Das Erbe des Totenwäschers - Maria Nouria - E-Book

Das Erbe des Totenwäschers E-Book

Maria Nouria

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Beschreibung

Jede Seele wird den Tod kosten Elias Zitouni ist ein erfolgreicher Jungunternehmer, der auf der ganzen Welt zu Hause ist. Unvorbereitet trifft ihn die Nachricht vom Tod von Moaz Hilal, der für ihn in seiner wilden Kindheit wie ein Vater war. Ausgerechnet er soll dessen letzte Waschung übernehmen, die eigentlich den engsten Verwandten vorbehalten ist. Unverzüglich macht er sich auf in das verschlafene Dorf seiner Jugend. Mona Hilal leitet eine Frühstückspension, in die sie sich seit zehn Jahren verkriecht. Als ihr Großvater Moaz stirbt, bricht ihre Welt zusammen. Er hinterlässt ganz genaue Anweisungen, die ein Wiedersehen mit dem Mann beinhalten, der vor zwölf Jahren so abrupt aus ihrem Leben verschwand. In seinem Testament vermacht er beiden jeweils eine hohe Summe, wenn sie für sechs Wochen ihre Leben tauschen. Je tiefer sie sich darauf einlassen, desto mehr drängt sich die Frage auf: Was hat Moaz damit wirklich bezweckt?

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für alle, die wissen,

dass der Tod nicht das Ende ist.

»Jede Seele wird den Tod kosten …«

(Sure Al Ankabut, 29/57)

»Dem Toten folgen drei Dinge zum Grab:

seine Familie, sein Vermögen und seine Taten.

Zwei kehren zurück,

seine Taten gehen mit ihm ins Jenseits.«

(Bukhari)

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

NACHRICHT: Elias

ANKUNFT: Elias

FUND: Mona

KENNENLERNEN: Mona

BEERDIGUNG: Elias

TESTAMENT: Elias

PENSION: Elias

MONDMILCH: Mona

BESPRECHUNG: Elias

WAHRHEIT: Mona

UNGEWISSHEIT: Woche 1 - Mona

RUQAYA: Elias

CHECK-IN: Elias

EINGEWÖHNUNG: Mona

KLÄRUNG: Mona

KATASTROPHEN: Elias

LONDON: Mona

KUNDENGESPRÄCH: Mona

ENTSCHEIDUNGEN: Elias

CAFÉ: Mona

BEDINGUNGEN: Woche 2 - Mona

ÜBERRASCHUNG: Elias

ABENDESSEN: Mona

GALA: Mona

TRISH: Mona

VERGÄNGLICHKEIT: Elias

VORSCHLAG: Mona

FALTEN: Woche 3 und 4 - Elias

WAHRHEITEN: Elias

MISSION: Mona

ZWISCHENSTAND: Mona

GESPRÄCH: Woche 5 - Elias

STATISTIKEN: Mona

ENTTÄUSCHUNG: Mona

AUFFÜHRUNG: Elias

ARMBÄNDER: Mona

EINMISCHUNG: Elias

ANGEBOT: Woche 6 - Mona

ANKÜNDIGUNG: Elias

BEICHTE: Mona

AKTEN: Elias

ERNÜCHTERUNG: Mona

PERSPEKTIVEN-WECHSEL: Elias

PRÄSENTATION: Mona

BESUCH: Elias

RÜCKFLUG: Mona

GÄSTE: Elias

BRIEF: Elias

READING: Ein paar Wochen später - Elias

EPILOG

DANKE SCHÖN: Bismillah-ir-Rahman-ir-Rahim

ZIMTSCHNECKEN

Zutaten

Zubereitung

TOTENWASCHUNG

Voraussetzungen

Ablauf

GLOSSAR

ÜBER DIE AUTORIN

PROLOG

Ein Monat.

Das waren dreißig Tage, siebenhundertzwanzig Stunden, dreiundvierzigtausendzweihundert Minuten und … ein Monat. Sein Blick richtete sich auf die leise im Wind wehenden Blätter. Der Herbst war dieses Jahr über Nacht gekommen. Gestern waren es noch dreißig Grad gewesen, die ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatten, und heute zog er fröstelnd die Jacke enger.

Ein Monat.

In einem Monat hatte er das Reiten gelernt, sein Schwimmabzeichen erhalten und einmal war er einen Monat lang herumgereist. Er lächelte versonnen und konnte beinahe das Brummen des Motorrads und den Fahrtwind in seinem Gesicht spüren. Unwillkürlich schloss er die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken, um die spärlichen Sonnenstrahlen einzufangen, die sich tapfer durch die Wolkendecke kämpften.

Ein Monat war eine lange Zeit.

Er erinnerte sich daran, wie er als Achtzehnjähriger im Sommer im stickigen Laden des alten Antons ausgeholfen hatte, während alle seine Freunde weggefahren waren. Die Tage schienen wie der Alte nur schleppend vorüberzugehen.

Ein Monat war viel zu kurz.

Als er mit seiner Frau und seinem Sohn Jahre später durch die Welt reiste, flogen die Tage so unbeschwert vorbei wie die Vögel am Himmel, die ihn vermutlich nicht einmal bemerkten.

Ein Monat war alles, was ihm jetzt noch blieb, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

NACHRICHT

Elias

Unauffällig bedeckte er sein Handy mit seiner Hand, wobei er seinen Blick nicht von seinem Gegenüber nahm. Seit einer Stunde saß er mit dem schwierigsten und gleichzeitig zahlungskräftigsten Kunden in dem größten Meetingraum, den sie hatten. Als Unternehmensberater war das sein tägliches Brot. Was auch immer Harun, seinen Geschäftspartner und besten Freund, veranlasste, ihm so viele Nachrichten zu schicken, dass sein Display im Sekundentakt aufleuchtete, musste warten.

»Wieso steigen die Verkaufszahlen immer noch nicht?«, ereiferte sich da der Kunde mit rotem Gesicht und donnerte seine Faust auf den Tisch. Seine Halsader trat bedenklich hervor.

Elias atmete tief durch. Wenn er nicht aufpasste, eskalierte dieses Gespräch, noch ehe sein Kaffee kalt wurde. »Die Kampagne läuft seit«, er drehte sein Handgelenk und schaute auf seine Uhr, »vierzehn Stunden und die ersten Berichte stehen heute Abend zur Verfügung. Sie erfahren das Ergebnis, sobald wir es vorliegen haben.« Und bevor sein Kunde Luft holen konnte, um die Zahlen früher einzufordern, öffnete er eine Grafik auf dem riesigen Bildschirm. »Was wir bisher schon feststellen konnten, ist, dass die Mitarbeiter mit dem neuen Kassensystem wesentlich besser zurechtkommen und der Personaltausch zu einem deutlich harmonischeren Zusammenspiel geführt hat.«

Der Kunde brummte verächtlich. »Ach, die sollen sich nicht so anstellen«, wetterte er, aber die Ader an seinem Hals war deutlich weniger sichtbar als noch vor einer Minute.

Während Elias an einer diplomatischen Antwort feilte, um Herrn Wamu weiter zu besänftigen, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Im nächsten Moment steckte Harun seinen Kopf in den Raum.

»Wer möchte einen Kaffee oder Tee und dazu vielleicht einen noch warmen Heidelbeermuffin?«, erkundigte dieser sich bei dem Kunden und dessen Assistenten mit einem gewinnenden Lächeln. Herr Wamu brummte unwirsch, erhob sich dann jedoch und stampfte mit seinem Assistenten Harun hinterher, der ein riesiges Tablett auf dem Sideboard absetzte. »Genießen Sie diese Köstlichkeiten in Ruhe – wir sind gleich wieder bei Ihnen.«

Mit einer energischen Kopfbewegung forderte sein Partner ihn auf, ihm zu folgen, und hastete vor die Tür.

»Was war das –«, setzte Elias an, doch Harun ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Wie weit bist du mit dem Gespräch?« Sein Freund wirkte ungewohnt ernst.

»Wir waren bei der ersten Auswertung, aber –«.

»Ich übernehme ab hier.«

Elias runzelte die Stirn und atmete tief durch. »Was. Ist. Los?« Normalerweise fiel Harun ihm nicht ins Wort und dass er es gleich zweimal hintereinander tat, zeigte nur, wie ernst das war, was sein Freund ihm nicht geradeheraus mitteilte.

Harun umfasste seinen Ellbogen und schob ihn zum Ausgang. »Lies deine Nachrichten auf dem Heimweg. Sam fährt dich«, sagte er drängend.

»Herr Zitouni?«, rief der Kunde polternd aus dem Konferenzraum und unterbrach die beiden. Harun wandte sich in dessen Richtung, aber bevor er die Klinke drückte, drehte er sich um und sah Elias mitfühlend an. »Es tut mir leid, Elias. Inna lillahi wa inna ilahi radjiun – von Allah kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück. Ich rufe dich nachher an.« Damit verschwand er im Meetingraum.

Elias’ Puls raste und er riss panisch das Handy aus seiner Hosentasche, um herauszufinden, wer gestorben war.

Sam, sein Fahrer, der sich um alle seine Reisen kümmerte, wartete an der Straße und hielt ihm die Autotür auf, als er keine zwei Minuten später durch das Foyer stürzte. Nicht, dass die Eile irgendeinen Nutzen hätte, aber der Schock über die Nachricht saß tief und er benötigte ein Ventil, das Adrenalin wieder loszuwerden.

»Herr Tazi hat mich in Kenntnis gesetzt. Mein herzliches Beileid. Ich fahre Sie direkt nach Hause. Ihr Flug ist in neunzig Minuten und ich habe mir die Freiheit herausgenommen, Sie einzuchecken.«

»Vielen Dank, Sam«, presste Elias hervor und drückte kurz dessen Oberarm. Auf der Rückbank las er sich Haruns Nachrichten, die er nur überflogen hatte, erneut durch.

09:13: Ich habe einen Anruf von

einem Notar namens Aziz erhalten.

Er hat mir nicht gesagt, worum es

geht – nur, dass du ihn so schnell

wie möglich kontaktieren sollst.

09:15: Der Notar hat wieder angerufen.

Kannst du kurz rauskommen?

09:18: Elias?

09:20: Es ist wirklich wichtig!

09:21: Kommst du bitte kurz vor die Tür?

09:23: Ich hole dich jetzt aus dem

Meeting, weil ich dir einen Flug nach

Frankfurt gebucht habe und du diesen

unbedingt erreichen musst. Es tut mir

sehr leid, aber Moaz ist gestorben und

du sollst ihn waschen – heute noch. Die

Beerdigung ist nach dem Asr-Gebet.

Elias fuhr sich durch den Bart, während er langsam das Handy sinken ließ und dabei nicht einmal bemerkte, wie seine Hand zitterte. Moaz, der für ihn mehr Vater gewesen war, als es sein ihm unbekannter leiblicher Vater je sein würde. Er hatte gedacht, er hätte mehr Zeit, doch nichts war trügerischer, als zu denken, für alles später Zeit zu haben. Und er sollte ihn waschen – ausgerechnet er. Wieso er? Er hatte ihn lange nicht gesehen. Nicht, seit er vor zwölf Jahren seine Koffer gepackt hatte und überstürzt abgereist war. Nein, das stimmte nicht. Moaz hatte ihn besucht. In Spanien. Aber das war fünf Jahre her. Elias schluckte und sah blicklos weiter aus dem Fenster. Bilder fluteten sein Gehirn wie eine auf zweifache Geschwindigkeit eingestellte Sprachnachricht.

Er erinnerte sich an den Tag, an dem er zu einem von Moaz’ Schützlingen wurde. Damals, in seiner wilden Phase, die seine Mutter regelmäßig in eine unangenehme Lage gebracht hatte. So auch an dem schicksalhaften Dienstag. Was immer Max zu ihm gesagt hatte, war längst verblasst. Nur, dass sie sich spinnefeind gewesen waren und dies mit Fäusten zum Ausdruck gebracht hatten, das hatte er nicht vergessen. Moaz hatte ihn am Arm festgehalten, Max nach Hause geschickt und ihm dann ein Taschentuch hingehalten, damit er sich das Blut von der Nase wischen konnte.

»Ich hätte gedacht, dass du schneller wärst«, stellte Moaz fest und es klang eher wie: dass du schlauer wärst.

»Wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, würde ich nicht bluten!«, blaffte Elias patzig. Er ärgerte sich, dass er sich durch so etwas Banales wie den leisen Ruf seines Namens hatte ablenken lassen.

»Manchmal muss man vor sich selbst gerettet werden«, erwiderte Moaz ruhig, drehte sich um und überquerte den Schulhof in Richtung des Schulgebäudes.

»Kann ich jetzt gehen, oder was?«, rief Elias ihm hinterher und bewegte sich zum Ausgang.

»Nein. Warte hier.«

Moaz lief seelenruhig weiter und öffnete die Tür des Schulgebäudes. Unschlüssig blieb Elias stehen. Der Hausmeister hatte ihm gar nichts zu sagen. Er zuckte mit den Achseln und schlenderte zum Bus.

»Du folgst Anweisungen nicht so gerne, oder?«, stellte Moaz fünf Minuten später nüchtern fest und setzte sich zu ihm auf die Bank an der Haltestelle. »Die Direktorin war ein wenig … ungehalten, weil der Vater von Max sich bei ihr über das blaue Auge seines Sohnes beschwert hat.«

Natürlich hatte er das. Schließlich war er im Elternbeirat und außerdem mit der Direktorin befreundet.

Moaz betrachtete Elias von der Seite. »Aber es gibt auch eine positive Nachricht.« Elias schwante nichts Gutes bei dieser Ankündigung.

»Lassen Sie mich raten: Sie haben sich für mich eingesetzt und ich komme mit einer Ermahnung davon.«

»Viel besser«, sagte Moaz erfreut und erhob sich. »Wir sehen uns morgen früh um sieben Uhr in meinem Büro.« Ohne auf seine Antwort zu warten, verschwand er um die Ecke.

Der Chauffeur bog in die Einfahrt zu seinem Haus in Reading ein und riss Elias aus seinen Gedanken. »Soll ich Ihnen zur Hand gehen?«, erkundigte sich Sam höflich und stellte den Motor aus.

»Es wäre prima, wenn Sie nach Trish sehen würden«, antwortete Elias und stieg aus. Das würde dem eigenwilligen Wellensittich zwar nicht gefallen, aber er hatte gerade wirklich keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Trish war ihm am Tag seines Einzugs zugeflogen und hatte beschlossen, bei ihm zu bleiben. Sie hatte jedes Mal genau gewusst, wann er sie fangen und abgeben wollte. Nach drei Tagen hatte er es schließlich aufgegeben und ihr eine Voliere im Garten gebaut, deren Tür meistens offen stand und nur abends geschlossen wurde, um Katzen und andere Vogeljäger draußen zu halten. Trish forderte morgens ihr Futter ein und flog tagsüber fort, nur um pünktlich, wenn er nach Hause kam, auf ihn zu warten.

Fremden gegenüber war sie besonders skeptisch. Sie ließ sich entweder nicht blicken oder sie stürzte sich im Sturzflug auf denjenigen, nur um kurz vor einem Zusammenstoß abzudrehen. Dass sie dabei ein kleines Geschenk in Form eines schwarz-weißen Häufchens auf deren Schulter hinterließ, fanden die meisten erst später heraus. Sam kümmerte sich jedes Mal notgedrungen um Trish, wenn Elias auf Reisen war. Die beiden verband eine Hass-Liebe und der Vogel dankte es ihm, indem er jedes Mal gleich zwei Hinterlassenschaften zurückließ.

Der Chauffeur zog sich Handschuhe über und stiefelte durch das Gartentörchen. Es dauerte nicht lange, bis Elias Trish kreischen und Sam unterdrückt fluchen hörte.

Er überlegte, ob er eingreifen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen eilte er zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Eilig packte er einen Handgepäckkoffer und war fünf Minuten später fertig. Ein Blick in den Garten bestätigte ihm, dass Sam noch mit Trish beschäftigt war, weswegen er in sein Arbeitszimmer lief und ein Album aus einer der hinteren Regalreihen hervorkramte. Die Ecken waren abgenutzt und der Schriftzug an der einen oder anderen Stelle so unleserlich, dass man nur erraten konnte, dass da »Für meinen besten Freund« stand.

Mit tief gefurchter Stirn ließ Elias sich in seinen Schreibtischstuhl sinken und blätterte langsam durch die Seiten. Die Bilder zeigten ihn und Mona, die Enkeltochter von Moaz und die einzige andere Verbündete, die er damals gehabt hatte.

Wehmütig strich er über ihr Foto. Ob sie immer noch in diesem verschlafenen Dorf wohnte? Auf den ersten Aufnahmen hatte er einen recht verkniffenen Zug um den Mund: egal, ob beim Klettern, Kampfsport oder Tierefüttern. Beim letzten Bild lachte er auf. Kein Wunder, dass Trish zu ihm gefunden hatte. Moaz hatte so etwas wie ein Waisenhaus für gestrandete Vierbeiner betrieben und all die Störenfriede und Unruhestifter waren früher oder später genau dort gelandet. Dreibeinige Katzen, einäugige Schildkröten und orientierungslose Ziegen zu betreuen war ziemlich trickreich und hatte auch die schlimmsten Rebellen wieder geradegerückt.

Die letzten Fotos zeigten ihn mit verschiedenen Pokalen und einem breiten Grinsen im Gesicht. Er war schon immer ehrgeizig gewesen und das Messen mit anderen lag ihm im Blut. Umso erstaunlicher war es, ihn als Zweitplatzierten fast noch weiter lächeln zu sehen. Nur eine Person hatte das je vermocht – Mona.

Von der Terrasse ertönte ein fürchterliches Poltern, begleitet von lautem Gekreische und einem Klopfen an seinem Fenster.

»Du kannst es nicht lassen, oder?«, begrüßte er Trish und ließ sie schmunzelnd rein.

Der türkisfarbene Wellensittich flatterte direkt auf seinen Schreibtisch und stieß eine Tirade an Pfeiftönen aus, die die schmale Brust bedenklich schnell pumpen ließ.

»Ich bin heute Abend inschallah wieder zurück«, versuchte er die Wogen zu glätten. Doch Trish schien erst so richtig in Fahrt zu kommen. »Mir wäre es auch lieber, ich müsste nicht weg«, sagte er leise. Und dass Moaz noch leben würde, fügte er in Gedanken hinzu und spürte einen Kloß im Hals. Wenn er ihn nur häufiger besucht hätte, wie er es versprochen hatte, dann … Ein Kitzeln an seiner Wange unterbrach seine Selbstvorwürfe. Er drehte seinen Kopf und sah Trish an, die sich unbemerkt auf seine Schulter gesetzt hatte. Wie gerne er Moaz noch einmal sehen würde. Ihn in den Arm nehmen, mit ihm reden. Seine Brust wurde eng und es fühlte sich an, als würde jemand eine einhundert Kilo schwere Gewichtsstange auf ihm ablegen, doch da hackte ihm der Wellis so stark in die Nase, dass ihm Tränen kamen.

»Trish«, stöhnte er schmerzerfüllt und griff sich an die pochende Stelle.

Der Wellensittich gab glucksende Laute von sich und bewegte seinen Kopf auf und ab. Dabei trat er von einem Fuß auf den anderen.

»O Mann, Trish«, brachte er lachend hervor, »du siehst aus wie ein tanzendes Huhn.« Vorsichtshalber schob er seinen Kopf so weit weg, wie es seine Halsmuskeln zuließen, und hob die Augenbrauen. Er wusste nie, was seine temperamentvolle Vogeldame als Nächstes ausheckte.

»Kann ich Ihnen noch beim Packen helfen?«, unterbrach Sam ihr Blickduell und Trish nutzte den Moment, um sich blitzschnell umzudrehen und Elias ihre Schwanzfeder dabei in die Nase zu stecken, bevor sie auf die Fensterbank flog.

»Nein, vielen Dank, Sam. Wir können fahren«, sagte er und kräuselte nur unmerklich die Nase, um sich Trish nicht geschlagen zu geben. Ruckartig stand er auf und fegte dabei das Album vom Tisch.

Sam bückte sich, legte es wortlos auf die Tischplatte und verließ mit einem letzten tadelnden Blick auf Trish das Büro. Er hatte es zufällig in der Mitte aufgeschlagen und Elias erbleichte. Moaz lächelte ihm von einem Foto entgegen, wobei er einen Arm um ihn und den anderen Arm um Mona gelegt hatte. Es war offensichtlich, wie stolz er auf die beiden gewesen war. Weil er damals noch nicht wusste, dass Elias drei Tage später aus ihrem Leben verschwinden würde.

ANKUNFT

Elias

Er konnte sich an den Flug kaum erinnern. In einem Moment hatte er sich von Sam verabschiedet und im nächsten war er in ein Taxi gestiegen und hatte sich entschieden, die letzten Meter zu Fuß zu gehen. Zu viel ging ihm im Kopf herum und er brauchte frische Luft.

Die Rollen seines Koffers hallten laut durch die menschenleere Straße des kleinen Dorfes am Rande von nirgendwo, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Er hatte nie verstanden, wieso Moaz hierhergezogen war und nicht wieder weggewollt hatte. Was fand er nur an diesem Ort? Schaudernd lief er mit weit ausholenden Schritten an den alten, teils windschiefen Häusern im Dorfkern vorbei.

Doch heute hatte er keinen Blick übrig für die liebevoll gepflegten Fachwerkhäuser und die blank polierten Kopfsteine. Es war das letzte Haus auf der rechten Seite mit seinem französischen Balkon und dem dichten Efeubewuchs, das ihn magisch anzog. Hunderte Male war er diese Strecke gelaufen, hatte jeden Baum und jeden Bewohner gekannt. Er zögerte nur ganz kurz, bevor er die Türklinke des Bestattungsinstituts niederdrückte, und einem beiläufigen Beobachter wären die verkrampften Schultern und der angespannte Kiefer vermutlich nicht einmal aufgefallen.

Der Weihrauchgeruch traf ihn unvorbereitet und versetzte ihn sofort wieder zwanzig Jahre zurück, zu dem Tag, an dem er Moaz als Zehnjähriger zum ersten Mal hierher begleitet hatte. Er hatte fasziniert dem Rauch zugesehen, der sich in die Höhe gedreht hatte, und sich gewundert, wie so etwas Flüchtiges wie diese weiße Duftschwade ihm ein Gefühl von Geborgenheit geben konnte. Damals wie heute schlug sein Herz langsamer und er nahm einen tiefen Atemzug.

Fast erwartete er Moaz mit seinem kahlen Schädel, dem rundlichen Gesicht und dem immer freundlichen Lächeln, das einen sofort für ihn einnahm, zu sehen. Doch natürlich war Moaz nicht da und er schloss für einen Moment die Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, und kehrte in die Vergangenheit zurück.

Er hatte am nächsten Morgen pünktlich um sieben Uhr an den Türrahmen zu Moaz’ Kammer geklopft. Zwar stand Büro des Hausmeisters an der Tür, aber der fensterlose Raum, der zugestellt war mit Kisten, Eimern und mindestens drei Werkzeugkisten, glich mehr einer Besenkammer als einem Büro. Deshalb setzte sich Moaz vermutlich auf seinen Klappstuhl immer in den Flur neben die Tür. Aber vielleicht auch, damit er so den Pausenraum und Schulhof besser im Blick hatte. Es wurden sich die unmöglichsten Geschichten darüber erzählt, wie Moaz nicht nur wusste, was in nicht einsehbaren Ecken passierte, sondern auch, wie er aus dem Nichts auftauchen konnte. Elias war erst zehn Jahre alt, aber er hatte ein gutes Gespür dafür, wie man durch Fragen und genaues Zuhören so ziemlich alles herausfand.

»As salamu alaikum – der Friede sei auf euch«, begrüßte Moaz ihn munter und drückte ihm einen Eimer in die Hand.

Elias schaute ihn nur gelangweilt an und blieb stumm.

»Abu Dharr sagte über das Überbringen von Grüßen: ›Ein Geschenk, das wenig wiegt.‹ Kennst du dich mit Ahadith aus?«, fragte Moaz, hielt ihm einen Besen hin und steckte die Kehrichtschaufel in den Eimer. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und lief auf den Schulhof.

Elias hätte dem alten Mann gar nicht zugetraut, sich derart behände zu bewegen. Mit zusammengepressten Lippen versuchte er, mit ihm Schritt zu halten, wobei er mit dem Besen in der einen Hand und dem wild hin und her schwankenden Eimer in der anderen Hand aussehen musste wie eine Ente auf Rollschuhen. Außerdem beschäftigten ihn die Worte von Moaz. Natürlich wusste er, was ein Hadith war. Schließlich war eines seiner Lieblingsbücher eine Liste von vierzig dieser Überlieferungen darüber, was der Prophet Muhammad gesagt, getan oder stillschweigend geduldet hatte.

Als hätte Moaz seine Gedanken gehört, fuhr er fort und erinnerte ihn daran, wie viel Belohnung man allein nur für die vollständige Begrüßung erhielt: »Ein Mann ging am Propheten, Allahs Frieden und Segen seien auf ihm, vorüber, als dieser eine Sitzung hielt, und begrüßte ihn mit: ›As salamu alaikum‹. Der Prophet sagte: ›Zehn‹. Ein anderer Mann begrüßte ihn mit ›As salamu alaikum wa rahmatuh Allah‹, was der Prophet, Allahs Frieden und Segen seien auf ihm, mit ›Zwanzig‹ kommentierte. Dann lief ein dritter Mann vorüber, der ihn mit ›As salamu alaikum wa rahmatuh Allahi wa barakatuhu‹ grüßte und der Prophet, Allahs Frieden und Segen seien auf ihm, sagte: ›Dreißig.‹«

Elias’ Mund wurde trocken. Er kannte den Friedensgruß, seit er klein war, und wusste, wie viele gute Taten einem für die vollständige Begrüßung gutgeschrieben wurden. Dafür hatte seine Mutter gesorgt und sie würde sich für ihn schämen, weil er den Gruß nicht erwidert hatte. Trotzig reckte er das Kinn nach oben. So leicht würde er sich nicht ködern lassen.

»Am Sportplatz ist der Mülleimer aus seiner Verankerung gerutscht. Kehr den Müll bitte auf«, bat Moaz ihn freundlich und bückte sich, um Unkraut zu rupfen.

Elias sah von dem vor ihm knienden Hausmeister zu dem Müllhaufen und wieder zurück. Sollte das ein Scherz sein? Der Mülleimer war nicht aus seiner Verankerung gerutscht, sondern herausgetreten worden. Und wenn er sich nicht täuschte, gehörte Max zu den drei Gestalten, die sich mehr schlecht als recht ein paar Meter weiter hinter einem Baum versteckten. Ihr hämisches Gelächter war nicht zu überhören.

»Je eher du damit anfängst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, pünktlich in den Unterricht zu kommen«, fügte Moaz gelassen hinzu.

»Aber das war ich nicht!«, beschwerte sich Elias und der Zorn brannte heiß in ihm.

»Setz dich!«, forderte Moaz ihn auf und deutete mit dem Kopf neben sich auf den Boden.

Das war zu viel für Elias und er spürte, wie ein Schrei unaufhaltsam wie eine Lawine seine Kehle empor rauschte und dabei an Fahrt aufnahm. Doch bevor er sich Luft machen konnte, ging ein Ruck durch seinen Körper und ehe er sichs versah, saß er auf seinem Hinterteil. Scheppernd knallte die Kehrichtschaufel auf den Boden neben den Besenstiel. »Pffft«, entwich ihm der zusammengeschreckte, jämmerliche Rest seines Schreis und mit aufgerissenen Augen starrte er Moaz an. Wie hatte dieser ihn mit nur einem Handgriff zu Boden bringen können?

»Mir ist da gerade etwas in die Fuge gerollt«, sagte der unbekümmert, als wäre nichts gewesen, und zeigte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle am Boden. »Am besten, du legst dich auf den Bauch, dann siehst du es besser.« Aufmunternd nickte er Elias zu und rutschte zur Seite.

Wenn Moaz glaubte, dass er sich hier auf den kalten Boden legen würde, dann war er schief gewickelt. Elias verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte längst durchschaut, dass der ältere Mann nur dem Rat des Propheten folgte, bei Wut die Position zu verändern.

»Das mit dem Zorn ist so eine Sache, besonders, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen«, sagte Moaz bedächtig. »Er vernebelt jeden klaren Gedanken und lässt uns Dinge tun, die wir nicht immer zurücknehmen können.« Er riss ein weißes Blatt Papier von einem Notizblock ab, den er aus seiner Jackentasche geholt hatte, und hielt es ihm hin. »Falte es«, verlangte er von Elias.

Murrend tat Elias wie geheißen.

»Jetzt glätte es so, dass es aussieht wie neu.«

Elias legte das Blatt auf den Boden und fuhr ein paarmal darüber. Es dauerte einen Moment, aber dann war er zufrieden mit dem Ergebnis.

Moaz hielt den Zettel nach oben. »Was siehst du?«

Elias schwieg.

»An manchen Stellen ist es dir gelungen, die Falten auszubügeln, aber an anderen«, er zeigte auf eine kleine Furche, »sind sie noch da, wenn auch nur hauchdünn. Doch das Blatt Papier hat sich für immer verändert.«

Die Schulglocke ertönte und Elias schaute hektisch zum Schulgebäude. Wenn er zu spät kam, würde er erneut einen Eintrag bekommen.

»Wir sehen uns morgen früh um sieben Uhr«, sagte Moaz da zu ihm und erhob sich.

Elias sprintete in die Schule und holte seinen Rucksack. Auf dem Weg in sein Klassenzimmer sah er aus dem Fenster, wie Moaz mit geübten Bewegungen den Müll zusammenkehrte und in den Eimer schmiss. Es nagte an ihm, dass der alte Mann den Dreck kehrte, der nur dort gelegen hatte, weil Max ihm eins auswischen wollte. Langsam schaute er auf das Blatt Papier, das er immer noch in der Hand hielt, und zurück in den Schulhof. In dem Moment hob Moaz den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Sie nickten sich zu und Elias stob davon in sein Klassenzimmer. Seitdem hatte er seinen Zorn wesentlich besser unter Kontrolle.

Ein Geräusch holte ihn zurück in das Bestattungsinstitut und er erwachte aus seiner Starre. Er wollte auf den Tresen mit der Rezeptionsglocke zulaufen, als er aus dem Augenwinkel eine andere Person wahrnahm. Eine zierliche Frau in einer dunkelgrünen, fast schwarzen Abaya stand mit dem Rücken zu ihm und war in einen Ordner vertieft. Überrascht musterte er sie von der Seite. Ihre Brauen waren zusammengezogen und sie war, ähnlich wie er gerade auch noch, in Gedanken versunken, sodass sie nichts um sich herum bemerkte.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich um und er blickte in vertraut warme hellbraune Augen. Die Erkenntnis, wer vor ihm stand, ließ seinen Atem stocken. Zwölf Jahre war es her und auch wenn sie nicht mehr das schlaksige Mädchen war, das er zurückgelassen hatte – er würde sie überall wiedererkennen.

FUND

Mona

Irgendetwas stimmte nicht. Es war zwar erst halb sieben, aber nicht zum ersten Mal hatte sie so etwas wie eine Vorahnung. Sie hatte wie immer Brot, Brötchen und Kuchen gebacken, Kaffee gekocht und einer Reisegruppe, die außergewöhnlich früh abreisen musste, ihr Frühstück serviert. Die Gäste waren vor zehn Minuten pünktlich in ihren Reisebus gestiegen, ohne dass jemand etwas vergessen hatte. Sie hatte extra die Zimmer gleich geprüft, aber nicht einmal eine Zahnbürste war vergessen worden. Doch der Druck in ihrer Brust drohte ihr die Luft abzuschnüren. Deshalb beschloss sie, kurz bei ihrem Großvater, der am anderen Ende der Straße wohnte, vorbeizuschauen. Vielleicht legte sich dann auch ihre Beklemmung.

Sie klingelte mehrmals, aber ihr Opa öffnete nicht. Vielleicht war er noch in der Moschee. Das war nicht ungewöhnlich. Deshalb hatte sie einen Schlüssel und lief ins Wohnzimmer, um dort auf ihn zu warten.

Später fragte sie sich immer wieder, wie sie ihn hatte übersehen können. Aber sie war auf den kleinen Hocker zugelaufen, auf dem normalerweise der Gebetsteppich lag, und erst als sie seinen Teppich nirgends fand, drehte sie sich suchend um. Er war im Sudjud, in der Niederwerfung, und vor Überraschung keuchte sie auf. Innerlich schalt sie sich, dass sie so schreckhaft war, und drehte sich zurück zum Hocker. Mitten in der Bewegung hielt sie jedoch inne. Es war die Stille, die nicht stimmte. Ein Lebewesen gab immer Impulse von sich. Aber hier in diesem Zimmer war niemand außer ihr.

Ihre Sicht verschwamm und der Druck in ihrer Brust wich einer bleiernen Schwere. Wie ihr Opa war auch sie Totenwäscherin. Sie kannte die Zeichen und hatte schon unzählige Male Angehörige getröstet. Ihre Lippe zitterte und sie schluckte hektisch. Wir sind mit dem zufrieden, was Allah für uns geplant hat, hörte sie die Stimme ihres Opas so deutlich in ihrem Kopf, dass sich nun doch eine Träne löste und ihre Wange herunterlief.

Es kostete sie all ihren Willen, sich umzudrehen und zu ihm zu gehen. Vorsichtig, und immer noch hoffend, dass er nur in sein Gebet vertieft war, näherte sie sich ihm. Sie kniete sich neben seinen Kopf, der mit der Stirn auf dem Teppich lag. Abwartend beobachtete sie seinen gebeugten Oberkörper, ob er atmete, bis sie zwei Finger an seine Halsschlagader legte und die Gewissheit sie ganz ruhig werden ließ. »Inna lillahi wa inna ilahi radjiun, von Allah kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück«, flüsterte sie leise und erhob sich.

Zwei Stunden später verabschiedete sie den Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte. Normalerweise wurde dann ihr Opa gerufen, um den Toten abzuholen. Nur war er nicht mehr da. Kälte breitete sich in ihr aus und drohte, nichts als Leere zurückzulassen. Das Telefon klingelte und riss sie aus ihrer Lethargie. Blinzelnd schaute sie sich um und erst nach einem Moment erinnerte sie sich wieder, wo sie war. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln. Checkliste, sagte sie sich wie ein Mantra und stieg die Treppe hinab in das Zimmer, in dem die Toten gewaschen wurden. Das hatte sie in den Workshops zur Totenwaschung, die sie mindestens einmal im Monat anbot, so oft erwähnt. Der Tod löste eine Lawine an Aufgaben aus, deswegen war es wichtig, vorbereitet zu sein. Freudlos lachte sie auf. Es war immer einfacher, wenn es einen selbst nicht betraf. Doch gerade fühlte sie sich einfach nur hilflos und hätte sich am liebsten weinend in eine Ecke verkrochen. Sie schluckte mehrmals und reckte das Kinn. Dafür war jetzt keine Zeit.

Der Geruch nach Zeder und Kampfer empfing sie. Langsam ließ sie den Blick über den Tisch gleiten, der in der Mitte des Zimmers stand. Weiter über den Duschschlauch an der Wand mit den darunter stehenden Behältern bis zu dem Tisch in der Ecke. Sie musste ihren Vater dringend informieren. Und die Moschee. Faris, der schon seit Jahren mit ihrem Opa zusammenarbeitete, würde Babu nachher heruntertragen.

Der Arzt, ein langjähriger Freund ihres Opas, schien nicht überrascht gewesen zu sein. Hatte sie etwas übersehen? War er krank gewesen und hatte es ihr verschwiegen? Wieso sollte er das tun? Aber Babu war achtzig Jahre alt geworden, auch wenn man ihm sein Alter nicht angesehen hatte. Sie zwickte sich in den Nasenrücken und straffte die Schultern. Es war wie an ihrem ersten Schultag. Der Schulranzen war zu groß und obwohl nur ein Mäppchen im Inneren hin und her gerollt war, hatte er sich zu schwer angefühlt. Wie sollte sie nur all das meistern ohne ihren Babu, der die einzige Konstante in ihrem Leben war?

Langsam stieg sie die Treppen hinauf und blieb wie angewurzelt stehen. Eine Erinnerung drängte sich ihr auf und sie rannte zurück in das Zimmer, wo sie ein wenig atemlos vor dem Tisch anhielt. In der linken Ecke stand ein roter Ordner, den sie dort noch nie gesehen hatte. Wie von selbst streckte sie den Arm aus und zog ihn zu sich. Während alle anderen Aktenordner fein säuberlich etikettiert waren, fehlten bei diesem hier jegliche Hinweise. Sie öffnete den Deckel und atmete geräuschvoll die Luft, die sie unbewusst angehalten hatte, wieder aus. »Letzter Wille – Moaz Hilal« prangte dort in fetten Buchstaben und sie ließ sich erschüttert auf den Schreibtischstuhl sinken.

Ein schnelles Durchblättern bestätigte, dass er an alles gedacht hatte: Testament, Bankunterlagen, Urkunden, Telefonnummern, Verträge, sogar eine Liste seiner Onlinekonten war unter »Digitales« aufgeführt. Sie las, aber ihr Gehirn verarbeitete die Informationen nicht. Nur ein Gedanke beherrschte sie. Selbst seinen Tod hatte er für sie leichter machen wollen.

Faris und ein anderer Mann hatten ihren Opa auf den Waschtisch gelegt. »Wird Hicham ihn waschen?«, erkundigte er sich und legte Moaz’ Arme sanft an die Seite. Faris war ein Bär von einem Mann, obwohl er auch schon über sechzig und Frührentner war. Er und ihr Großvater hatten die letzten zehn Jahre zusammengearbeitet und standen sich sehr nah. Nur weil sie ihn gut kannte, hörte sie die Trauer aus seinen Worten.

»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, aber bisher hat er sich nicht gemeldet«, antwortete sie ihm.

Faris nickte. Sie beide wussten, dass ihr Vater es wohl auch diesmal wieder nicht schaffen würde, rechtzeitig hier zu sein. So war es schon immer gewesen. Ihr Vater reiste in der ganzen Welt umher, und sie hatte längst aufgehört, sich zu merken, wo er gerade weilte. Er hatte Schulaufführungen verpasst, Elternabende, Wettkämpfe – sogar ihre Eheschließung hätte er versäumt, wenn Babu ihm nicht ins Gewissen geredet hätte. Das war das einzige Mal, dass ihr Großvater laut geworden war. Sie hatte zwar damals nicht verstanden, was er ihrem Vater am Telefon gesagt hatte, aber sie hatte ihn durch die geschlossene Tür gehört.

»Du weißt, wo du mich findest, Mona«, brummte Faris und wischte sich unauffällig über die Augen. Er wartete, bis sie nickte, drehte sich um und ließ sie allein.

Langsam wählte sie die Telefonnummer des Notars, die fein säuberlich unter »Testament« aufgeführt war. Moaz hatte jeden Schritt einzeln vermerkt – auch, dass der Notar als Erstes angerufen werden sollte.

»Aziz«, meldete sich eine sonore Stimme.

»As salamu alaikum, mein Name ist Mona Hilal und ich melde mich bei Ihnen, weil mein Großvater Moaz Hilal heute Morgen verstorben ist«, stellte sie sich vor.

»Wa alaikum assalam wa rahmatuh Allahi wa barakatuhu, Frau Hilal«, antwortete er. »Wahrlich, zu Allah gehört, was Er nimmt, und zu Ihm gehört, was Er gibt. Alles hat bei Ihm eine festgesetzte Zeit – mein herzliches Beileid. Ich kannte Ihren Großvater gut und bin mit seinem Testament entsprechend vertraut. Da Sie mich anrufen, gehe ich davon aus, dass Sie seinen Nachlassordner gefunden haben?«

»Ja, er liegt vor mir«, bestätigte Mona und schaute auf die aufgeschlagene Seite.

»Ihr Großvater hat genau festgelegt, wer ihn waschen soll, und ich werde die entsprechenden Schritte sofort in die Wege leiten. Haben Sie einen Beerdigungstermin?«

»Nein, ich … ich dachte, mein Vater soll ihn waschen.« Sie hörte selbst, wie dünn ihre Stimme klang, und hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut zu schluchzen.

»Wären Sie so nett und mailen mir den Totenschein?«, fragte er behutsam und wich ihrer indirekten Frage geschickt aus.

»Ja, natürlich. Schicke ich Ihnen sofort«, krächzte sie und schämte sich, dass sie sich nicht besser im Griff hatte, aber der Notar beendete wenig später das Gespräch. Froh, etwas zu tun, das sie von ihren trüben Gedanken ablenkte, schickte sie ihm den Totenschein und vereinbarte einen Termin beim Standesamt, um die Sterbeurkunde zu beantragen. Sie stand auf, um den Personalausweis ihres Großvaters zu suchen. Sicherlich trug er diesen im Portemonnaie bei sich. Doch in seiner Wohnung fand sie ihn nicht. Zwar lag der Geldbeutel wie immer in der Schublade im Flur und den Reisepass hatte sie in seinem Lesezimmer gefunden, aber der Ausweis war verschwunden.

Sie stieg die Treppen erneut herunter und hoffte, den Ausweis in seinen Sachen zu finden. Faris hatte die Taschen von Moaz’ Kleidung geleert und deren Inhalt auf den Schreibtisch gelegt. Vielleicht hatte sie ihn nur übersehen. Ein kleiner Schlüssel, ein Taschentuch und ein paar Münzen waren alles, was dort lag. Merkwürdig. Babu war sehr ordentlich und es sah ihm gar nicht ähnlich, den Ausweis verlegt zu haben. Stirnrunzelnd öffnete sie den roten Ordner und suchte zuerst nach der Geburtsurkunde, die sie ebenfalls benötigte, bevor sie sich wieder dem verschwundenen Personalausweis widmete. Sie blätterte ein paar Seiten und vergaß für einen Moment zu atmen. Stattdessen starrte sie auf eine Folie, auf der ein Post-it mit dem Vermerk »Sterbeurkunde« prangte. Darin hatte ihr Opa seinen Personalausweis und die Urkunde fein säuberlich einsortiert sowie seine Heiratsurkunde und die Sterbeurkunde ihrer Oma. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran, dass Babu gewusst hatte, dass er sterben würde.

KENNENLERNEN

Mona

Den roten Ordner unter ihren Arm geklemmt, saß Mona im Wartezimmer des Standesamtes und hielt einen Streifen Papier mit der Nummer dreiundzwanzig in der Hand. Irgendwo knallte eine Tür, jemand lachte und das Gemurmel von Stimmen vermischte sich zu einer alltäglichen Kakofonie. Sie presste die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Stattdessen schloss sie die Augen und dachte an … nichts. Hätte sie jemand gefragt, was sie gestern Abend gemacht hatte, wäre ihr nichts eingefallen. Seit sie Babu gefunden hatte, war sie in einer Blase gefangen, die alles in Zeitlupe versetzte. Sie funktionierte, führte Gespräche, setzte einen Fuß vor den anderen, aber sie erinnerte sich nicht daran. Nur Dhikr, Lobpreisungen Allahs, beruhigte ihr Herz.

Ein Piepston ertönte und auf dem Display über dem Zimmer erschien »Nummer 23«. Hastig erhob Mona sich und öffnete die Tür. Die Standesbeamtin war eine ältere Dame, die sie aus unzähligen Besuchen, die sie für das Bestattungsinstitut unternommen hatte, kannte. Betroffen sprach sie Mona ihr Beileid aus und erstellte zügig die Sterbeurkunde, um sie nicht unnötig lange aufzuhalten.

Sie beschloss, nicht in die Frühstückspension zu gehen, sondern direkt ins Bestattungsinstitut. Auf dem Weg grübelte sie darüber nach, wer Babu waschen würde. Wieso nur hatte sie den Notar nicht danach gefragt? Sie wollte denjenigen auf keinen Fall verpassen. Hastig zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn im Büro auf. Es war niemand hier und sie schaute auf ihrem Handy, ob sich ihr Vater gemeldet hatte. Doch wie erwartet, hatte er nichts von sich hören lassen. Vielleicht stand es ja in seinem Ordner. Sie zündete den Weihrauch an und stellte sich an den Tresen, damit sie mitbekommen würde, wenn jemand eintrat.

Erneut wunderte sie sich, wann Babu den Ordner erstellt hatte. Die Einträge waren aktuell und er hatte systematisch alles aufgelistet.

Ob ihr Vater mittlerweile ihre Nachricht abgehört hatte? Sie war sich nicht sicher, ob sie froh darüber war, ihn nicht persönlich erreicht zu haben. Seit sie mit achtzehn Jahren ausgezogen war, hatten sie nur noch sporadisch miteinander telefoniert und sich mehr und mehr entfremdet. Früher hatte sie sich die Schuld dafür gegeben und es tat furchtbar weh. Heute war es ihr nicht mehr wichtig. Er hatte eine Entscheidung getroffen, die sie zwar nicht guthieß, aber akzeptierte. Sie würde nie so handeln wie er. Doch sie hatte auch Moaz gehabt, der sie bedingungslos geliebt hatte – bis jetzt.

Sie spürte ein Kribbeln an ihrem Nacken und drehte sich um. Offenbar war sie so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie die Türglocke überhört hatte.

Fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt mit seinen breiten Schultern, dem markanten Kinn, dem leicht zynischen Zug um die Mundwinkel und der gerunzelten Stirn. Elias. Er war deutlich größer als in ihrer Erinnerung. Sofort erinnerte sie sich daran, wie er vor zwanzig Jahren zum ersten Mal hier ins Bestattungsinstitut gekommen war. Sie standen an fast den gleichen Stellen. Elias hatte damals ungemein wild ausgesehen und sie mit einem schiefen Grinsen von oben bis unten gemustert. Aber sie hatte gleich gemerkt, dass seine ziemlich gut zur Schau getragene harte Außenseite eben nichts anderes als genau das war – Schau. Danach waren sie die besten Freunde geworden.

Es hatte einen Jungen in ihrer Klasse gegeben, Max, der die anderen um sich geschart hatte. Er wurde zum Klassensprecher gewählt und hatte auch sonst den Ton angegeben, wenn es darum ging, welchen Film sie am Tag vor den Ferien schauten oder was sie am Wandertag machten. War er zu spät gekommen, hatte eine lahme Ausrede gereicht, um keinen Eintrag zu erhalten. In Anwesenheit der Lehrer hatte sich Max immer mustergültig benommen, doch in den Pausen gingen seine Witze auf Kosten eines anderen. Er hatte rigoros seine Interessen umgesetzt und jeden benutzt, solange es ihm weiterhalf. Schleichend hatte sich die Stimmung in der Klasse geändert. Niemand hatte sich ihm entgegengestellt.

Doch dann war ein Schüler mitten im Schuljahr zu ihnen gestoßen. Von Anfang an hatte sich der Klassensprecher in seiner Stellung bedroht gefühlt. Denn wo er versuchte, lässig zu sein, war es der Neue einfach. Deshalb hatte er in jeder Stunde gegen den Neuen gestichelt und Mitschüler und Lehrer gegen ihn aufgehetzt. Bis er sich an einem Tag in der Kunststunde über Lisas Bild lustig gemacht hatte und diese anfing zu weinen. Mona erinnerte sich, wie Max höhnisch gelacht hatte und wie Elias aufgestanden war, um ans Waschbecken zu laufen, und ins Straucheln geraten war. Er hatte sich an einem Tisch festgehalten und dabei war ein Farbtöpfchen umgefallen, welches sich in Zeitlupe über das Bild von Max ergossen hatte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Max’ Mund hatte offen gestanden, die Augen weit aufgerissen. Er hatte wie eingefroren gewirkt, bis Elias »Upsi« gesagt und Max sich wütend auf ihn geworfen hatte. Da war ihr klar geworden, dass Elias früher oder später im Bestattungsinstitut auftauchen würde. Denn Recht haben und Recht bekommen waren zwei verschiedene Dinge, wie sie dadurch leider schon in der Schule lernte.

Sie passten die ganze Schulzeit gegenseitig aufeinander auf. Aber das war an dem Tag vorbei gewesen, an dem er verkündet hatte, dass er ein Stipendium bekommen hatte, und verschwunden war. Auf einen Schlag hatte sie ihren besten Freund verloren. Dass er sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte, was er vorhatte, war dabei schon fast nebensächlich.

Ihr schwante, warum er nach so langer Zeit hier auftauchte. Wieso nur hatte Babu ausgerechnet ihn als seinen Totenwäscher gerufen?

BEERDIGUNG

Elias

Er sah den Moment, in dem sie ihn erkannte. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und ein scharfer Zug bildete sich um ihren Mund.

»Elias.« Es war eine Feststellung, keine Begrüßung.

»Mona«, antwortete er im gleichen Tonfall. Sie hatte es schon immer verstanden, ihn herauszufordern. Für einen Moment starrten sie sich an wie Duellanten und die Luft wurde schwer von all den Wörtern, die sie nicht laut aussprachen. »Wahrlich, zu Allah gehört, was Er nimmt, und zu Ihm gehört, was Er gibt. Alles hat bei Ihm eine festgesetzte Zeit. So sei geduldig und hoffe auf Belohnung«, fügte er leise das Dua, Bittgebet, für Verstorbene hinzu.

Sie blinzelte und drehte ihm abrupt den Rücken zu. Wie früher. Da wollte sie auch nie, dass man sah, wenn sie traurig war. »Hast du keine anderen Sachen dabei? Wir wollen doch nicht, dass du deine elegante Kleidung ruinierst.« Ihr Ton triefte vor Sarkasmus und dennoch hatte er das leichte Wackeln gehört.

Tatsächlich hatte er vergessen, sich umzuziehen, und stand noch im Anzug vor ihr. Auch die Sachen, die er eingepackt hatte, waren eher unpraktisch, doch das würde er auf gar keinen Fall zugeben. »Wird schon gehen«, behauptete er daher und ließ sie nicht aus den Augen.

Sie zuckte mit den Achseln und presste einen roten Ordner an ihre Brust. »Du kannst deinen Koffer ins Büro stellen. Babu liegt unten.«

Er folgte ihr ins Hinterzimmer, stellte sein Gepäck in eine Ecke und eilte hinter ihr die Treppen hinunter.

»Weißt du überhaupt noch, wie man eine Totenwaschung durchführt?«, fragte sie ihn und hob eine Augenbraue.

Auch wenn ihr Tonfall provozierend war, gaben ihre Augen alles preis. Der Schmerz darin war nicht zu übersehen. Ihr Gesicht war bleich, die Schultern hochgezogen und vermutlich fiel ihr nicht mal auf, dass ihre Lippen zitterten. Sie wirkte so verloren, wie er sich fühlte. Doch es gab niemanden, der zäher war als Mona. Ihm war klar, dass sie vor ihm keine Schwäche zeigen wollte. Also spielte er mit. »Das ist wie Fahrradfahren – kannst du es einmal …«

»… vergisst du es dein Leben nicht«, beendete sie den Satz, den Moaz derart häufig geäußert hatte, dass sie ihn beide im Schlaf aufsagen konnten. Ein kaum wahrnehmbares Zucken an ihrem Mundwinkel deutete ein wehmütiges Lächeln an.

»Hier sind Schuhe«, sagte sie mit belegter Stimme und zeigte auf ein Paar Gummistiefel an der Wand. »Und hier drüben habe ich einen Kittel, eine Schürze und Handschuhe hingelegt.«

Natürlich hatte sie an alles gedacht – auch an die Möglichkeit, dass er nicht die richtige Kleidung für eine Waschung tragen würde. Er nickte.

»Ich bin oben, wenn du etwas brauchst«, sagte sie und wartete seine Antwort nicht ab, sondern schlich lautlos in den Flur.

Er schaute ihr einen langen Moment nach, bevor er sich umdrehte und sich innerlich sammelte, um zu Moaz zu treten. Bisher hatte er vermieden, auf den Mann zu schauen, der in der Mitte des Raumes aufgebahrt war.

Da lag er – sein Mentor und Freund, der so viel mehr gewesen war. Er sah aus, als würde er schlafen und jeden Moment die Augen öffnen. Sein rundes Gesicht, das selbst jetzt noch strahlte, mit dem mittlerweile komplett weißen Bart, der sein Kinn bedeckte. Elias hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Moaz war einen halben Kopf kleiner als er. Sein Körper war drahtig, doch das Alter hatte ihn schmächtiger werden lassen.

Sanft strich Elias über dessen Wange und prägte sich jede Falte ein. Dabei murmelte er unablässig Duas, in denen er Allah bat, Moaz die Befragung im Grab zu erleichtern, ihm seine Sünden zu vergeben und sein Grab zu einem Garten des Paradieses zu machen. Er atmete tief durch, zog erst den Kittel an und anschließend darüber die wasserdichte Schürze. Unwillkürlich verfiel er in die Routine des Waschens und blendete aus, wen er wusch.

Ein undurchsichtiges Tuch, die Sutra, bedeckte die Aura, den Bereich zwischen Bauchnabel und Knie, und er fing an, die Kleidung aufzuschneiden.

»Wir fangen immer rechts an«, hörte er Moaz in seinem Kopf sagen. »Richte den Oberkörper auf und drücke sanft auf seinen Bauch. Hast du den Schlauch unter das Tuch gesteckt?«

Elias schmunzelte. Moaz hatte ihm immer wieder erklärt, wie wichtig es war, die Aura zu achten. Mit geübten Griffen wickelte er einen Lappen um seine linke Hand und reinigte dreimal die Aura unter dem Tuch mit einem Schwamm.

»Reinige ihn so, wie du es bei dir tun würdest, und sei dabei besonders gründlich«, ermahnte ihn Moaz.

Elias nickte unwillkürlich.

»Jetzt führe einmal Wudu, die Gebetswaschung, durch und danach dreimal Ghusl, die Ganzkörperwaschung. Die erste mit Wasser, dann mit Sidr und schließlich mit Kafur«, erklärte Moaz.

In den einen Behälter streute Elias Sidr ein, das wie Seife wirkte, und in den anderen zerbröselte er Kafur, Kampfer, und wusch mit dem Schaum die Haare und den Bart. Er drehte ihn nach rechts und links, um gewissenhaft dessen Rücken zu waschen. Vom Tisch holte er ein kleines Parfümfläschchen und verteilte den Duft auf Stirn und Nasenrücken, Handflächen, Knien und Fußspitzen. Die Stellen, die im Sudjud, in der Niederwerfung beim Gebet, den Boden berührten.

Elias streckte sich und streifte die Handschuhe ab. Er würde Hilfe brauchen, Moaz auf die Trage zu legen und in den Nachbarraum zu fahren, um ihn in die Leichentücher zu wickeln.

»Ich habe die Tücher vorbereitet«, ertönte eine männliche Stimme hinter ihm und Elias zuckte unmerklich zusammen, weil er den Mann nicht hatte kommen hören. »Ich bin Faris, ich habe die letzten zehn Jahre mit Moaz zusammengearbeitet.«

Elias schüttelte dessen ausgestreckte Hand und stellte sich dann an das Kopfende von Moaz, damit er mit Faris Moaz anhob. Schweigend schoben sie ihn in das nächste Zimmer und wickelten ihn in drei Tücher ein, die sie an den Enden fest eindrehten. Die Sutra, das Tuch, das während der Waschung die Aura bedeckt hatte, nahm Elias heraus, als das erste Leichentuch den Körper von Moaz verhüllte. Zum Schluss banden sie die Enden mit Schnüren zusammen, damit die Tücher nicht aufgingen.

»Ich fahre den Leichenwagen vor«, sagte Faris und verschwand. Er würde Moaz in die Moschee für das Totengebet fahren und danach auf den Friedhof, um ihn zu beerdigen.

Elias knetete seine Hände und atmete tief durch. Unwillkürlich war er wieder der Zehnjährige, der mit weit aufgerissenen Augen seinen ersten Verstorbenen aus nächster Nähe betrachtete. Es war ein kleiner Körper gewesen, nicht viel größer als sein eigener.

»Wir alle werden sterben. Die Frage ist nur, wie wir vor unseren Schöpfer treten«, hatte Moaz gesagt. »Viele verlieren das aus den Augen und kämpfen um Besitz, Reichtum oder Anerkennung. Doch wir kommen mit Nichts und gehen mit Nichts. Bis auf eines.« Moaz schwieg und schien tief in Gedanken versunken zu sein.

»Was nehmen wir mit?«, fragte Elias piepsig und schluckte schwer.

»Nur die guten Taten, mein Sohn – nur die guten Taten«, erwiderte Moaz bedächtig und strich ihm sanft über den Kopf.

»Bist du so weit?«, riss Faris ihn aus seiner Erinnerung.

Elias nickte und eilte an die Trage, um Moaz ins Auto zu bringen. Dabei hallten dessen Worte »nur die guten Taten« unaufhörlich in seinem Kopf nach.

Die Moschee war so voll, wie es nur an Eid, den Festtagen, vorkam. Elias war nicht überrascht, derart viele Menschen zu sehen. Vermutlich hatte Moaz jedem Einzelnen im Raum auf direkte oder indirekte Weise geholfen. Er quetschte sich in die erste Reihe, weil Faris ihn mit sich zog. Einige Gesichter kannte er von früher, viele waren ihm unbekannt. Der Imam war der gleiche wie damals und einer von Moaz’ besten Freunden. Sie beteten zuerst das Asr-Gebet, das Nachmittagsgebet, und anschließend das Totengebet. Nur die Männer würden ihn zum Friedhof begleiten. Es gab schon fast ein Gerangel beim Heraustragen seines Sargs, weil jeder sich bemühte, ihn ein Stück zu tragen. Unwillkürlich hörte er Moaz’ Stimme in seinem Kopf, wie er ihm den Hadith erzählte, welche Belohnung es dafür gab, an Begräbnissen teilzunehmen:

»Wer immer mit einem Beerdigungszug eines Muslims zieht – nur weil er gläubig ist und mit dem Lohn Allahs rechnet – und sich dort so lange aufhält, bis das Totengebet verrichtet und die Beerdigung vollzogen worden ist, der kehrt zurück mit einem zweiteiligen Lohn, wobei jeder Teil davon so viel wie der Berg von Uhud ausmacht. Wer jedoch das Totengebet verrichtet und vor der Beerdigung umkehrt, kehrt nur mit einem Teil davon zurück.«

Auf dem Friedhof wiederholte sich das Gleiche, aber der Sarg wurde zügig zum Grab getragen. Elias hatte Moaz auf seine rechte Seite gebettet, damit er mit dem Gesicht in Richtung Qibla, der Gebetsrichtung nach Mekka, lag. Er wartete, bis das Grab mit Erde zugeschüttet wurde und sich nach und nach alle verabschiedeten, bis er allein zurückblieb. Dabei bat er Allah inbrünstig um Verzeihung für Moaz, weil er wusste, dass sein Dua Moaz bei der Befragung durch die beiden Engel unterstützen würde. Wenigstens das war er ihm schuldig.

Ein Lufthauch wehte ihm die Haare ins Gesicht und die Bäume ächzten leise. Seine Aufgabe hier war erfüllt, obwohl ihn irgendetwas zurückhielt. Aber Elias war sich sicher, dass Herr Wamu nicht begeistert über seine überhastete Abreise gewesen war und er deshalb so schnell wie möglich wieder zurück ins Büro musste. Er atmete tief durch und wollte sich gerade umdrehen, als ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte.

»As salamu alaikum wa rahmatuh Allahi wa barakatuhu, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Herr Zitouni sind?«, begrüßte ihn eine unbekannte Stimme. »Ich bin Abderrahman Aziz und wurde von Moaz, meinem alten Freund, mit seinem Testament betraut.«

»Wa alaikum assalam wa rahmatuh Allahi wa barakatuhu, ja, der bin ich«, erwiderte Elias den Gruß und schüttelte dem Mann die Hand. Unauffällig musterte er den Fremden, den er noch nie vorher gesehen hatte. Dieser trug einen dunklen Anzug und war etwas kleiner als er selbst. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Seine schwarzen Haare, die nicht ein weißes Haar zeigten, lagen perfekt frisiert, genauso wie sein Bart. Alles an ihm wirkte gepflegt und akkurat.

»Frau Hilal wartet bereits auf uns«, fuhr der Notar fort und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Worauf?«, fragte Elias verwundert und runzelte die Stirn.

»Auf die Testamentsverlesung«, sagte Herr Aziz unbekümmert und setzte sich in Bewegung. »Ich hatte ihr gesagt, dass ich Sie mitnehme, da wir den gleichen Weg haben.«

Ein wenig überrumpelt lief Elias neben ihm her. »Auch auf die Gefahr hin, schwer von Begriff zu sein – wieso soll ich Sie zur Testamentseröffnung begleiten?«

»Genau das werden Sie in«, Herr Aziz schaute auf seine schlichte, aber elegante Armbanduhr, »etwa einer halben Stunde erfahren.« Er lächelte Elias an und berührte ihn ganz leicht am Ellbogen, um ihn nach rechts zu leiten.

»Sie haben Ihr Büro in Reading, in der Nähe von London?«, lenkte er Elias ganz geschickt davon ab, weitere Fragen zu stellen.

»Ja, seit knapp sechs Monaten sind wir dort«, antwortete Elias bedächtig, während sein Gehirn auf Hochtouren lief, um zu verstehen, was er mit Moaz’ Testament zu tun hatte.

»Wir?«

»Mein Partner, Harun Tazi, und ich. Wir leiten das Büro zusammen.«

»Und was haben Sie davor gemacht?«, erkundigte sich Herr Aziz interessiert.

»Davor haben wir in Malaysia eine Niederlassung eröffnet«, sagte Elias, wurde aber das Gefühl nicht los, dass der Notar das alles längst wusste.

»Meine Frau hat schon seit Jahren vor, dort Urlaub zu machen. Inschallah, so Allah will, klappt es eines Tages.« Den Rest des Weges erzählte Herr Aziz von seiner letzten Reise, doch Elias hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Hatte Moaz ihn womöglich in seinem Testament erwähnt? Sicherlich gab es einen Teil, den er Nicht-Verwandten vermachen durfte, doch dafür hatte er Moaz viel zu selten besucht, als dass dies ein ausreichender Grund wäre. Unabhängig davon war eines klar: Mona würde nicht erfreut sein, ihn dort zu sehen.

TESTAMENT

Elias

Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat er das Büro des Bestattungsinstituts. Und erneut sah er einen Moment zur Tür und wartete darauf, dass Moaz ihn mit einer Tasse Tee begrüßte. Mit schwerem Herzen setzte er sich auf den Stuhl neben Mona, den diese zurückgezogen hatte. Sie selbst saß aufrecht und nicht eine Regung war in ihrem Gesicht zu erkennen. Wenn er noch eine Bestätigung benötigt hatte, wie tief Moaz’ Tod sie getroffen hatte, dann war es das. Hastig wandte er sich ab. Sie konnte es nicht leiden, wenn man sie für schwach hielt – und das war sie beileibe nicht.

»Außer Ihnen beiden erwarte ich niemanden mehr, sodass wir direkt beginnen können«, sagte Herr Aziz und öffnete die vor ihm liegende Aktenmappe. »Moaz hatte keine Schulden, die beglichen werden müssten, daher kommen wir zum eigentlichen Testament.« Er sah erst Mona, dann Elias an, um sicher zu sein, dass sie ihm zuhörten. »Ihr Vater ist Alleinerbe. Es gibt keine Eltern, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkeln oder sonstige Verwandte, die noch leben.«

Mona nickte und schien nicht überrascht zu sein. Er selbst wusste nur, dass Moaz’ Ehefrau früh verstorben war.

»Kommen wir zu dem Teil, den Moaz separat verteilen möchte.« Herr Aziz sah sie über seine Lesebrille hin ernst an. »Hier sollte ich vielleicht ein wenig ausholen, damit der Hintergrund klarer wird«, fuhr der Notar fort und räusperte sich. »Moaz ist früher ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, bevor er sich zurückgezogen und sein Vermögen gewinnbringend investiert hat.«

Elias kniff die Augen zusammen. Das hörte er zum ersten Mal. Ein Seitenblick auf Monas in Falten gelegte Stirn bestätigte, dass sie auch nichts davon gewusst hatte.

»Frau Hilal, Ihnen vermacht er das Bestattungsinstitut mit seinem Anwesen. Außerdem erhält Ruqaya einen Fonds in Höhe von einhunderttausend Euro, der ihr an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ausgezahlt wird.«

Mona schnappte nach Luft und wurde bleich. Elias runzelte die Stirn. Wer war Ruqaya?

»Jedem von Ihnen vermacht er eine Million Euro.«

Bitte, was? Elias blinzelte und versuchte zu verstehen, was der Notar gesagt hatte, doch der fuhr unbeeindruckt fort.