Das Erbe des Tennos - Wieland Wagner - E-Book
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Das Erbe des Tennos E-Book

Wieland Wagner

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Beschreibung

Das faszinierende Porträt eines widersprüchlichen Landes

Wer das moderne Japan verstehen will, stößt unweigerlich auf das geheimnisumwobene japanische Kaiserhaus, die älteste Monarchie der Welt. Keine Institution hat das Land so entscheidend geprägt wie diese oft weltentrückte, über 2600 Jahre alte Dynastie. Zwar übt der Tenno als »Symbol der Nation und der Einheit des Volkes« keine politische Macht mehr aus, aber durch Gesten bewirkt er bisweilen mehr als gewählte Politiker. Doch die Kaiserfamilie kämpft aktuell mit den gleichen Herausforderungen wie auch das übrige 125-Millionen-Volk: der Benachteiligung der Frauen und der voranschreitenden Vergreisung. Wieland Wagner gewährt in diesem Buch einen beeindruckenden Blick hinter die Kulissen des Hofes und zeigt, warum das Kaiserhaus die kulturelle Identität der Nation und zugleich die Widersprüche der japanischen Gesellschaft verkörpert. Dabei lässt er längst vergangene Epochen wieder lebendig werden und zeichnet das Bild eines Landes, das heute – gefangen im Wechselspiel von Fortschritt und Tradition – zutiefst verunsichert in die Zukunft blickt.

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Zum Buch

Das faszinierende Porträt eines widersprüchlichen Landes

Wer das moderne Japan verstehen will, stößt unweigerlich auf das geheimnisumwobene japanische Kaiserhaus, die älteste Monarchie der Welt. Keine Institution hat das Land so entscheidend geprägt wie diese oft weltentrückte, über 2600 Jahre alte Dynastie. Zwar übt der Tenno als »Symbol der Nation und der Einheit des Volkes« keine politische Macht mehr aus, aber durch Gesten bewirkt er bisweilen mehr als gewählte Politiker. Doch die Kaiserfamilie kämpft aktuell mit den gleichen Herausforderungen wie auch das übrige 125-Millionen-Volk: der Benachteiligung der Frauen und der voranschreitenden Vergreisung. Wieland Wagner gewährt in diesem Buch einen beeindruckenden Blick hinter die Kulissen des Hofes und zeigt, warum das Kaiserhaus die kulturelle Identität der Nation und zugleich die Widersprüche der japanischen Gesellschaft verkörpert. Dabei lässt er längst vergangene Epochen wieder lebendig werden und zeichnet das Bild eines Landes, das heute – gefangen im Wechselspiel von Fortschritt und Tradition – zutiefst verunsichert in die Zukunft blickt.

Zum Autor

Wieland Wagner, geboren 1959, studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg, London und Tokio. Seine Dissertation über Japans frühe Expansionspolitik in Ostasien wurde mit dem Gerhard-Ritter-Preis ausgezeichnet. Von 1990 bis 1993 arbeitete Wagner als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Vereinigte Wirtschaftsdienste (VWD) in Tokio. Bis 1995 war er Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seit 1995 berichtet Wagner für den SPIEGEL aus Asien, bis 2004 zunächst mit Sitz in Tokio, anschließend in Shanghai, ab 2010 in Peking, ab 2012 in Neu-Delhi und von 2014 bis 2018 wieder in Tokio. 2018 erschien Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt.

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Wieland Wagner

Das Erbe des Tennos

Die geheimnisvollste Monarchie der Welt und das Ringen um Japans Zukunft

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2023 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co.KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: © plainpicture / Daniel Hischer; Shutterstock / mapman

Reproduktion: Lorenz + Zeller GmbH, Inning a. Ammersee

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30177-4V001

www.dva.de

Inhalt

© Umaporn / stock.adobe.com

Einleitung: »Der Tenno und ich«

I. Der Online-Kaiser

Naruhitos Mahl mit den Göttern

Das Schweigen des Tennos

Die Cyber-Monarchie

Das kaiserliche Machtwort

Kaiserin der Herzen

Der ewige Zweitgeborene

II. Der Auftrag der Sonnengöttin

Mythische Ursprünge

Revolution von oben

Der Tenno und die Zeit der Wirren

Der Weg in die Katastrophe

Hirohito erfindet sich neu

Vermählung mit dem Bürgertum

Sehnsucht nach dem Gottkaisertum

III. Akihito, der Krisentherapeut

Thronwechsel: Die Macht der Rituale

Der kaiserliche Kniefall

»Gemeinsam mit dem Volk«

Der Super-GAU

Das kriegerische Erbe

Akihito kontra Abe

Die Abdankung

IV. Das Leid der Prinzessinnen

»Anpassungsstörung«

Die »negierte« Persönlichkeit

Der unverhoffte Thronerbe

Heirat mit Hindernissen

Flucht aus dem goldenen Käfig

Ein amerikanischer Traum?

Die Seidenraupen-Strategie

Ausblick: Der letzte Kaiser?

Der Wettbewerb um die Thronfolge

Der seidene Faden

Anhang

Danksagung

Schreib- und Zitierweisen

Zeittafel: Das Kaiserhaus und das moderne Japan

Stammbaum: Kaiserliche Linie seit 1867 (vereinfacht)

Anmerkungen

Auswahlbibliografie

Personenregister

Einleitung: »Der Tenno und ich«

© Umaporn / stock.adobe.com

Kaiser Hirohito betrat seine Ehrenloge, er nahm Platz auf einem hohen Lehnstuhl und blickte in die voll besetzte Sumo-Arena in Tokio. Er war 85 Jahre alt, in der Realität wirkte er noch kleiner und greisenhafter als auf Fotos oder im Fernsehen. Mit einem Ruck beugte er seinen schmächtigen Oberkörper vor, offensichtlich, um den Ringkampf besser verfolgen zu können, der gerade im Gange war. In der Mitte der Halle, auf einem Rund aus festgestampftem Lehm, prallten zwei Sumo-Kämpfer aufeinander. Bisweilen sah es aus, als würden sich ihre halb nackten Leiber ineinander verkeilen, für Sekunden verharrten sie regungslos wie eine einzige fleischige Masse – bis es einen Ruck gab und es einem von ihnen schließlich gelang, den anderen aus dem Ring zu hieven. Der Verlierer taumelte den johlenden Zuschauern vor die Füße; der Sieger verneigte sich würdevoll.

Der Kaiser applaudierte in seiner Loge. Dazu beugte er sich wieder leicht nach vorn, reckte die Hände fast über den Kopf und schlug sie mit kurzen, zuckenden Bewegungen aufeinander. Dann schaute er sich den nächsten Zweikampf an.

Das war an einem schwülheißen Sonntag im September 1986. Neben mir saß ein befreundeter japanischer Historiker; er hatte die hoch begehrten Tickets für die Sumo-Arena Wochen vorher ergattert und mich eingeladen. Es war der erste Sumo-Wettkampf, den ich in Tokio erlebte. Und es war das erste Mal, dass ich den Kaiser aus der Nähe sah, schräg von der Seite, auf gleicher Höhe. Bisweilen ertappte ich mich dabei, dass ich ihn fast aufmerksamer beobachtete als die Sumo-Ringer.

© The Asahi Shimbun / Getty Images

Kaiser Hirohito beim Sumo-Ringkampf. Der kulturell bedeutsame Kampfsport ist eng mit der Monarchie verbunden.

Ich lebte damals schon seit über einem Jahr in Tokio, ich beherrschte die Landessprache in Wort und Schrift, doch je tiefer ich in die japanische Kultur eintauchte, desto rätselhafter kam mir vieles vor. Ich war Doktorand der Geschichte und forschte über Japans frühe Außenpolitik ab Mitte des 19. Jahrhunderts – das war die Zeit, in der Japan sich gegenüber der Welt öffnete, nach über 200 Jahren der sogenannten Abschließung, als Reaktion auf die Drohgebärden amerikanischer Kanonenboote. Hirohitos Großvater, der »Meiji«-Kaiser, hatte in jener Zeit eine herausragende Rolle gespielt, er begegnete mir häufig in historischen Abhandlungen und Dokumenten. Er diente der heimischen Machtelite, der Kriegerkaste der Samurai, als Symbol, um die innerlich zerrissene und von außen bedrohte Nation zu einen und aufzurüsten – ideologisch, wirtschaftlich und militärisch. Die damaligen Staatsmänner holten den erst 15-jährigen Monarchen aus Kyoto, der verschlafenen Kaiserstadt, in das politische Zentrum nach Tokio.

Der Tenno, wie der Kaiser in Japan genannt wird – auf Deutsch: der »Erhabene des Himmels« oder der »Herrscher des Himmels« –, war politisch eine Marionette. Aber seine Institution, die Monarchie, war seit jeher ein wirksames Instrument in den Händen der politisch Mächtigen.

Das Kaiserhaus ist die älteste Dynastie der Welt, und auch die geheimnisvollste: Heimischen Mythen zufolge wurde sie vor über 2680 Jahren gegründet. Der Tenno stammt angeblich von der Sonnengöttin Amaterasu ab. Im Zuge der Öffnung des Landes Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er von den politischen Führern gleichsam noch einmal neu entdeckt, er sollte die Nation spirituell zusammenschweißen.

Im Namen des Tennos überzog das aufstrebende Japan das übrige Asien dann mit zahlreichen Kriegen. Die konkreten Anlässe waren jeweils verschieden, aber eines hatten diese Kriege gemeinsam: Sie dienten der Obrigkeit stets auch dazu, von inneren Spannungen abzulenken, die die rasende Modernisierung in der zutiefst traditionellen Gesellschaft hervorgerufen hatte. Den Höhepunkt Japans militärischer Aufholjagd bildete am 7. Dezember 1941 dann der Überraschungsangriff auf Pearl Harbor, den Stützpunkt der amerikanischen Pazifikflotte in Hawaii. Damit begann der Zweite Weltkrieg in Asien.

Und Tenno Hirohito, der mir hier in der lärmenden Sumo-Halle schräg gegenübersaß, hatte den Befehl zu diesem Angriff erteilt, er war aktiv beteiligt gewesen an seiner strategischen Planung. Japan war damals aufgepeitscht vom Nationalismus. Der Kaiser wurde als Gott verehrt, Millionen Untertanen zogen für ihn in die Schlachten. Am Ende musste er jedoch die demütigende Niederlage des Kaiserreiches verkünden, in einer legendären Radioansprache vom 15. August 1945. Ein Jahr später entsagte er auf Druck der amerikanischen Besatzer de facto seiner Göttlichkeit.

Um sein eigenes Überleben und das der Monarchie zu sichern, blieb Hirohito damals nichts anderes übrig, als eine demokratische und pazifistische Verfassung zu akzeptieren, die Japan von den USA praktisch diktiert wurde. Der übergroße Tenno war darin zum »Symbol des Staates und der Einheit des Volkes« geschrumpft.

Und nun, über viereinhalb Jahrzehnte später, saß der einstige Gott immer noch auf dem sogenannten Chrysanthementhron. Er war zu seiner Zeit der am längsten amtierende Monarch. Nur die britische Königin Elizabeth II., die 2022 ihr 70. Thronjubiläum feierte und einige Monate danach verstarb, sollte seinen Rekord um eine Dekade übertreffen. In den 1980er-Jahren wirkte Hirohito wie das Überbleibsel einer vergangenen, vergessenen Epoche. Doch der Eindruck täuschte. Denn er repräsentierte ein Land, das gerade wieder einmal dabei war, die Welt anzugreifen, diesmal allerdings auf dem Feld der Wirtschaft. Und das hatte nicht zuletzt mit strategischen Weichenstellungen zu tun, an denen Hirohito auch nach dem Krieg noch beteiligt gewesen war – und zwar viel aktiver, als das von den Landsleuten seinerzeit wahrgenommen wurde. Und nun, Mitte der Achtzigerjahre, befand Japan sich auf dem Höhepunkt seines Wiederaufstiegs: Es war die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und damit die »Nummer eins« in Asien.

Heimische Firmen eroberten die Weltmärkte mit Videorekordern, Halbleitern, Computern; im Ausland kauften sie Hotels, Filmstudios und Fabriken. Das Land schien im Geld zu schwimmen. Auch meine japanischen Kommilitonen an der Uni spekulierten nebenbei an der Tokioter Aktienbörse. Ich hörte ihren Gesprächen nur staunend zu. Mein Stipendium reichte damals kaum, um die Miete für meine Wohnung zu bezahlen.

Allerlei Fragen schossen mir durch den Kopf, als ich nun den greisen Tenno beobachtete. Ich kam aus der Bundesrepublik Deutschland, einem Land, das – wenn auch mit erheblicher Verzögerung – daranging, seine jüngere Vergangenheit aufzuarbeiten. Im Jahr zuvor hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa erklärt, die deutsche Kapitulation am 8. Mai 1945 sei ein »Tag der Befreiung« gewesen. In Japan spürte ich dagegen eine andere Stimmung. Hier sprach man verschämt vom »Kriegsende«, wenn die Nation jährlich am 15. August der Niederlage gedachte. Der Tenno und seine tiefe persönliche Verstrickung in den Krieg waren ein Thema, das öffentlich nicht diskutiert wurde. Hirohito hatte sich nach 1945 als Friedenskaiser neu erfunden, und damit schien das düstere Kapitel für die Japanerinnen und Japaner offiziell abgeschlossen.

Der Zweite Weltkrieg war für viele im Land nur eine Episode in einer Ewigkeit, die nach einem eigenen, japanischen Zeitmaß berechnet wurde. Der Kaiser als Institution überdauerte praktisch alle historischen Brüche und Zäsuren, er verkörperte die Identität des Inselvolkes, seine mythischen Ursprünge und eben all das, was es heißt, japanisch zu sein. Das Erbe des Tennos prägt so auch die Gegenwart und das Ringen um Japans Zukunft.

Was war dagegen schon die von den amerikanischen Siegern aufgezwungene und von der japanischen Obrigkeit auffallend lustlos verwaltete Demokratie? Sie ähnelte einem jener kunstvoll verpackten Mitbringsel, wie man sie in Japan bei privaten Einladungen überreicht: Die Gastgeber bedanken sich höflich, aber packen das Geschenk in Anwesenheit des Gastes nicht aus. Auf diese Weise wahrt man gegenseitig das Gesicht, falls das Geschenk nicht den Erwartungen entspricht.

Der japanische Kaiser ist kein normales Staatsoberhaupt. Er verkörpert eine Idee, er ist die Summe dessen, was die Japanerinnen und Japaner in ihm sehen und sehen wollen. Und zu dieser Vielschichtigkeit eines lebenden Symbols gehörte eben auch, dass der greise Hirohito, der mit seiner runden Brille auf mich wirkte wie der sprichwörtliche zerstreute Professor, sich fast schon überschwänglich für Sumo-Ringer begeisterte. Das war weniger merkwürdig, als es mir auf den ersten Blick vorkam, tatsächlich gehörte es zum Job eines Tennos: Schon im 8. Jahrhundert fanden am Kaiserhof Sumo-Wettbewerbe statt. Es ging dabei stets um mehr als Sport und Unterhaltung. Die Rituale der Sumo-Ringer stammen aus dem heimischen »Shinto«, dem »Weg der Götter« – dabei handelt es sich um eine Art Naturreligion. Die Kämpfe dienten ursprünglich dazu, reiche Ernten zu erbitten und die Gottheiten zu besänftigen. Und so besitzen das Kaiserhaus und der Kampfsport Sumo gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln. Denn der Tenno übt neben seiner Rolle als »Symbol des Staates« auch die Funktion des ranghöchsten Shinto-Priesters aus. An einem eigenen Shinto-Schrein auf seinem Palastgrundstück in Tokio betet er für Frieden und Wohlstand des Landes – gemäß der Nachkriegsverfassung tut er dies heutzutage allerdings nur noch privat.

Japan verwirrt westliche Beobachter immer wieder durch krasse Widersprüche. Je intensiver man sich mit dem Land beschäftigt, desto mehr Fragen wirft es auf: Das sture Beharren auf der Tradition prägt den Alltag ebenso wie die hemmungslose Besessenheit mit dem Fortschritt. Das konnte ich auch in meiner Nachbarschaft in Tokio beobachten, die sich während meines Studienaufenthalts rasend schnell veränderte: Morgens, wenn ich zur Uni ging, sah ich oft, wie Bulldozer begannen, einige der unzähligen alten Holzhäuser abzureißen. Abends, auf dem Nachhauseweg, waren da meist nur noch leer geräumte Flächen. Und schon einige Tage später wuchsen neue Gebäude in die Höhe und füllten die Baulücken.

Bei allem Wandel spürt man aber stets auch, dass Japan eine Insel ist und eine kulturelle Welt für sich bleibt. Darin unterscheidet es sich insbesondere vom Nachbarn China, der Volksrepublik, die in der Kulturrevolution große Teile ihrer Geschichte mutwillig zerstört hat, und zwar nicht nur Statuen und Baudenkmäler, sondern auch das dazugehörige historische Bewusstsein. Chinesische Städte sehen heutzutage fast alle gleich entseelt aus, erst abgerissen und dann wiederaufgebaut von Funktionären einer Partei, die sich kommunistisch nennt, aber mit staatskapitalistischen Methoden herrscht.

Dagegen hat Japan die eigene Kultur trotz aller Modernisierung bewahrt. Und je mehr ich in den folgenden Jahren versuchte, diese äußerlich verwestlichte, innerlich aber oft noch geradezu altertümliche Gesellschaft zu begreifen, desto häufiger stieß ich auf das Kaiserhaus, seine Geschichte und seine zentrale Bedeutung für Japan. In dieser Institution bewahrt sich – sozusagen in Reinkultur – vieles von dem, was Japan zu Japan macht.

Mir wurde klar: Wenn ich Japan und seine Gesellschaft verstehen wollte, musste ich versuchen, das Kaiserhaus zu verstehen. Das Kaiserhaus bildet die einzigartige Kulisse für die Geschichte, die dieses Buch erzählen will. Sie hat mich dann auch später als Asien-Korrespondent für den SPIEGEL stets fasziniert. Die folgenden Seiten handeln davon, wie Japan, eine stark ritualisierte Gesellschaft, gerade auch dank des Kaiserhauses mit den Krisen und Katastrophen der Gegenwart fertigwird. Der Tenno hält das Land zusammen. Er ist das bedeutsamste Bindeglied dieser Nation, die auf den ersten Blick oft viel geschlossener wirkt als westliche Gesellschaften.

Nachdem Tenno Hirohito 1946 seiner Göttlichkeit entsagen musste, fiel Japan zwar in ein spirituelles Vakuum, aber Wirtschaftswachstum und Massenkonsum wurden praktisch zu Ersatzreligionen. Doch auch in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung wirkte und wirkt der jeweilige Kaiser oft noch als geistiger Pol. Das vermag er weniger durch große Reden, wie westliche Staatsoberhäupter sie gern halten, sondern durch bescheidene, symbolträchtige Gesten, wie sie zum Beispiel der ehemalige Kaiser Akihito wagte, als er 1995 vor Erdbebenopfern in Kobe niederkniete. Oder wie der derzeitige Tenno Naruhito sie ausführte, als er 2021 indirekt und behutsam seine Besorgnis darüber signalisierte, dass die heiß umstrittenen Olympischen Spiele von Tokio inmitten der Coronapandemie stattfanden. Wie gut der Tenno daran tat, auf Distanz zu den Organisatoren der Spiele zu gehen, zeigte sich später dann auch aus anderem Grund: Die Staatsanwaltschaft in Tokio ermittelte gegen zahlreiche Beteiligte wegen des Verdachts auf Korruption.

Der Tenno, so machtlos er auch ist, kann durchaus ein moralisches Gegengewicht bilden zu einer politischen Kultur, in der kaum um Ideen gestritten wird, sondern vor allem um die Verteilung finanzieller und wirtschaftlicher Pfründe. Zugleich lässt sich aber auch eine andere Entwicklung beobachten: Das Kaiserhaus ist mehr und mehr dabei, seine Funktion als nationaler Integrationsfaktor und gemeinschaftsstiftendes Element einzubüßen. Das Attentat auf den früheren Premier Shinzo Abe, das am 8. Juli 2022 Japan und die übrige Welt schockierte, ist ein indirekter Beleg dafür. Der Mord lässt sich auch mit der Hoffnungslosigkeit erklären, unter der viele Menschen in Japan leiden. Geschäftstüchtige Sekten nutzen die wachsenden Ängste der Bürgerinnen und Bürger um die Zukunft aus; sie versuchen, die Lücke zu füllen, die der Tenno nach dem Krieg hinterließ, indem er sich praktisch zum normalen Menschen erklärte. Gegen den Einfluss eines dieser Kulte, den japanischen Ableger der südkoreanischen Moon-Sekte, lehnte sich Abes mutmaßlicher Attentäter auf. Seine Tat ist selbstverständlich durch nichts zu rechtfertigen. Aber sie wirft ein Licht auf die Kehrseite einer Gesellschaft, die hohen Wert auf kollektive Harmonie legt und deshalb Einzelne oft ausgrenzt und in die Verzweiflung treibt.

Japan wandelt sich, auf vielen Ebenen bröckelt der traditionelle Zusammenhalt. Man kann diese Entwicklung positiv deuten – als Zeichen wachsender Vielfalt. Oder negativ – als sich vertiefende gesellschaftliche Spaltung. So oder so stellt sich die Frage: Wie lange kann der heutige Kaiser die japanische Gesellschaft mit seiner Institution noch zusammenhalten?

© Prisma by Dukas / Universal Images Group / Getty Images

»Nijubashi«, die ikonische Brücke, die zum Kaiserpalast führt. Sie bildet den Hauptzugang zu dem grün bewachsenen Areal mitten in Tokio.

Der Tenno lebt auf dem Palastgrundstück mitten in Tokio, in einem dicht bewachsenen Grün, umgeben von Wassergräben und Mauern. Der Hof erscheint als eine exotische Welt für sich. Je mehr man jedoch über dieses spezielle Biotop erfährt, desto deutlicher wird: Der Kaiser und seine Familie ringen mit ähnlichen, oft sehr alltäglichen Herausforderungen wie die übrige Gesellschaft: der Vergreisung der Bevölkerung, der Diskriminierung von Frauen und dem zunehmenden Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Auch Hofadlige sind Produkte ihrer Zeit – nur mit einem Unterschied, dass sie zusätzlich mit dem Widerspruch fertigwerden müssen, der zwischen der musealen Aura des Hofes und der modernen Außenwelt klafft.

Man kann die Kaiserfamilie mit einer seltenen Art vergleichen, denn auch sie ist vom Aussterben bedroht, im wahrsten Sinne des Wortes. Dem Tenno wird das blaublütige Personal knapp, es wird nicht genügend Nachwuchs geboren. Ob die Monarchie in ihrer gegenwärtigen Form überlebt, dürfte davon abhängen, ob Japan sich dazu durchringt, die weibliche Thronfolge einzuführen. Konservative Politiker widersetzen sich einer solchen Reform. Hinter den Kulissen ist in Tokio schon längst ein Machtkampf im Gange. Dabei geht es nicht nur um das Kaiserhaus und darum, ob Frauen auf den Thron dürfen oder ob dieses Recht weiter ausschließlich Männern vorbehalten bleiben soll. Es geht auch darum, wie Japan sich grundsätzlich begreift, was für eine Gesellschaft es überhaupt sein will.

Als Korrespondent habe ich über zahlreiche Ereignisse berichtet, von denen dieses Buch handelt – eben über die Nachwuchssorgen bei Hof, aber auch über die Abdankung von Tenno Akihito und über den Neubeginn unter seinem Sohn Naruhito. In jüngster Zeit habe ich, oft staunend, verfolgt, wie die Debatte über die Heirat von Prinzessin Mako die Gemüter in Japan erhitzt hat. Die Nichte des heutigen Kaisers beharrte auf ihrer Liebe zu ihrem bürgerlichen Studienfreund – gegen alle Widerstände des Hofes und der Öffentlichkeit. Damit stürzte sie das Kaiserhaus in eine Krise, die tief reicht und unterschwellig fortwirkt. Hinter der jahrelangen Aufregung um Mako verbarg sich ein Konflikt, der auch die übrige Gesellschaft immer öfter entzweit: der Konflikt zwischen dem Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung, der gerade jüngere Japanerinnen und Japaner zunehmend antreibt – und den Ansprüchen, die eine oft noch traditionell eingestellte Umgebung erhebt.

Auch deshalb beginnt dieses Buch in der Gegenwart, mit Naruhito, dem 126. Kaiser. Er sitzt seit 2019 auf dem Thron. Er begann seine Regentschaft mit Elan und gab sich volksnah, um seine Institution relevant zu halten und modern erscheinen zu lassen. Doch dann bremste ihn die Coronapandemie aus und machte ihn zeitweise fast zu einem Gefangenen hinter den Mauern des Palastes. Noch 2022 verzichtete Naruhito auf den traditionellen Urlaub mit seiner Familie in Nasu, der kaiserlichen Sommerresidenz nördlich von Tokio. Erst im Herbst des Jahres wagte er sich erstmals seit Beginn der Pandemie wieder aus Tokio heraus Er reiste zur Trauerfeier für die britische Königin Elizabeth II. und machte damit zugleich eine Ausnahme von dem in Japan geltenden Brauch, dass ein Tenno nicht an Trauerfeiern teilnimmt. Danach besuchte er auch wieder einzelne Regionen seines Landes, obschon er dabei extrem vorsichtig blieb. Mitte März 2023, als die Regierung in Tokio ihre Empfehlung zum Tragen von Masken fast vollständig aufhob, trug Naruhito sie zunächst weiter. Die durch die Coronakrise erzwungene Unsichtbarkeit des Tennos kam einigen konservativen Politikern durchaus gelegen. Denn sie sähen es grundsätzlich gerne, wenn der Tenno sich stärker auf seine höfischen Pflichten beschränken würde. Ein Kaiser, der seinen Landsleuten unerreichbar weit entrückt ist, lässt sich leichter für politische Zwecke manipulieren, ähnlich wie es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der japanischen Politik üblich war.

Der unfreiwillige Rückzug des Kaisers in den Palast lenkte die Aufmerksamkeit allerdings auch verstärkt darauf, was er dort eigentlich so macht und was in den folgenden Kapiteln beschrieben werden soll. Es ist eine Welt für sich, die da mitten in Tokio existiert, in einer der modernsten Städte der Welt. Viele der kultischen Handlungen, die der Tenno vollführt, gehen zurück auf uralte höfische Traditionen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das jährliche Vortragen von Gedichten unter kaiserlicher Schirmherrschaft, ein Ritual, das an kirchliche Liturgien erinnert. Der Kaiser selbst spricht dabei kein Wort.

Der Tenno darf sich politisch nicht äußern, auch nicht über die Zukunft der eigenen Institution, der Monarchie. Aber dafür kommuniziert er eben mit symbolischen Gesten. Neuerdings schiebt er beispielsweise seine Tochter Aiko auffällig stark in den Vordergrund. Viele Landsleute sähen die Prinzessin gerne als künftige Kaiserin – wenn die Politik sich denn bewegte und die weibliche Thronfolge einführte.

© REUTERS / Handout / picture alliance

Tenno Naruhito, Kaiserin Masako und Tochter Aiko mit Kokons aus der kaiserlichen Seidenraupenzucht.

Eine Eigenschaft des Kaiserhauses – und das stellte auch eine Herausforderung beim Schreiben dieses Buches dar – besteht darin, dass sich Gegenwart und Geschichte nie ganz trennen lassen. Fast alles, was der Tenno und die Mitglieder seiner Familie sagen oder tun – oder gerade nicht sagen oder tun –, kann man nur einigermaßen verstehen, wenn man sich auf eine Zeitreise einlässt, die zu den mythischen Anfängen der Dynastie zurückführt. Sie startet im zweiten Kapitel mit der kaiserlichen Urahnin, der Sonnengöttin Amaterasu, und endet im selben Kapitel mit Hirohito, dem einstigen Kriegskaiser, den ich beim Sumo erlebte.

Hirohito starb Anfang 1989. Seine Ägide trug ironischerweise den Namen »Showa« – »Leuchtender Friede«. Das Ende dieser Ära fiel mit dem Beginn von Japans wirtschaftlichem Abstieg zusammen: Ende 1989 fing die sogenannte »Bubble«, die überhitzte Konjunktur auf den Aktien- und Immobilienmärkten, an zu platzen. Dieses zeitliche Zusammentreffen war natürlich ein Zufall – so wie es auch ein Zufall war, dass die dann folgende Ära von Hirohitos Sohn, Kaiser Akihito, von ungewöhnlich vielen Krisen und Katastrophen geprägt und auf die Probe gestellt wurde. Man denke nur an die Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011, ausgelöst durch ein verheerendes Erdbeben und den folgenden Tsunami, der weite Teile Nordostjapans verwüstete und rund 20 000 Menschen das Leben kostete. In jenen Tagen des kollektiven Traumas war es Tenno Akihito, der den Landsleuten Mut zusprach. Gleichzeitig sah Akihito sich als Hüter der pazifistischen Verfassung. Im Rahmen seiner eng umrissenen Kompetenzen stemmte er sich Bestrebungen entgegen, die Nachkriegsdemokratie zurückzudrehen. Von diesem anfangs oft unterschätzten, dann aber höchst verehrten Kaiser handelt das dritte Kapitel.

Das vierte und letzte Kapitel erzählt vom traurigen Schicksal der Frauen am Hof. Es beginnt mit Masako, der heutigen Kaisergattin, die aus dem Bürgertum stammt und vor ihrer Einheirat in den Hof eine Karriere als Diplomatin begonnen hatte. In ihrer Zeit als Kronprinzessin wurde sie gemobbt, weil sie der Nation nicht den ersehnten männlichen Thronfolger schenkte. Darüber wurde sie seelisch krank. Bis heute ist sie nicht vollständig genesen, ihr Zustand wird vom Hof vieldeutig als »Anpassungsstörung« umschrieben. Das Kapitel endet mit Mako, ebenjener jungen Prinzessin, die vom Volk angefeindet wurde, weil sie darauf beharrte, ihren bürgerlichen Freund zu heiraten und mit ihm in New York zu leben.

Makos Schicksal wirft auch Fragen für die Zukunft der Monarchie auf: Wird ihr jüngerer Bruder, der mögliche künftige Thronfolger, Hisahito, eine Partnerin finden, die bereit ist, in die frauenfeindliche Welt des Hofes einzuheiraten? Mit einem Ausblick auf das vermutlich ganz andere Japan, das es unter einem Tenno Hisahito geben könnte, endet dieses Buch.

Wer über das japanische Kaiserhaus schreibt, stößt auf eine unüberwindbare Hürde: Der Tenno ist kein Chef einer normalen Behörde oder einer Firma, den ein Journalist einfach anrufen und zum Gespräch bitten könnte. Der Tenno gewährt keine Interviews. Manchmal äußert er sich zwar auf Pressekonferenzen, beispielsweise aus Anlass seines Geburtstags. Doch das sind sozusagen Begegnungen der dritten Art. Der Tenno antwortet dann dem Club der beim Kaiserlichen Hofamt exklusiv akkreditierten Reporter, die für große heimische Zeitungen und Fernsehsender arbeiten. Ihre Fragen müssen sie vorher einreichen.

© Kurita KAKU / Gamma-Rapho / Getty Images

Kaiserliche Familie zu Zeiten von Tenno Akihito (Mitte) mit Masako, Naruhito, Michiko, Akishino, Hisahito, Kiko (von links). Dahinter: Mako, Aiko, Kako.

Dazu muss man wissen: Fast alle japanischen Institutionen – von der Polizei über die Wirtschaftsverbände bis eben zum Kaiserhaus – haben eigene Reporterclubs. Die Journalisten arbeiten mit den Beamten, Politikern oder Wirtschaftsbossen, über die sie berichten, meist unter demselben Dach. Auf diese Weise bekommen sie vieles mit, auch vieles, worüber sie aus Rücksicht auf ihre Quellen nicht berichten. Einigen Kollegen und Kolleginnen des Hofreporter-Clubs, die ich über die Jahre kennenlernte, verdanke ich wertvolle Hinweise. Und über einige andere hätte ich am liebsten Geschichten geschrieben. Denn in ihrer oft devoten Haltung wirken sie mitunter fast höfischer als die Höflinge, über die sie berichten. Gleichwohl: Manchmal sagen der Tenno und die Prinzen und Prinzessinnen bei diesen ritualisierten Pressekonferenzen Dinge, die ganz Japan aufhorchen lassen – das zeigte sich eindrucksvoll, als der damalige Kronprinz Naruhito, der heutige Tenno, seine Frau Masako gegen das Mobbing durch Hofbeamte in Schutz nahm. Die Abschriften der meisten höfischen Pressekonferenzen, Verlautbarungen, aber auch Videoaufzeichnungen und viele andere wertvolle Informationen kann man auf der Webseite des Kaiserlichen Hofamtes abrufen; von diesem Quellenfundus hat auch meine Recherche profitiert. 1

Aber es ändert nichts: Man kann die kaiserliche Familie nicht in ihren Gemächern beobachten, sondern nur bei öffentlichen Auftritten, wie die meisten Japanerinnen und Japaner eben auch. Einmal hatte ich das Glück, den damaligen Kronprinzen Naruhito und seine Frau Masako aus wenigen Metern Entfernung zu sehen, als sie die Olympischen Winterspiele 1998 in Nagano besuchten. Ein anderes Mal kam ich Tenno Akihito und Kaiserin Michiko unerwartet nahe, als sie 2009 auf dem Palastgrundstück einem kleinen Blaskonzert zu ihrem 50. Hochzeitstag lauschten.

Um die Distanz zu den handelnden Personen zumindest ein bisschen zu überbrücken, recherchierte ich frühzeitig und umfangreich im Umfeld des Hofes; ich traf andere Adlige, ehemalige Schulfreunde des Kaisers sowie Hofbeamte. Manche von ihnen sind inzwischen verstorben. Im Herbst 1999 gelang es mir, Prinz Takamado, den Cousin des damaligen Tennos Akihito, zu interviewen. Seine Kaiserliche Hoheit, wie ich ihn anredete, empfing mich in seiner Residenz im Tokioter Stadtteil Akasaka, in einem streng bewachten Areal, in dem auch der Kronprinz und andere Verwandte des Kaisers noch heute ihre Palais haben. Ein Butler servierte Kaffee und Sahnetörtchen. Dann waren wir allein, der Prinz und ich. Wir plauderten zunächst über dies und jenes, und schließlich fragte er mich höflich, ob ich mir nicht Notizen machen wolle, was ich natürlich tat.

Takamado war damals 44 Jahre alt, er war die Nummer sieben in der Thronfolge, und im Gegensatz zum Kronprinzen und zum Tenno lebte er relativ frei. Gleichwohl war ich erstaunt, wie offenherzig er sich auch zu kritischen Fragen äußerte, insbesondere über den Umgang des Kaiserhauses mit Japans Kriegsvergangenheit. 2 Ich hoffte, diesen freundlichen und weltoffenen Prinzen noch öfter zu treffen, doch drei Jahre später verstarb er plötzlich und viel zu jung. Er war beim Squash-Training in der kanadischen Botschaft in Tokio zusammengebrochen.

Im Lauf der Zeit habe ich noch einige Eingeweihte aus dem Umfeld des Hofes getroffen, die mir halfen, das Kaiserhaus und seine Rolle für Japan besser einzuordnen: Der Journalist Akira Hashimoto, ein einstiger Schulkamerad des damaligen Kaisers Akihito, erzählte mir eine Geschichte, die ich zwar schon kannte, aber noch nie von einem Beteiligten gehört hatte: Sie handelte davon, wie der Tenno, Hashimoto und andere Mitschüler einst einen unerlaubten Ausflug auf die Ginza, das Vergnügungsviertel Tokios, unternommen hatten. Hashimoto pflegte nach wie vor die Freundschaft zum Kaiser. Er berichtete mir auch, wie rechte Politiker einst eine Korea-Reise von Akihito verhindert hätten – Akihito war damals noch der Kronprinz – und wie äußerst vorsichtig er in politischen Fragen agieren müsse. Ein weiterer langjähriger Wegbegleiter des Ex-Tennos empfing mich bei sich zu Hause im vornehmen Tokioter Stadtteil Jiyugaoka: Mototsugu Akashi war 90 Jahre alt, er beschrieb lebhaft, wie er und Akihito sich einst beim Reitsport vergnügten. Später, als Manager beim Autokonzern Nissan, führte Akashi dann die streng geheime Mission aus, einen Leichenwagen für Kaiser Hirohito bauen zu lassen – noch zu dessen Lebzeiten. Indes war die Freundschaft von Akashi und Akihito bei unserem Treffen getrübt: Akashi, ein eingefleischter Monarchist, nahm dem Ex-Kaiser übel, dass dieser die Prinzen und Prinzessinnen nicht konsequent zum Selbstverzicht erzogen habe. In diesem Versäumnis sah er die Hauptursache für den Wirbel um Mako, die junge Prinzessin, die darauf bestanden hatte, ihren bürgerlichen Freund zu heiraten.

Mit Minoru Hamao, einem ehemaligen Hauslehrer des heutigen Tennos, verabredete ich mich an einem Sonntagabend vor Jahren in Tokio. Er ging bereits am Stock und war für unser Treffen eigens von seinem Alterssitz auf dem Lande in die Hauptstadt gekommen. Von ihm erfuhr ich, wie unfrei die kaiserliche Familie in Wahrheit lebt. Im Alltag würden sie von den Beamten des Kaiserlichen Hofamtes gegängelt, erzählte er: »Sie verhindern alles Neue, sie klammern sich an Präzedenzfälle.« Nachdem Prinzessin Masako, die heutige Kaiserin, bei ihrer Hochzeits-Pressekonferenz einige Sekunden länger gesprochen habe als der Kronprinz, sei sie dafür intern heftig kritisiert worden.

Allerdings gab es bei Hof auch Beamte, die sich für eine größere Volksnähe des Kaiserhauses einsetzten. Einer hieß Isao Abe, ein anderer Yoshio Karita, beide dienten eine Zeit lang als Zeremonienmeister. Der eine empfing mich in einem Tokioter Hotel, der andere im Kaiserlichen Hofamt. Wertvolle Einblicke über höfische Gebräuche und Rituale gewährte man mir auch im Kasumi Kaikan, einem exklusiven Club in Tokio, in dem sich ehemalige Adlige und deren Nachkommen treffen. 3 Die Mitglieder verloren ihre Adelsprivilegien nach dem Krieg. Aber sie halten dem Kaiserhaus weiterhin die Treue und helfen mit ihrem Wissen, höfisches Brauchtum zu bewahren – beispielsweise beim Kemari, einem Fußballspiel, das einst von Aristokraten gespielt wurde.

Ein ungewöhnlich schillernder Abkömmling des einstigen Hofadels ist Tsuneyasu Takeda. Er ist ein Ururenkel des »Meiji«-Tennos und erläuterte mir im Frühjahr 2023 in seinem Tokioter Büro seine konservativen Vorstellungen über die Zukunft des Kaiserhauses. Er lehnt Forderungen ab, den Nachwuchsmangel bei Hof durch Einführung der weiblichen Thronfolge zu lösen. Er plädiert vielmehr dafür, männlichen Nachkommen des Ex-Adels die Rückkehr an den Hof zu ermöglichen – zum Beispiel durch Adoption. Er selbst dürfte dafür indes kaum infrage kommen. Wegen seiner oft kontroversen Äußerungen, in Büchern, im Internet und in Vorträgen, mangelt es ihm an der aristokratischen Zurückhaltung, die von Höflingen erwartet wird.

Diese und andere Begegnungen konnten den direkten Zugang zum Hof natürlich nicht ersetzen – und sie sollten es auch nicht. Denn ich hegte nie die Illusion, einen Insiderbericht über die Monarchie verfassen zu können. Was ich in meinen Gesprächen über den kaiserlichen Alltag erfuhr, kam mir oft erstaunlich banal vor. Und es war eben nicht das, was ich mit diesem Buch versuchen möchte: zu zeigen, was die Kaiserfamilie und die Monarchie für das heutige Japan und seine Gesellschaft bedeuten.

Herausgekommen ist dabei eine zugegebenermaßen subjektive Sicht der Dinge. Dafür war ich selbstverständlich auch auf die Forschungen und Recherchen vieler anderer Fachleute angewiesen. Über die Jahre habe ich unzählige Artikel und Bücher über die japanische Dynastie gelesen, einige davon sind in der Auswahlbibliografie aufgeführt. Die Literatur über das Kaiserhaus, vor allem in japanischer Sprache, lässt sich kaum noch überblicken. Wer sich mit dem Kaiserhaus beschäftigt, profitiert davon, dass Japan seit dem Ableben von Ex-Tenno Hirohito zunehmend offener über diese Institution spricht – zumindest außerhalb der traditionellen Medien. In den vergangenen Jahren sind zudem einige Tagebücher und Notizen von Weggefährten des Tennos oder andere Dokumente neu ans Licht gekommen; oft lieferten sie neue Erkenntnisse oder bestätigten Zusammenhänge, die zuvor nur vermutet werden konnten.

Ein Japaner, der auf eigene, künstlerische Weise über das Kaiserhaus reflektierte, war der berühmte Schriftsteller Yukio Mishima: Auch aus Protest gegen die Entgöttlichung des Kaisers in der Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit brachte er sich 1970 auf spektakuläre Weise um, durch Seppuku, rituellen Selbstmord. Von ihm wird im zweiten Kapitel die Rede sein. Dieser Mishima kritisierte das Kaisertum einst als »Tennosystem der Wochenmagazine«. 4 Damit hatte er durchaus recht: Bis heute prägen heimische Gazetten wesentlich das Bild, das sich viele Landsleute vom Kaiserhaus machen. Gleichzeitig treiben die Magazine Mitglieder der kaiserlichen Familie oft regelrecht vor sich her. Nervös und vermutlich genervt verfolgen die Adligen, was Woche für Woche über sie geschrieben wird.

Vor Jahren, als ich – ausnahmsweise in der Businessclass – von Shanghai nach Tokio flog, entdeckte ich ein paar Sitze weiter Hisashi Owada, den Vater der heutigen Kaiserin. Er hatte einen Stapel bunter Magazine auf dem Schoß, die er hektisch durchblätterte. Soweit ich erkennen konnte, waren auch Frauenzeitschriften darunter. Ich hatte den Eindruck, dass er systematisch nach Artikeln über seine Tochter suchte, die damals Kronprinzessin war und insbesondere auch von den Medien gemobbt wurde. Owada war ein Spitzenbeamter des Außenministeriums, später stieg er zum Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag auf. Hätte seine Tochter nicht ins Kaiserhaus eingeheiratet, hätte er sich vermutlich eine vergnüglichere Reiselektüre gegönnt.

Nicht alles, was die Gazetten schreiben, darf man glauben. Doch mitunter enthüllen sie, was große Zeitungen und Fernsehsender mit Rücksicht auf den Kaiserhof nicht zu berichten wagen. Und letztlich sind sie es oft, die nationale Debatten über das Kaiserhaus anstoßen. Die Magazine und ihre zahllosen Hofgeschichten sind daher sowohl eine Quelle als auch ein Gegenstand dieses Buches.

Nicht zu vernachlässigen ist auch die Rolle des Internets und der sozialen Medien. Mitte der Achtzigerjahre, als ich beobachtete, wie Hirohito den Sumo-Ringern applaudierte, spielte der Cyberspace noch keine Rolle. Die traditionellen Medien, mit denen der Palast bisweilen mehr oder weniger geheime Stillhalteabkommen vereinbart, beispielsweise über die Brautsuche eines Kronprinzen, besaßen praktisch ein Monopol auf die Berichterstattung. Heutzutage aber bieten die sozialen Medien allen Japanerinnen und Japanern die Möglichkeit, ihre Stimmen zu erheben. Dabei wird die Tonlage gegenüber dem Kaiserhaus zunehmend schriller.

Das liegt auch an Leuten wie Kei Kubota, einem Youtuber, den ich interviewt habe und der im ersten Kapitel zu Wort kommt. Er lebt mittlerweile davon, dass Internetnutzer sich für das Kaiserhaus interessieren. Für viele von ihnen sind Prinzessinnen und Prinzen staatlich bezahlte Maskottchen, auf die sie ihre Sehnsüchte projizieren. Nur: Wenn die Träume platzen, weil Prinzessinnen und Prinzen sich als normale Menschen entpuppen, dann kann Ehrfurcht leicht in Abneigung umschlagen. Wie eben im Fall von Prinzessin Mako, bei deren Wahl eines Bräutigams viele Landsleute meinten, mitreden zu dürfen.

Als Korrespondent habe ich immer wieder Gelegenheiten genutzt, unterschiedliche Menschen, die ich aus irgendeinem anderen Grund interviewte, auch nach ihrer Meinung über das Kaiserhaus zu fragen. Eine von ihnen heißt mit Vornamen Chikako, sie arbeitet bei einer Firma, die in Tokio unterirdische Wasserrohre verlegt. Ich traf sie erstmals vor fast zweieinhalb Jahrzehnten; damals recherchierte ich eine Geschichte über die Takarazuka-Truppe, eine Theaterrevue, in der auch männliche Rollen ausschließlich von Frauen gespielt werden. Chikako war nicht nur eine leidenschaftliche Anhängerin dieser Revue, sie begeisterte sich auch für alles, was mit der kaiserlichen Familie zu tun hatte. Dazu sei sie über ihre Mutter gekommen, erzählte sie, denn die sei etwa genauso alt wie Ex-Kaiserin Michiko und fühle sich aus diesem Grund zur Monarchie hingezogen. Die Kontinuität und das Identifikationspotenzial, das Chikako, ihre Mutter und andere Japanerinnen und Japaner mit der Kaiserfamilie verbinden, fasste sie so zusammen: »Unsere Regierungschefs kommen und gehen, aber der Kaiser ist immer für uns da.«

Im Laufe der Jahrzehnte habe ich mich mit Chikako dann regelmäßig über aktuelle Ereignisse im Kaiserhaus ausgetauscht, auch als ich für den SPIEGEL in China und Indien stationiert war. Und jedes Mal schien ihr Enthusiasmus für den Tenno und seine Familie, den sie anfangs bekundet hatte, ein wenig mehr der Enttäuschung gewichen zu sein. Oft hatte sie in Wochenmagazinen oder im Internet wieder etwas über angebliche Skandale im Kaiserhaus gelesen, was ihre Illusionen über die höfische Traumwelt zerstörte. Dann fragte sie ungläubig: »Was? So etwas machen die?« Oder: »So etwas haben die all die Jahre über getrieben?«

Zwar hängt Chikako heute noch aus alter Treue dem Kaiserhaus an. Bei ihren drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, die inzwischen erwachsen sind, sei das allerdings anders: »Denen ist das Kaiserhaus völlig egal.« Als sie mir davon berichtete, bemühte sie sich, gelassen zu klingen. Doch in ihrer Stimme konnte ich ein fatalistisches Bedauern ausmachen, wie bei einem Menschen, der etwas Liebgewonnenes für immer verliert.

Hirohito, der einstige Gottkaiser, schaffte es nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, den Untergang der Monarchie abzuwenden, indem er sich sozusagen zum Menschen erklärte. So wurde er zu jemandem, dem man in der Sumo-Arena von Tokio erstaunlich nahe kommen konnte. Seither erscheinen auch andere Mitglieder der kaiserlichen Familie für die Landsleute etwas nahbarer, bisweilen gar auf eine Weise, die sie von Bürgerlichen kaum noch unterscheidbar macht. Die wachsende Gleichgültigkeit, mit der gerade jüngere Landsleute der ältesten Monarchie der Welt begegnen, könnte dieser Institution auf Dauer noch gefährlicher werden als ihre eigenen familiären Nachwuchssorgen. Und das wiederum dürfte dann auch für das Selbstverständnis der Nation tiefgreifende Folgen haben.

I. Der Online-Kaiser

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Naruhitos Mahl mit den Göttern

Langsam, mit tastenden Schritten betrat Kaiser Naruhito den heiligen Schrein. Er trug ein weißes Gewand mit einer langen Schleppe, sein Kopf war mit einer Art Krone aus schwarzem Stoff bedeckt. Über ihn hielten Diener einen Baldachin aus geflochtenem Stroh. Es war gegen halb sieben abends, es war dunkel und kalt hier im Park des Kaiserpalastes in der Mitte von Tokio. Die umliegende Megacity mit ihren etwa 37 Millionen Einwohnern, wenn man Randgebiete dazuzählt, schien Welten entfernt. Gedämpft drang das Rauschen des Straßenverkehrs herüber; hin und wieder heulten Sirenen von Krankenwagen auf. Doch hier, in dem weitläufigen Grün, umgeben von breiten Wassergräben und hohen Festungsmauern, schien es, als habe jemand die Uhr um viele Jahrhunderte zurückgedreht.

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Tenno Naruhito begibt sich zum Mahl mit den Göttern, dem spirituellen Höhepunkt seiner Thronbesteigung.

Es war die Nacht vom 14. auf den 15. November 2019; die älteste Monarchie der Welt feierte den spirituellen Höhepunkt der Thronbesteigung des 126. Kaisers – des »Tennos«, wie sie ihn in Japan nennen, des »Erhabenen des Himmels«. Im trüben Licht der Fackeln konnte man Naruhito nur schemenhaft erkennen. Dann verschwand er ganz im Inneren des Heiligtums, dem wichtigsten von an die 40 hölzernen Schreinen, die hier errichtet worden waren. Dort, in einem winzigen hinteren Raum, sollte er die Götter empfangen, allen voran die Sonnengöttin Amaterasu, die Urahnin des Kaiserhauses.

Wie dieses religiöse Ritual im Einzelnen ablief, durften außer dem Tenno nur noch zwei Schreindienerinnen wissen, die ihm dort assistierten. Selbst seiner Gemahlin Masako, die den Titel »Kaiserin« (»Kogo«) trägt, war es nicht erlaubt, das Innere des Heiligtums zu betreten. Sie musste während der Zeremonie in einem Nebenschrein warten. Auch sie trug ein altertümliches weißes Gewand und eine ebenso altertümlich hochfrisierte Haartracht. Über 500 Ehrengäste, allen voran der Premier und die übrigen Spitzen des Staates, verfolgten das Geschehen aus huldvoller Distanz. Sie saßen draußen in offenen Zelten, von wo sie wenig mitbekamen – außer den schrägen Klängen der sakralen Musik.

Tenno Naruhito war zu diesem Zeitpunkt bereits über ein halbes Jahr im Amt, nachdem sein Vater Akihito aus Altersgründen abgedankt hatte – als erster Kaiser seit über 200 Jahren. Zahlreiche Rituale zu seiner Thronbesteigung hatte der Neue in den Monaten davor schon hinter sich gebracht. Er hatte die Insignien seiner kaiserlichen Herrschaft entgegengenommen, die Kopie eines Schwertes sowie ein Krummjuwel. Das dritte Symbol kaiserlicher Macht war ein Bronzespiegel, der als Kopie im Palastschrein aufbewahrt wird. Die drei Gegenstände sollen dem Kaisergeschlecht einst von der Sonnengöttin anvertraut worden sein, sie versinnbildlichen die Tugenden eines Monarchen: Mut, Klugheit, Güte.

Und nun zelebrierte Naruhito also den spirituellen Höhepunkt dieser schier endlosen Thronbesteigung, das »Daijosai«. Denn der japanische Kaiser ist nicht nur ein Monarch im politischen Sinne. Er ist auch der ranghöchste Priester des »Shinto«, der heimischen Naturreligion, des »Weges der Götter«. Sein Großvater Hirohito wurde bis zum Ende des verlorenen Zweiten Weltkriegs noch selbst als Gott verehrt. Auf Druck der amerikanischen Besatzer musste er zwar seiner Göttlichkeit entsagen, doch wie er halten auch seine Nachfolger an ihrem Palastschrein nach wie vor shintoistische Riten ab, wenn auch nur »privat«.

Doch was heißt schon »privat« am Kaiserhof? Eigens für den Thronwechsel hatten Handwerker die riesige Schreinanlage in monatelanger Arbeit errichtet. Sie befand sich im östlichen Teil des kaiserlichen Gartens, der normalerweise für Besucher zugänglich ist, aber in diesen besonderen Tagen gesperrt war. Die Kosten von umgerechnet über 20 Millionen Euro trugen letztlich die Steuerzahler. 1 Nach den Feiern wurde der Komplex wieder abgerissen. Die Zeremonie lief so ab wie seit dem frühen 9. Jahrhundert überliefert. Auch auf Details hatte man geachtet: Der Tenno ging durch ein Spalier altertümlich gekleideter Bogenschützen, die sich Köcher mit Pfeilen auf die Rücken gebunden hatten und Schwerter trugen. Heute wird der Monarch zwar nicht mehr mit Pfeil und Bogen beschützt, sondern von an die tausend modern bewaffneten Palastpolizisten bewacht, die der nationalen Polizei unterstellt sind. Doch aus dem besonderen Anlass hatte man einige von ihnen und auch anderes kaiserliches Personal in die historischen Gewänder gesteckt. Ein bisschen erinnerte die Atmosphäre an ein Freilichtmuseum, wo für die Besucher längst vergangene Zeiten zum Leben erweckt werden.

Selbst für Japanerinnen und Japaner war die Zeremonie nicht leicht zu verstehen, so entkoppelt war sie vom modernen Alltag, so fremdartig mutete sie an. In den Tagen davor hatten Fernsehsender Experten in ihre Studios geladen, die erklären sollten, wie sich die geheimnisvollen Rituale im Inneren des Heiligtums vermutlich abspielen würden: Demnach würde der neue Tenno zuerst seinen Körper reinigen. Dann würde er sich in einen Schrein zurückziehen, der den Osten des Landes symbolisierte. In der Mitte des kleinen Raumes würde eine Art Bett für die Urahnin des Kaiserhauses, die Sonnengöttin Amaterasu, und alle übrigen Shinto-Götter aufgestellt werden. Links davon würde der Tenno Platz nehmen. Mit zwei besonderen Essstäbchen, so wurde es berichtet, kredenzte er den Göttern dann etwa anderthalb Stunden lang traditionelle Speisen, wie Reis, Hirse und Fisch; auch Sake (Reiswein) schenkte er ihnen ein. Anschließend, heißt es, bat er sie um Wohlstand und Frieden für das Land sowie um Schutz vor Katastrophen. Zum Schluss aß er selbst von den Speisen und trank vom Sake.

An dieser Stelle hält man als westlicher Erdenbewohner des 21. Jahrhunderts unwillkürlich inne und fragt sich vielleicht, wie es sein kann, dass der höchste Repräsentant eines führenden Industrielandes nach seiner Amtsübernahme nichts Wichtigeres zu tun hat, als eine Art spiritistische Sitzung mit seinen göttlichen Urahnen abzuhalten? Ein kaiserliches Dinner for One sozusagen?

Doch genauso war es. Denn in dieser Zeremonie offenbarte sich das Wesen des japanischen Kaisertums, das Selbstverständnis, welches es über alle Epochen hinweg bewahrt hat und durch das es sich von westlichen Monarchien unterscheidet. Durch das gemeinsame Mahl wurde der Tenno angeblich der Tugend der Götter teilhaftig. Fast konnte man glauben, dass er selbst einer der ihren werden sollte. Auf jeden Fall erhielt er durch die Zeremonie seine Legitimität als »Erhabener des Himmels«. Und so fremd, wie man glauben konnte, war das für die Landsleute dann auch wieder nicht. Denn in vielen japanischen Haushalten stehen auch heute noch buddhistische Totenschreine, vor denen die Menschen täglich für ihre Ahnen beten, mit ihnen sprechen, ihnen von Freud und Leid berichten, sie um Rat fragen und ihnen deren Lieblingsspeisen und -getränke hinstellen.

Nach der ersten Zeremonie wiederholte Naruhito das Ritual in einem weiteren Schrein, der den Westen des Landes symbolisieren sollte. Am folgenden Morgen gegen halb vier war das »Daijosai« zu Ende. Kurz danach sah man den Tenno, wie er sich, in Anzug und Krawatte gekleidet, in seiner Limousine in die kaiserliche Residenz zurückfahren ließ. Naruhito war nun gleichsam in das 21. Jahrhundert zurückgekehrt. Wäre er, ein kurz gewachsener Mann, allein zu Fuß durch Tokio spaziert, dann wäre er kaum aufgefallen. Aber er war eben der Tenno.

Naruhito ist der modernste Kaiser, den Japan je hatte, und der erste, der nicht kurz nach der Geburt von seinen Eltern getrennt wurde, sondern bei ihnen aufwuchs. Er wurde nicht von einer Amme gestillt, sondern von seiner eigenen Mutter, der Ex-Kaiserin Michiko, die als erste Bürgerliche in die höfische Familie einheiratete. In seiner Freizeit spielt Naruhito Bratsche, joggt, wandert in den Bergen, fährt Ski und betreibt noch einige andere Sportarten. Er ist hochgebildet. Schon mit zwölf Jahren wurde er von ausgewählten Professoren unterrichtet, zum Beispiel über die Gespräche des Konfuzius, des klassischen chinesischen Philosophen. 2 Als erster Thronfolger schloss Naruhito ein Hochschulstudium ab, in Geschichte. Anders als seine Vorgänger lernte er nicht nur am Gakushuin, der ehemaligen Adelsschule in Tokio, sondern studierte auch über zwei Jahre in Oxford. So wurde er zum Experten für historische Wasserstraßen – im Studium befasste er sich mit dem Transportwesen auf der Themse im 18. Jahrhundert.

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In Oxford durfte Naruhito vieles, was für ihn in Tokio undenkbar gewesen wäre – wie mit dem Fahrrad durch die Stadt zu radeln.

Der Aufenthalt in England hat Naruhito geprägt, wie er in einem Büchlein über diese Zeit schreibt. 3 Zum ersten Mal im Leben habe er damals selbst seine Wäsche in einer Waschmaschine gewaschen und dabei eine kleine Überschwemmung mit Seifenschaum verursacht. Auch seine Hemden bügelte Naruhito selbst. In Oxford war ihm überdies manches erlaubt, was sich für einen Kronprinzen in Japan nicht gehört. So lief er in Jeans durch die Straßen, fuhr mit dem Fahrrad und ging allein einkaufen. Er besuchte auch Pubs und Discos. Und was japanische Reporter noch heute fast aus der Fassung bringt: Er hängte ein Poster von Brooke Shields an der Wand seines Zimmers auf. Später begegnete er der US-Schauspielerin sogar einmal in den USA – ein amerikanischer Studienfreund hatte das Treffen für ihn arrangiert.

Kurzum: Fern der Heimat durfte Naruhito immer wieder mal ausprobieren, wie es ist, ein ganz normaler Mensch zu sein. Außerhalb des goldenen Käfigs konnte er durchatmen – und das machte ihm sichtlich Spaß. Bei einem Bummel durch Kopenhagen, nur zwei Jahre vor seiner Thronbesteigung, ließ er sich bereitwillig zu einem Selfie mit Passanten auffordern. Das Bild zeigt den Kronprinzen ganz locker; im offenen gestreiften Hemd; mit einem breiten Lächeln auf den Lippen; auf Tuchfühlung mit »Normalsterblichen«. In der fernen Heimat staunten die Hofberichterstatter darüber sehr. Plötzlich lernten sie ihren Thronfolger anders kennen, von seiner zwanglosen Seite, gleichsam durch westliche Augen. Allerdings wäre in Tokio deshalb niemand auf die Idee gekommen, nun sogleich eine Lockerung des steifen Protokolls am Kaiserhof zu fordern. Ausland war Ausland, und Japan war Japan.

Japan ist ein Land der Widersprüche, und das Kaiserhaus lebt sie so krass vor wie keine andere Institution des Landes. Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, bekannt und oft bewundert für seine Hightech-Exporte und einen geradezu besessenen Fortschrittsglauben. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg diktierten die amerikanischen Besatzer dem Kaiserreich eine moderne Verfassung. Seither hat Japan formal alles, was auch westliche Demokratien kennzeichnet: freie Wahlen, Meinungsfreiheit, unabhängige Gerichte, Gleichberechtigung der Geschlechter – auch wenn diese Errungenschaften teilweise nur auf dem Papier stehen und im Leben der Menschen oft keine große Rolle spielen. Aber im Zuge des globalen Wettkampfs der Systeme zwischen dem Westen und autoritären Staaten wie China und Russland wird Japan gerade auch von der deutschen Außenpolitik verstärkt als sogenannter »Wertepartner« umworben – erst recht seit dem Ukrainekrieg. Das macht geostrategisch Sinn. Bei aller Freundschaft darf man aber nicht vergessen: Über dem vom Westen formal übernommenen demokratischen System thront noch immer eine Monarchie, die der Legende nach vor über 2680 Jahren von einem Urururenkel der Sonnengöttin gegründet wurde.

Das Kaiserhaus beruft sich auf eine fantastisch anmutende, oft geradezu bühnenreife Gründungsgeschichte. Derartiges bietet keine zweite Dynastie auf der Welt ihren Untertanen, wie das zweite Kapitel zeigen wird. Das Kaiserhaus leitet seine Existenz von Mythen und Gebräuchen ab, die über die Jahre immer wieder neu belebt und teilweise auch neu erfunden wurden – zuletzt im 19. Jahrhundert, als Japan sich nach über 200 Jahren der Abschließung gegenüber der Welt öffnete. Das Kaiserhaus bewahrt dadurch zutiefst vordemokratische Denkstrukturen, die nach wie vor auch den Alltag der übrigen Gesellschaft beeinflussen und aus westlicher Sicht oft befremdlich wirken.

Auch wenn Naruhito vergleichsweise freizügig aufgewachsen ist, in Tokio residiert er hinter hohen Mauern. Erst wohnte er im Palais des Kronprinzen im Tokioter Stadtteil Akasaka – dort lebten er, Kaiserin Masako, Tochter Aiko und ihr Hund Yuri auch nach der Thronbesteigung zunächst weiter. Im Herbst 2021 zogen sie dann in die renovierte Residenz des Kaisers, die in der Nähe des Palastes auf dem kaiserlichen Grundstück in Tokio liegt. Hier sind der Tenno und seine Verwandten besonderen Regeln unterworfen, den Regeln der Verfassung und des kaiserlichen Hofgesetzes, die sie praktisch zum Eigentum des Staates machen.

Anders als normale Landsleute darf sich der Tenno politisch nicht äußern. Bevor er eine Rede hält, muss er sie vom Regierungskabinett absegnen lassen. Er und die übrigen Prinzen und Prinzessinnen dürfen auch nicht wählen gehen. Sie besitzen keine Reisepässe; sie können nicht einfach ins Flugzeug steigen und in den Urlaub fliegen. Sie dürfen keine Besitztümer empfangen oder ihrerseits verschenken, ohne dass das Parlament dies zuvor genehmigt – das besagt zumindest Artikel 8 der japanischen Verfassung. Und wenn sie heiraten möchten oder gar auf die Idee kommen, sich scheiden zu lassen, ist auch das nicht ohne Weiteres möglich.

Vor allem Frauen führen bei Hof ein Leben zweiter Klasse: Wenn Prinzessinnen einen Nicht-Adligen heiraten, verlieren sie ihre Titel, müssen den Hof verlassen und ins Bürgertum absteigen. Für Prinzen gilt das zwar nicht, aber auch sie leben unter Einschränkungen, die für normale Japaner unvorstellbar sind. So dürfen sie nicht einfach heiraten, wen sie mögen. Vielmehr müssen sie die Wahl ihrer Braut offiziell absegnen lassen – von einem zehnköpfigen Gremium, dem der Regierungschef vorsitzt und dem unter anderen zwei Hofadlige angehören sowie die Präsidenten der beiden Kammern des Parlaments und der Chef des Obersten Gerichts. 4 Das sind nicht unbedingt die Leute, mit denen man normalerweise Liebesdinge besprechen möchte.

Es gibt Tage und Wochen im Alltag der Nation, an denen man wenig davon mitbekommt, dass es einen Tenno gibt. Der französische Philosoph Roland Barthes brachte dieses Phänomen auf den Punkt, als er Tokio in den Sechzigerjahren erkundete und – fasziniert von der Exotik der fernöstlichen Kultur – schrieb, die japanische Hauptstadt offenbare »ein kostbares Paradox (…) sie besitzt durchaus ein Zentrum, aber dieses Zentrum ist leer«. Die Stadt, so Barthes, kreise um einen verbotenen, indifferenten Ort, »einen Wohnsitz, den ein Kaiser bewohnt, welchen man nie zu Gesicht bekommt, also buchstäblich ein Unbekannter«. 5

Ganz so ließ sich das zwar schon damals nicht mehr behaupten. Selbstverständlich wussten alle Japanerinnen und Japaner, wer der Tenno war. Was der Philosoph aber wohl sagen wollte und womit er durchaus recht hatte: Der Kaiserhof, diese grüne Insel mitten im grauen Häusermeer von Tokio, ist eine Welt für sich, ein Dornröschen-Reich der besonderen Art. Die räumliche Distanz zwischen Tenno und Volk hatte die Obrigkeit ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach bewusst erzeugt: Auf Veranlassung des Staatsmannes Hirobumi Ito wurde ein riesiger Paradeplatz vor dem Palastgelände geschaffen – dafür wurden zahlreiche Gebäude abgerissen. 6 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war es lange untersagt, rund um das kaiserliche Grundstück hohe Gebäude zu errichten, von denen man auf den Tenno hätte herabblicken können. Als eine Versicherung 1965 vis-à-vis dem Palast ein Hochhaus mit 30 Etagen bauen wollte, prangerten Kritiker das Vorhaben als »respektlos« gegenüber dem Kaiser an. Es gab besorgte Anfragen im Parlament. Schließlich wurde das geplante Gebäude fünf Stockwerke niedriger gebaut. In den vergangenen Jahren verschwand das Hochhaus fast in einem Dschungel aus immer höher wachsenden Wolkenkratzern – bis 2029 soll es durch einen viel höheren Neubau ersetzt werden. 7 Es ist ein Beispiel dafür, wie sich die Sichtachsen zwischen dem Kaiserhaus und dem Volk mit der Zeit verschoben haben. Heute blicken die einstigen Untertanen eher auf das Palastgrundstück herab – wie auf ein Gehege für eine bedrohte Spezies.

Aber noch existieren der Tenno und seine Familie in ihrer abgeschirmten Welt. Der Monarch ist de facto unantastbar, auch im praktischen Sinne: Sein Antlitz wird nicht auf Münzen geprägt oder auf Geldscheine gedruckt – anders als in europäischen Monarchien wie Großbritannien. Das Volk soll das kaiserliche Bildnis nicht mit schmutzigen Händen berühren. 8 Früher sprach man vom sogenannten Chrysanthemenvorhang, hinter dem sich die japanische Monarchie verbarg – in Anlehnung an die Blume, die das kaiserliche Wappen schmückt. Heute ist der Schleier oft unsichtbar, der Kaiser und Volk trennt, aber er ist stets vorhanden. Außer zu formellen Auftritten bekommt man vom Tenno vergleichsweise wenig mit. Wenn das Fernsehen ihn und seine Familie in ihrer exklusiven Umgebung zeigt, zum Beispiel anlässlich von Geburtstagen, dann geschieht das meist ohne Ton. Gemeinsam sitzt die kaiserliche Familie dann auf dem Sofa, blättert angestrengt in Bildbänden oder bewundert Porzellanvasen. Wenn man sich diese steifen Inszenierungen anschaut, versteht man, dass rund ein Viertel der Bevölkerung sich laut Umfragen nicht mehr für das Kaiserhaus interessiert. Vor allem jüngeren Japanerinnen und Japanern ist es zunehmend egal. 9 Denn mit ihren alltäglichen Sorgen hat das Leben im Palast wenig zu tun. Allerdings begegnet man vor den Toren des Palastes auch den kaisertreuen Bürgerinnen und Bürgern, die dort unermüdlich ausharren, um einen kurzen Blick auf die Tenno-Gattin oder eine der Prinzessinnen zu erhaschen. Oft handelt es sich bei diesen royalen Fans um Frauen mittleren Alters. Sobald ihre adligen Idole in dunklen Limousinen vorbeifahren, recken die Wartenden ihre Smartphones in die Höhe und knipsen drauflos; manche kreischen dabei vor Aufregung. Der japanische Regisseur Ryosuke Hashiguchi lässt einen dieser weiblichen Fans in dem Film Koibito-tachi (auf Deutsch: »Liebespaare«) auftreten. 10 Einfühlsam erzählt er, wie die Frau gerade auch mithilfe des Kaiserhauses aus ihrem tristen Ehealltag zu entfliehen versucht.

Wenn ein Tenno wechselt oder wenn das Land in eine Krise oder Katastrophe stürzt, rückt er jedoch plötzlich wieder ins kollektive Bewusstsein der ganzen Nation. Dann kann man den Eindruck gewinnen, dass der Tenno der Einzige ist, der Japan noch einigermaßen zusammenhält. So war es nach dem atomaren Super-GAU von Fukushima 2011 und auch fünf Jahre später, als der damalige Tenno Akihito den Wunsch verkündete, abzudanken. In solchen Situationen tragen die Medien die kaiserliche Botschaft in jedes Wohnzimmer; ein Heer von Kommentatoren und Experten wird dann aufgeboten, um die Worte und die damit verbundenen Wünsche des Tennos zu deuten und zu vertiefen. Das funktioniert gut in dieser Gesellschaft, die traditionell auf Harmonie setzt und sich leicht von oben mobilisieren lässt. Dann ist das 125-Millionen-Volk sozusagen bei sich. Dann besinnt es sich auf seine nationale Identität, auf die mythischen Ursprünge und die viel beschworene Kontinuität der Geschichte, die der Tenno verkörpert und die Japan angeblich einzigartig macht auf der Welt.

Laut der japanischen Verfassung von 1947 ist der Tenno kein Staatsoberhaupt, sondern das »Symbol des Staates und der Einheit des Volkes«. Tatsächlich aber erfüllt er viele Aufgaben eines normalen Staatsoberhauptes: Er eröffnet die Sitzungsperioden des Parlaments. Er nimmt die Verbeugungen von Ministern entgegen, wenn sie ihre Ernennungsurkunden erhalten – allerdings nicht direkt aus seiner Hand, sondern aus der des Premiers. Er unterzeichnet Hunderte von Gesetzen und Verordnungen mit sorgfältigen Pinselstrichen und drückt auch sein kaiserliches Siegel auf einige davon. Er verleiht Orden, er empfängt neu akkreditierte ausländische Botschafter, die er zu diesem Zweck auch heute noch mit kaiserlichen Pferdekutschen vom Bahnhof Tokio abholen lässt; und er bewirtet Staatsgäste.

Und doch kann man den Tenno nicht einfach mit den Monarchen oder Präsidenten anderer Länder vergleichen. Als Nachfahre der Sonnengöttin verkörpert er praktisch Japan selbst. Der Mythos der ungebrochenen Linie der kaiserlichen Dynastie, des Yamato-Clans, hat bislang alle Krisen und historischen Umbrüche überdauert – zuletzt die Niederlage von 1945. Seither wechselten sich in Tokio rund drei Dutzend Premierminister ab – die meisten davon hat die Welt längst vergessen; denn kaum einer von ihnen hat Dinge getan oder gesagt, die die Menschheit nachhaltig beeindruckt hätten. Im Tenno aber, diesem Nachfahren eines Clans von Priester-Kaisern, sehen viele Landsleute nach wie vor so etwas wie die personifizierte Zeitlosigkeit. Das ewig Gültige. Eine Instanz, die alle politischen Systeme überdauert; die auf beruhigende Weise stets da ist, um bei den Göttern für das Wohl der Nation zu bitten. Eine Art Oberpriester, der die Japanerinnen und Japaner durch seine bloße Existenz im Grunde aber auch zu Untertanen macht – und ihnen den Ansporn nimmt, selbst Verantwortung zu übernehmen, wie man es von mündigen Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie erwarten könnte.

Der Kaiser bildet also den ruhenden Pol einer Gesellschaft, die sich sonst dem Pragmatismus hingibt. Fragt man Japanerinnen oder Japaner, welcher Religion sie sich zugehörig fühlen, hört man oft die Antwort: keiner. 11 Tatsächlich bedienen sie sich aber erstaunlich freizügig aus dem Angebot der verschiedenen Heilslehren, sie suchen darin weniger die Glaubensinhalte, sondern das Glückbringende: Für viele Menschen in Japan ist es normal, sich christlich trauen zu lassen – fast jedes Luxushotel hat dafür eine eigene Kapelle, die man mieten kann, inklusive einem christlichen Priester im Talar und dem über Lautsprecher abgespielten Hochzeitsmarsch aus Wagners Lohengrin. Oft gehen dieselben Paare mit ihren Kindern dann später zu einem Shinto-Schrein, um den Schutz der Götter zu erbitten – solche Zeremonien finden statt, wenn die Kinder drei, fünf und sieben Jahre alt geworden sind. Und für Trauerfeiern und Bestattungen nimmt man dann überwiegend die ausgesprochen teuren Dienste buddhistischer Priester in Anspruch.

Über all dieser verwirrenden religiösen Vielfalt thront eine Instanz, die das Volk letztlich vereint: der Tenno. Er bildet die Spitze einer Gesellschaft, die großen Wert darauf legt, dass Einzelne nicht aus ihrer hierarchisch definierten Rolle fallen – selbst Regierungschefs und Firmenbosse. Die »Luft lesen« nennt man in Japan die Fähigkeit, die Wünsche und Absichten der Umgebung intuitiv zu erfassen und sich in das harmonische Ganze zu fügen. Diese Kollektivmentalität unterscheide das Land vom christlich geprägten Westen, erklärt der heimische Rechtswissenschaftler Naoki Sato. 12 In Japan habe sich die Trennung zwischen »Individuum« und »Gesellschaft« nie eindeutig herausgebildet. Bei den in der Verfassung verbürgten universellen Menschenrechten handele es sich um ein fremdes Konzept, das im japanischen Alltag nicht wirklich gelebt werde. Als Richtschnur des Verhaltens gelte vielmehr, was die Allgemeinheit als schicklich empfinde. Dafür verwendet man in Japan ebenfalls zahlreiche Begriffe, wie zum Beispiel »Sekentei«. Man hört ihn oft, wenn Eltern ihre Kinder ermahnen, auf »Ansehen« oder »Anstand« zu achten. Nicht von abstrakten universellen Werten soll die oder der Einzelne sich leiten lassen, sondern davon, was sich gehört, was die Umgebung jeweils richtig oder falsch findet. Diese Rücksicht auf die Gemeinschaft führt der Experte Sato auf die Existenz des Tennos zurück: »Mit ihm wird die Allgemeinheit praktisch eins.« Den kollektiven Geist, der den Alltag durchzieht, empfinden viele in Japan keineswegs als Zwang. Im Gegenteil: Sie fühlen sich in der Gruppe geborgen und oft dort erst richtig frei. 13

Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, ist der heutige Tenno Naruhito praktisch die Essenz dessen, was es heißt, japanisch zu sein. Zugegeben, das sind ziemlich viele Erwartungen, die da auf einen einzelnen Menschen gerichtet werden. Fast möchte man sagen, der Tenno ist für die Nation das Maß aller Dinge, denn sie berechnet sogar die Zeit nach ihm: Als Naruhito den Thron bestieg, begann im Land offiziell eine neue kaiserliche Ära, sie heißt »Reiwa«, was man mit »schöne Harmonie« übersetzen kann. Gelehrte wählten die beiden Schriftzeichen für »Reiwa« im Auftrag der Regierung aus einer klassischen Gedichtsammlung, dem Manyoshu, der »Sammlung der zehntausend Blätter«, aus. Mit »Reiwa« datiert man vor allem amtliche Schriftstücke. Mit dem Beginn von Naruhitos neuer Ägide am 1. Mai 2019 schrieben sie in Japan also das Jahr Reiwa 1. Und am 1. Januar 2024 beginnt in Japan das Jahr Reiwa 6.

Vor dem offiziellen Kalenderwechsel herrschte im Land eine gespannte Erwartung wie sonst nur vor Neujahr, dem wichtigsten japanischen Feiertag. Die Medien fachten das Fieber an. Neue Vorsätze und Vorhaben wurden verkündet. Und lästige Kapitel der Vergangenheit wurden noch schnell zu den Akten gelegt, wie in einem shintoistischen Reinigungsritual, um unbeschwert in die neue Ära aufbrechen zu können: So ließ die Regierung 13 im Vorjahr zum Tode verurteilte führende Mitglieder der Aum-Sekte hinrichten, die 1995 einen Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn verübt hatten. Als versöhnliches Zeichen des Neuanfangs trat aber auch eine Amnestie in Kraft: Sie galt für rund 550 000 Landsleute, die sich weniger schlimmer Vergehen schuldig gemacht hatten, wie Wahlbetrug und Verkehrsdelikte.

Was im Festrausch indes oft vergessen wurde: Der neue Tenno hat ein undankbares Erbe angetreten. Die Dynastie steckt in einer strukturellen Krise – ohne männlichen Thronfolger droht sie im wahrsten Sinne des Wortes auszusterben. Das adlige Personal geht dem Tenno zunehmend aus; es wird älter und älter – wie das übrige Japan. 14 Naruhito wurde 1960 geboren. Dass er nicht mehr der Jüngste ist, sollte der Nation im Herbst 2022 schlagartig bewusst werden, als der Hof mitteilte, dass der Tenno sich einer Kernspintomografie unterziehen müsse. Bei Bluttests habe man erhöhte Werte für das prostataspezifische Antigen (PSA) festgestellt. Es handele sich um einen »etwas besorgniserregenden Trend«, hieß es zunächst. 15