stimmungsbekundung, vor allem der Abrechnung.

Wahlen werden überdies neuerdings begleitet von Cyberangriffen und Terrorattacken, welche die Vorstellungskraft okku­pieren, die Urteilskraft trüben und Menschen zur Beute unhaltbarer Sicherheitsversprechen machen. Es kann jeden jederzeit überall treffen, eine Lage, die prädestiniert ist für Paranoia, verstärkt durch den medialen Overkill der elektronischen Bildmedien, die seit Nine Eleven mit pseudoaktuellen »Brennpunkten« Menschen zu genau jenen überzogenen Reaktionen und inhumanen Revanchegelüsten treiben, die Terroristen herbeiwünschen, damit wir uns auf eine Stufe mit ihnen stellen.

Phantasien, es den Angreifern heimzuzahlen, sind eine sattsam bekannte Bewältigungsstrategie, eine andere die Projektion der eigenen Ängste auf Sündenböcke. Es gibt ein humaneres, freiheitsschonendes Coping, wie Psychologen die Be­wältigung traumatischer Erfahrungen, von Dauerstress und Verlustängsten nennen. Eine Strategie ist das gezielte Herunterspielen des Gewaltaktes: »We are not afraid« (Wir haben keine Angst) stand 2005, nach dem ersten islamistischen Anschlag in London, massenhaft auf Postern. Wir machen weiter wie gewohnt, unsere Gesellschaft ist auch durch noch so viel Gewalt und Leid nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Für wie viele Iterationen des Schreckens reicht diese Entzauberung des Terrors? Die Täter waren wenig beeindruckt, allein in London haben sie mehrfach wieder zugeschlagen.

Theresa May, die als britische Innenministerin die Sicherheitskräfte abbaute, hat die Relativierung der Menschenrechte in Erwägung gezogen und vorgeschlagen, Gewalt mit Gewalt zu vergelten, in den Quellregionen des Terrors ebenso wie daheim in den Vorstädten. Ist der Sicherheitsstaat imstande, aus passivem Erleiden und paranoidem Hadern herauszutreten, also endlich etwas Wirksames zu tun? Abgeklärte Experten sehen darin eine neue Gewaltspirale eröffnet. Man muss also an den Ursachen ansetzen, das Übel an der Wurzel packen, die brisante Lage durch internationale Friedensstiftung pazifizieren und die IS-Gefolgschaft in Europa durch »Deradikalisierung« vermindern. So unwahrscheinlich und naiv das klingt, es ist die einzige Möglichkeit, die vernünftigerweise bleibt. Wir müssen den Feind, der Europa zerstören will, viel besser kennen, seine bizarren ­Manifeste lesen, die Zeugnisse der Überläufer genau studieren.

Man wird Leute, die bereit sind, ihr Leben zu opfern, nicht zurückholen, indem man ihnen eine gerechtere Welt verspricht. Aber genau dieses Versprechen, sich eine bessere Welt vorzustellen und tagtäglich nach Kräften daran mitzuwirken, muss der Rest der Welt in einem neuen Gesellschaftsvertrag vereinbaren. Denn wir können nicht »einfach weitermachen«. Wir müssen aktiv und offensiv eintreten für Europa als Symbol einer offenen, freien Gesellschaft und gegen alle Versuche einer Abschottung von der Welt.

Diese Streitschrift für ein unabhängiges, offenes Europa gliedert sich in drei Teile. Sie behandeln drei Facetten europä­ischer Politik, für die das Englische drei verschiedene Vokabeln bereithält: politics für den Machtkampf, policies für diePolitikfelder und polity für die Grundlagen des Gemeinwesens. Unter der Überschrift »Gezeitenwechsel« betrachte ich im ersten Teil ausgewählte populistische Strömungen in Europa und bewerte sie, anders als sonstige Vergleichsstudien, als lokale Varianten der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft. Der schon zu Tode gerittene Begriff »Populismus« ist dabei eher eine Verharmlosung im Blick auf die sich ausbreitenden Tendenzen zu einem völkisch-autoritären Nationalismus. Populistisch ist die Methode, »das Volk« als angeblich homogene Einheit gegen »die da oben«, vor allem gegen die politischen und intellektuellen Eliten in Stellung zu bringen. Der Inhalt dieser Politik ist die Reduktion des Volkes auf eine ethnisch, eventuell religiös homogene Gruppe von »Eigenen«, die als »Bio-Deutsche« (oder Bio-Türken, -Franzosen etc.) bezeichnet und gegen »Fremde« ins Feld geführt werden. Um diesen Populismus einzudämmen, gilt es, ihn zu verstehen, was nicht heißt, ihn zu legitimieren, aber doch die Ursachen seiner Anziehungskraft zu begreifen und das jeweilige Körnchen Wahrheit in seinen Ansprüchen und Zumutungen zu identifizieren.

Im zweiten Teil »Gegen den Strom« werden Alternativen zum nationalistischen Diskurs aufgezeigt: ein Themenwechsel weg von der lähmenden Fremdenfurcht, der übertriebenen Terrorpanik und der Vergangenheitsfixierung der radikalen Rechten, hin zu den Zukunftsthemen, die einmal die Domäne der freiheitlichen Linken waren und es wieder werden sollten. Hier zeichnet sich eine Trias aus ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Solidarität und politischer Teilhabe unter dem Dach einer entschiedenen Politik für künftige Generationen ab. Konkret werden dazu Konzepte transnationaler Bürgerschaft und Teilhabe, sozialpolitische Reformvorschläge, eine neue Bildungs­initiative und Transformationsschritte in nachhaltige Energieerzeugung und klimafreundliche Lebensstile diskutiert. Daraus ergibt sich die progressive Agenda für eine nachhaltige euro­päische Bürger- und Sozialunion, die namentlich jüngeren Euro­päern Praxisfelder erschließt. Hier erfolgt auch der kosmopolitische Anschluss zur Weltgesellschaft.

Im dritten Teil »Freibeuter« werden ein Dutzend konkreter Beispiele aus der »Praxis Europa« zwischen Palermo und Hammerfest, Galway und Brest-Litowsk vorgestellt. Sie haben zunächst lokale und nationale Reichweite und unterstreichen die Vielfalt der europäischen Welt, aber wie Puzzlesteine fügen sie sich zu einem politischen Parallelkosmos, der den »Agenten des Wandels« Mut und Selbstwirksamkeit verleiht. Auch räumlich und sachlich weit entfernt agierende Graswurzelinitiativen teilen eine normative Ordnung, eine institutionelle Struktur und eine Dynamik, die gegen antidemokratische Angriffe gefeit macht. Die Beispiele aus allen Landstrichen Europas einschließlich seiner Peripherie zeigen Facetten des Widerstands gegen den Nationalismus ebenso wie Pfade in ein demokratisches, solidarisches und nachhaltiges Europa.2

Was über Monate und Jahre kaum einmal gelang, eine Demo für Europa, ereignet sich nun bald alle Tage. Solche Graswurzelinitiativen können der zaghaften Europavision des im Januar 2017 vorgelegten Weißbuchs der Europäischen Kommission Beine machen. Darin war viel von »mehr« und »weniger« die Rede, vom Europa der »verschiedenen Geschwindigkeiten«, der »konzentrischen Kreise« oder »à la carte«. Im Folgenden geht es um Entwürfe, Praktiken und Utopien eines anderen und besserenEuropa. Entstanden ist das Buch in den letzten Jahren im Wesentlichen auf Reisen durch den Nahraum der Metropole Ruhr, wo ich zehn Jahre lang am Kulturwissenschaftlichen Institut tätig war, und in Ideenwerkstätten und Reallaboren der euro­päischen Gesellschaft.3

Europäer war ich dank der Gnade meiner frühen Geburt von Kind an. Geschärft wurde dieses spontane Gefühl durch die politische Sozialisation in Paris und meinen zeitweiligen Lebensmittelpunkt New York Mitte der 1990er Jahre.4 Gewidmet sei das Buch einem langjährigen Freund und Gesprächspartner, der ein sehr amerikanisches Temperament hatte, aber auch Europa bestens verstand: Benjamin Barber (1939–2017). Seine Declaration of Interdependence5 gilt auch für diese europäische Unabhängigkeitserklärung, ebenso der Geist des »Munizipalismus«, die kommunale Demokratiebewegung rebellischer und kreativer Stadtkulturen6, für die Barbers weltweite Initiative für einen durch große Städte getragenen Klima- und Umweltschutz ein gutes Beispiel ist. Er stellt uns die Gretchenfrage: Wie haltet ihr es mit Europa? – als Bürger, Wähler und demokratische Eliten.

I GEZEITENWECHSEL

… man muss auf eines setzen, darin ist man nicht frei.Sie sind eingeschifft.Blaise Pascal, Pensées, 16691

In frischer Erinnerung ist das Bild des Tsunami, der im Dezember 2004 die südasiatischen Küsten erreichte und Zehntausende von Toten und materielle Schäden in Milliardenhöhe hinterließ. Viele Zeitgenossen mag im letzten Jahrzehnt das Gefühl beschlichen haben, einer ebensolchen Flutwelle ausgesetzt zu sein. Übermächtig wirkende Kräfte – anonym-abstrakt die Globalisierung, symbolisch-konkret die Flüchtlinge, emotional-dramatisch der Terror – branden an die Küsten Europas, dessen Bewohner sich jahrzehntelang auf sicherem Grund, wie auf ­einer »Insel der Seligen« gefühlt hatten und nun den Eindruck gewinnen, auf einer schmelzenden Eisscholle durch eine aufgeheizte See zu treiben.

Metaphern der hohen See spielen in der Geschichte der Ideen seit der Antike und in vielen Kulturen eine große Rolle. Das Meer, dozierte Hegel in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte«, »gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte«2. In der uferlosen Weite entfalten sich Menschen und überschätzen sich gern. »Schiffbruch mit Zuschauer« hat ein Nachfolger des Philosophen die Daseinsmetapher umschrieben und das Terrain, nein: die Ober­fläche der Welt abgesteckt: »Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompass und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen.«3 Wir können uns auch Europa einmal als Meer, als mare ­europaeicum ausmalen und uns dort Seeungeheuer und Korallenriffe, friedliche Strände und umtoste Inseln, Deiche und Leuchttürme, Passagiere, Kapitäne und Mannschaften vorstellen, die eingeschifft sind.

Nach 1989/90 schien Europa etwa ein Jahrzehnt lang in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. Mit Genugtuung verzeichnete man das Ende der Teilung und der bipolaren Weltordnung und konnte sich an der Erfüllung einer kosmopolitischen Utopie ­erfreuen. Ihre Träger waren sympathische Demokratiebewegungen, die 1968 im »Prager Frühling« noch mit Panzern un­terdrückt wurden, ein gutes Jahrzehnt später aber mit der pol­nischen Gewerkschaft Solidarność kaum noch aufzuhalten waren. Flankiert durch den polnischen Papst Johannes Paul II. und geduldet durch Helden des Rückzugs wie Michail Gorba­tschow ging das lange Zeit als unsinkbar geltende Sowjetimperium unter. Der Hegelianer Francis Fukuyama sagte 1992 voraus, nach diesem »Ende der Geschichte« werde es nur noch Kapitalismus und Demokratie geben. Der erste Teil der Vorhersage erfüllte sich bis auf wenige Exklaven, doch während noch ein gutes Dutzend autoritärer Regime zu präsidialen und parlamentarischen Demokratien mutierte und eine »dritte Welle der Demokratisierung« um den Globus rauschte, traf der Tsunami der Freiheit auf eine mächtige autoritäre Unterströmung, die sich seit den späten 1970er Jahren aufgebaut hatte.

Erste Anzeichen gab es 1973 weit weg von Europa. In Chile wurde Salvador Allendes Linksregierung durch einen Militärputsch hinweggefegt und kreierte General Augusto Pinochet jenen Regierungsstil, der mittelfristig in vielen Weltregionen Einzug hielt: die Verbindung einer ultraliberalen Wirtschafts­politik, die Staatsinterventionen radikal herunterfährt, mit ­einer autoritären Sicherheitspolitik, die bürgerliche Freiheiten opfert. Eingeübt wurde dieser autoritäre Liberalismus4 durch eine von amerikanischen Beratern und europäischen Kollaborateuren unterstützte Militärjunta, die zwar die Inflation senkte und Investoren ins Land holte, aber zugleich die Friedhöfe und Gefängnisse füllte.

Im Dezember 1989 gehörten die chilenische Junta und ebenso die Diktaturen in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien der Vergangenheit an, the third wave of democracy went global. Aber nicht überall kam sie an. Im Iran herrschte schon ein Jahrzehnt lang eine islamische Mullah-Elite, die das Land bis heute im Griff hat.5 In China stabilisierte sich seit der Macht­übernahme von Deng Xiaoping im Jahr 1979 die postmaoistische Elite, die das Land mit einer Kreuzung aus Parteistaat und Staatskapitalismus zur Weltmacht aufsteigen ließ. In Großbritannien und den USA beendete die Austeritätspolitik Margaret Thatchers bzw. Ronald Reagans die New-Deal-Ära, die soziale Ungleichheiten eingedämmt und Teilhabe auf vielen Ebenen ermöglicht hatte. Thatcherism und Reagonomics wurden stilbildend. Die 1981 in Frankreich an die Macht gelangte Linksunion aus Sozialisten und Eurokommunisten war eher ein Nachzügler als der von manchen erhoffte Beginn einer neuen Epoche, die ­Demokratie und Sozialismus vereinbaren würde.

Verharren wir noch einen Moment in der globalen Perspektive. Die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen von Ölkrisen, weltweiten Rezessionen und der ungezügelten Dynamik des Finanzkapitalismus zogen europäische Mitte-Links-Regierungen sukzessive auf den nunmehr »neoliberal« genannten Kurs. In der Abwehr diverser terroristischer Bewegungen von den Roten Brigaden und der RAF über die ETA und PKK bis hin zu al-Qaida und zum Islamischen Staat (IS) entwickelten sich Sicher­heitsapparate, die bürgerliche Freiheitsrechte immer mehr außer Kraft setzten. Damit kehrte der Ausnahmezustand auch im Westen zurück, die Symbiose aus Autoritarismus und Marktradikalismus wurde zum wahren Signum des »Endes der Geschichte«.

Für Europa entscheidend: Die 1970er Jahre waren auch die Inkubationszeit eines neuen Populismus, der sich von älteren Bewegungen dieser Art in den Vereinigten Staaten, Russland und Südamerika unterscheidet. Der klassische Populismus war zumeist eine Defensivreaktion auf rasante kapitalistische Durchbrüche und rasanten sozialen Wandel – so in den Ver­einigten Staaten während des Gilded Age, im spätfeudalen Russland und in Lateinamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30. People’s Party, Narodniki und Peronistas reagierten auf übermäßige soziale Ungleichheit und Ausbeutung und führten vor Augen, dass auch demokratisch gewählte Eliten das gemeine Volk nicht unbedingt repräsentieren. Die da oben gegen uns hier unten, das ist der Basisdiskurs des Populismus, seine so schlichte wie prätentiöse Scheidelinie des politischen Raumes. Von daher hatte er vor allem in seiner links-egalitären Ausprägung stets eine Funktion der politischen Hygiene und Kurs­korrektur, leitete über in sozial-progressive Bewegungen und beherzte Reformen. Aber er hatte immer auch eine hässliche Seite: aggressive Fremdenfeindlichkeit, völkischen Nationalismus, die Neigung zum totalitären Faschismus.

DIE AUTORITÄRE WELLE

Auf welche Seite der Populismus im heutigen Europa fällt, soll nun genauer untersucht werden, und daran entscheidet sich, ob der Begriff »Populismus«, in der aktuellen Debatte übermäßig strapaziert, die Lage überhaupt noch trifft.6 Im Folgenden betone ich vor allem die Schlagseite des neuen Populismus zum völkisch-autoritären Nationalismus. Das bedeutet: Die häss­liche Seite hat sich stärker ausgeprägt, der scheinbar klassenlose Gegensatz von Volk und Eliten schärft sich zur menschenfeindlichen Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Einheimischen und Einwanderern, Christen und Muslimen, Freunden und Feinden. Diese schiefe Ebene ist in den meisten europäischen Gesellschaften anzutreffen, sie reicht über den jeweils nationalstaatlichen Rahmen hinaus und ergibt ein Gesamtbild, das sich wie in anderen – wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen – Dimensionen als »europäische Gesellschaft« (im Singular) fassen lässt. Jenseits der Nationen, die damit keineswegs obsolet geworden sind und verzweifelt von den völkisch-autoritären Nationalisten beschworen werden, erstreckt sich eine Vergesellschaftung, die sämtliche Institutionen erfasst und zur Europäisierung von Einstellungen, Verhaltensmustern und Alltagspraktiken geführt hat.

Auch der Populismus oder nun präziser: der völkisch-autoritäre Nationalismus ist ein gesamteuropäisches Phänomen mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen, die sich zu einer gemeinsamen Bewegung gegen Supra- und Transnationalisierung verbunden haben. Soziologisch gesehen stärkt diese Bewegung die segmentäre Abschottung von Nationalstaaten gegen die funktionale Arbeitsteilung der Weltwirtschaft, und zugleich bedeutet der kulturelle Fokus auf Europa eine Abschottung gegen die globale populäre Kultur und insbesondere gegen eine nichteuropäische Einwanderer-Population. Die Bezugsgröße ist damit die europäische Gesellschaft als ganze, nicht mehr allein die jeweils nationale politische Kultur von Nationalstaaten. Insofern ist der Populismus eine gesamteuropäische Erzählung, die sich ohne Widerspruch zur Bejahung, ja Heiligung der jeweils eigenen Nation selbstverständlich auch europäisch organisiert.

Schauen wir uns die Dramaturgie dieser Erzählung genauer an. Sie beginnt in den 1970er Jahren mit der Rebellion gegen zu hoch empfundene Steuersätze in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und gegen die Abtretung politischer Souveränität an die ungeliebte Europäische Union, der »Volksferne« und Beamtenarroganz unterstellt wurden. Dabei blieb es nicht. In Jean-Marie Le Pens Front National (FN), Jörg Haiders Freiheit­licher Partei Österreichs (FPÖ) und später Geert Wilders’ Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD, später PVD) legten die Staatskritiker und Euroskeptiker ihre fremden- und islamfeindliche Weltsicht an den Tag. Beide Antihaltungen bündelten sich im Feindbild der Europäischen Union, die sich im Zuge der Demokratisierung im Süden und Osten Europas ­gerade von 15 auf 28 Mitglieder erweitert hatte, seither jedoch zunehmend mit Exit-Stimmungen konfrontiert ist, die ihren Höhepunkt vermutlich erreicht haben.7

Dazu stießen populistische Bewegungen im Süden Europas, namentlich in Italien, wo der Medienunternehmer Silvio Berlusconi zweimal die Regierung übernehmen konnte, neben der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Komikers Beppe Grillo. Hinzu kamen diverse nationalpopulistische und rechtsradikale Strömungen auf dem Balkan, in den vier ­Visegrád-Staaten (Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen) und in der Schweiz. Auch die »Wahren Finnen«, seit 2015 Regierungspartei, sind symptomatisch für das Revival der Nation als Bezugspunkt von Politik. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) hat sich zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland eine Rechtspartei etabliert, die den eher episodischen und lokalen Einfluss von NPD und Republikanern übertroffen hat. Auch hier mutierte die euroskeptische und marktradikale Position der ­Lucke-AfD zum völkisch-autoritären »National-Sozialismus« der Höcke/Gauland-AfD.

Die europäische Landkarte ist somit nur noch auf der Iberischen Halbinsel sowie im Baltikum, in Slowenien und Irland frei von Rechtsparteien mit einer Zustimmung über fünf Prozent. Dort hat sich aber in linkspopulistischen Strömungen wie der spanischen Podemos ebenfalls eine europaskeptische Haltung verfestigt, die auch in anderen EU-Ländern wie in Frankreich (Parti de Gauche, La France insoumise) und Griechenland (Syriza) sowie in einigen ostmitteleuropäischen Staaten zu beobachten ist. Betrachtet man den Aufstieg der nationalistischen Strömungen von eher marginalen Splitterparteien bis in die Nähe der Regierungsverantwortung beziehungsweise in den Rang von Regierungsparteien, gerät der Allerweltsbegriff »Populismus« vollends zur Verharmlosung. Aus einer anfänglich staats- und EU/Euro-kritischen Haltung hat sich immer deutlicher ein völkisch-autoritärer Nationalismus herausgeschält, der an der ökonomischen Europäisierung und Globalisierung Anstoß nimmt, aber vor allem die angebliche Überfremdung durch nichteuro­päische Immigranten aus dem globalen Süden zum Thema macht.

Damit wird – jenseits von arm und reich, oben und unten, religiös und säkular – in den konsensorientierten politischen Systemen eine neue Spaltungs- und Konfliktlinie8 zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« sichtbar. Die spürbare, ­generell seit den 1970er Jahren zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zunahme von prekären ­Arbeitsmarktlagen und unsicheren Zukunftsaussichten in der europäischen Gesellschaft werden auf die Immi­gration pro­jiziert und »Fremde« zu Sündenböcken erklärt. Angesichts ­dieser Dynamik ist man geneigt, von einem langen Zyklus zu sprechen, der wachsende sozioökonomische Ungleichheit mit dem Anwachsen von Xenophobie und Europessimismus korreliert.9

Gesamteuropäisch und grenzüberschreitend sind die Einzelerfolge rechter Parteien auch in ihrem Demonstrations- und Diffusionseffekt: Die europäische Internationale der Nationalisten stärkt sich an Erfolgen befreundeter Parteien jenseits der Grenzen und kann dort selbst ihre jeweiligen weltanschaulichen und taktischen Elemente einspeisen. Ein Beispiel ist die Schweizer Kampagne für ein Minarettverbot, die Anstöße aus den ­Niederlanden aufnahm und selbst zum Bezugspunkt anderer islamo­phober Bewegungen geworden ist. Grenzüberschreitend viral war auch die Exit-Parole; mit dem Erfolg der Leave Cam­paign in Großbritannien, einem Land, das stets starke Reserven gegenüber dem Kontinent und der EU hatte, verbreitete sich dieser Mobilisierungsansatz zum Öxit, Frexit, Dexit und so weiter auch in Kernländer der Union, die bis dato stets hohe Sympathiewerte für die EU zu verzeichnen hatten.

Das heißt aber auch: Ohne »Brüssel« wären die Nationalisten nichts. Die Chiffre des Unmuts bündelte sämtliche Anlässe von Unzufriedenheit wie in einem Brennglas in Richtung EU: die Kritik an der Volksferne von Politik und an bürokratischen Auswüchsen, die Angst vor unkontrollierter Freizügigkeit und Masseneinwanderung, die Sorge über steigende Kriminalität sowie das Gefühl der Perspektivlosigkeit in »abgehängten« Regionen. Die Europäische Union, die bei objektiver Betrachtung durchweg für mehr Wohlstand und Freizügigkeit gesorgt hat, wurde bei denen, die sich vom einen ausgeschlossen und vom anderen überfordert fühlen, zum allseits passenden Sündenbock.10

Die völkisch-autoritäre Radikalisierung des Populismus ist also mehr als die Summe ihrer Teile. Um ihre Besitzstände bangende Steuerrebellen, von Überfremdungsängsten geplagte ­Islamophobe, antipolitische Polit-Clowns, Exiteers mit ihrer natio­nalen Nostalgie und religiöse Rechte verbanden sich zu ­einer sich selbst aufschaukelnden Welle. Ins Rollen kam sie in den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, andauernde Turbulenzen erzeugte sie in Italien, zur Sturmflut wuchs sie in der illibe­ralen Demokratie Ungarns.

ETWAS FAUL IM STAATE DÄNEMARK

Um industrielle Gesellschaften vor Altersarmut, schwerer Krankheit und langer Arbeitslosigkeit zu schützen, entstanden in der reichen Welthälfte bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine Reihe unterschiedlich ausgestatteter Wohlfahrtsstaaten, stets mit dem Hintergedanken, eventuell zum Aufstand neigende Unter­schichten zu befrieden. Die skandinavischen Länder sind Paradebeispiele hierfür. Nationen, die diesem Weg umverteilender Staatsintervention folgten, waren meist ethnisch homogen, wie es etwa die schwedische Definition des »Volksheimes« unterstreicht.11 Die Solidargemeinschaft bestand jeweils aus Schweden, Norwegern oder Dänen, eine nennenswerte »Gastarbeiter«-Einwanderung erlebten diese Länder erst seit den 1970er Jahren. Zu ebendiesem Zeitpunkt gerieten die demographischen Fundamente des welfare state durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung weltweit unter Druck, verstärkt durch nachlassendes Wirtschaftswachstum und das Aufkommen von Arbeitsverhältnissen, von denen man oftmals ohne Transferleistungen keine Familie mehr ernähren konnte.

Dänemark vereinigt dagegen bis heute fast ideal die Elemente des persistenten Wohlfahrtsstaates. Dank einer hohen, weithin akzeptierten Steuerquote sind generöse öffentliche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben möglich, der Or­ganisationsgrad der Gewerkschaften garantiert ein hohes Lohn- und Einkommensniveau und im Effekt eine egalitäre Sozialstruktur, die weltweit ihresgleichen sucht. Dank einer relativ gut abgesicherten Flexibilität im Arbeitsmarkt (flexicurity) hat Dänemark einen im EU-Maßstab hohen Beschäftigungsgrad. Dem Land geht es im internationalen Vergleich exzellent, und es wird gelobt für seine politische Transparenz und die geringe Anfälligkeit für Korruption. Nur: Damit das so bleibe, neigt eine immer größer werdende Zahl von Dänen dazu, die Früchte des Wohlfahrtsstaates exklusiv »Bio-Dänen«, also ihresgleichen zugutekommen zu lassen und Einwanderern zu verweigern, nachdem das Land bis in die 1980er Jahre als Vorbild für die Aufnahme von Zuwanderern und Flüchtlingen gegolten hatte.

Die Begründung ist einfach und auf den ersten Blick völlig einleuchtend: Wer nie oder wenig in Dänemark gearbeitet und folglich kaum in die Sozialkassen eingezahlt hat, der soll sich aus ihnen auch nicht alimentieren. Anders gesagt: Dänemark musste in dieser Sichtweise nach rechts rücken, um gut »national-sozialdemokratisch« zu bleiben. Egal, ob man sie kluge Vorsorge oder Wohlstandschauvinismus nennt. Die neue Rechenart stärkte, da ihr die in Dänemark die meiste Zeit seit 1924 regierenden Sozialdemokraten nicht konsequent Folge leisteten, die konservative und rechtspopulistische Opposition mit der Forderung, zum einen die hohe Steuerlast zu mildern und zum anderen die Einwanderung zu begrenzen. Einem Erdrutsch gleich trat im Dezember 1973 mit fast 16 Prozent der Wählerstimmen die Dänische Fortschrittspartei unter dem knorrigen Steueranwalt Mogens Glistrup auf den Plan und wurde aus dem Stand zur zweitstärksten Fraktion im Folketing.12 Damals war Immigration noch kein beherrschendes Thema. Der 1983 wegen Steuerhinterziehung inhaftierte Parteichef konnte dieses Niveau nicht halten, ein häufiges Schicksal populistischer Über­raschungsvorstöße; die Partei zerfiel. Ihr Ansatz wurde aber seit 1995 in der rechtspopulistischen Dansk Folkeparti (DF) fortgeführt, die professioneller und effektiver vorgeht und weiter ins konservative wie sozialdemokratische Milieu hineinragt. Unterdessen war Einwanderung das große Thema in Dänemark. 2001 holte der sozialdemokratische Regierungschef Rasmussen die DF ins Kabinett und machte sie hoffähig. 2015 errang sie mit 21 Prozent ihren größten Wahlerfolg und erscheint im zersplitterten Vielparteiensystem wenigstens für die Duldung von Minderheits­regierungen als unverzichtbar.

Das dänische Exempel zeigt idealtypisch, wie im reichen Europa binnen weniger Jahre aus kompletten Außenseitern regierungsfähige Parteien werden konnten, aber auch, welche Rolle dabei die Verschiebung vom »single issue« Steuerrebellion zur Dreieinigkeit von Migrationskritik, Islamfurcht und EU-Skepsis spielt. Anfang 2014 lebten in Dänemark knapp eine halbe Million Einwanderer, über elf Prozent der Gesamtbevölkerung. Gut ein Drittel stammte aus den skandinavischen Nachbarländern und Deutschland, der weniger erwünschte Rest aus Polen, vom Balkan, aus dem Nahen und Mittleren ­Osten, aus Pakistan und Somalia. In einem für seine Weltoffenheit und Toleranz gerühmten Land schlug, ähnlich wie in den Niederlanden (siehe Kapitel PIM HAT ES SO GEWOLLT: DIE NIEDERLANDE), das Pendel um in einen defensiven Nationalismus, in dessen Zentrum das Dänentum (danskhed) und die nationale Souveränität, die Sonderstellung der (evangelischen) Volkskirche (Folkekirken), der Schutz der Familie und die Affirmation von Tugenden wie Fleiß und Tüchtigkeit sowie von als besonders dänisch geltenden Phänomenen wie die »Gemütlichkeit« stehen. Das ist in der global city Kopenhagen weniger der Fall, aber die Probleme der öffentlichen Ordnung, die dort sichtbar werden, strahlen aus in das einwanderungskritische flache Land. Die Folkeparti mobilisiert nicht zuletzt in Jütland, dessen Nachbarschaft zu Deutschland historische Bezüge der NS-Besatzung und aktuelle Befürchtungen über die große Zahl der Geflüchteten aus islamischen Ländern aufruft.

Glistrups Erben, weit smarter und wortgewandter als dieser, grenzen sich – anders als die Schwedendemokraten, die ihre rechtsradikale Herkunft nicht verleugnen (können) und neonazistischen Kreisen verbunden bleiben – von Rechts­außen ab. Sie präsentieren sich nicht als Gegner der Sozial­demokratie, sondern als ihre legitimen Erben, die den Wohlfahrtsstaat ausbauen und für »Bio-Dänen« eher noch attraktiver machen wollen. Sie oder wir, lautet jetzt die Alternative, die längst auf die einst so vorbildliche Asylpolitik des Landes abgefärbt hat. Man hat es mit einem Land zu tun, das an seiner Pluralität verzweifelt und zu einer radikalen Wende neigt, die es für Notwehr hält: Denmark first. Das beeindruckt jetzt auch die ins Hintertreffen geratenen Sozialdemokraten.13 Die dänische Rechte verweist gern auf Erfahrungen, die eine weitere Immigration aus nichtwest­lichen Ländern und Osteuropa als volkswirtschaftliche Belastung und die Assimilation namentlich von Menschen aus der arabisch-islamischen Welt als gescheitert erscheinen lassen: Arbeitslosenquoten und Kriminalitätsraten bestimmter Einwanderergruppen übersteigen den Durchschnitt.

Den Abwehrreflex verschärfte 2005 der militante Protest in vielen islamischen Ländern gegen die von der Zeitung Jyllands-­Posten gedruckten Mohammed-Karikaturen, später der terroristische Anschlag auf ein beliebtes Café in Kopenhagen. Die Partei brachte Gesetzentwürfe ein, die das Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Raum, Gebetsräume für muslimische Mitarbeiter in dänischen Firmen und die Verabreichung von Halāl-Fleisch in Kindergärten unterbinden sollten. Die zunehmende Skepsis gegenüber der eigenen Weltoffenheit und eine wachsende Kritik an der Globalisierung, namentlich in kultureller Hinsicht, gehen zurück auf Nine eleven. Die DF verfolgt eine isolationistische ­Außenpolitik, also Abschottung von den Übeln dieser Welt, während die dänischen Regierungen durch Kontingente etwa im Irak diese Übel durch militärische Intervention an der Wurzel zu bekämpfen trachten.14 Das humanitäre Engagement von Dänen bleibt hoch, hat aber keine kosmopolitische Entsprechung mehr bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Einwanderern.

Was kann man der exklusiven Position der dänischen Rechten entgegenhalten? Vor allem ein strukturelles Argument: ­Dänemark kann sich nicht ohne beträchtlichen Schaden von der Globalisierung abkoppeln, von der es massiv profitiert; das Land ist, wie alle europäischen Staaten, an der Externalisierung der Kosten des Wirtschafts- und Konsummodells beteiligt, das die große Mehrheit der Dänen bejaht und das ihnen nun, in Gestalt einer Armutswanderung aus dem globalen Süden, gewissermaßen auf die Füße fällt.15 Europapolitisch verlagert ein Ausscheren Dänemarks aus der Solidarität der EU das Problem nur auf die Nachbarländer wie Deutschland und Schweden, von denen man sich ungern kritisieren lässt. Auf der Suche nach Asyl und Arbeit finden Menschen aus dem globalen Süden in Dänemark kaum noch ihr Ziel; das Land hat seine Grenzen dichtgemacht und damit in der Debatte um Obergrenzen in der Euro­päischen Union als Vorbild und Motor gewirkt. Heute können ausländische Ehepartner erst nach 24 Jahren dänische Bürger werden. Durch bloße Heirat sollen Ausländer ebenso wenig am dänischen Sozialsystem teilhaben dürfen wie als Arbeitslose.

Vertreten wird das »neue Dänemark« nicht durch Polterer wie Marine Le Pen oder Demagogen wie Geert Wilders, sondern durch seriösere Gestalten wie die DF-Parteigründerin Pia Kjærs­gaard und ihren Nachfolger, den knapp 50-jährigen Kristian Thulesen Dahl. Sie haben Liberalen wie Sozialdemokraten ihre Agenda aufzwingen können und das dänische politische System insgesamt nach rechts bewegt, ohne dass dies wie ein scharfer Rechtsruck gewirkt hat. Ein solches Phänomen nennen Sozialwissenschaftler »shifting baselines«16 – die unmerkliche Verschiebung von Bemessungsgrundlagen und die unbewusste Erosion moralischer Maßstäbe. Es ist bemerkenswert, dass der autoritäre Nationalismus in Dänemark nicht durch charismatische Patriarchen repräsentiert wurde, sondern durch eine Frau, die im politischen Alltag zwar ausgesprochen »tough« auftrat, aber auch mütterliche und emotionale Züge an den Tag legte und Einblicke in ihr Privatleben zuließ.17 Besonders sie hat dafür gesorgt, dass die Folkeparti heute (in den Worten des sozial­demo­kra­tischen Ministerpräsidenten Poul Nyrup) als »stubenrein« gilt.

2016 ist die Partei allerdings durch einen Korruptionsskandal geschwächt worden. Marten Messerschmidt, der mit kräftigen Ansagen gegen Einwanderer und die EU zum Aushängeschild geworden war (»Wenn die Europäer das ganze Ausmaß der schamlosen Geldverschwendung kennen würden, würde es eine Revolution geben«), musste im Herbst 2016 den Parteivorstand verlassen, weil er nachweislich in die Veruntreuung von EU-Geldern verwickelt war, die für die dänische Parteiorganisation verwendet wurden, darunter für eine Segeltour während der Kommunalwahlen.18 So wird die Folkeparti nun ihrerseits rechts überholt von der 2015 gegründeten Partei Nye Borgerlige (NB) unter der beliebten Politikerin Pernille Vermund.19

Betrachtet man die Folkeparti weniger als dänisches Sonderphänomen denn als dänische Facette der europäischen Gesellschaft, wird deutlich, wie verbreitet diese protektionistische Haltung ist. »Die Kehrseite einer Konsenskultur«, wird der schwedische Politologe Nicholas Aylott zitiert, »ist, dass es plötzlich einen neuen Konsens geben kann.«20 In drei nordischen Staaten haben Nationalisten etwa ein Fünftel der Wählerschaft hinter sich, die weit rechts stehenden Schwedendemokraten könnten demnächst aufschließen. Überall bilden sie Sperrminoritäten: Ohne ihre Duldung oder Beteiligung ist eine Regierungsbildung von Mitte-rechts oder Mitte-links kaum noch möglich21, aber wer mit ihnen koaliert, riskiert mehr als nur einen Shitstorm. Wer dagegen »Europa zuerst!« proklamiert, muss sich mit der nachvollziehbaren Sorge auseinandersetzen, die Grundlagen der eigenen Existenz könnten auf dem Spiel stehen, und plausibel machen, dass die zumeist verborgenen Kosten des europäischen Wohlstands und einer nachhaltigen Lebensweise, wie sie in Dänemark ebenfalls stark gepflegt wird, nicht externalisiert werden, also nicht auf die Zurückweisung von Bedürftigen aus nichteuropäischen Regionen hinauslaufen dürfen.

PARADIES FÜR POPULISTEN: ITALIEN

Italien bezeichnet der Politologe Marco Tarchi als ein »Land der vielen Populismen«, sein spanischer Kollege Loris Zanatta als deren »üppigstes Testgelände« seit den 1990er Jahren.22 Damals zerbrach die antagonistische Kooperation zwischen regierenden Christdemokraten und oppositionellen Kommunisten und damit die antifaschistische Koalition der Nachkriegszeit. Die Parteien waren im Strudel von Korruption und Machtverschleiß ausgelaugt; Italien, das als Mitglied der G 7 und G 20 zu den wichtigsten Ländern der Welt zu gehören beansprucht, lag ökonomisch am Boden und war durch zahllose Affären demora­lisiert. Der »Retter« war, wie wir seither noch öfter erleben konnten, eine Person, die alle negativen Facetten geradezu idealtypisch verkörperte, aber scheinbar außerhalb des Spiels gestanden hatte: Silvio Berlusconi, ein Medienmogul aus Mailand, Wiederkehr des Duce als Farce und in vieler Hinsicht ein Vor­läufer von »The Donald«. Ähnlich wie Trump heute war dieser Milliardär im Grunde eine Lachnummer – halbseiden in seinen bizarren Unternehmungen und privaten Eskapaden, ein zweitklassiger Showman, aber gerade deswegen von vielen Ita­lienern als Verkörperung ihrer selbst, des Uomo qualunque, angenommen und geliebt. Berlusconi verkörperte den Jedermann, der bleiben möchte, wie er ist, und Belehrungen durch jene selbstherrlichen Eliten nicht nötig hat, die Italien seit 1945 regierten und stets in ihrem Sinne zu modernisieren trachteten.

Der Kern des italienischen Populismus vom Berlusconismo über die Lega Nord bis zum Movimento Cinque Stelle (M5S) ist der antipolitische Affekt, der mit einem Urmisstrauen gegen staatliche Institutionen einhergeht, wie der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert D. Putnam in einer detaillierten Sozialstudie dargelegt hat.23 Das Volk meint, ohne institutionelle Vermittlung und intermediäre Instanzen zurechtkommen zu können, und Garant dieses antistaatlichen Ressentiments wurde das vulgäre Charisma, das Berlusconi zu verströmen verstand. »Wir wollen, dass das Volk den Staat führt, nicht der Staat das Volk. Wir wollen, dass dieser populäre Geist seine Institu­tionen durchdringt«, war sein Slogan. Diese scheinbare Aufwertung des »Volkes« war vielen Italienern eine halbe Rehabilitierung des Faschismus wert, und sie waren bereit, die Verstrickung ihres viermaligen Premierministers (1994/95, 2001–2005, 2005/06 und 2008–2011) in die organisierte Kriminalität und in strafwürdige Sexaffären zu übersehen. Der »Cavaliere« ist rechtskräftig verurteilt und bekam 2013 ein zweijähriges Verbot der Ausübung politischer Ämter, drängt nun aber mit über achtzig wieder zurück in die politische Arena und will Italien erneut regieren.

Wer sich heute über Trump erregt, sollte nicht übersehen, in wie vieler Hinsicht Berlusconi sein Vorläufer, wenn nicht Vorbild war, was auch in den USA auffiel, wobei der gemeinsame Archetyp Mussolini ist. Man kann aus den Gemeinsamkeiten eine gerade für Italien, aber auch allgemein für autoritäre Nationalisten typische Konstellation erkennen. Berlusconi präsentierte sich selbst stets als erfolgreicher Geschäftsmann, der es besser als Berufspolitiker versteht, Staatsgeschäfte zu leiten, und der dabei wie ein gütiger Patron und Arbeitgeber die Belegschaft, hier: die einfachen Leute, nicht aus den Augen verliert. Er, der Selfmademan, kommt aus ihrer Mitte und übersetzt ihre Anliegen, kann diese auch in direkter Ansprache bei Massenveranstaltungen, in Fernsehansprachen oder Referenden erkunden und artikulieren. Forza Italia war ganz auf diese Kommunion Führer/Volk zugeschnitten, eher eine Bewegung als eine Partei und darin einem gemäßigten Faschismus verwandt, der nicht unbedingt Südtirol und Libyen einverleiben, aber nicht bloß mit dem AC Milan die Champions League gewinnen wollte. Berlusconis Rhetorik beinhaltete eine fundamentale Infragestellung der italienischen Republik, vor deren Eliten der »Cavaliere« das Volk und die ganze Nation (»das wahre Italien, das Italien, das hart arbeitet«) retten wollte.

Berlusconi war in einem angestrengt ideologischen Sinne un- oder antiideologisch. Sein Feindbild blieben der partei­poli­tisch längst untergegangene, aber angeblich in den Insti­tu­tionen und Medien überlebende Kommunismus, dessen intellektuelle Schönredner und die »chattering classes«, die politisierenden Kolumnenschreiber und Kommentatoren. Wie Trump (und ­George W. Bush) stilisierte sich Berlusconi als »business president« und gleichzeitig »blue collar president«. »Ich bin einer von euch«, ließ er auf übergroße Werbetafeln pinseln. Der entscheidende Hebel für diese Camouflage war die TV-gestützte Prominenz, die zum Ersatz für profes­sionelle Erfahrung, seriöse Kompetenz und kommunikative Rationalität wurde. Berlusconi stand als Privatmann an der Spitze des italienischen Staates, und das klägliche Scheitern der zwischen seinen Kabinetten angetretenen Mitte-links-Regierungen beziehungsweise der Opposi­tionsparteien schien ihm recht zu geben und erlaubte allen Zweiflern, dieser unmöglichen Person immer wieder Vertrauen zu schenken.24

In Berlusconis Koalitionsregierungen waren nicht nur diverse Minister der neofaschistischen Alleanza Nazionale vertreten, sondern auch eine weitere autoritäre Strömung, die Lega Nord, eine nach 1990 in Norditalien aufgekommene Strömung, die neben der Verachtung für die partitocrazia prototypisch weitere Elemente des italienischen und europäischen Populismus vereint: den Wohlstandschauvinismus der reicheren Regionen, die Ablehnung nichteuropäischer Immigration, die Islamophobie. Die Lega Nord bringt überdies einen Zentrum-Peripherie-Konflikt zurück, denn sie wendet sich sowohl gegen die Zentralregierung in Rom (»Roma ladrona«) als auch gegen die Abgabe von Souveränität an eine supranationale Union (»Brüssel«)25. Der mythische Fixpunkt dieser föderalistischen Revision, in der stets starke Wünsche nach Abspaltung und Unabhängigkeit mitschwangen, war ein Land namens »Padanien«, gelegen in der oberitalienischen Tiefebene entlang des Po-Flusses, das in der Phantasie der Leghisti unter Einschluss mittel­italienischer und Südtiroler Provinzen auf 130 000 Quadratkilometern 33 Millionen Italiener vereinen sollte. 1996 rief der charisma­tische Lega-Chef Umberto Bossi inoffiziell die Bundesrepublik Padanien aus, deren keltische Ursprünge sein Par­teifreund ­Gianfranco Miglio herausstellte. Vorgesehen war eine eigene Währung, als Nationalhymne diente der Gefangenenchor aus Verdis »Nabucco«. 1997 f.nden für dieses Gebiet inoffizielle Parlamentswahlen statt.

Die padanische Sezession wurde von der Lega Nord seither fallengelassen, sie griff aber ein Merkmal regionalistischer Bewegungen wie in Katalonien oder Flandern auf, die seit Jahrzehnten den Aufstand gegen die Hauptstädte ihrer Nationen propagieren und Europa höchstens als ein »Europa starker Re­gio­nen« zulassen. Bei diesen imaginierten Nationen spielen nicht nur ethno-identitäre Gefühlswallungen eine Rolle, oft rebellieren hier auch Provinzen, denen es wirtschaftlich gut geht, gegen weniger erfolgreiche Teilgebiete des Landes. Im Falle der »Padanier« war die Zielscheibe der Mezzogiorno, der historisch weniger entwickelte, ärmere Süden Italiens, der von der Regierung in Rom wie von der Kommission in Brüssel Zuschüsse erhält. Die den reicheren Regionen im Norden abverlangte Solidarität wollten diese nach dem Ende der fetten Jahre um 1990 nicht mehr leisten, und dieser Einschnitt indiziert die brüchige Einheit Italiens, einer »verspäteten Nation«, die ihre regionalen Kontraste nicht durch einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat ausgleichen konnte.

Nachvollziehbar ist diese Los-von-Rom- und Los-von-Brüssel-Bewegung, weil in der Tat enorme Transfersummen in korrupten und mafiösen Netzwerken versunken sind und sowohl in vielen Stadt- und Gemeinderegierungen als auch in der Hauptstadt ein legendärer Klientelismus herrscht. Die nördlichen Regionen Italiens sind in der erwähnten Sozialstudie von Robert D. Putnam als jene Orte ausgemacht worden, in denen das bürgerliche Sozialkapital die Unzulänglichkeit öffentlicher Regierungen und Verwaltungen, also die weitgehende Abwesenheit des Staates ausgleichen konnte. Die Lega adressierte sehr geschickt die Unzufriedenheit des lombardischen und venezianischen Mittelstands, die Chefs kleiner und mittlerer Firmen und Handwerksbetriebe sowie Kleinhändler, die zusätzlich an einer anderen Front zu kämpfen hatten: gegen die bis 1990 starken Gewerkschaften kommunistischer und sozialistischer Provenienz, die mit ihrer Kampfkraft den Arbeitern und Angestellten zu guten Löhnen und Pensionen verhalfen. Demgegenüber fühlte sich der Mittelstand auf verlorenem Posten und folgte der Süßholzraspelei von Berlusconi und Bossi: Wir schützen die kleinen Leute in soliden, traditionsgebundenen Lokal- und Familien­gemeinschaften. Hinzu kam der Affekt gegen Schwule und Freigeister, Bankiers und Supermärkte, Finanzinspekteure und Börsianer, »Bürokraten« und »Kommunisten«. Nach 2011 kamen Muslime und illegale Einwanderer aus Afrika und Asien als Sündenböcke hinzu. Die Lega Nord machte hinfort vor allem unter Matteo Salvini gemeinsame Sache mit anderen europäischen Nationalisten und Rassisten.26

Auch wenn die Lega sich rüde und oft rüpelhaft von anderen Parteien, darunter die Forza Italia, abgrenzte und auf ihre Alleinstellung pochte, ging sie 1994 und von 2001 bis 2006 ein Regierungsbündnis mit Berlusconi ein und besetzte wichtige Ministerposten, doch ohne nennenswerte Erfolge: Parteigründer Umberto Bossi erreichte keine strikte Begrenzung der Einwanderung, Roberto Castelli scheiterte mit der Justizreform, Roberto Maroni mit der Reform des Pensionssystems und mit der Einführung von Zöllen, die Waren »Made in Italy« gegen Importe aus Asien und Afrika schützen sollten. 2006 wurde die Rechts-Koalition abgewählt. In den Augen ihrer Anhänger unterschied sich die Zweite Republik nicht so sehr von der Ersten. Da jedoch auch die technokratischen und linksliberalen Kabinette an der Krise der italienischen Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nichts zu ändern vermochten, wuchs noch eine dritte Spielart des Populismus in Italien heran, die sich 2017 anschickt, stärkste Kraft im Lande zu werden.

Das Movimento Cinque Stelle (M5S) des TV-Comedians Beppe Grillo hat das alte Parteiensystem durch eine ebenso chaotische wie konsequente Aufhebung der Rechts-links-Polarisierung noch weiter ausgehebelt.27 Die fünf Sterne stehen programmatisch für Ambiente (Umweltschutz), Acqua (Grundversorgung), Sviluppe (nachhaltige Entwicklung), Connettivitá (Digitalisierung) und Trasporti (modernes Verkehrssystem), also für einen im Grunde grünen Reformpragmatismus, der seine Kraft aus dem Verfall der öffentlichen Infrastruktur in vielen italienischen Städten und Gemeinden zieht und nicht zuletzt in einer Gesellschaft mit extrem hoher Jugendarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung junge Menschen anzieht. M5S ist für direkte Demokratie, setzt sich für flächendeckendes Internet und kostenlose Gesundheitsdienste ein, will die regionale Wirtschaft und den öffentlichen Personennahverkehr stärken und setzt, ähnlich wie die Piraten in Nordwesteuropa, überwiegend auf digitale Parteikommunikation. Die Kehrseite (oder Konsequenz) dieser »Verflüssigung« (alias Liquidierung28) der Willensbildung in der Bewegungspartei ist die diktaturartige Dauerintervention des Parteigründers und -führers Beppe Grillo.

In seinem Beruf als Komiker erzielt der »zottelige Wüterich« gewaltige TV-Quoten und füllt, zuletzt aus dem Unterhaltungsprogramm verbannt und ihm entwachsen, mit »Monologen an die Menschheit« die Arena von Verona und viele Theater Italiens. Dass er dabei den Finger in viele offene Wunden legt, ist unbestreitbar; dass er Berlusconi als »Psychozwerg« bezeichnet und die Allüren des italienischen Premiers Renzi, des selbsternannten Verschrotters, aufspießt, macht manchen Zuhörern Laune, ist aber vor allem seinem eigenen Bedeutungswahn zuzurechnen. Die Italien-Autorin Petra Reski, die man als Grillo­versteherin bezeichnen darf, hat in einem Blog Verständnis für das Aufkommen der »Grillini« gezeigt: »Die Italiener haben 50 Jahre Democrazia Cristiana hinter sich, 20 Jahre Berlusconi und 15 Jahre Wirtschaftskrise. Jahre, die der Mafia den Weg nach oben geebnet haben, Jahre, in denen die Staatsverschuldung ins Unermessliche stieg, Jahre, die man nur mit einer großen Portion Humor und Selbstironie unbeschadet überstehen kann – so wie Grillo es praktiziert hat, als er die Geheimnisse Italiens in einer Black Box in Andreottis Buckel wähnte. Das Bruttoinlands­produkt bewegt sich knapp auf dem Niveau von 2001, die Korruption frisst 60 Milliarden Euro im Jahr, die Steuerhinterziehung wird nur von Mexiko und der Türkei übertroffen, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent. Und die Wirtschaftspolitik wird von der Troika gemacht, die Italien zum Sparen mahnt. Gespart wird aber nicht an den üppigen Gehältern von Funktionären und Politikern, sondern an den Schulen, Universitäten und Krankenhäusern. Genau in diese Wunden hat Beppe Grillo seinen Finger gelegt.«29

Dass M5S-Abgeordnete einen Teil ihrer Diäten an kleine und mittlere Unternehmen spenden, empfanden daher viele als symbolischen Bruch mit der auf Selbst- und Klientelbedienung angelegten partitocrazia Italiens. Was wie eine progressive Alternative zum italienischen Dauerverdruss aussah, entpuppte sich freilich als erhebliches Risiko für Italien und Europa. Der Populismus kam in den Fünf Sternen gewissermaßen wieder zu sich selbst, indem er jenseits aller Programmatik und politischen Erfahrung ultimativ auf die vollständige Ablösung der verhassten politischen Klasse drängte und die Institution der parlamentarischen Demokratie radikal ablehnte. Politik mutierte komplett zur Antipolitik, die ihre Existenzberechtigung allein aus sich selbst, einem leidenschaftlichen Nurdagegensein zieht. Beppe Grillo, der Reputation ähnlich wie zuvor Ber­lusconi aus seiner »Prominenz« bezog, also aus seiner Bekanntheit als Live-Redner und der ihm als Blogger gewidmeten ­Aufmerk­samkeit, fiel mit zunehmend unqualifizierten Wutausbrüchen (vaffancolo) auf. Den Kopf Matteo Renzis, dessen Verfassungsreferendum M5S im Bunde mit dem linken und rechten Establishment im Dezember 2016 krachend zu Fall brachte, hat er wie eine Trophäe vorgezeigt.

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