Das Engadin - Karsten Plöger - E-Book

Das Engadin E-Book

Karsten Plöger

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Beschreibung

Das Engadin geniesst seit mehr als 150 Jahren einen besonderen, geradezu legendären Ruf. Dahinter steht aber eine lange Geschichte, die nicht allein von Jetset und Luxustourismus handelt, sondern auch von dem stetigen Kampf um knappe Ressourcen. Seit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend haben sich Menschen in dieser herausforderungsreichen Umwelt eingerichtet, haben sie gestaltet und wurden von ihr geprägt. Karsten Plöger richtet in seiner historischen Gesamtdarstellung ein besonderes Augenmerk auf die Verflechtung des Hochtals mit seinen alpinen Nachbarregionen, der restlichen Schweiz und Europa. Er erzählt von Bauern und Hirten, von Säumern, Söldnern und Zuckerbäckern, von Kriegszügen und den Olympischen Winterspielen in St. Moritz, von den Wandlungen des Klimas sowie von den Entwicklungsunterschieden zwischen dem Ober- und dem Unterengadin.

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Das Engadin

Biografie einer Landschaft

Karsten Plöger

HIER UND JETZT

Landschaft im Dreiklang der ZeitenEinleitung

Auf dem Weg in die Geschichte (ca. 9000–15 v. Chr.)

Zwischen Rom und Germanien (15 v. Chr.–536)

Aufbruch ins Mittelalter (536–1367)

Mündigkeit und Stagnation (1367–1799)

Ironien der Moderne (1799–2023)

Anhang

Für Zoë,tuot ils dis fin a la fin dal muond

LANDSCHAFT IM DREIKLANG DER ZEITENEINLEITUNG

Vom Pfad bergan zur Acla Laret, hoch über S-chanf und Zuoz, geht der Blick weit nach Südwesten. Vor einem liegt das ganze Inntal bis hinauf zur Charnadüra-Schlucht und St. Moritz. Kondensstreifen am Himmel, darunter schroffe Bergkuppen, Ackerterrassen und sauber gemähte Wiesen, bewaldete Steilhänge und das graue Band der Hauptstrasse 27. Der sanfte Schwung des gezähmten Flusses, Eisenbahngleise, Hochspannungsmasten, Ställe, Skilifte, Wohnhäuser und Hotels – eine wohlgeordnet wilde Bergwelt. Sie hat ihre eigene Klangkulisse: Das Jaulen der Lkw-Reifen weht herauf und bricht sich an dem Krächzen der Tannenhäher im Wald zur Rechten. Ein tiefes Rattern kündigt das Nahen eines roten Zugs der Rhätischen Bahn an.

Wie jede Landschaft ist auch die des Engadins einzigartig, unverwechselbar. Sie birgt in sich die Spuren der Arbeit vieler Generationen, einer Arbeit in und an einem spezifischen Ausschnitt der Natur. «Landschaft», so bringt es der Schweizer Historiker François Walter (geb. 1950) auf den Punkt, «entsteht durch die Überlagerung von unterschiedlich alten Schichten; diese entsprechen sozusagen Abdrücken, welche menschliche Gesellschaften im Boden hinterlassen haben. Insofern bildet die Landschaft in gewisser Weise das Gedächtnis des Geländes. Die Landschaft wird durch Betrachtung ihrer verschiedenen Bestandteile wie Punkte, Linien, Muster, Formen und Ebenen gelesen, deren Gliederung, Verbindung und Überlagerung zu analysieren sind.»1 Erfahrungen (Ein-drücke), charakteristische Linien und Muster, gelesene Lebensspuren, die aktivierte Erinnerung: Das ist der Stoff, aus dem Biografien gemacht sind. Das Engadin hat eine Biografie, denn das Engadin ist ein Landschaftsindividuum.

Wir gehen in diesem Buch zurück bis zu den Anfängen. Nichts soll ausgelassen werden; so gehört es sich für eine Biografie. Bei der Wahl der Methodik stand ein Klassiker der Geschichtsschreibung Pate: die 1949 erschienene monumentale Studie «La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II» des französischen Historikers Fernand Braudel (1902–1985).2 Die Geschichte eines geografischen Raums, so Braudels Prämisse, erschliesst sich erst in ihrer Gesamtheit – als histoire totale –, wenn statt der einen, linearen Zeit drei Stränge des historischen Geschehens betrachtet werden.3

Erstens: die reine Ereignisgeschichte, das konventionelle, faktengesättigte Narrativ der Historie. Die akademische Forschung tut sie oft als oberflächlich ab, doch ist die histoire évènementielle aus einer ganzheitlichen Geschichte, wie sie Braudel sich vorstellte, nicht wegzudenken. Für ihn ist sie «eine ruhelos wogende Oberfläche, vom Strom der Gezeiten heftig erregte Wellen. Eine Geschichte kurzer, rascher und nervöser Schwankungen […]. So ist sie von allen die leidenschaftlichste, menschlich reichste.» Zur Ereignisgeschichte des Engadins zählen beispielsweise die römischen Vorstösse in die Alpen im Sommer des Jahres 15 v. Chr., die Feldzüge während der Bündner Wirren (1620–1635), aber auch die Olympischen Winterspiele von 1928 und 1948.

Zweitens: die mittlere Dauer, «eine Geschichte langsamer Rhythmen», die den allmählicheren Wandel der politischen und sozialen Strukturen nachzeichnet. Zu diesem Strang gehört die Geschichte der Herrschaftsorganisation und der Machtverhältnisse im Engadin. Die mittlere Dauer ist langsamer getaktet als die Ereignisgeschichte: Nicht Tage, Wochen, Monate oder Jahre sind in ihr entscheidend, sondern wenige Jahrzehnte und Jahrhunderte. Zu ihren Themen zählen die Römerherrschaft in Rätien, die Emanzipation der Engadiner Talgemeinden in der Frühen Neuzeit und der Aufstieg führender Familien, allen voran die Planta und Salis.

Drittens: die lange Dauer. Braudel versteht darunter «eine gleichsam unbewegte Geschichte […], die des Menschen in seinen Beziehungen zum umgebenden Milieu; eine träge dahinfließende Geschichte, die nur langsame Wandlungen kennt, in der die Dinge beharrlich wiederkehren und die Kreisläufe immer wieder neu beginnen». Auf das Engadin bezogen, wird der langen Dauer all das zugeordnet, was schon immer Teil des Lebens unter den Gipfeln war und sich so langsam wandelt, dass es gleichsam ausserhalb der Geschichte zu stehen scheint. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen Landschaft, Klima und Mensch. Daraus wiederum ergeben sich grundsätzliche Fragen: Wie haben sich die Menschen seit den Besiedlungsschüben des dritten vorchristlichen Jahrtausends in der extremen, oft feindlichen Umwelt des Engadins eingerichtet? Wie nutzten sie die Spielräume, die Klima und Gelände ihnen vorgaben? Welche Strategien entwarfen sie, um den Alltag zu bewältigen? Und wie passten sie diese Strategien an neue Umstände an? Als Humanwissenschaft zählt die Geschichtsforschung seit rund hundert Jahren Fragestellungen dieser Art zu ihrem Repertoire.4

Die Gestaltung und die Bewirtschaftung der Landschaft sind zwei der grossen Leitmotive, die zur langen Dauer zählen – vielleicht die zentralsten. Jahrtausendelang waren sie fest eingebettet in die Rhythmen des Klimas. Die Feld- und Viehwirtschaft folgte Praktiken, die von der Bronze- und Eisenzeit bis zur Neuzeit in mancher Hinsicht verblüffend gleich blieben: «Agrarische Strukturen sind von Natur aus träge. Das Land dreht sich in langsameren Rhythmen.»5 Aber auch der Verkehr und der Handel über die Pässe – noch im 19. Jahrhundert waren es Packtiere, die die Ware schultern mussten –, die Migration und die Strukturen der materiellen und immateriellen Lebenswelt – Gesellschaft, Religion und Sprache – gehören zu den Phänomenen dieser, wie Braudel es ausdrückt, «dem Unbelebten benachbarten Geschichte». Freilich: Wären sie so gänzlich «unbelebt», wären sie für die Geschichtsforschung nicht beschreibbar oder zumindest uninteressant. Wie wir sehen werden, brechen manche Kontinuitätslinien in der Geschichte des Engadins mehr oder weniger abrupt ab (Bergbau, Saumhandel, Emigration), während andere verblassen (Landwirtschaft, die rätoromanische Sprache) oder neu entstehen (Tourismus, Infrastrukturen).

Aus der Ereignisgeschichte des Engadins leitet sich die Einteilung dieses Buches in fünf Kapitel her. Die Übergänge von der Stein- zur Bronzezeit (um 2200 v. Chr.) und von der Bronze- zur Eisenzeit (um 800 v. Chr.) bilden keine eigentlichen Zäsuren; dieser sehr lange Zeitraum wird daher in einem Kapitel behandelt. Die erste Epochengrenze wird bei der römischen Invasion des Jahres 15 v. Chr. gesetzt. Das erste greifbare Ereignis in der Geschichte des Engadins ist womöglich auch das folgenreichste: Es leitet das lange Sterben seiner eigenständigen eisenzeitlichen Kulturen ein, setzt aber auch die Romanisierung in Gang. Für die Geschichte der Herrschaftsstrukturen sind die Jahre 536 (Eingliederung des Südteils Rätiens in das Frankenreich), 1367 (Gründung des Gotteshausbundes) und 1799 (Aufnahme des Freistaates der Drei Bünde in die Helvetische Republik) entscheidend. Im ersten Teil eines jeden Kapitels geht es um die Ereignisgeschichte, im zweiten um die mittlere Dauer. Die übrigen sind der longue durée gewidmet.

Wie sollte man eine «Totalgeschichte» des Engadins schreiben, ohne an die Geschichte des Klimas zu denken? Schliesslich ist das Engadin selbst ein Produkt seines Wandels: ohne Abschmelzen des Inngletschers keine Besiedlung, ohne Besiedlung keine Umgestaltung der Natur- zur Kulturlandschaft. Das Engadin mag topografisch exakte Grenzen haben, doch waren und sind die Konturen seiner Landschaft stets im Fluss. (Streng genommen, handelt es sich um deren zwei: eine Sommer- und eine Winterlandschaft. Jede von ihnen hat ihre eigenen Gesetzmässigkeiten.) Als eines der höchstgelegenen bewohnten Täler Europas befindet sich das Engadin in einer klimatischen Randzone. Jede lang anhaltende Warmphase lässt die Baumgrenze ansteigen, jede Kaltphase sie absinken. Gletscherzungen rücken vor und weichen zurück, die Dauer der Vereisung der Seen verlängert und verkürzt sich im Takt des Klimas. Damit wachsen und schrumpfen, ganz ohne Zutun des Menschen, die nutzbaren Flächen. Keine andere Kulturlandschaft unseres Kontinents, abgesehen vielleicht vom Wattenmeer, hat diese Art von natürlicher Elastizität. Bis in das frühe 20. Jahrhundert war Wirtschaften im Engadin ein Wirtschaften am Rande des Möglichen: Selbst kürzere Witterungsschwankungen wirkten sich rasch und unmittelbar, geradezu seismografisch, auf den Ackerbau und die Weidewirtschaft – die beiden Hauptsäulen der Talwirtschaft – aus.

Dem Klima will diese Landschaftsbiografie den Platz zugestehen, der ihm gebührt – nicht weniger, aber gewiss auch nicht mehr. Klimadeterministische Ansätze, die es in der Geschichtsforschung immer wieder gegeben hat, stossen zu Recht auf Ablehnung. Zu komplex, aber auch zu zufallsbedingt ist das historische Geschehen, als dass sich das Klima als der alles dominierende Faktor identifizieren liesse. Schon Lucien Febvre (1878–1956), Freund und akademischer Lehrer Fernand Braudels, warnte vor monokausalen Erklärungsmodellen dieser Art: «Einige reden von Naturräumen, Klimazonen, botanischen Zonen, großen Zonen von Kräften, die direkt auf den Menschen einwirken, mit einer wahrscheinlich souveränen und determinierenden Macht. […] Naturräume [sind aber] nichts anderes als Ensembles von Möglichkeiten für die menschlichen Gesellschaften, die sie nutzen, die aber keineswegs von ihnen determiniert werden.»6 Gerade für den Alpenraum gilt, dass wir über die historischen Witterungsschwankungen einiges mehr wissen als über deren effektive Wirkungen auf die vormoderne Wirtschaft und Gesellschaft. Fest steht, dass mehrere, auch anthropogene Faktoren zusammenspielen mussten, damit es zu einer Krise kommen konnte: allen voran die Strukturen der Landwirtschaft, zum Beispiel der Grad der bäuerlichen Freiheit, und die kommerziellen Spielräume, zum Beispiel die Beschaffenheit des Marktes und die Mechanismen von Angebot und Nachfrage.7

Die Hauptrolle in dieser Biografie spielen Mensch und Landschaft – genauer: der Mensch in der Landschaft. Aus diesem Grund wird der Landwirtschaft im Engadin mehr Raum gewidmet als den Details der mittelalterlichen Verwaltungsgeschichte, der Emigration mehr als den diplomatiegeschichtlichen Hintergründen der Bündner Wirren und der Infrastrukturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mehr als dem Treiben des Jetsets in St. Moritz.

AUF DEM WEG IN DIE GESCHICHTE (CA. 9000–15 V. CHR.)

EINE LANDSCHAFT ENTSTEHT

Am Anfang war das Eis. 23 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, während der letzten Kaltzeit, erstreckte sich der Inngletscher über 300 Kilometer vom Malojapass im Süden bis tief in das bayerische Alpenvorland im Norden, wo er den weichen Boden zu Seebecken und Moränen formte. Es gab das Engadin schon, als Möglichkeit einer Landschaft, am Grund dieses fast 2000 Meter tiefen Stroms aus Eis und Geröll. Aber es dauerte noch lange, mehrmals rückte der Koloss vor und wich wieder zurück, bis das oberste Inntal besiedelt werden konnte, bis Klima und Geologie der Geschichte ihren Platz einräumten.

Als sich der Gletscher für immer zurückzog, ab 15 000 v. Chr., tat er dies freilich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Um 12 500 v. Chr. war er bis zur Grenze des Engadins bei Finstermünz zurückgewichen, um 9000 v. Chr. restlos abgeschmolzen.8 Aus seinem Toteis gingen nach und nach die grossen Seen des Oberengadins hervor; aus den Seitentälern einfliessend, schütteten Bäche trennende Deltas und Schwemmebenen auf. Am Anfang aber bildeten der Silsersee, der Silvaplanersee und der Champfèrersee noch eine durchgehende Wasserfläche. In der Tundra, die sie umgab, breiteten sich Birken, dann Kiefern, Lärchen, Föhren und schliesslich Arven aus.9

Abgesehen von wenigen Kälteeinbrüchen herrschten in den Alpen ab 8500 v. Chr. Bedingungen, die ein Vorrücken der grösseren Gletscher nicht mehr zuliessen; über weite Zeiträume hinweg waren diese sogar deutlich kleiner als in unserer Zeit.10 Genau dort, wo sich heute (noch) der Tschiervagletscher erstreckt, am Ende des Val Roseg, standen im 8. und 7. Jahrtausend v. Chr. Arven und Lärchen, die erst später vom Eis begraben wurden.11 Die Historische Klimatologie kennt diese Zeit als das feucht-warme Klimaoptimum des Holozäns (ca. 9000–5000 v. Chr.), die wärmste Periode der letzten 100 000 Jahre.12

Einer Erschliessung des oberen Inntals stand nun nichts mehr im Wege. Dennoch besiedelte man, so wurde lange angenommen, zunächst nur die tiefer gelegenen Fluss- und Durchgangstäler: Im Rheintal, im Domleschg und im Misox kamen bis heute Überreste von neun Siedlungen aus der Jungsteinzeit (6500–2200 v. Chr.) ans Tageslicht.13 Das Hochgebirge war, so nahm man weiter an, nur als Jagdrevier interessant: Im Val Forno südlich von Maloja, im Val Languard bei Pontresina, aber auch im Unterengadin, nämlich in der Nähe des Ofenpasses sowie in der Silvretta-Gruppe, liessen sich Rastplätze steinzeitlicher Jäger nachweisen.14

Eine klar differenzierte Raumnutzung also: Siedeln im Tal, Jagen im Hochgebirge? Neuere Forschungsergebnisse lassen Zweifel aufkommen. Schon vor 5500 Jahren, so zeigen sie, hielten sich Menschen an den Ufern der Oberengadiner Seen auf, und das möglicherweise nicht nur tage- oder saisonweise, sondern auch ganzjährig. Gleich aus mehreren Gründen war das Seenplateau ein attraktiver Standort: Neben der Jagd liessen sich hier auch Fischerei, Weidewirtschaft und Handel betreiben. Die frühesten Spuren einer Umformung der Natur- in eine Kulturlandschaft führen jedenfalls zurück bis in die Zeit um 3500 v. Chr., in die sogenannte Kupfersteinzeit.15 Sie fallen damit in die ungefähre Lebenszeit der berühmten Gletschermumie Ötzi.

BESIEDLUNG: VON DER UR- ZUR KULTURLANDSCHAFT

In der Bronzezeit (2200–800 v. Chr.), einer insgesamt warm-trockenen Klimaphase, erhielt die Siedlungsaktivität im mittleren Alpenraum neuen Schwung. Spätestens jetzt erfasste sie definitiv auch höher gelegene Täler wie das Engadin.16 Gleich mehrere Fundstellen erzählen die Geschichte seiner Besiedlung bis hinauf nach Zuoz. Hier lassen sich Indizien für eine Präsenz des Menschen spätestens im dritten vorchristlichen Jahrtausend finden. Die ältesten Beweise stammen aber erst aus der mittleren Bronzezeit (1550–1350 v. Chr.). Auf Botta Striera, einer hoch über S-chanf gelegenen Felskuppe, entdeckte man 1932 einen Kultplatz aus dieser Epoche, der mit einer noch unentdeckten Siedlung in Verbindung gebracht wird.17 Der Hügel Chastlatsch oberhalb von Zuoz, nur wenige Kilometer entfernt, war in der Spätbronzezeit (1350–800 v. Chr.) bewohnt.18 Wer von hier aus dem Inn talabwärts folgt, stösst in schneller Folge auf zum Teil bedeutende Fundstellen bei Susch (Chaschlins, Padnal, Motta da Palü, Chaschinas), Lavin (Las Muottas), Ardez (Suotchastè), Ftan (Muot Padnal), Scuol (Munt Baselgia) und vor allem bei Ramosch (Mottata).19 Einige dieser Orte waren bis in die Eisenzeit (800–15 v. Chr.) kontinuierlich bewohnt: Die Siedlung auf dem Kirchhügel bei Scuol zum Beispiel wurde im 15. vorchristlichen Jahrhundert angelegt und hatte über fast anderthalb Jahrtausende Bestand, mehr als die meisten europäischen Städte der Gegenwart.20

Die ersten Menschen liessen sich fast ausschliesslich auf Hügelkuppen nieder. Waren dies «die auf den fürchterlichen Alpenhöhen liegenden Burgen», die die römischen Invasoren Jahrhunderte später bei ihrem Alpenfeldzug bezwangen, wie es der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) in einer seiner Oden erwähnt?21

Auf jeden Fall boten diese Lagen ideale Standorte für Gemeinschaften, die auf ihre Sicherheit bedacht waren. Siedlungen näher bei der Talsohle scheinen im Unterengadin, wie auch in anderen Teilen Graubündens, erst in der Spätbronzezeit gegründet worden zu sein.22

Beweise für eine dauerhafte Besiedlung des Oberengadiner Seenplateaus vor dem 15. vorchristlichen Jahrhundert gibt es hingegen (noch) nicht. Der bislang früheste Fund, der sich als Beleg für ein nachhaltiges Interesse des Menschen an dieser Gegend deuten lässt, ist die Fassung der Mauritiusquelle, die man 1853 bei Bauarbeiten in St. Moritz-Bad entdeckte. Ihre Konstruktion konnte vor Kurzem auf die Jahre 1411–1410 v. Chr. datiert werden.23

Diese fehlende menschliche Präsenz ist auffällig und bedarf einer Erklärung. Gleich mehrere Hypothesen lassen sich formulieren: eine Zivilisationsgrenze irgendwo talaufwärts von Zuoz, das Seenplateau zwischen Maloja und St. Moritz als umkämpfter Raum oder Pufferzone zwischen verfeindeten Gruppen, vielleicht sogar, wie jüngst vermutet, als «heiliger Bezirk»?24 Sicher ist es bemerkenswert, dass die gerade hier so intensive Bautätigkeit der letzten 160 Jahre keinerlei Siedlungsreste zum Vorschein gebracht hat. Andererseits gibt es gute Gründe, eben diesen Sachverhalt nicht überzubewerten. Da wären erstens die extremen Umweltbedingungen, die der Archäologie einen Strich durch die Rechnung machen können. So ist etwa seit wenigen Jahren bekannt, dass in der Spätantike oder im Frühmittelalter ein Tsunami, ausgelöst durch ein heftiges Erdbeben, den Silsersee weit über seine Ufer trieb. Der Sand, den die drei Meter hohe Flutwelle zurückliess, hätte beinahe die wichtigsten Relikte der Römerzeit, die Altäre von Sils-Baselgia, für immer unter sich begraben. Der Seespiegel stieg dauerhaft um mehr als zwei Meter an.25 Zweitens: Die Wissenschaft hat sich spät zu Wort gemeldet. Die erste planmässige Grabung auf Bündner Boden fand erst 1902 statt, nachdem man sich zuvor lange nur für Zufallsfunde interessiert hatte. Weitere sechs Jahrzehnte sollten vergehen, bis sich die archäologische Bodenforschung im Kanton fest etablierte.26 Eine systematische Spurensuche hat im Oberengadin bis heute nicht stattgefunden.27 Jeder noch so bescheidene Fund eines Gebäudefundaments oder einer Ackerfurche kann das Bild also von Grund auf verändern.

Tatsächlich gibt es, wie oben angesprochen, Hinweise auf eine sehr frühe menschliche Aktivität im Umkreis der Oberengadiner Seen: Sie setzte um die Mitte des vierten Jahrtausends v. Chr. ein und schwächte sich erst 2000 Jahre später ab, als eine Klimaverschlechterung zu einem Rückgang der Siedlungsaktivität im mittleren Alpenraum führte.28 Es scheint, als habe man sich während der sogenannten Löbben-Kaltphase (ca. 1500–1100 v. Chr.) vom Seenplateau zurückgezogen, als die Winter dort immer schneereicher und die Sommer immer regnerischer wurden. Erst einige Jahrhunderte später kehrten die Siedlerinnen und Siedler zurück.29

Überall dort, wo der Mensch erschien, veränderte sich die Urlandschaft. Es gibt Aufzeichnungen, die über diese Prozesse Auskunft geben, doch lassen sie sich nicht in den Bibliotheken und Archiven von Chur, St. Moritz, Samedan oder Strada finden. Wer verstehen will, wie sich die ersten Siedlerinnen und Siedler ihre Umwelt Schritt für Schritt aneigneten, muss die Böden des Unterengadins und die Sedimente der Oberengadiner Seen lesen lernen, so wie es verschiedene Forschungsgruppen in den letzten Jahrzehnten getan haben; dort, auf den ersten Seiten der Biografie dieser Landschaft, haben sich die Ereignisse der longue durée von selbst eingeschrieben.

Für die Gegend um Ardez im Unterengadin ergibt sich dank der Nachweisbarkeit von Holzkohlepartikeln, Pollen und Pilzsporen in Torfsedimenten ein recht präzises Bild. Noch zaghaft in der späten Jungsteinzeit, um 2900/2800 v. Chr., entschlossener dann zu Beginn einer Phase warmen und vor allem trockenen Klimas ab 2250 v. Chr., begann hier der Mensch, Siedlungsinseln einzurichten.30 Durch Brandrodung entledigte er sich der Lärchen-, Fichten-, Linden- und Ulmenwälder, die er vorfand. In subalpinen Lagen, wie beispielsweise im nahe gelegenen Val Urschai (2050–2400 m ü.M.), entstanden so Weideflächen, die vereinzelt noch mit Lärchen bestanden waren, sogenannte Lärchwiesen. Auf sie trieb man im Frühjahr Schafe, Ziegen und Kühe.31 Diese vertikale Verschiebung der Herden machte es möglich, die Viehbestände zu vergrössern, die näher am Talboden gelegenen Flächen aber zu schonen.32 Hier wurden für den Anbau von Gerste, Einkorn, Emmer, Dinkel, Weizen, Hafer, Erbsen und Bohnen die ersten Terrassenfelder angelegt.33

Ganz ähnlich fällt der Befund für das Oberengadiner Seenplateau aus. Wie die Analyse von Bohrkernen aus den Sedimenten des Champfèrersee und des St. Moritzersees gezeigt hat, begann der Mensch hier schon ab 3550 v. Chr., ebenfalls während einer langen Periode günstigen Klimas,34 die Natur nach seinen Bedürfnissen umzugestalten.35 Möglicherweise schon in dieser Epoche, spätestens aber in der Bronzezeit, legte man Felder an. Auf ihnen gedieh Gerste, erst in der römischen Epoche kam Roggen hinzu.36 Um 1950 v. Chr. setzten dann auch im Oberengadin massive Eingriffe in die Umwelt ein, die sich 200 Jahre später noch einmal intensivierten. In höheren Lagen entstanden Lärchwiesen. Das Abbrennen des Urwaldes und die Beweidung der neu gewonnenen Flächen veränderten die Vegetation: Der Bestand an Arven nahm ab, derjenige an Lärchen, Wacholder und vor allem Grünerlen zu. Als lichtliebende Arten profitierten sie von der Öffnung der Wälder.37

Fertig war die Kulturlandschaft des Engadins damit noch lange nicht. Auch für die Eisenzeit hat man Phasen der Ausdehnung und Phasen der Schrumpfung der Nutzflächen nachweisen können: Brandrodungen und Vorstösse des Waldes wechselten sich ab. Diese Fluktuationen spiegeln jene des Klimas mit einiger Genauigkeit wider.38

WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT: DIE ERSTEN JAHRTAUSENDE

Ackerbau und Weidewirtschaft bildeten seit der Bronzezeit die Grundlagen der Wirtschaft im Engadin – diese Aussage an sich vermag kaum zu überraschen. In den letzten drei Jahrzehnten aber haben interdisziplinär arbeitende Forschungsgruppen die Landschaft neu zu befragen gelernt. In ihren Projekten verbinden sie Methoden der Palynologie (Pollenanalyse), der Biologie, der Geografie, der Archäologie und der Klimaforschung und gelangen so zu einem immer differenzierteren Bild von der Nutzung alpiner Räume. So wurde etwa ab 2007 das System der prähistorischen Alpwirtschaft auf den Hochweiden der Silvretta, der Gebirgsgruppe im Grenzraum zwischen dem Unterengadin und Österreich, untersucht.39

Ackerbau und Weidewirtschaft – das mag weniger bekannt sein – spielten aber nicht die eigentliche Führungsrolle bei der Erschliessung des Engadins, genauso wenig die Jagd, der im Bündner Raum in der Bronzezeit keine grössere Bedeutung mehr zukam.40 Die ersten Siedlerinnen und Siedler waren offenbar auf der Suche nach Kupfer, einem Rohstoff, der zu ihrer Zeit sprichwörtlich Geschichte machte: Seit ungefähr 2200 v. Chr. wurden Schmuck, Geräte und Waffen vermehrt aus Bronze, bekanntlich eine Legierung von Kupfer und Zinn, hergestellt. Für Gruppen, die Kupfer abzubauen und zu verhütten verstanden und die Technik des Bronzegusses beherrschten, eröffneten sich nun ganz neue Perspektiven. Im Oberhalbstein und im Albulatal gab es schon zu dieser Zeit Siedlungen, deren Bewohner eben dieses Know-how besassen.41 Das nahe gelegene Oberengadin könnte für die Gewinnung von Kupfer und die Herstellung von Bronze eine Schlüsselrolle gespielt haben, zumal das hierfür so wichtige Brennholz reichlich vorhanden war. Hinweise auf eine Kupferverarbeitung spätestens in der ausgehenden Bronzezeit (ca. 900 v. Chr.) wurden auf einer Hochebene oberhalb von Madulain gefunden.42

Wo man Kupfer abbaute und Bronze goss, wird man dies nicht nur für den Eigenbedarf getan haben – zu hoch standen beide Rohstoffe überregional im Kurs. Die «lange tradierte und beinahe zum Dogma verkommene Vorstellung einer ausschliesslich dem Autarkieprinzip verpflichteten [prähistorischen] inneralpinen Bevölkerung»43 wird von Forschenden schon seit einigen Jahren infrage gestellt. Viel plausibler ist die Annahme, dass schon früh ein inner- und transalpiner Handel über die Bündner Pässe einsetzte; zumindest in der beginnenden Bronzezeit, zwischen 2200 und 1800 v. Chr., waren die Klimabedingungen für deren regelmässige Begehung günstig. Die Höhensiedlung von Ramosch (Mottata) könnte so etwas wie ein regionales Zentrum, ein früher Hauptort des Engadins, gewesen sein. Nicht zufällig lag sie nahe der Kreuzung des Wegs, der flussaufwärts zum Malojapass führte, mit dem, der in nordwestlicher Richtung den Fimberpass überschritt; er war Teil jener prähistorischen Alpentransversale, auf der man vom Etschtal über die Silvretta in das Bodenseerheintal gelangen konnte.44 Auf diesen Wegen könnte auch Zinn ins Tal gelangt sein; es war für die Bronzeherstellung unverzichtbar, musste aber über weite Strecken importiert werden. Die nächstgelegenen Lagerstätten waren Mittelfrankreich, das Erzgebirge, Sardinien und die Toskana.45 Bernsteinperlen und Keramikfragmente, die man bei Savognin im Oberhalbstein gefunden hat, belegen frühe Beziehungen Bündens sowohl zu Oberitalien als auch zum schweizerischen Mittelland und zu Süddeutschland.46 Dieser Austausch sollte sich in der Eisenzeit intensivieren.47

Es lohnt sich, die Themen Kupfer und Bronze an dieser Stelle etwas näher zu betrachten, denn der Abbau und die Produktion dieser Metalle setzten nicht nur Impulse für den Passhandel. Praktisch überall dort, wo sie ins Spiel kamen, ergaben sich weitreichende Folgen für die Gesellschaft.48 Der Abbau und die Verhüttung von Kupfer, ebenso die Bearbeitung von Bronze, setzten ein umfangreiches Spezialwissen und besondere handwerkliche Fertigkeiten voraus: Es brauchte Bergleute, Verhüttungsspezialisten, Giesser und Schmiede. Gleichzeitig begünstigte der Bronzehandel die Herausbildung einer wohlhabenden, handeltreibenden Oberschicht. Im Vergleich zu den angrenzenden Gebieten Mitteleuropas bietet der schweizerische Fundbestand nur wenige Belege für eine soziale Differenzierung.49 Es darf jedoch angenommen werden, dass dieselben ökonomischen Kräfte auch die bronzezeitliche Gesellschaft des Engadins mitgeformt und ihr ein vertikaleres Gepräge verliehen haben.

Anhand der Siedlungsfunde im Unterengadin hat man eine Schätzung der Bevölkerungsgrösse in prähistorischer Zeit gewagt. Zwischen Zernez und dem Reschenpass hätten demnach ungefähr 550 Menschen auf einer nutzbaren Fläche von ebenso vielen Quadratkilometern gelebt. Mit etwa einer Person pro Quadratkilometer Nutzfläche war dieser Talabschnitt nicht dicht besiedelt, verfügte aber über eine durchaus beachtliche Bevölkerungszahl.50 Kleinere Siedlungen boten Platz für zwanzig bis dreissig, grössere für fünfzig bis hundert Personen. Familieneinheiten von vier bis sechs Personen waren die Regel.51

Wer aber waren diese ersten Engadinerinnen und Engadiner? Zunächst ist festzustellen: Die Besiedlung des Tals war kein linearer Prozess; Untersuchungen von Boden- und Sedimentproben legen diesen Schluss nahe. Vielmehr kam es ab der Mitte des vierten Jahrtausends v. Chr. zu mehreren Erschliessungsschüben – womit aber noch nicht bewiesen ist, dass es auch mehrere Einwanderungswellen gab. Dabei kann die Entwicklung im Ober- und im Unterengadin durchaus unterschiedlich verlaufen sein. Der erste mehr oder weniger synchronisierte Schub fällt in die warmtrockene Klimaphase um 2250/2000 v. Chr., als in beiden Talabschnitten, wie oben beschrieben, massive Eingriffe in die Naturlandschaft vorgenommen wurden. Vermutlich handelte es sich bei den Urhebern um Gruppen, die auf der Suche nach Kupfer aus dem schweizerischen Mittelland oder dem Ostalpenraum in die Bündner Alpen vorgestossen waren.52 Dank den Bronzewerkzeugen, die ihnen zur Verfügung standen, konnten sie viel effizienter zu Werke gehen als ihre steinzeitlichen Vorgänger.

Diese Neuankömmlinge werden der Inneralpinen Bronzezeit-Kultur zugeordnet, zu deren Einflussgebiet neben dem Unterengadin auch Nordtirol, das südliche Vorarlberg, das Val Müstair, der Vinschgau und möglicherweise noch weitere Teile Südtirols gehörten. Durch das charakteristische Design ihrer Keramik hob sie sich von den Kulturen der angrenzenden Regionen, des Mittellandes und der Westschweiz ab. Sie konnte ihre Eigenheit bis in das 12./11. Jahrhundert v. Chr. hinein behaupten, wurde dann aber durch die Laugen-Melaun-Kultur abgelöst, die aus dem Raum Südtirol/Trentino ins Unterengadin vordrang.53

Wer nach den frühesten Indizien für eine unterschiedliche Entwicklung des Ober- und des Unterengadins fragt, wird bis in die ältere Eisenzeit zurückblicken müssen. In der Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends lassen sich mindestens zwei kulturelle Einflusszonen ausmachen. Im Unterengadin war ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. die bronzezeitliche Laugen-Melaun-Kultur von der eisenzeitlichen Fritzens-Sanzeno-Kultur abgelöst worden. Damit ergab sich eine enge Bindung an die anderen Regionen, in denen diese Kulturgruppe präsent war – zu Südtirol und dem Trentino, in geringerem Masse auch zu Nordtirol. Funde aus den Siedlungen Padnal bei Susch und vor allem Muottas da Clüs bei Zernez weisen, zweitens, auf starke Einflüsse aus dem Südosten, dem oberitalienischen Val Camonica, hin.54

FEUER UND SCHWERT: FRÜHE GLAUBENSWELTEN

Nur Fundglück und akribische Kleinarbeit machen es der Archäologie möglich, die Sachkultur des bronze- und eisenzeitlichen Engadins zu beschreiben. Noch einmal schwieriger ist der Schritt zu tragfähigen Aussagen über seine immaterielle Kultur.

Eine ganz auf das Diesseits ausgerichtete Gesellschaft, die keine Erwartungen an das Jenseits hatte und deshalb auch keine spirituellen Kulthandlungen kannte, ist aber für das prähistorische Engadin ebenso wenig vorstellbar wie für andere Regionen. Das, was heute Religiosität genannt wird, drückte sich in den Gesellschaften der Ur- und Frühzeit in erster Linie durch gerade solche Handlungen – Feste, Rituale, Opfer, Gebete – aus. Von ihnen werden natürlich nur diejenigen fassbar, die auch Spuren im Boden hinterlassen haben.55

Und solche Spuren existieren durchaus im Engadin: Brandopferplätze, an denen in der Bronze- und Eisenzeit sakrale Zeremonien und Rituale durchgeführt wurden, gab es bei Scuol (Russonch, vielleicht auch Motta Sfondraz) und Ramosch (La Motta, vielleicht auch Fortezza) sowie möglicherweise bei Zernez/Brail (Funtanatschas), Guarda/Giarsun (Patnal) und S-chanf (Botta Striera).56 Anhand der Überreste hat der Bündner Archäologe Jürg Rageth den ungefähren Ablauf dieser Handlungen rekonstruiert: «An bestimmten Tagen des Jahres [fanden] kultische Festivitäten [statt], so z.B. im Frühjahr im Zusammenhang mit dem Anbau von Getreide und andern Feldfrüchten oder im Herbst im Sinne von Erntedankfeiern usw. Dann könnten aber unter dem Jahr auch Bittanlässe stattgefunden haben, so z.B. bei ausserordentlicher Trockenheit […]. Wahrscheinlich fanden an diesen Tagen Prozessionen vom Dorf zum Kultplatz hinauf statt, wobei ein grosser Teil der Dorfgemeinschaft daran teilgenommen haben dürfte. Auf dem Kultplatz wurde wohl ein grosses Feuer entfacht, wobei diverse Zeremonien und Rituale durchgeführt worden sein dürften. Darauf opferte man wohl ein oder mehrere Jungtiere. Das Fleisch der Tiere wurde am Feuer gebraten und im Rahmen der Feierlichkeiten auch verspeist. Dazu goss man auch Wein über ein geweihtes Objekt […] und trank wohl auch Wein oder andere Getränke dazu. Die Knochenreste, insbesondere der Schädel und die Extremitäten der Opfertiere wurden zu Ehren der Götter dem Feuer übergeben.»57 Und weiter: «Neben den meist weiss verbrannten Tierknochen wurden auch Schmuck, Gebrauchsgegenstände des Alltages, aber sicher auch organische Opfer, wie z.B. Früchte, Getreide, eventuell auch Brot usw. als Weihgaben deponiert. – Auf Brandopferplätzen finden sich nicht selten Keramikreste von Henkelkrügen und Trinkgefässen, die wahrscheinlich nach dem Kultmahl […] bewusst zerschlagen und auf dem Kultplatz deponiert wurden.»58 Der Opferritus der Bronze- und Eisenzeit war damit letztlich eine Fortsetzung steinzeitlicher Jägerrituale.59

Holzkohle, Tierknochen und Tonscherben sagen freilich wenig aus über die eigentlichen Inhalte des Glaubens. Genaueren Aufschluss geben könnten Grabfunde, vor allem Körperbestattungen. Solche Entdeckungen sind bisher aber nur aus anderen Teilen Graubündens bekannt.60 Etwas näher kam man dieser weit vorchristlichen Glaubenswelt, als ein deutscher Archäologe 1907 die Quellwasserfassung von St. Moritz-Bad freilegte und dabei Sensationelles entdeckte. Neben zwei vertikal gestellten Röhren aus Lärchenholz und ihren Einfassungen kamen auch verschiedene mittel- und spätbronzezeitliche Objekte zutage: zwei prunkvoll verzierte Schwerter, ein Schwertklingenfragment, ein Dolch und eine Schmucknadel. Sie waren offenbar als Gaben an (eine) übernatürliche Instanz(en) in einem der ausgehöhlten Baumstämme hinterlegt worden.61 Rund 200 Jahre älter noch ist das Bronzebeil, das Spaziergänger 2001 am Innufer auf dem Gemeindegebiet von Ftan fanden. Es wurde, ebenfalls als Weihgabe, schon in der frühen Bronzezeit im Fluss versenkt.62

Diese beiden Funde aus dem Engadin passen gut in das Bild dessen, was über die sakrale Praxis des Versenkens von Waffen in Flüssen, Seen, Quellen und sogar Brunnen während der Bronzezeit bekannt ist.63 Fast alle grossen Flüsse Mitteleuropas haben Funde von Schwertern, Dolchen, Lanzenspitzen und Beilen aufzuweisen. Auch der Rhein bis hinauf nach Graubünden liefert Belege für diesen Brauch, der seinen Höhepunkt in der späten Bronzezeit erreichte, um kurz nach 800 v. Chr. unvermittelt abzubrechen.

Diese Gewässerfunde sind oft von hoher handwerklicher Qualität. Sie wurden in der Regel in unversehrtem Zustand versenkt, was darauf hinweist, dass es sich um Weih- und nicht um Opfergaben handelt (letztere wurden vorsätzlich zerstört, bevor man sie darbrachte, erstere gerade nicht). In jedem Fall handelte es sich bei ihnen um kostbare, symbolbehaftete Objekte. Sie waren Teil eines ritualisierten Tausches, wobei die (materielle) menschliche Gabe die Erwartung einer (immateriellen) göttlichen Gegengabe implizierte oder aber den Dank für eine schon erfolgte Gegengabe darstellte. Das vereinzelte Fundaufkommen und der gute Zustand der Waffen, die man aus den Gewässern und Quellen geborgen hat, lassen am ehesten an Votivgaben (und nicht zum Beispiel an Siegestrophäen) denken: Die Objekte sollten für den Gebenden selbst stehen, ihn also unmittelbar gegenüber der Gottheit repräsentieren.64

Weil schriftliche Zeugnisse, die den Zusammenhang erhellen könnten, fehlen, lassen sich diese Funde nur auf archäologischem Wege deuten.65 Das Versenken von Waffen und Schmuck hatte offenbar situativen Charakter, erfolgte also nicht nach einem religiösen Kalender, sondern immer nur aus gegebenem Anlass. Abgesehen von den Brandopfern, für die sich auch grössere Gruppen zusammenfanden, war die religiöse Praxis in der Bronzezeit eine sehr persönliche Angelegenheit: «Die Begegnung mit den Göttern oder Ahnengeistern scheint individuell erfolgt zu sein und überdies an allen Plätzen, an denen diese in Erscheinung traten. Wasser, ganz gleich welcher Art, scheint ein solcher Ort gewesen zu sein.»66

Auch bei der Mauritiusquelle in St. Moritz-Bad wird es sich um einen Ort von spiritueller Bedeutung gehandelt haben, an dem man von Zeit zu Zeit Kulthandlungen vornahm. Ein Heiligtum im engeren Wortsinn stellte er aber nicht dar.67 Denkbar ist, dass seine Besucherinnen und Besucher der Quellgottheit Dankesgaben für eine erfolgte Heilung darbrachten oder Heilung erbaten. Vielleicht deponierten sie die wertvollen Objekte auch, um ein Versiegen der Quelle zu verhindern.68 Warum aber erbaute man ausgerechnet zu einer Zeit, als jede andere Siedlungsaktivität zwischen Maloja und St. Moritz abnahm, mit grossem Aufwand eine neue Quellfassung? Wollte man die Naturgottheiten besänftigen, eine weitere Verschlechterung des Klimas und damit der Lebensverhältnisse abwenden? Auch in diesem Fall bleibt es wohl vorerst bei der Feststellung, dass vieles vorstellbar, aber nur weniges archäologisch fassbar ist.69

SPUREN DER SPRACHE

Die Sprache der eisenzeitlichen Engadinerinnen und Engadiner ist seit Langem verhallt. In Fragmenten hat sie sich aber bis heute in den Dorfnamen – fast alle sind vorrömischen Ursprungs – und im rätoromanischen Wortschatz der alpinen Lebenswelt erhalten.70Führen wir uns folgendes Idyll vor Augen: An einem heissen Sommertag übertönt nur das Blöken der Schafe (rätorom. baschler, von vorröm. *besiolare), die auf einem grasbewachsenen Hang (vorröm./rätorom. blais) unter einer Arve (rätorom. dschember, von vorröm. *gimberu) Schatten gesucht haben, das Rauschen des Inns (vorröm./rätorom. en). Auch Touristen erhalten diese uralte Sprache am Leben, wenn sie sich zum Apéro in ihren Ferienwohnungen in der Chaunt da Crusch (rätorom. chant/chaunt, von vorröm. canthus: ansteigender Weg) in Zuoz verabreden und Pläne schmieden für einen Skitag auf Celerina-Marguns (rätorom. margun aus bargia, von vorröm. *barica: Alphütte) oder für eine Wanderung ins Val Roseg (vorröm. *rosa: Gletscher, Wildbach, Rinne).71

Ziehen wir nach der Betrachtung von mehr als 3000 Jahren Urund Frühgeschichte eine Zwischenbilanz. Das Engadin beschritt keinen «Sonderweg» in die historische Zeit, ebenso wenig stellte es eine in sich geschlossene «alpine Welt»72 dar. Seine Geschichte ist vom ersten Tag an die einer Verflechtung mit seinen Nachbarregionen und mit dem Alpenvorland im Norden und im Süden: Kontakte verschiedener Intensität, ein Geben und Nehmen von Impulsen, lassen sich auf allen Ebenen – Besiedlung, Wirtschaft, Handel, Sachkultur, religiöse Praktiken – nachweisen. Das prähistorische Engadin war Lebens- und Grenzraum, in zunehmendem Masse aber auch schon Durchgangs- und Begegnungsraum. Schon sehr früh werden dabei Anzeichen für eine unterschiedliche Entwicklung des Ober- und des Unterengadins erkennbar.

Bis hierhin lässt sich die Geschichte des Tals freilich nur als eine Geschichte der longue durée schreiben. Sie ist sozusagen eine Geschichte ohne Einzelakteure und Ereignisse, geprägt durch die Wandlungen des Klimas und, eingebettet darin, durch die langfristigen Strukturen der Besiedlung und Bewirtschaftung. Sie ist ein Meer, das nur Tiefenströmungen hat, keine Wellen. Das änderte sich mit einer strategischen Entscheidung, die kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung mehr als 500 Kilometer weiter im Süden getroffen wurde – in Rom.

ZWISCHEN ROM UND GERMANIEN (15 V. CHR.–536)

BLICK NACH SÜDEN

Der mittlere Alpenbogen kam im zweiten Jahrhundert v. Chr. in das Blickfeld antiker Autoren.73 Der griechische Geschichtsschreiber Polybios (ca. 200–120 v. Chr.) soll einen Alpenübergang erwähnt haben, der durch «rätisches Gebiet» führte, wobei aber unklar ist, ob er damit einen der Bündner Pässe meinte. Dem viel gereisten Geografen und Historiker Strabo (ca. 64 v. Chr.–25 n. Chr.) zufolge bewohnten die Rhaetoi Gebiete beidseits der Alpen, darunter auch die Täler nördlich von Como. In seiner «Geographie» erscheint das Hochgebirge als Heimat übler Räuberhorden, die von hier aus Beutezüge nach Westen und Norden, in die Gebiete keltischer und germanischer Stämme, aber auch nach Süden, in die römisch beherrschte Poebene, unternahmen.74

Aus den bruchstückhaften Informationen, die sich in den Quellen über diese Bergbewohner finden, will sich kein klares Bild zusammensetzen. Waren diese Räter tatsächlich nichts anderes als «verwilderte» Etrusker, wie uns Livius (ca. 59 v. Chr.–17 n. Chr.) und Plinius der Ältere (23/24–79 n. Chr.) versichern?75 Wo lag der Kern ihres Siedlungsgebietes? Waren sie eine einheitliche ethnische Gruppierung, also ein Volk? Oder gab es, was wahrscheinlicher ist, mehrere «rätische» Volksstämme, die kulturell und/oder sprachlich und/oder religiös so eng miteinander verbunden waren, dass sie aus der Fremdperspektive als Einheit erscheinen mussten? Präzision in Bezug auf solche Fragen erwartet man in den antiken Quellen vergebens: Nur wenige Autoren hatten ein tiefergehendes Interesse für die alpinen Volksgruppen, die man für unzivilisiert, unberechenbar und für potenzielle Feinde Roms hielt. So ist es denn kein Wunder, dass die «Räterproblematik» zu den meistdiskutierten Themen der Bündner Geschichte im 20. Jahrhundert gehörte und noch immer nicht abschliessend geklärt ist. Die Details und Wendungen dieser Diskussion tun weiter nichts zur Sache. Festzuhalten ist, dass in den letzten vorchristlichen Jahrzehnten im mittleren Alpenraum ein nichtkeltisches Volk oder eine Gruppe nichtkeltischer Völker lebte, die man in Rom als «Räter» bezeichnete. Zu ihrem Siedlungsgebiet gehörte mit Sicherheit das Unterengadin (Fritzens-Sanzeno-Kultur), wahrscheinlich auch das Oberengadin.76

Die Linie Como–Verona markierte zu dieser Zeit die ungefähre Nordgrenze des römischen Machtbereichs in Italien. Einfälle der Räter in dieses Gebiet – Strabo berichtet von Massakern an Männern, Knaben und schwangeren Frauen –77 konnte die aufstrebende Weltmacht nicht weiter hinnehmen. Nie war die Erinnerung an das «Hannibal-Trauma», die Invasion von 218 v. Chr., ganz verblasst: Nur mit Unterstützung keltischer Bergstämme war den Karthagern dieser Coup gelungen, der Rom an den Rand der Auslöschung gebracht hatte. Auch aus geostrategischer Sicht war ein Zugriff auf die Alpen geboten. Julius Cäsar (100–44 v. Chr.) hatte zwischen 58 und 51 v. Chr. Gallien unter römische Kontrolle bringen können, womit nun auch Britannien und Germanien in greifbarer Nähe lagen. Doch war Roms Herrschaft über die gallischen Provinzen auch mehr als dreissig Jahre später noch nicht gesichert. Zwischen ihnen und der Balkanprovinz Illyricum im Osten klaffte zudem eine gewaltige Lücke. Wollte Kaiser Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.) die neuen Reichsteile im Osten und Nordwesten enger an die italienische Halbinsel anbinden und sich zugleich eine Ausgangsbasis für die Eroberung Germaniens schaffen, so musste er jederzeit Truppen über die zentralen Alpenübergänge und durch das nördliche Alpenvorland verschieben können: «Römischer Herrschaftsanspruch, ein selbstverständliches Überlegenheitsgefühl gegenüber den unzivilisierten Völkerschaften in den Alpen sowie ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis machten den Alpenfeldzug für Rom zu einem gerechten Krieg.»78

Mit der endgültigen Klärung dieser Machtfragen beauftragte Augustus seine beiden Stiefsöhne, den erst 23-jährigen Drusus (38 v. Chr.–9 n. Chr.) und den etwas älteren Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.). Sie erhielten die Gelegenheit, dort zu reüssieren, wo andere gescheitert waren, und sich damit auch politisch zu profilieren. Ihr Angriff erfolgte im Sommer des Jahres 15 v. Chr. Von Verona aus rückte Drusus nordwärts durch das Etschtal nach Südtirol vor. Verschiedene Abteilungen seiner Streitmacht nutzten den Brenner und den Reschenpass auf ihrem Weg in das nördliche Alpenvorland. Die westliche Heeresgruppe unter dem Befehl des Tiberius setzte sich von Gallien aus in Richtung Bodensee in Bewegung und marschierte anschliessend weiter bis an die Donauquellen. Ein dritter, zentraler Vorstoss erfolgte unter der Führung eines namentlich nicht bekannten Unterfeldherren von Mailand oder Como aus. Seine Truppen wurden verstärkt durch Spezialeinheiten wie Schleuderer, Bogenschützen und Pioniere, die man eigens von Legionen in Spanien, Syrien und Nordafrika angefordert hatte. Sie stiessen in das Valchiavenna und das Bergell vor, überquerten (wahrscheinlich) den Septimerpass, erreichten das Oberhalbstein und gelangten von dort aus durch das Alpenrheintal in das Mittelland und an den Bodensee. Auf dem Septimer wurde oberhalb des Passübergangs ein Lager eingerichtet, das mehreren Hundert Soldaten Platz bot. Es sicherte während der Sommermonate die Nachschubrouten nach Norden.79

Dieser Feldzug war kein einheitlicher Vormarsch, sondern ein breit gefächertes Vorrücken vieler Truppenteile. Die römischen Verbände drangen rasch in den Alpenraum ein – in nur einem Sommer, so betont Strabo, sei die Unterwerfung der Bergvölker vollendet worden –80 und durchkämmten die Täler, darunter auch das Engadin.81 Zu grösseren Schlachten kam es dabei nicht, wohl aber zu vielen Scharmützeln: «Wer sich nicht freiwillig ergab, bekam die Übermacht der römischen Kriegsmaschinerie zu spüren: Siedlungen wurden belagert, Fluchtburgen erstürmt, Widerstandsnester ausgehoben, Flüchtige verfolgt.»82 Velleius Paterculus (ca. 19 v. Chr.–ca. 31 n. Chr.) berichtet von einem erbitterten Abwehrkampf der «durch die Natur des Terrains bestens geschützten, an Kämpfern reichen und vor grimmiger Wildheit strotzenden Völkerschaften».83 Sicher war dem kaisertreuen Historiker daran gelegen, den Gegner als besonders entschlossen und die Leistung der römischen Feldherren damit als umso beeindruckender erscheinen zu lassen. Dennoch muss von verlustreichen Kämpfen und einem harten Durchgreifen der Invasoren gegen die Zivilbevölkerung ausgegangen werden.84 Funde von römischen und keltischen beziehungsweise kelto-rätischen Waffen, Wurfgeschossen und Pfeilspitzen, die vor wenigen Jahren in der Crap-Ses-Schlucht, auf halber Strecke zwischen Septimer und Chur, gemacht wurden, weisen darauf hin, dass der Vormarsch der mittleren Heeresgruppe zumindest punktuell auf Widerstand stiess.85

Kelto-rätische Krieger versuchten 15 v. Chr., die römischen Invasoren aufzuhalten: späteisenzeitliche Hellebardenaxt aus dem Gebiet der Crap-Ses-Schlucht zwischen Cunter und Tiefencastel.

Am Ende stand der vollständige Sieg der römischen Militärmacht. Ihre Truppen hielten das Land der Raeti für mehr als zwanzig Jahre besetzt. Zu Steuerzwecken wurden die Bewohner amtlich registriert. Da es einen hohen männlichen Bevölkerungsanteil und damit ein grosses Potenzial für Unruhen gab, so der Geschichtsschreiber Cassius Dio (ca. 163–229 n. Chr.), schafften die Römer die Mehrheit der wehrfähigen Männer ausser Landes und liessen nur so viele zurück, wie es brauchte, um das Land zu bebauen.86 Im Jahr 19 n. Chr. konnte der Zeitzeuge Strabo vermerken, dass sich die besiegten Bergvölker nun schon mehr als dreissig Jahre lang ruhig verhalten und pünktlich ihre Steuern entrichtet hatten.87 Rätien war, so scheint es, reibungslos in den Machtbereich eines Imperiums überführt worden, das sich bald vom Atlantik bis an den Persischen Golf und von Nordengland bis nach Ägypten erstreckte.

All dies – die Planungen, der Feldzug und die Sicherung der neu eroberten Täler – geschah vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Bergklimas. Wie die neuere Forschung nachweisen konnte, begann um 50 v. Chr. eine Periode, die im Oberengadin von deutlich wärmeren Sommertemperaturen geprägt war. Das Invasionsjahr 15 v. Chr. ist als der Anfangspunkt einer langen gemässigten Phase identifiziert worden.88 Diese Klimaverbesserung dürfte die Erfolgsaussichten für die riskante Militäroperation erhöht haben.

ZENTRALE PERIPHERIE: DAS ENGADIN IM RÖMISCHEN IMPERIUM

Unter Kaiser Tiberius (14–37 n. Chr.) wurde das Engadin Teil der neuen Provinz Raetia et Vindelicia, später nur noch Raetia genannt. Sie umfasste die Ostschweiz, Vorarlberg, Tirol und das nördliche Alpenvorland zwischen Inn, Bodensee und Donau. Im 4. Jahrhundert wurde diese mit 80 000 Quadratkilometern recht grosse Provinz in die zwei Teilprovinzen Raetia prima (Hauptort wahrscheinlich erst Bregenz, dann Chur) und Raetia secunda (mit dem Hauptort Augsburg) aufgeteilt und administrativ direkt an Italien angebunden. Das Oberengadin und der grössere Teil des Unterengadins kamen zur südlicher gelegenen Raetia prima. Auch die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers (476) und der Einbezug der Mittel- und Ostalpen in das Ostgotische Reich Theoderichs des Grossen (493–526) änderten nichts an der politischen Orientierung der rätischen Provinzen nach Italien hin. Eine Neuausrichtung nach Norden ergab sich erst, als der fränkische König Theudebert I. (533–548), dessen Machtzentrum die Gebiete um Maas, Mosel und Mittelrhein umfasste, ab 536 die Kontrolle über die Provinz Raetia prima erlangte.89

Aus Roms Perspektive war der Alpenbogen zuerst ein Schutzwall gegen die unzivilisierten Völker des Nordens, dann ein Ärgernis, das seinen imperialen Ansprüchen im Wege stand und deswegen überwunden werden musste. Nach den Feldzügen des Drusus und des Tiberius wurden die Mittelalpen zu einem Durchgangsraum, der seine Funktion im imperialen Machtgefüge zu erfüllen hatte, davon abgesehen aber wenig Aufmerksamkeit verdiente. Dies sollte sich erst nach Beginn der Völkerwanderungszeit im 4. Jahrhundert ändern, als man die rätischen Provinzen in Urkunden und literarischen Texten wieder vermehrt als «Schutzmauern» und «Bollwerke» Italiens beschrieb.90

Für die Herrschenden in Rom erlangte das Engadin nie eine grössere Bedeutung. Obwohl das Hochtal, geografisch gesehen, nahe am Zentrum der römischen Welt lag – näher als so wichtige Reichsteile wie Gallien oder Spanien –, blieb es doch bis zuletzt an ihrer (vertikalen) Peripherie. Die wirtschaftlichen und kulturellen Schwerpunkte der Provinz Raetia lagen im fruchtbareren und dichter besiedelten Alpenvorland mit seinen Zentren Augsburg (Augusta Vindelicum), Kempten (Cambodunum) und Bregenz (Brigantium). In unmittelbarer Nähe der Berge bot nur das breite Bodenseerheintal die Voraussetzungen für eine Gutshofwirtschaft römischen Stils. Weiter rheinaufwärts war allenfalls noch Chur (Curia), eine lebhafte Siedlung (vicus) mit immerhin 700 bis 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern, als Etappenort auf dem Weg über die Pässe interessant.91 Abseits der grossen Transitrouten im Südwesten und Nordosten und weit entfernt von den Legionslagern bei Windisch (Vindonissa) und Wien (Vindobona) gelegen, gehörte das Engadin zu den herrschaftsferneren Gebieten des Imperiums.

Als der englische Reisende William Coxe (1748–1828) im Sommer 1779 in Zuoz Station machte, führte ihn sein Gastgeber, Peter Conradin Constantin von Planta (1742–1822), an den Ort, wo einst, wie dieser versicherte, das Lager des Drusus gestanden hatte. Coxe, als Eton- und Cambridge-Absolvent bestens vertraut mit den Schriften der Antike, war mehr als skeptisch: Die Zuschreibung, so vermutete er, sollte wohl eher dazu dienen, die bescheidenen Überreste – einen Erdhügel und ein paar Gräben – im Glanze des alten Roms älter und ehrwürdiger erscheinen zu lassen, als sie es waren.92 Und tatsächlich: Abgesehen von den Siedlungsresten am Verkehrsknotenpunkt Zernez handelt es sich bei den römischen Funden, die bis heute ans Tageslicht gekommen sind, um verstreute Einzelstücke – Keramikfragmente, Hufschuhe und Münzen –, die sich höchstens als Zeugen eines Transitverkehrs interpretieren lassen.93

KLIMA, LANDSCHAFT UND WIRTSCHAFT

Alp-, Wald- und Landwirtschaft sicherten wie seit jeher die Lebensgrundlage der Menschen im Engadin. Eine immer grössere Rolle spielte nun aber der Warentransport über die Pässe.94 Das sogenannte römerzeitliche Klimaoptimum, das im Bündner Raum schon ab etwa 50 v. Chr. für günstige Bedingungen gesorgt hatte, setzte sich bis zum Beginn des zweiten Jahrhunderts fort.95 Die Alpenübergänge waren ganzjährig passierbar, was den Römern die Festigung ihrer Herrschaft über die neu gewonnenen Berggebiete und deren wirtschaftliche Vernetzung erleichterte.96 Die Sommer waren warm, aber nicht zu trocken, die Gletscher zogen sich zurück, vor allem aber stieg die Baumgrenze an. Damit konnte man bis in höhere Lagen Schafe, Ziegen und Rinder weiden lassen und Getreide anbauen. Im Oberengadin säte man ursprünglich wohl nur die Zweizeilige Gerste aus; sie gedeiht auch in Gegenden mit ärmeren Böden, weniger Niederschlag und kürzeren Vegetationszeiten. Ab der römischen Epoche kam der anspruchslose, winterharte Roggen hinzu.97 Auf dem chronisch überschwemmungsgefährdeten, von dichten Auwäldern bestandenen Talgrund fanden sich hingegen kaum brauchbare Böden. Er wechselte im Fluss der Zeiten immer wieder seine Gestalt und bildete insofern eine eigene Landschaft in der Landschaft. Noch heute tragen viele Orte in unmittelbarer Nähe des Inns die rätoromanischen Worte palüd für Sumpf und isla für Insel im Namen.

Ein halb offenes, mosaikartiges Landschaftsbild stellte von der Jungsteinzeit bis ins frühe Mittelalter den Normalfall im Alpenraum dar: kultivierte und beweidete Zonen wechselten sich mit bewaldeten und kaum genutzten ab. Dies änderte sich erst im Hochmittelalter, als eine intensivere Bewirtschaftung der Böden begann.98 Orte des Alltagslebens waren dorfartig gruppierte Häuser und Gehöfte, die sich innaufwärts bis Zernez in stattlicher Zahl fanden.99 Das Tal war dicht besiedelt, aber offenbar nicht dicht genug, um ein Ausweichen in höhere Lagen nötig zu machen: Anders als in der mittleren und späten Bronzezeit fanden sich oberhalb von etwa 1500 m ü.M. allenfalls noch temporäre Unterkünfte für Reisende und Hirten, doch keine festen Siedlungsplätze mehr.100

Von den innenpolitischen Wirren und äusseren Bedrohungen, die das Römische Reich in diesem Zeitraum erschütterten, blieben die Bewohnerinnen und Bewohner des südwestlichen Teils der Provinz Raetia weitgehend unberührt; fraglos kam es aber während und nach der Eroberung zu Bevölkerungsverlusten, die kurzfristig spürbar waren. Funde von Kleidungsresten in Gräbern in der Umgebung von München legen den Schluss nahe, dass im frühen 1. Jahrhundert kleine Bevölkerungsgruppen die Bündner Alpentäler freiwillig verliessen oder zwangsweise umgesiedelt wurden.101

PÄSSE UND WEGE

In der Frühzeit der römischen Herrschaft war der Septimerpass der wichtigste Übergang zwischen Comer See und Alpenrheintal. Um die Mitte des 1. Jahrhunderts löste ihn die Route über den Maloja- und Julierpass, zu der auch knapp zehn Kilometer Wegstrecke im Oberengadin gehörten, in dieser Funktion ab.102 Grabungen auf dem Julier haben ein römisches Heiligtum aus dem 3. Jahrhundert zutage gebracht, zu dem ursprünglich auch die beiden Säulen aus einheimischem Lavezstein gehörten, die heute beidseits der Strasse stehen.103 Strassenreste oberhalb von Silvaplana und nördlich der Passhöhe deuten auf eine intensive Nutzung des Juliers hin. Der einfache Weg vom heutigen Sils-Föglias über die Ostflanke des Piz Polaschin hinauf ins Juliertal taugte aber, ausser für Fussgänger und Saumtiere, nur für kleinere, einachsige Wagen mit Ochsen- oder Pferdegespannen.104

Drei Tagesreisen innabwärts führte die Via Claudia Augusta über den Reschenpass, Nauders (Inutrium) und Finstermünz knapp am Engadin vorbei.105 Von Drusus noch während des Alpenfeldzuges angelegt, wurde sie von seinem Sohn Claudius (41–54 n. Chr.) auf einer Gesamtstrecke von 500 Kilometern ausgebaut. In den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten entwickelte sie sich zur wichtigsten Verbindung zwischen der Poebene und der Adria im Süden und dem Voralpenraum im Norden, verlor diese Rolle dann aber an die Via Raetia, die weiter östlich über Bozen, den Brenner und Innsbruck führte.106

Der Blick nach Süden in Elias Emmanuel Schaffners «Panorama des Inn-Thales» von 1833.

Die Querverbindung, den «Räterweg» durch das Kerngebiet des Engadins, bauten die Römer nicht aus. Als sie auf dem Malojapass erschienen, war dieser Weg schon uralt. Niemand hatte ihn geplant; unter den Füssen von Generationen war er wie von selbst entstanden. Daraus folgt, dass sein Trassee von der Bronzezeit bis zu seiner Korsettierung im 18. und 19. Jahrhundert unzählige Varianten erlebte: Es wurde immer wieder dort angepasst, wo Erdrutsche, Überschwemmungen, Versumpfungen, Veränderungen im Flusslauf oder im Siedlungsbild dies erforderlich machten.107 Seinen Verlauf zwischen Silvaplana und S-chanf zeigt besonders klar das 1833 entstandene grosse «Panorama des Inn-Thales» von Elias Emanuel Schaffner (1810–1856).

Dieser Weg führte zunächst auf der linken Innseite flussabwärts bis zu der Stelle, an der später die Siedlung La Punt entstand. Er folgte dem Talgrund, lag aber, wo immer möglich, hoch genug, um Reisende auf Abstand zu dem vielarmigen, ungebändigten Fluss zu halten. Auf einem kurzen Stück – heute die Strecke zwischen La Punt und Madulain – verlief der Weg rechts des Flusses, anschliessend wieder links davon bis hinab nach Zernez, wo er zum zweiten Mal die Seite wechselte. Hier, am Kreuzungspunkt mit der Route, die nach Osten über den Ofenpass in das Vinschgau und zur Via Claudia Augusta führte, entstand in der spätrömischen Zeit eine Siedlung, zu der wahrscheinlich auch eine Herberge gehörte.108 Nördlich von Zernez verlief der Weg zunächst weiter entlang des rechten Innufers und passierte die Hügelgruppe von Susch. Ab Lavin-Las Muottas stand auf der rechten Talseite ein Pfad über Tarasp nach Scuol zur Verfügung, der Hauptweg aber überquerte an dieser Stelle erneut den Fluss, stieg über Gonda und Guarda steil an bis nach Bos-cha, um von dort aus, hoch über dem Talboden, Ardez, das Val Tasna, Ftan und Scuol zu erreichen. Er verband die bronze- und eisenzeitliche Höhensiedlung auf der Kuppe Mottata bei Ramosch mit Tschlin und führte schliesslich oberhalb des heutigen Martina aus dem Engadin hinaus.109

Diese Route nutzten Reisende, die zwischen dem Malojapass im Südwesten und der Via Claudia Augusta im Nordosten wechseln mussten. Nicht wenige von ihnen werden in administrativen Angelegenheiten unterwegs gewesen sein: In der westlichen Poebene lag Mailand, dessen politische und wirtschaftliche Bedeutung im Verlauf der Kaiserzeit zunahm und das Diokletian (284–305) wohl auch deswegen 286 zur Residenzstadt erhob. Jenseits der Berge, im nordöstlichen Alpenvorland, lag Augusta Vindelicum, das heutige Augsburg, Provinzhauptstadt und Verkehrsknotenpunkt. Die kürzeste Verbindung zwischen diesen beiden Herrschaftszentren führte durch das Engadin.

HANDEL UND GELDWIRTSCHAFT

Die Konsolidierung der römischen Herrschaft ermöglichte einen Aufschwung des Passhandels. Güteraustausch und Transitverkehr in dieser Region waren aber keineswegs römische Neuerungen. Schon lange, bevor die Alpen zu einem Binnengebirge des Imperiums wurden, hatten Exporte aus dem Land der Räter ihren Weg auf die Märkte des Südens gefunden. Ab etwa 600 v. Chr. hatten die Etrusker in der Poebene und die Griechen an der Adriaküste Fuss gefasst. Beide Volksgruppen hatten Handelsinteressen in den Alpen und ihrem Vorland verfolgt.110 Strabo zählt die Produkte auf, die in den Bergen reichlich vorhanden waren und deshalb gegen Getreide und andere Lebensmittel eingetauscht werden konnten: Harz, Pech, Kienholz, Wachs, Honig und Käse.111