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Japan – Abstieg in Würde E-Book

Wieland Wagner

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Beschreibung

Was passiert, wenn ein ganzes Land in Rente geht

Seit den neunziger Jahren ist die einst als unbesiegbar geltende Wirtschaft Japans in einer Abwärtsspirale gefangen. Sie wird auch dadurch beschleunigt, dass Japans Bevölkerung so schnell altert wie kaum eine andere: In den vergangenen fünf Jahren verlor das Land knapp eine Million Menschen, ganze ländliche Regionen sterben gleichsam aus. Japans Beispiel zeigt, was passiert, wenn ein Land die Grenzen des Wachstums erreicht und sich tiefgreifenden Reformen – insbesondere der konsequenten Öffnung der Wirtschaft für Frauen und Einwanderer – verweigert. Wieland Wagner, Asien-Korrespondent des SPIEGEL, beschreibt in seinem Buch eindrucksvoll, wie die jahrzehntelange Stagnation den Alltag der Menschen verändert und welche Lehren wir in Deutschland aus dem Vergreisen dieser Wohlstandsnation ziehen sollten.

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Zum Buch

Japans Wirtschaft galt einst als unbesiegbar, doch nun ist das Land schon seit Jahrzehnten in einer Abwärtsspirale gefangen. Japans Abstieg wird auch dadurch beschleunigt, dass seine Bevölkerung so schnell altert wie kaum eine andere: In den vergangenen fünf Jahren verlor das Land knapp eine Million Menschen, ganze ländliche Regionen sterben gleichsam aus. Wieland Wagner, langjähriger Asien-Korrespondent des SPIEGEL, hat sich auf die Spuren dieses dramatischen Wandels gemacht. In seinem Buch beschreibt er eindrucksvoll, wie die jahrzehntelange Stagnation den Alltag der Menschen verändert und was mit der Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes passiert, das sich tiefgreifenden Reformen verweigert. Aus dem Vergreisen dieser Wohlstandsnation, so Wagner, sollten wir auch hierzulande wichtige Lehren ziehen.

Zum Autor

Wieland Wagner, geboren 1959, studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg, London und Tokio. Seine Dissertation über Japans frühe Expansionspolitik in Ostasien wurde mit dem Gerhard-Ritter-Preis ausgezeichnet. Von 1990 bis 1993 arbeitete Wagner als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Vereinigte Wirtschaftsdienste (VWD) in Tokio. Bis 1995 war er Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seit 1995 berichtet Wagner für den SPIEGEL aus Asien, bis 2004 zunächst mit Sitz in Tokio, anschließend in Shanghai, ab 2010 in Peking, ab 2012 in Neu-Delhi und seit 2014 wieder in Tokio.

Wieland Wagner

JAPAN – ABSTIEG IN WÜRDE

Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: grebeshkovmaxim / Shutterstock.com

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-21697-9

Einleitung: Eine Art Heimkehr

Einleitung
Eine Art Heimkehr

»O kaeri nasai!« – »Willkommen zurück!« Mit diesen freundlichen Worten begrüßte mich der Beamte der Einwanderungsbehörde Ende Mai 2014 am Flughafen Narita bei Tokio. Ich war mit dem Nachtflug von Neu-Delhi, meinem vorigen Einsatzort als Korrespondent für den SPIEGEL, gelandet. Tatsächlich kam ich mir vor wie einer, der heimkehrt. Als der Beamte mir meinen Ausländerausweis mit der Aufenthaltsgenehmigung ausstellte, spürte ich so etwas wie Erleichterung: Nach zehn Jahren Abwesenheit – sechs davon in Shanghai, zwei in Peking und dann noch mal fast zwei in Neu-Delhi – würde ich nun wieder in Japan leben und arbeiten.

Schon auf dem Weg vom Flughafen nach Tokio sog ich alles ein, was ich an Japan vermisst hatte: die Höflichkeit der Menschen, die Pünktlichkeit der Züge, die Sauberkeit. Der Alltag funktionierte hier so bequem und reibungslos wie nirgendwo sonst in Asien. Selbst das Wetter kam mir schöner vor, kein Smog verschleierte die Aussicht. Und das japanische Essen! Nachdem ich im Zentrum der Stadt angekommen war, kehrte ich in einen Stehimbiss ein, er sah für japanische Verhältnisse etwas heruntergekommen aus. Doch so gut wie hier hatte mir schon lange keine Nudelsuppe mehr geschmeckt.

Zunächst schien alles angenehm vertraut. Doch je länger ich durch Tokio streifte, desto öfter hatte ich den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte in meiner alten, zweiten Heimat. Ich konnte es anfangs nicht konkret fassen, aber ich fühlte es immer deutlicher: Die relative Ruhe, die penible Ordnung der Alltagsabläufe, die ich zunächst als so wohltuend empfunden hatte, erschienen mir zunehmend als Lethargie. Wenn ich in die Gesichter der Menschen sah, auf den Straßen, in den S- und U-Bahnen, in den Läden und in den Kneipen, kam Japan mir plötzlich alt und müde vor.

Klar, ich war vorbereitet darauf, dass Japan nicht mehr das gleiche Land war, das ich ein Jahrzehnt zuvor verlassen hatte. Die Nation hatte ein kollektives Trauma erlitten, das fortwirkte: Drei Jahre zuvor, im März 2011, waren ganze Küstenregionen in Nordostjapan von dem verheerenden Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami verwüstet worden. Rund 20 000 Menschen waren dabei umgekommen. Durch den Tsunami wiederum war die Reaktorkatastrophe von Fukushima ausgelöst worden, die dann weite Landstriche radioaktiv verseuchte. Auch in Tokio war zeitweise deutlich erhöhte Strahlung gemessen worden. Von Peking, wo ich damals lebte und arbeitete, war ich sogleich nach Japan geflogen, um über das Desaster und seine Folgen zu berichten.

Und natürlich wusste ich, dass dieses Japan, das mir nun müde und erschöpft vorkam, mit einer weiteren Herausforderung kämpfte: Es vergreiste so schnell wie keine andere führende Industrienation. Gerade auch um zu erkunden, wie die Gesellschaft mit ihrem demografischen Wandel und seinen Folgen zurechtkam, war ich jetzt als Korrespondent noch einmal nach Tokio zurückgekehrt.

Innerlich war ich also darauf gefasst, dass Japan in mehrfacher Hinsicht gealtert war. Mit dem Ausmaß der Vergreisung aber, das ich nach meiner Rückkehr wahrnahm, hatte ich nicht gerechnet, ihre Wucht erstaunte mich. Allenthalben sah ich hoch betagte Menschen, die arbeiteten, oft noch spätabends: an der Hotelrezeption, in den Taxis, in den Supermärkten. Was mich indes fast noch mehr berührte: Selbst viele Junge sahen alt und müde aus. Sie lebten offensichtlich im Wohlstand, aber ihnen fehlte, was ich in China und in Indien selbst bei den Ärmsten der Armen oft noch beobachtet hatte – Lebensfreude und Hoffnung.

Ich hatte mir eingebildet, Japan zu kennen, auch weil ich die Landessprache fließend beherrsche. Nun aber merkte ich, dass ich teilweise wieder von vorne anfangen müsse, das Land zu entdecken und einigermaßen zu begreifen.

Zwar gilt nach wie vor: Japan ist ein ökonomischer Gigant. Aber gemessen an einstigen Erfolgen ist die 125-Millionen-Nation dabei, auf ein Normalmaß zu schrumpfen; in vielen Bereichen zehrt sie von ihrer Substanz. Anfang der Neunziger trug sie noch rund 16 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei, fast so viel wie das heutige China. Mittlerweile ist der japanische Anteil auf unter sechs Prozent gesunken. Japan ist zum Paradebeispiel einer Volkswirtschaft geworden, für die der Ökonom und frühere US-Finanzminister Lawrence Summers die Diagnose »säkulare Stagnation« abgegeben hat. Gemeint ist damit eine Art Dauerflaute, in der eine Wirtschaft kaum noch wächst, und wenn, dann nur noch zäh und schleppend.

Das Ende des ungehemmten Wachstums in hoch industrialisierten Ländern wie Japan kann man bedauern. Man kann es aber auch als Chance begreifen für ein längst fälliges Umdenken – hin zu einer Gesellschaft, die sparsamer und nachhaltiger mit ihren Resourcen umgeht. Das alternde Japan könnte das erste führende Industrieland sein, in dem sich der Nachkriegs-Kapitalismus, wie wir ihn in Grundzügen auch im Westen kennen, verabschiedet und – notgedrungen – einer neuen Art des Wirtschaftens Platz macht. Doch wie könnte diese aussehen?

Japan ist weit entfernt davon, eine neue, eigene Vision für das sogenannte postindustrielle Zeitalter zu präsentieren. Es tut sich vielmehr besonders schwer damit, sich von seinem überkommenen Erfolgsmodell zu verabschieden, sich zu erneuern und seine Wirtschaft umzubauen. Dass die japanische Gesellschaft an ihren ungelösten Herausforderungen gleichwohl nicht zerbricht, lässt sich vor allem auf kulturelle Ursachen zurückführen: Die Japaner legen seit jeher Wert auf Konsens und Harmonie. Anders als in Europa oder in den USA wird in dieser Gesellschaft wenig gestritten, die Menschen fügen sich in ihr Schicksal. Sie erwarten wenig vom Staat. Sie leiden meist für sich, still und geduldig.

Das ist Japans Stärke, aber es ist auch Japans Schwäche.

Von dieser durchaus widersprüchlichen Befindlichkeit handelt dieses Buch. Es ist aus der langjährigen persönlichen Beschäftigung mit Japan entstanden und aus der aktuellen Berichterstattung für den SPIEGEL: Es soll eine – zugegebenermaßen subjektive und zwangsläufig auch selektive – Bestandsaufnahme der Herausforderungen liefern, mit denen Japan sich konfrontiert sieht. Es will dabei helfen, die Frage zu beantworten: Wie konnte es dazu kommen, dass Asiens einstige Nummer eins innerhalb weniger Jahre so stark an Glanz verlor? Und wie gehen die Japaner mit ihrem Abstieg um?

Als ich nach Japan zurückkehrte, wurde mir bewusst, wie relativ die Wahrnehmung eines Landes ist. Wie stark sie beeinflusst wird von den Erfahrungen und Erwartungen des jeweiligen Beobachters. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mein neues altes Gastland mit China verglich, mit der aufstrebenden asiatischen Weltmacht, die Japan 2010 als zweitgrößte Industrienation nach den USA abgehängt hatte. Und auch mit Indien, dem anderen großen Schwellenland, das zwar technologisch noch weit hinter Japan hinterherhinkt, aber zumindest in einem Punkt optimistisch in die Zukunft blicken kann: Die Bevölkerung ist dort durchschnittlich erst 27 Jahre alt.

Japan wirkte auf mich dagegen zutiefst verunsichert und zunehmend neurotisch – trotz der großen Vorteile, die das Land nach wie vor genoss: die kulturelle Raffinesse, die hoch entwickelte Infrastruktur, die gesellschaftliche Stabilität. Es verfügte über ein Maß an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das zwar längst nicht immer westeuropäischen Vorstellungen entsprach, aber im Vergleich zu den meisten asiatischen Ländern eine Errungenschaft darstellte. Gleichwohl kam Japan mir zunehmend vor wie ein Auslaufmodell, ein Land, das seine besten Zeiten hinter sich hatte.

Rund drei Jahrzehnte zuvor, bei meinem allerersten Aufenthalt, hatte ich Japan ganz anders kennengelernt. Damals, im Herbst 1985, kam ich direkt aus Deutschland, als Doktorand der Geschichte. Japan wurde weltweit als Asiens Nummer eins bewundert. Schon am Morgen nach meiner Ankunft in Tokio, als ich – ganz der naive Anfänger – völlig allein auf Wohnungssuche ging, staunte ich über die Geschäftigkeit meiner neuen Mitmenschen. Japan glich einer einzigen großen Firma zu Zeiten des Auftragsbooms. In den Straßen und auf Bahnhöfen fand ich nirgends ein Plätzchen zum Ausruhen. Sitzbänke, wie sie in deutschen Fußgängerzonen üblich sind, gab es fast nicht. Europa wirkte im Vergleich dazu, als sei es unter Valium gesetzt worden.

Damals begann die sogenannte Japan-Blase. Kaum jemand bezeichnete sie allerdings so, und kaum jemand schien daran zu zweifeln, dass es immer nur aufwärtsgehen würde mit dem Land. Der Exportgigant forderte Europa und Amerika in vielen Branchen und mit vielen Produkten heraus: von Microchips über Videorekorder bis zu Autos. Japan schien unbesiegbar. An der Börse von Tokio kletterten die Aktienkurse höher und höher. An der Universität, an der ich mich eingeschrieben hatte, tauschten meine japanischen Kommilitonen Anlagetipps aus. Ich müsse unbedingt Aktien von NTT, dem privatisierten Telekom-Riesen, kaufen, riet mir ein Freund, deren Kurs steige gerade in die Höhe. NTT war an der Börse damals zeitweise mehr wert als Daimler, Siemens, Allianz, Deutsche Bank, Krupp, Thyssen, BMW, Bayer, Hoechst und BASF zusammen.

Mit Aktien spekulieren? Dafür reichte mein monatliches Stipendium, das mir der DAAD, der Deutsche Akademische Austauschdienst, gewährte, nicht. Ich hatte schon Schwierigkeiten, meine Miete zu bezahlen, die durch den ungünstigen Wechselkurs des Yen zur D-Mark absurd teuer war. Ich wohnte in einem winzigen Apartment aus Holz und Papier mit einem Wellblechdach drauf. Die dünnen Fenster waren undurchsichtig, aus Kryptoglas. Für Japan war und ist so eine Behausung normal; sie steht heute noch. Ich lebte dort auf sechs Reisstrohmatten, den sogenannten Tatamis. Im Sommer hatte ich es unerträglich heiß und schwül, im Winter bitterkalt: Wenn ich morgens auf meinem Futon aufwachte, konnte ich den eigenen Atem sehen, so dünn waren die Wände.

Im Vergleich zu Deutschland kam mir die japanische Wohnkultur ärmlich vor. Doch wenn ich dann sah, wie meine Nachbarn morgens in Anzug und Krawatte aus ebensolchen Holzbuden zur Arbeit gingen und oft erst spätabends wieder darin verschwanden, empfand ich Respekt, ja fast ein Gefühl der kulturellen Unterlegenheit: Die Japaner schienen sich nicht zu scheren um den Komfort, in dem ich aufgewachsen war. In ihrer Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit erkannte ich einen wesentlichen Grund für ihren Aufstieg, den die Welt nun bewunderte.

Ich war nach Japan gekommen, um meine Sprachkenntnisse zu vervollständigen und Material für meine Doktorarbeit zu sammeln. Sie handelte von Japans früher Außenpolitik, davon, wie das Kaiserreich nach Öffnung durch den Westen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Asien politisch, militärisch und wirtschaftlich expandiert hatte. Ich wollte die historische und ideologische Grundlegung des japanischen Führungsanspruchs in Ostasien erkunden. Ich wollte verstehen, was das Kaiserreich 1941 dazu getrieben hatte, die USA mit dem Überraschungsangriff auf den pazifischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii herauszufordern. Und was Japan dann nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg dazu beflügelt hatte, seine Offensiven auf dem Schlachtfeld der Wirtschaft fortzusetzen.

Mein Thema passte in die geopolitische Wahrnehmung der Achtzigerjahre, in denen Japan in Europa und den USA als Bedrohung wahrgenommen wurde. Das Inselland erschien vielen damals so übermächtig wie China heute. Die Volksrepublik hatte sich zwar 1978 unter dem Reformer Deng Xiaoping für die Außenwelt geöffnet, doch als Wirtschaftsmacht spielte sie damals noch keine Rolle. Wenn von Asien die Rede war, blickte die Welt vor allem nach Japan. Und das blieb so – bis Japans Aktien- und Immobilienblase dann lautstark platzte.

Ich erlebte den Beginn des Niedergangs ab 1990 als Korrespondent in Tokio. Wieder staunte die Welt über Japan, doch diesmal staunte sie über dessen unfassbaren Abstieg. Japan rang mit drei Herausforderungen gleichzeitig: mit den Folgen der geplatzten Wirtschaftsblase; mit dem Ende des Kalten Krieges, von dem Japans Politiker völlig überrascht wurden; und zunehmend auch mit den Auswirkungen der Globalisierung. Immer tiefer schlitterte das Land in die Krise. Von einem »verlorenen Jahrzehnt« war die Rede, dem dann mindestens ein weiteres folgte. Nippons Banken ächzten unter faulen Krediten von Milliarden US-Dollar. Und zeitweise zitterte die Welt gar vor einem globalen Finanzcrash mit Epizentrum Tokio.

Im Frühsommer 2004 hatten viele Japan abgeschrieben. Die Welt blickte auf China, das neue Reich der Superlative. Mit meiner Familie – meine Frau ist Japanerin, meine Kinder wurden in Tokio geboren und gingen dort zur Schule – wechselte ich für den SPIEGEL nach Shanghai, in die Wolkenkratzer-Metropole, die rasant emporwuchs und nun ein ganz neues Asien symbolisierte. Von hier aus betrachtet, schien Japan immer weiter an den Rand des globalen Geschehens zu rücken. Die chinesische Weltfabrik brummte, sie kam mir vor wie ein gewaltiger Staubsauger, der auch große Bereiche der japanischen Industriefertigung schluckte: Immer mehr japanische Firmen verlagerten ihre Fabriken für Fernseher, Computer, Handys nach China.

Doch nach einigen Jahren, etwa um die Olympischen Sommerspiele von Peking 2008, wurde absehbar, dass der erste große Schwung des chinesischen Wirtschaftswunders erlahmte. Das Reich der Mitte sah sich nun zunehmend vor ähnlich großen strukturellen Herausforderungen, mit denen zuvor bereits Japan, Südkorea und Taiwan konfrontiert gewesen waren und es teilweise immer noch sind: Nach der Phase der Industrialisierung in Form der Massenproduktion galt es, eine höhere Stufe der Entwicklung zu erklimmen – und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht.

Zwar spielt das Riesenreich China in einer Sonderklasse für sich, schon wegen seiner Milliardenbevölkerung, seiner Landmasse und der viel größeren geopolitischen und militärischen Ambitionen, die es hegt. Doch die Anzeichen mehrten sich, dass eben auch dieser Aufsteiger an erste Grenzen seines wirtschaftlichen Wachstums stieß, und zwar viel schneller als zuvor Japan oder Südkorea. Denn China war noch viel rascher gewachsen als die Nachbarn, sozusagen im Zeitraffer. Hinzu kam, dass auch die Chinesen anfingen zu vergreisen, was vor allem der sogenannten Ein-Kind-Politik geschuldet war, die inzwischen gelockert worden ist. Ökonomen warnten, China werde alt, bevor es reich geworden sei.

Und so ergab es sich fast zwangsläufig, dass ich verstärkt wieder auf Japan blickte, jene Vorreiternation, die dem übrigen Asien einst die Blaupause der industriellen Revolution geliefert hatte. Am Beispiel Japans lässt sich nicht nur die Vergänglichkeit von Erfolg studieren, sondern auch die Flüchtigkeit der oft allzu kurzatmigen, euphorischen oder alarmistischen Prognosen zeitgenössischer Ökonomen und Journalisten. Zudem lassen sich in Japan auch Anhaltspunkte finden für den möglichen Fortgang der Industrialisierung im übrigen Asien. Und damit Stoff für die Diskussion über die Frage: Was passiert mit einer gereiften, alternden und teilweise schrumpfenden Volkswirtschaft, die nicht mehr oder kaum noch wächst?

Die Verfallserscheinungen, die das alternde Japan prägen, erlauben dabei nicht nur Rückschlüsse auf die mögliche künftige Entwicklung asiatischer Aufsteiger wie China oder Südkorea. Japan liefert teilweise auch ein Lehrbeispiel für gereifte Industrienationen wie Deutschland. Gerade weil es sich so bedingungslos der Wachstumsideologie verschrieb, leidet das Land nun besonders früh und besonders krass unter den Symptomen einer post-industriellen Gegenentwicklung, die in abgeschwächter Form längst auch in Deutschland festzustellen sind: eben die Vergreisung der Bevölkerung, die Entvölkerung ländlicher Regionen, die Überlastung der Sozialsysteme.

Wenn westliche Ökonomen vor einer »Japanisierung« ihrer Volkswirtschaften warnen, dann, weil Japan seit Jahrzehnten eine Erfahrung macht, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008 zeitweise auch Europa und den USA drohte. In den »verlorenen Jahrzehnten« seit der geplatzten Wirtschaftsblase schlitterte Japan immer wieder in eine moderate Deflation. Dabei handelt es sich um einen ökonomischen Zustand, in dem die Preise für Waren und Dienstleistungen fallen und damit auch die Gewinne der Unternehmen und die Löhne der Beschäftigten. Auch deshalb wird das Land immer wieder als abschreckendes Beispiel angeführt.

Lange wurden die Japaner als Nachahmer belächelt. Tatsache ist: Traditionelle japanische Handwerker sind seit jeher stolz darauf, bewährte Muster so lange nachzuahmen, bis sie deren Niveau erreicht und gar übertroffen haben. Heute aber besitzt Japan praktisch kein Vorbild mehr, dem es nacheifern könnte: Es hat im Grunde alles erreicht, was es am Westen bewundert und kopiert hat. Es müsste nun selbst den nächsten Schritt tun und eine neue Ära des sogenannten postindustriellen Zeitalters beginnen. Es könnte der Welt zeigen, wie eine Gesellschaft auch künftig in Wohlstand und Frieden leben kann, obwohl sie älter und älter wird und kaum noch wächst. Japan müsste sich entscheiden, welche Rolle es künftig in der Welt spielen will – wirtschaftlich, politisch und militärisch.

Und tatsächlich gibt es einen japanischen Versuch, eine Lösung zu finden, gleichsam ein Allheilmittel für die Erneuerung des Landes. Es handelt sich um die ultralockere Kreditpolitik, mit der die Notenbank in Tokio seit Jahren Geld in den ermatteten Wirtschaftskreislauf pumpt. Auf diese Weise will sie Politikern und Unternehmern Zeit verschaffen, nötige Anpassungsprozesse für die Zukunft vorzunehmen. Diese Politik ist auch bekannt als »Abenomics«, so benannt nach dem nationalistischen Premier Shinzo Abe, der Japan seit Ende 2012 regiert. Wie lange er sich im Amt halten würde, war im Sommer 2018 ungewiss. Aber sein Lösungsansatz dürfte das Denken der Planer in Tokio noch länger beeinflussen. Von der neuen Wirtschaftsblase, die er entfachte, soll daher im fünften und letzten Kapitel dieses Buches ausführlich die Rede sein. Dabei dürfte deutlich werden, dass die Politik des Gelddruckens in erster Linie eine nostalgisch verklärte Vergangenheit beschwört. Aber ein nachhaltiges Wachstumskonzept für alternde Industriegesellschaften liefert sie nicht.

Unter der Fassade des künstlichen Booms, der vor allem in Tokio zu besichtigen ist, tun sich immer größere wirtschaftliche und soziale Widersprüche auf. Von ihnen handelt das erste Kapitel, es geht der Frage nach: Wie lebt es sich in einem Land, in dem die Menschen immer älter werden und in dem die Bevölkerung schrumpft? Wie kommen junge Japaner in so einer Gesellschaft zurecht? Die Antwort ist so naheliegend wie deprimierend: Eine Gesellschaft, die immer älter wird, vermittelt ihrem Nachwuchs kaum noch Hoffnung.

Bislang bringt Japan weder den Mut auf noch die Fantasie, kreativen Köpfen neue Freiräume und Perspektiven aufzuzeigen. Wie es diese Chance verpasst, soll im zweiten Kapitel exemplarisch verdeutlicht werden. Es handelt von den Folgen der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Die Nation hat das Trauma dieses atomaren Desasters vom März 2011 längst nicht verarbeitet, nur verdrängt. Die Sturheit, mit der die Obrigkeit die – auf lange Sicht unausweichliche – Energiewende nach dem GAU verschleppt, ist für ausländische Beobachter oft nur schwer zu begreifen. Das ideologisch verbohrte Festhalten an der Kernenergie zeigt, warum Japan auch auf anderen Gebieten nur widerstrebend von seinem überkommenen Wirtschaftsmodell abrückt.

Doch diese Verweigerungshaltung ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Denn andererseits greift Japan geradezu besessen und bedenkenlos neue Technologien und neue Trends auf, beispielsweise beim Einsatz von Robotern, die in Hotels und Altersheimen arbeiten. Oder bei der Magnetschwebebahn, die derzeit gebaut wird und die bis 2045 Tokio und Osaka verbinden soll: Der Superschnellzug soll rund 500 Kilometer pro Stunde zurücklegen und damit fast doppelt so schnell sein wie der bisherige Shinkansen. Er ist das japanische Pendant zum Transrapid, jener Magnetschwebebahn, die in Deutschland an hartnäckigen Widerständen scheiterte und schließlich nach Shanghai verkauft wurde.

Wer versucht, diese auch kulturell bedingte Widersprüchlichkeit zu begreifen, kommt nicht umhin, sich einen groben Überblick über Japans historischen Werdegang zu verschaffen. Dies soll im dritten Kapitel geschehen, das zwangläufig aus dem Rahmen der übrigen, eher erzählenden Abschnitte des Buches fällt: Es blickt zurück auf Japans Aufholjagd seit der Öffnung durch den Westen Mitte des 19. Jahrhunderts und reicht bis in die Krisen der Gegenwart.

In Deutschland ist nach wie vor relativ wenig bekannt über die japanische Geschichte, obwohl es frappierende Parallelen zwischen beiden Ländern gibt. Der Freiburger Historiker Bernd Martin, ein ausgewiesener Japan-Kenner, spricht gar von einer »verhängnisvollen Wahlverwandtschaft«: Beide Nationen sind Nachzügler gegenüber dem Westen, in beiden Fällen trieb der Staat die wirtschaftliche und militärische Modernisierung auf autoritäre Weise von oben voran. Beide Länder verbündeten sich im Zweiten Weltkrieg mit dem faschistischen Italien gegen die angelsächsischen Demokratien, beiden gelang nach den verheerenden Niederlagen 1945 jeweils ein erstaunlicher Wiederaufstieg – diesmal allerdings mit wirtschaftlichen Mitteln.

Im vierten Kapitel soll die Frage erörtert werden, warum einstige Kultmarken des japanischen Wirtschaftswunders innerhalb nur weniger Jahrzehnte dramatisch an Glanz eingebüßt haben. Hersteller wie Sony, Sharp oder Sanyo prägten mit ihren Radios, Fernsehern und Computern den Lebensstil von Generationen. Ihre Label prangten zeitweise auf vielen Geräten in westlichen Haushalten. Inzwischen wurden sie häufig abgelöst durch südkoreanische oder chinesische Namen wie Samsung oder Haier.

Dass Erfolgsmarken irgendwann verblassen, verschwinden oder nur noch als Etikett unter einem neuen Konzerndach weiter existieren, das hat es immer schon gegeben. Auch in Deutschland. Wer spricht heute noch von Grundig, Nordmende oder Schaub Lorenz? Doch der Abstieg der einst gefürchteten japanischen Elektronikindustrie verlief atemberaubend schnell. Er kann auch als Weckruf verstanden werden für Deutschland, dessen Autoindustrie vor einem ähnlich grundlegenden Umbau steht, nicht zuletzt wegen des Dieselskandals. Im Fall Japan hielten die Elektronikhersteller zu lange an der überkommenen Massenfertigung fest. Zu stur verharrten sie in ihrer hierarchischen Firmenkultur, die auf den Konsens der Gruppe setzt statt auf individuelle Kreativität.

Die japanische Elektronikindustrie war eine der wichtigsten Säulen der heimischen Nachkriegswirtschaft, der sogenannten Japan AG. Sie wirft inzwischen immer kürzere Schatten. Auch sie steht vor der Aufgabe, die auf das ganze Land wartet und die ihm noch schmerzliche Anpassungsprozesse abverlangen dürfte: Letztlich muss Japan sich völlig neu erfinden. Auf welche Weise das geschehen wird, kann niemand vorhersagen, das müssen die Japaner selber herausfinden. Dabei haben sie immerhin einen Trost: Firmen und Markennamen kommen und gehen. Nationen aber, gerade so bedeutende wie Japan, gehen nicht einfach unter. Egal, ob sie ihre Herausforderungen meistern oder nicht.

Kapitel I: Land ohne Hoffnung

Kapitel I
LAND OHNE HOFFNUNG

Die schrumpfende Nation

Morgens kurz vor halb sechs wird Yuma von seinem Fernseher geweckt, das Gerät ist programmiert und schaltet sich automatisch an. »Asa-chan« heißt das beliebte Morgenprogramm eines Privatsenders, das viele Japaner fröhlich und aufgekratzt im neuen Tag begrüßt. Meist braucht Yuma nicht lange, um aufzustehen und sich fertig zu machen für seinen Arbeitstag. Unterwäsche, Hose, Hemd, Socken – alles liegt in Griffweite. Das Zimmer im Obergeschoss seines Elternhauses im Westen von Tokio ist nicht viel größer als der Futon, auf dem Yuma schläft.

Yuma ist 35, er lebt seit seiner Kindheit in diesem Zimmer, das von dem Flachbild-Fernseher beherrscht wird. Hier hat er fast seine ganze Schulzeit verbracht. Hier blieb er wohnen, auch nachdem er mit der Oberschule fertig war und dann anfing, als Verkäufer in einer Supermarktkette zu arbeiten. Und wie es aussieht, wird er in diesem Zimmer auch noch aufwachen, wenn er alt ist und nicht mehr arbeiten kann, unverheiratet und ohne je eine Familie gegründet zu haben.

Yuma wohnt mit seinem Vater zusammen, einem städtischen Beamten. Auch Yumas jüngerer Bruder lebt hier noch, im Zimmer nebenan; er arbeitet bei einer Wohnungsverwaltung und ist ebenfalls Single. Die Mutter zog vor Jahren aus. Seither kommen die drei Männer alleine zurecht, jeder für sich. Sie treffen sich höchstens mal auf dem Weg zum Badezimmer, ansonsten bekommen sie wenig voneinander mit.

Yuma hatte noch nie eine Freundin. Den vagen Wunsch, auszuziehen und mit einer Frau zusammenzuleben, hat er noch nicht völlig abgeschrieben, aber er unternimmt auch nichts, um ihn sich zu erfüllen. Vor Jahrzehnten, als Japan oft noch wie eine Großfamilie funktionierte, hätte ein Vorgesetzter oder eine ältere Nachbarin Yuma vielleicht eine Heiratskandidatin vorgestellt. Damals waren die Japaner zahlreich, und jemand, der mit über 30 noch alleine lebte, wurde schräg angeguckt. Doch heute gelten andere Kriterien: Um eine Familie gründen und Kinder großziehen zu können, verdient Yuma zu wenig Geld. Japanerinnen bevorzugen Ehemänner, die in Konzernen arbeiten oder als Beamte, einen wie Yuma wollen sie nicht. Er ist zwar gesund und kräftig, er sieht gepflegt aus und er hat Aussichten, eines Tages zum Filialleiter eines Supermarkts aufzurücken, doch viel mehr verdienen wird er auch dann nicht.

Ich kenne Yuma seit seinem zweiten Lebensjahr, er gehört zur Verwandtschaft meiner japanischen Frau. Ich habe miterlebt, wie er aufwuchs, ziemlich normal, wie Millionen Gleichaltrige. Ich war manchmal dabei, wenn er Zeichentrickfilme im Fernsehen schaute, Baseball spielte und dann irgendwann auf seiner ersten Playstation zockte. Er war ein umgänglicher Junge, fast immer gut gelaunt. Wenn ich herausfinden wollte, wofür sich Japans Nachwuchs gerade begeisterte, brauchte ich nur Yuma zu fragen.

Wenn ich mich heute mit Yuma verabreden will, dauert es meist lange, bis er einen Tag findet, an dem er freihat. Er muss von früh bis spät arbeiten, oft auch an Wochenenden. Wenn wir uns treffen, bin ich oft schockiert über sein Aussehen. Zwar begrüßt er mich fröhlich, das liegt in seiner Natur, aber er sieht erschöpft und ausgezehrt aus. Unter seinen Augen haben sich dunkle Ringe eingegraben. Sie erzählen vom ermüdenden Alltag in einem Land, das so rasend schnell vergreist wie kaum eine andere führende Industrienation. Einem Land, in dem auch jüngere Menschen immer länger arbeiten müssen.

Jedes Jahr verkündet die Regierung in Tokio die neueste Einwohnerstatistik, so auch im Sommer 2018. Es handelt sich um dröge Routine, doch die Entwicklung, die sich hinter den Zahlen verbirgt, ist dramatisch. Sie müsste das ganze Land alarmieren: Seit neun Jahren in Folge schrumpft die Bevölkerung. Per 1. Januar 2018 lebten im Land über 125,2 Millionen Japaner, das waren 374 055 weniger als im Vorjahr. Der Bevölkerungsschwund des letzten Jahres war so groß, als hätte Japan in nur zwölf Monaten eine Stadt in der Größenordnung von Bochum verloren. Weit über ein Viertel der Bevölkerung – exakt 27,66 Prozent – war 65 Jahre alt oder älter, so viele Menschen wie noch nie. Damit war der Anteil der Alten bereits mehr als doppelt so hoch wie jener der unter 15-Jährigen.

Ensprechend düster sieht die Zukunft aus. Schätzungen zufolge dürfte die Bevölkerung Japans bis 2060 um ein Drittel schumpfen. Die negativen Folgen für die Wirtschaft lassen sich bislang nur erahnen: Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter dürfte bis 2065 auf knapp 40 Millionen sinken, gegenüber 2016 wäre das ein Rückgang um 40 Prozent. Zu wenige Junge rücken nach. Die Geburtenziffer ist zu niedrig, um den Trend zur Vergreisung zu wenden. Sie betrug 2017 nur 1,43. Dieser statistische Wert gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtsverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweiligen Jahr. Bei Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit lag die Vergleichsziffer 2016 mit je 1,46 Kindern nur wenig höher.

Die Japaner leben im Durchschnitt immer länger, und darauf waren sie lange durchaus stolz: Alljährlich, zum Tag der Ehrung der Alten, den die Nation am dritten Montag im September als amtlichen Feiertag begeht, bekamen die über Hundertjährigen im Namen des Premiers Silberbecher überreicht. Doch inzwischen ist diese respektvolle Geste dem Staat zu teuer geworden. Im Jahr 2016 lebten bereits 65 692 über Hundertjährige in Japan, etwa so viele, wie eine mittlere deutsche Stadt Einwohner hat. Von den Hochbetagten waren 87,5 Prozent Frauen. Bei der ersten offiziellen Zählung 1963 hatte Japan dagegen erst 153 Hundertjährige. Dieser Tage, wo die Jubilare zahlreicher und zahlreicher werden, sind die Becher, die sie geschenkt bekommen, nur noch versilbert.

»Im Supermarkt müssen wir mit immer weniger Kollegen arbeiten«, berichtet Yuma, »zugleich werden unsere Kunden weniger und immer älter.« Japan, so kommt es ihm manchmal vor, stirbt allmählich aus. Es wird immer schwieriger, Personal zu finden. Im Supermarkt arbeiten die meisten als Teilzeitkräfte, viele davon Hausfrauen oder ausländische Studenten. Häufig wird Yuma in andere Filialen in Tokio gerufen, um Kollegen zu ersetzen, die plötzlich krank geworden sind oder ganz aufgehört haben zu arbeiten. An Urlaub ist nicht zu denken. Er sagt: »Würde ich länger als sechs Tage pro Jahr freinehmen, brächte ich meine Kollegen in Schwierigkeiten, denn die müssten dann ja für mich mitarbeiten.«

Yuma käme nie auf die Idee, sich zu beklagen. Er hat von klein auf gelernt, sich einzufügen in eine Gesellschaft, die großen Wert auf Harmonie legt. Gleich nach dem Aufstehen verlässt er das Haus. Sein Frühstück besorgt er sich in einem der 24-Stunden-Läden, die es an jeder Ecke gibt und in denen die Japaner nicht nur Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen, sondern auch Geld überweisen, Rechnungen bezahlen oder Konzerttickets kaufen. Der Laden, in dem sich Yuma morgens meist zwei Reisbällchen und eine Flasche grünen Tee kauft, liegt direkt am Bahnhof. Von dort fährt er fast eine Stunde lang mit einem Pendlerzug.

Immer neue Passagiere quetschen sich in den überfüllten Waggon. Niemand beschwert sich, es herrscht diszipliniertes Schweigen. Die meisten sind in ihre Smartphones vertieft, auch Yuma. Mit seinem Smartphone erledigt er fast alles: Videospiele spielen, Filme schauen, Musik hören und manchmal auch mit früheren Schulfreunden chatten. Das Smartphone ersetzt ihm vieles von dem, wonach seine Eltern noch strebten, als sie jung waren: Auto, Eigenheim und eben auch die eigene Familie. Yuma sagt: »Meine Generation hat andere Werte.«

Er spricht erstaunlich offen darüber, dass er Single ist und es wohl auch bleiben wird, wie viele Männer und Frauen seiner Generation. Bis zum Jahr 2040 dürften rund 40 Prozent der Japaner allein leben, errechnete das Nationale Institut für Studien zur Bevölkerung und zur sozialen Sicherheit. Für Yuma ist das nicht irgendeine Zahl, es ist die Realität, in der er lebt. Wenn man ihm zuhört, denkt man unwillkürlich an Reportagen über japanische Männer, die mit Silikonpuppen leben. Oder an spezielle Cafés und Massagesalons, wo als Schulmädchen verkleidete Frauen den Einsamen allerlei Formen der Zärtlichkeit anbieten – vom harmlosen Streicheln bis zum Sex gegen Bezahlung. All diese Dienstleistungen gibt es in Japan, aber für die meisten Menschen spielt sich der Alltag nicht so exotisch ab, sondern verläuft eher trist und öde wie der von Yuma. Er hat sich längst daran gewöhnt, er kennt nichts anderes. Er lebt im Rhythmus der Schichteinteilungen bei der Arbeit und der Fahrpläne der Pendlerzüge.

In seiner Mittagspause speist Yuma oft in einem Restaurant nahe seinem Supermarkt, es ist eines der letzten, die hier noch geöffnet haben. Im umliegenden Wohnviertel, das in den Siebziger- und Achtzigerjahren aus dem Boden gestampft wurde, stehen immer mehr Häuser und Apartments leer; viele alte Bewohner sind weggezogen oder verstorben. »Irgendwann wird auch unser Supermarkt schließen«, vermutet Yuma. Wenn es so weit ist, wird er wohl in eine andere Filiale versetzt werden. Zum Glück ist er fest angestellt. Das ist mittlerweile ein Luxus in Japan, wo rund 40 Prozent der Arbeitskräfte als sogenannte »Hiseiki«, als »Nicht-Reguläre«, arbeiten. Gleichwohl sorgt er sich um seine Zukunft. Er sagt: »Wenn es immer weniger junge Menschen gibt, wer wird dann später meine Rente finanzieren?«

Yuma interessiert sich nicht für Politik, er geht nicht wählen. Aber er bekommt hautnah mit, wie dramatisch sich sein Land verändert. Er ist umgeben von alten Menschen, von denen viele immer länger arbeiten: Sie begrüßen Touristen an den Rezeptionen der Hotels, sie fahren Taxis oder Busse, sie weisen Autos auf Parkplätze ein, sie putzen frühmorgens Büros, sie liefern oft spätabends noch Pakete aus. Jeder, der noch einigermaßen fit ist, wird gebraucht.

Die Vergreisung liegt wie ein grauer Schleier über Japan: Das Fernsehen bringt zur besten Sendezeit Werbespots für Senioren-Windeln und elektronisch verstellbare Pflegebetten. Die Tageszeitungen drucken ihre Artikel in extragroßen Schriftzeichen für die Alten. Die Restaurants servieren oft immer kleinere Portionen, abgestimmt auf den geringeren Appetit ihrer Gäste, die immer älter werden. Im Wahlkampf umwerben Politiker bevorzugt Rentner und verheißen ihnen soziale Wohltaten – auch wenn die Zusagen dann oft nicht eingehalten werden –, denn die Alten gehen am verlässlichsten zur Wahl. Japan wird auch als »Silber-Demokratie« bezeichnet.

Allenthalben ist vom Altern und vom Sterben die Rede. Das Geschäft mit dem Tod ist eine Branche mit Zukunft, so makaber es klingt. In Tokio findet regelmäßig eine Ausstellung der »Industrie für das Lebensende« statt, sie zieht weit über 20 000 Besucher an. Allenthalben werben Bestatter um Kunden, Probeliegen im Sarg inklusive. Neuerdings beliebt: Ruhestätten, die sich in Hochhäusern befinden. Von außen sehen die Anlagen wie Wohnblocks aus. Preiswerter, weil platzsparend, sind dagegen Urnengräber, die über- und nebeneinander aufgereiht werden – wie Schließfächer in einem Bahnhof.

Das Fernsehen sendet Tipps zur Vorbeugung gegen Demenz, immer wieder empfohlen: das Kauen von Kaugummis, dreiminütige Meditationen und eine Ernährung, die reich an Vitamin B ist. Das Wirtschaftsmagazin »Toyo Keizai« bringt eine Titelgeschichte über die »befriedigende Art zu sterben«. Und die Frauenzeitschrift »Josei Seven«, die ihre Leserinnen einst eher mit Klatsch und Kosmetiktipps versorgte, veröffentlicht ein Ranking von Städten, in denen man gut betreut die letzten Lebensjahre verbringen kann. Am besten schneidet dabei Yokosuka ab, eine Hafenstadt bei Tokio.

Das kollektive Altern verändert auch das Konsumverhalten. Verglichen mit Deutschland ist Japan weniger eine Gesellschaft von Bürgern, die politisch mitreden oder mitentscheiden; eher kann man die Bevölkerung als Gesellschaft von Verbrauchern bezeichnen. Der Konsum ist das Vehikel, über das die Japaner am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Freizeit oder das, was sie darunter verstehen, vertreiben sie sich im Rhythmus der Werbekampagnen. Anders als oft vermutet, verbraucht die Nation die meisten Waren und Dienstleistungen, die sie produziert, selbst. Es war der heimische Markt, auf dem die Konzerne lange das Geld verdienten, mit dem sie ihre Exportoffensiven finanzierten. Doch mit der Bevölkerung schrumpft auch dieser Absatzmarkt. Allein Toyota verkaufte in Japan 2015 rund 200 000 Autos weniger als zehn Jahre zuvor.

Japans Wirtschaftsplaner sehen sich mit einer Herausforderung konfrontiert, die mit herkömmlichen Theorien kaum zu lösen ist: Wer will langfristig noch in einem Land investieren, in dem immer weniger Verbraucher leben? Die Alterung ist mitverantwortlich für die Dauerkrise, unter der Japan seit der geplatzten Wirtschaftsblase der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre leidet. Zwar genoss das Land noch im Frühjahr 2018 eine wirtschaftliche Erholungsphase, die nun bereits sechs Jahre währt und damit eine der längsten der Nachkriegszeit ist. Doch im Alltag merkten und merken die Bürger davon wenig. Sie knausern mit ihrem Geld. Um den flauen Konsum auszugleichen, pumpt der Staat seit über zwei Jahrzehnten Milliarden in den schlaffen Wirtschaftskreislauf. Auf diese Weise hat das Land sich mit mehr als dem Doppelten seiner gesamten Wirtschaftsleistung verschuldet, so hoch wie kein anderes führendes Industrieland.

Das Hauptproblem, das die Regierung auf diese Weise bekämpfen will, bekommt sie jedoch nicht dauerhaft in den Griff: die Deflation, also den Verfall der Preise. Zwar sinken die Preise mittlerweile kaum noch oder nur noch moderat, gleichwohl gibt es kaum Grund zur Entwarnung. Denn je weniger Waren gekauft werden, desto eher sinken die Preise. Dadurch wiederum sinken die Gewinne der Firmen, die immer weniger investieren und ihren Beschäftigten immer niedrigere Löhne zahlen. Und im schlimmsten Fall horten dann alle nur noch Geld, Firmen wie Verbraucher.

Mit dieser deflationären Realität plagt Japan sich also seit Jahrzehnten herum, mal weniger, mal mehr. Fast könnte man vermuten, dass der Verfall sich auch im Straßenbild zeigt: etwa mit Slums, wie es sie in anderen Industrieländern gibt, mit kaputten Fensterscheiben, bröckelnden Fassaden, verdreckten Hauseingängen. Doch Japan altert in Würde. Das gilt auch für ein einstiges Neubaugebiet im Westen von Tokio, das inzwischen indes gar nicht mehr neu ist, sondern immer älter aussieht. Yuma verbrachte in diesem Viertel seine ersten Lebensjahre, auch jetzt fährt er jeden Morgen mit dem Zug daran vorbei: Es heißt Tama New Town.

Zukunft: Kompakte Stadt

Das Stadtviertel, von dem hier die Rede ist, symbolisierte einst Japans Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg: Bulldozer rückten an und trugen Hügel um Hügel ab, um Platz für moderne neue Apartmentblocks zu schaffen. Mit einer Fläche von rund 3000 Hektar war Tama New Town größer als 4000 Fußballfelder. Die weiß getünchten Blocks sahen alle gleich aus, wie Schachteln, sie unterschieden sich nur durch die Nummern, die an ihren Fassaden prangten. Rund 350 000 Menschen zogen in ihnen ein. Tama New Town wurde die größte Wohnanlage dieser Art in Japan und ein Vorbild für ähnliche Projekte im Land.

Als Mieko Terada 1976 mit ihrer Familie hierherzog, war die Anlage bereits fünf Jahre alt. Für die gelernte Bibliothekarin und ihren Ehemann – er arbeitete bei einem Hersteller für Audiogeräte – hatte sich ein Traum erfüllt. Sie fühlten sich als Teil der aufstrebenden Mittelschicht. Ihre neue Wohnung war nicht groß, aber die Familie besaß nun ein eigenes Bad; nicht länger mussten sie sich im Sento, einer öffentlichen Badeanstalt, waschen. Statt in einem zugigen Haus aus Holz und Papier lebten sie warm hinter Beton und Glas.

Anfangs sah es noch kahl aus in der New Town, aber auf den Grünflächen tobten viele Kinder. Junge Mütter schoben Kinderwagen durch die Einkaufsstraßen des Areals, in denen sich Laden an Laden reihte. An den Wochenenden gesellten sich die Väter hinzu.

»Damals herrschte hier Aufbruchstimmung«, erinnerte sich Terada, als sie mich im Sommer 2016 im »Fukushi-Tei«, dem »Wohlfahrtscafé«, empfing. Terada kam gerade aus der Küche, aber sie sah nicht aus wie eine Wirtin. Sie war hier so etwas wie eine Sozialarbeiterin, auch wenn sie sich nicht so nannte. Sie arbeitete ehrenamtlich. Das »Fukushi-Tei« war ein Treff für Senioren, deren Zahl in der New Town rapide zunahm. Es befand sich in einem früheren Laden, der längst geschlossen war, wie die meisten umliegenden Geschäfte.

Terada war 68 und Rentnerin, sie gehörte eindeutig zu den Jüngeren in dem Café. Sie zeigte aus dem Fenster und sagte: »In der Nachbarschaft stehen immer mehr Apartments leer.« Von den einst 350 000 Einwohnern lebten nur noch 220 000 Menschen in der Tama New Town. In einigen Bereichen der Anlage war fast die Hälfte der Bewohner bereits 65 Jahre alt oder älter. Mehrere Kindergärten und Schulen waren geschlossen, für immer. Kinderwagen sah ich hier keine, dafür aber umso mehr Rollatoren, die von Greisen geschoben wurden.

Das Ehepaar Terada wohnte noch immer im selben Apartment. Ihre Kinder waren längst erwachsen und ausgezogen. Die meiste Zeit verbrachte Frau Terada im Seniorentreff. »Wir wollen hier ein Modell schaffen für ganz Japan«, sagte sie, »eine Gesellschaft, die altert, kann nur überleben, wenn wir uns gegenseitig helfen.«

Morgens um neun Uhr öffnete das Café, das auch warme Mahlzeiten servierte. Es war ein zweites Zuhause für viele Alte, die in ihren Apartments sonst vereinsamt wären. An den Tischen spielten sie Go und andere Brettspiele. Freiwillige halfen ihnen dabei, Anträge für die Pflegeversicherung auszufüllen oder Einkäufe zu organisieren. Da viele Geschäfte in der Nähe aufgegeben hatten, mussten die Alten nun in dieser Siedlung, die einst für junge Menschen gebaut worden war, zum Einkaufen weite Strecken zurücklegen. Um zum nächsten Bahnhof zu gelangen, hatten sie steile Treppen zu überwinden. In den Blocks gab es meist keine Fahrstühle.

Viele der älteren Bewohner verließen ihre Apartments nur noch selten. »Besonders alleinstehende Männer sind oft zu stolz, ihre Nachbarn um Hilfe zu bitten«, berichtete Terada. Ein Gast ihres Cafés sei eines Tages plötzlich nicht mehr gekommen. »Ich rief mehrmals bei ihm zu Hause an, aber niemand meldete sich; ich dachte, er wäre verreist.« Wochen später habe man seine Leiche in der Wohnung gefunden. »Kodukushi« – »Tod in Einsamkeit« – nennen die Japaner dieses Phänomen, das längst zum Alltag gehört.

Terada sorgte sich zunehmend um ihre eigene Zukunft. Noch zehn Jahre wollte sie im »Fukushi-Tei« aktiv sein. »Aber dann werde ich wohl selber Hilfe benötigen.«

In zehn Jahren – dann dürfte ganz Tokio sehr alt sein und sehr grau: Bereits 2025 wird die Generation der einstigen Babyboomer über 75 sein und damit in einem Alter, in dem sie immer mehr Hilfe benötigt. Mit der Bevölkerung von Tokio wird dann auch die Wirtschaft schrumpfen, warnt der Demografie-Experte Akihiko Matsutani in seinem Buch »Tokyo Rekka« – »Der Verfall Tokios«. Viele Viertel der Hauptstadt könnten verwahrlosen wie Teile von New York in den Siebzigerjahren. Bis 2060 könnte Tokio um drei Millionen Menschen schrumpfen – das wären etwa so viele Menschen, wie im heutigen Berlin wohnen.

Für ausländische Touristen, die das pralle Leben im neonglitzernden Zentrum von Tokio kennenlernen, muss so eine Untergangsvision absurd klingen. Denn derzeit wächst die 13,5-Millionen-Hauptstadt noch, sie lockt immer mehr Junge und Ehrgeizige an. Dadurch allerdings entvölkern sich die ländlichen Gegenden immer mehr. Und es verstärkt sich ein Trend, der im hoch zentralisierten Japan seit jeher gilt: Wer es im Leben zu etwas bringen will, zieht nach Tokio.

Die Hauptstadt ist ein Magnet, sie zieht die Energien von Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft an. Hier drängen sich die Elite-Universitäten, die Konzernzentralen und natürlich alle wichtigen Behörden. Die Konzentration in der Hauptstadt nimmt momentan weiter zu – trotz aller Beschwörungen von Politikern, Japan müsse seine Regionen wiederbeleben. Allein im Jahr 2015 verlegten 335 Unternehmen ihre Zentralen nach Tokio oder in eine der drei benachbarten Präfekturen, meldete der Statistikdienst Teikoku Databank. Rund 120 000 Menschen drängen pro Jahr neu in den Ballungsraum.

Kein Wunder, dass Warnungen vor einem Rückgang der Bevölkerung wenig Gehör finden. Denn im Alltag wird die Megacity ja immer voller, immer stressiger. Ähnlich wie Yuma, mein Verwandter, pendeln die meisten Menschen in überfüllten U- und S-Bahnen. Nicht selten brauchen sie bis zu zwei Stunden, um zu Firmen, Universitäten und Schulen zu gelangen. Um das Gedränge zu lindern, mehr Stehraum zu schaffen und das Ein- und Aussteigen zu beschleunigen, haben die Bahngesellschaften in den Waggons teilweise die Sitze abgeschraubt und zusätzliche Türen eingebaut.

Doch der langfristige Trend der Vergreisung lässt sich inzwischen auch in Tokio besichtigen, und zwar nicht nur in Randgebieten wie Tama New Town. Auch in relativ zentral gelegenen Stadtbezirken wie Suginami oder Nagano sieht man immer häufiger unbewohnte Wohnungen und Häuser; sie verfallen, weil ihre Bewohner in Altenheime gezogen oder verstorben sind. Im ganzen Land waren bereits 2013 rund 8,2 Millionen Wohnungen unbewohnt – das waren 630 000 Wohnungen mehr als fünf Jahre zuvor. Bis zum Jahr 2033 dürften 30 Prozent des gesamten Wohnungsbestands leer stehen, prophezeit das Forschungsinstitut des Wertpapierhauses Nomura in Tokio.

Die Tokioter Stadtregierung sieht Tama New Town als Testlabor des demografischen Wandels, sie will die ergraute Satellitenstadt zu einem Pilotprojekt für altengerechtes Wohnen umbauen: Steile Treppen werden nach und nach durch barrierefreie Umwege ersetzt, einige Apartmentblocks erstmals mit Fahrstühlen ausgestattet. Überdies werden Wohnungen zusammengelegt, sodass dort junge Familien mit ihren betagten Eltern einziehen können. »Die Idee ist, dass sich die Jungen um die Alten kümmern«, sagt Jun Ueno, ein Stadtplanungsexperte von der Shuto-Universität, der selbst in Tama New Town lebt.

Als Ueno mir in seiner Uni das Zukunftskonzept erläuterte, musste ich an Yubari denken, eine Stadt auf Hokkaido, der nördlichen Hauptinsel, die ich mehrmals besucht hatte. Auch sie war ein Menetekel für ganz Japan, wenn auch auf andere Weise: Yubari war nicht nur überaltert, die Stadt war auch pleite. »Yubari« war ein anderes Wort für Verfall.

Als ich Yubari 2007 erstmals besuchte, empfing mich der damalige Bürgermeister Hajime Fujikura in einem Rathaus, das fast völlig verwaist war. Die Hälfte seiner Beamten war ausgeschieden. Es war kein Geld mehr da, um ihre Gehälter zu bezahlen. Aber auch im Niedergang seiner Stadt wahrte der Bürgermeister die Form: Fujikura verneigte sich höflich. Er berichtete, dass er kürzlich seinen Dienst-Toyota habe versteigern lassen, um die leere Stadtkasse zumindest ein wenig zu entlasten. Inzwischen hat ein Nachfolger den Posten des Bürgermeisters übernommen, er zählt zu den ärmsten Amtsträgern im Land und verdient etwa so viel wie ein nicht regulärer Arbeiter. Die Fahrt zur Arbeit muss er aus eigener Tasche bezahlen.

Fünf Jahre nach dieser ersten Reise in die strauchelnde Stadt besuchte ich Yubari wieder. Die Stadt kam mir noch ärmer vor und noch menschenleerer, und sie war es auch. Das einstige städtische Krankenhaus stand zwar noch, aber es existierte nur noch als Notbehelf. »Willkommen im Griechenland Japans.« Mit diesen sarkastischen Worten begrüßte mich Chefarzt Tomohiko Murakami. Er führte mich durch die düsteren Flure des Gebäudes, aus Kostengründen war die Beleuchtung teilweise abgeschaltet worden. Die Operationssäle waren geschlossen, die Krankenstation war von einst 171 auf 19 Betten reduziert und mit der Altenpflegestätte zusammengelegt worden.

Der Arzt hielt den Betrieb mit Freiwilligen aus dem ganzen Land aufrecht. Von einst zwölf Medizinern arbeiteten nun gerade noch einmal halb so viele – gegen deutlich verringerte Bezahlung. Umso mehr überraschte der Enthusiasmus von Murakami. Ausgerechnet hier, mitten im Verfall, glaubte er ein Überlebensmodell nicht nur für Japan, sondern auch für die übrige Welt entdeckt zu haben. Er sagte: »Hier probieren wir aus, wie ein Industrieland den Abstieg zu einer Gesellschaft von Alten und Pflegebedürftigen bewältigt.«

Yubari war einst ein Kohlerevier, in dem rund 100 000 Menschen lebten. Die meisten Männer arbeiteten unter Tage. Inzwischen ist die Einwohnerzahl auf unter 9000 gesunken. Als Yubari 2007 als erste japanische Stadt pleiteging, hatte es Schulden von rund 35 Milliarden Yen angehäuft. Das hatte mit Demografie wenig zu tun: Verantwortlich für die Misere war – ähnlich wie im deutschen Ruhrgebiet – der Niedergang der Kohle, die zunehmend unter Druck geriet durch Öl und andere Energieträger. Um den Strukturwandel zu bewältigen, hatte Yubari sich seit den Achtzigerjahren immer höher verschuldet: Die Stadtväter errichteten Prachtbauten, darunter ein riesiges Hotel am Bahnhof, Skipisten und einen Freizeitpark, sie leisteten sich ein teures Filmfestival. Noch Jahre später flatterten vergilbte Kinoplakate auf Werbeflächen. Yubari wirkte wie ein verlassenes Filmset, vom Winde verweht.

Mehrere Schulen wurden geschlossen oder zusammengelegt, weil der Stadt das nötige Geld für ihren Betrieb fehlte. Viele Junge zogen weg, auch um den steigenden Steuern und Abgaben zu entgehen, welche die verschuldete Kommune von den Zurückgebliebenen erhob. Für ihre Steuern bekamen die Bürger immer weniger Gegenwert an kommunalen Dienstleistungen: Auch öffentliche Toiletten, Parks und die Bibliothek wurden geschlossen. Eine städtische Siedlung mit einst rund hundert Wohnblöcken sollte nach und nach abgerissen werden. Zurück blieben meist alte Bewohner, sie sollten zusammenrücken in einige wenige Wohnblocks. »Kompakte Stadt« hieß der Fachbegriff für den organisierten Rückbau Yubaris, wie ihn inzwischen auch andere überalterte Kommunen in Japan planen. Auf diese Weise wollte man Geld sparen für den Unterhalt von Straßen, Brücken und Wasserleitungen. In der schneereichen Stadt rückten die Räumfahrzeuge nur noch aus, wenn es sich lohnte und der Schnee eine bestimmte Höhe erreicht hatte.

Der Zwang zum Sparen war für die Bewohner bitter, aber auf ihre Gesundheit wirkte er sich positiv aus. »Wer pleite ist, muss sich gründlicher die Zähne putzen«, erläuterte Murakami, der Arzt, sein Konzept. Im seinem Behandlungszimmer breitete er Statistiken aus, die einen erstaunlichen Trend belegen sollten: Seit das städtische Krankenhaus geschlossen hatte, war Yubaris Sterberate deutlich zurückgegangen. Erreicht habe man dies durch simple Vorbeugungsmaßnahmen wie eben bessere Mundhygiene, aber auch durch verstärkte Impfungen gegen Grippe sowie gegen einen Erreger von Magenkrebs, der in Japan häufig vorkommt. Auch Lungenentzündungen mit tödlichem Ausgang – eine typische Greisen-Erkrankung – habe man deutlich reduziert, sagte Murakami.

Statt aufwendiger Behandlungen und teurer Medikamente, für die ohnehin kein Geld mehr vorhanden war, setzte der Arzt auf regelmäßige Hausbesuche und Nachbarschaftshilfe. Früher hätten ältere Leute oft nach einem Krankenwagen gerufen, wenn sie sich unwohl fühlten. »Jetzt leiten wir sie dazu an, erst einmal selbst etwas für ihre Gesundheit zu tun und sich zu bewegen. So bleiben sie länger rüstig.«

Murakami sah sich als Pionier. Am Ende, da war er sich sicher, würde ganz Japan das Modell Yubari übernehmen. »Unser Land wird dann zwar ärmer sein, aber auch glücklicher.«

Der alltägliche Pflegenotstand

Japan bleibt keine andere Wahl: Aus seiner Not, dem demografischen Wandel, muss es eine Tugend machen. In der Altenpflege muss das Land neue, kreative Wege gehen. Gleichwohl droht das rasante Tempo der kollektiven Vergreisung die Gesellschaft zu überfordern, personell, finanziell, aber auch psychisch.

Dabei hat Japan sich auf die Herausforderung durchaus vorbereitet: Seit dem Jahr 2000 gibt es eine Pflegeversicherung, sie hat fünf Stufen und funktioniert weitgehend nach deutschem Vorbild. Doch sie stößt zunehmend an Grenzen: Rund 1,71 Millionen Pflegekräfte kümmerten sich 2013 bereits um die Alten und Gebrechlichen. Das ist viel zu wenig, denn die Zahl der zu Betreuenden hat sich bis 2016 fast verdreifacht – auf über sechs Millionen. Pro Jahr wendet die Nation für die Pflege rund 10,5 Billionen Yen (etwa 81 Milliarden Euro) auf. Bis 2025 dürften sich diese Ausgaben etwa verdoppeln, schätzt das Ministerium für Gesundheit, Soziales und Arbeit in Tokio.

Um Kosten zu senken, werden die Ansprüche auf Heimplätze zunehmend eingeschränkt. Versicherte, die in niedrigere Pflegegrade eingeteilt werden, sollen möglichst lange zu Hause versorgt werden. Das klingt nach einem vernünftigen Ansatz, der auch den Wünschen vieler Betroffener entgegenkommt. Tatsächlich verbirgt sich dahinter aber auch der zunehmende Zwang des Staates, zu sparen: Häusliche Hilfeleistungen wie Putzen oder das Zubereiten von Essen werden mitunter drastisch reduziert.

Die Monatsbeiträge der Pflegeversicherten haben sich teilweise verdoppelt. Mittlerweile erwägt die Regierung, auch Beiträge von unter 40-Jährigen einzuziehen, die von Zahlungen in die Pflegeversicherung zunächst ausgenommen waren. Doch mehr Geld wird dringend gebraucht: In ganz Japan warten rund eine halbe Million Menschen darauf, Plätze in Pflegeheimen zu bekommen.

Im Juni 2015 machte Hiroya Masuda, früher Minister für die öffentliche Verwaltung, einen Vorschlag, der viele Landsleute aufschreckte: Betagte Mitbürger aus Tokio sollten in ländliche Regionen umsiedeln. Dabei bezog er sich auf das Jahr 2025, ein oft genanntes Horrordatum in Japan: Dann würde allein im Großraum Tokio rund ein Drittel der über 75-jährigen Menschen leben, die Zahl der Pflegebedürftigen werde drastisch steigen. Daher, forderte Masuda, sollten möglichst viele Alte auf das Land umziehen, solange sie noch beweglich seien. An ihren neuen Bestimmungsorten könnten sie in altersgerechten Wohnkomplexen leben; dort könne man sie später bis an ihr Ende pflegen.