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Ein Neuanfang an der malerischen Amalfiküste Als ihre geliebte Tante Harriet stirbt, ist Laura am Boden zerstört. Zu ihrer Mutter hat sie kein gutes Verhältnis und als sie dann auch noch ihren Job als Köchin verliert, ist sie endgültig verzweifelt. Ihr Traum vom eigenen Restaurant rückt wieder einmal in weite Ferne. Doch dann erreicht sie unerwartet Post aus Italien: Harriet hat ihr ein Weingut im malerischen Kampanien hinterlassen. Laura fliegt Hals über Kopf nach Süditalien. Das Weingut La Florentina liegt idyllisch an den Hängen der Amalfiküste hoch über dem Meer. Für Laura ist klar: Sie will das Weingut so schnell wie möglich verkaufen und das Kapital für ihren Lebenstraum zu nutzen. Doch weder hat sie mit dem sturen und wahnsinnig gutaussehenden Gutsverwalter Matteo gerechnet, noch damit, dass seine und ihre Familiengeschichten untrennbar miteinander verwoben sind. Und Laura merkt: Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann eine Zukunft planen …
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das Erbe von La Florentina
Die in Norddeutschland lebende Schriftstellerin Anne Colwey, Jahrgang 1980, schreibt zeitgenössische, belletristische Romane. Anne Colwey veröffentlichte bisher fünf Romane und Novellen. Für die Zwillingsmutter stehen neben dem Schreiben Zeit mit ihrer Familie, Gartenarbeit und Unternehmungen im Freien an erster Stelle.
Als ihre geliebte Tante Harriet stirbt, ist Laura am Boden zerstört. Zu ihrer Mutter hat sie kein gutes Verhältnis und als sie dann auch noch ihren Job als Köchin verliert, ist sie endgültig verzweifelt. Ihr Traum vom eigenen Restaurant rückt wieder einmal in weite Ferne. Doch dann erreicht sie unerwartet Post aus Italien: Harriet hat ihr ein Weingut im malerischen Kampanien hinterlassen. Laura fliegt Hals über Kopf nach Süditalien. Das Weingut La Florentina liegt idyllisch an den Hängen der Amalfiküste hoch über dem Meer. Für Laura ist klar: Sie will das Weingut so schnell wie möglich verkaufen und das Kapital für ihren Lebenstraum zu nutzen. Doch weder hat sie mit dem sturen und wahnsinnig gutaussehenden Gutsverwalter Matteo gerechnet, noch damit, dass seine und ihre Familiengeschichten untrennbar miteinander verwoben sind. Und Laura merkt: Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann eine Zukunft planen …
Anne Colwey
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinOktober 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Matthias StrohmeyerE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-503-6
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Giulias Rezepte
Leseprobe: Sommertage auf Capri
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Cover
Titelseite
Inhalt
1. Kapitel
Southport, England, Ende Mai 2008
Laura van Dyck öffnete die Tür des Krankenzimmers und betrat den Raum. An diesem Morgen im späten Frühling fiel ein Strahl goldgelben Sonnenlichts auf das Krankenbett, in dem eine alte Frau lag. Gegenüber, auf der anderen Seite des Bettes mit dem Rücken zur Sonne, saß eine weitere Frau mittleren Alters.
»Was ist passiert? Warum ist sie hier?«
Laura hatte die Tür hinter sich kaum geschlossen und das Bett, an dem ihre Mutter Georgina bereits wachte, erreicht, als die Sorge um ihre Tante Harriet die Oberhand gewann. Sie nahm sich nicht mal die Zeit, ihren Mantel abzulegen.
»Mama, sag schon, was ist passiert?«, bedrängte sie ihre Mutter Georgina. Besorgt sah sie auf ihre Tante hinab. Deren Hände waren runzlig und faltig, übersät von Altersflecken. Deutlich hoben sich die Venen hervor, woben ein Gespinst unter der papierartigen Haut. Laura stellte sich das darin fließende Blut vor, langsam und träge, ohne den Elan und die Kraft der Jugend. Was, wenn es einfach nicht mehr weiter fließen wollte? Wenn der Strom der großen Umwälzpumpe, des Herzens, einfach versiegte? Beklommen blickte Laura zuerst in das Gesicht ihrer Tante, dann in das ihrer Mutter.
»Die Ärzte sagen, sie sei gestürzt.« In Georginas blauen Augen stand Bestürzung. »Die Pflegerin fand sie heute Morgen beim Schichtwechsel. Sie ist anscheinend nachts aufgestanden und wohl über die Kante ihres Teppichs gestolpert.«
»Aber wieso hat denn die Nachtschwester sie nicht gehört? Sie wird doch bestimmt um Hilfe gerufen haben?« Es schien undenkbar, dass ihre Tante stundenlang auf dem Boden ihres Zimmers des Seniorenheims, nur wenige Schritte von ihrem Bett entfernt, gelegen haben musste.
»Sie wurde bereits befragt und beteuerte mehrmals, dass sie Harriet nicht rufen gehört hat.« Georgina wirkte unsicher. Sie sackte ein winziges Stück in sich zusammen, dann richtete sie sich jedoch wieder auf und blickte ihre Tochter an, die dieselbe Augenfarbe wie Georgina hatte. »Ich denke schon, dass man ihr glauben kann, Laura.«
»Welche Untersuchungen sind denn bis jetzt gemacht worden, Mama?«, fragte sie.
»Sie haben eine Kernspin durchgeführt. Die Bilder werden gerade ausgewertet. Die Ärzte vermuten ein Gerinnsel im Gehirn. Das könnte erklären, warum sie sich nicht bemerkbar gemacht hat.«
»Oh nein!« Der Schmerz, der sich in Laura ausbreitete, war tief und dunkel. Er war unglaublich schnell, drang in Sekundenbruchteilen bis in die letzte Faser ihres Körpers vor, lähmte sie und ließ ihre Kehle trocken werden. Was, wenn Harriet nie wieder aus der Bewusstlosigkeit erwachte? Oder, falls doch, wenn sie nie wieder dieselbe werden würde wie früher?
»Ja. So haben sie Harriet gefunden, und seitdem hat sich ihr Zustand nicht verändert.«
»Sie darf nicht sterben, Mama«, flüsterte Laura gequält und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinabrannen. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Nicht Harriet! Nicht ihre über alles geliebte Tante, die ihr Leben lang für Laura da gewesen war, im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter. Wenn Harriet ging, wer blieb Laura dann noch? Harriet war immer wie ein Puffer zwischen Laura und ihrer Mutter gewesen, hatte besänftigt, wenn es Streit zwischen den ungleichen Frauen gab. Harriet tröstete, wenn Georgina es nicht vermochte, und ermahnte, wenn Laura ihrer Mutter auf der Nase herumtanzte, was leider nur allzu häufig passiert war, sobald das Mädchen alt genug gewesen war, um zu verstehen, dass ihre eigene Mutter nicht stark genug war für ihr stures und temperamentvolles Kind. Wer sollte verhindern, dass Laura nicht doch etwas Unverzeihliches herausrutschte, wenn Harriet nicht mehr wäre? Harriet durfte einfach nicht gehen.
Jedoch sah es genau danach aus, dachte Laura voll dunkler Beklommenheit, als sie die Tränen fortwischte und zögerlich nach der Hand ihrer Tante griff. Eine innere Stimme riet ihr, sich auf das Schlimmste einzustellen und sich zu wappnen für den Moment, wenn Harriet für immer ging.
Sie spürte den argwöhnischen Blick ihrer Mutter von der anderen Seite des Bettes her. Genau hier und jetzt wurde ihre Tante schon wieder als Puffer aktiv, wenn auch unbewusst, denn Laura verkniff sich jede Bemerkung gegen ihre Mutter aus Respekt vor Harriet.
»Laura, es ist gleich zehn Uhr«, begann Georgina zögerlich. »Du musst doch zu deiner Arbeit.«
»Mama, wie kannst du jetzt an Arbeit denken?« Lauras Empörung war echt. Ihr war gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und ihre Mutter wollte zur Tagesordnung übergehen.
»Ich meine ja nur, es ist immerhin dein Job. Er ist doch wichtig. Was soll der Chef denn denken, wenn du zu spät kommst?«
Laura biss sich auf die Zunge, um sich eine Erwiderung zu verkneifen.
Sie strich über die Hand ihrer Tante. Harriets Haut fühlte sich weder kalt noch warm an, eher leblos. Ängstlich blickte sie auf den Brustkorb ihrer Tante. Hob und senkte er sich noch? Ja, zum Glück.
»Sobald ich etwas weiß, rufe ich dich an, in Ordnung? Und wenn es so aussieht, als ob …, dann rufe ich dich ebenfalls sofort an, ja?« Ein neuer Versuch, Laura von der Seite ihrer Tante fortzubewegen. Laura ignorierte es.
»Laura, du willst doch diesen Job nicht auch schon wieder verlieren, oder? Du gehst da jetzt besser hin. Hier kannst du eh nichts ausrichten.« Die kleine verbale Spitze ihrer Mutter ließ Laura doch aufblicken.
Sie rang mit sich, einfach dort in dem sonnendurchfluteten Krankenzimmer zu bleiben, weil ihr jede Minute so kostbar erschien, die sie noch mit ihrer Tante verbringen konnte. Doch schließlich gab sie nach. Warum sie das tat, wusste sie nicht. Normalerweise war sie stur genug, die gut gemeinten Ratschläge ihrer Mutter einfach auszusitzen, aber hier mussten es wohl die außergewöhnlichen Umstände sein, die sie wanken ließen.
»Nun gut.« Laura stand auf, beugte sich zu Harriet hinab und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Für Sekundenbruchteile atmete sie noch einmal tief den ganz ureigenen Geruch ihrer Tante ein, die Mischung aus Seife, ihrer üblichen Gesichtscreme und ihres Eau de Toilette brannte sich in ihr Gehirn. Dann erhob sie sich und stand mit zusammengebissenen Zähnen vor der Szene. Ihre Mutter saß still und abwartend auf ihrem Stuhl, ein Baum am anderen Ufer des Flusses zwischen ihnen, auf dem das Schiff mit ihrer Tante fuhr, den Strom des Lebens hinab, nun bald der Mündung nahe. Laura hoffte so sehr darauf, dass sie sich erhob und ihre Tochter tröstend in den Arm nahm. Doch leider rührte Georgina sich nicht, blieb einfach auf dem Stuhl sitzen und hielt die Distanz zwischen ihnen aufrecht. Als Laura klar wurde, dass sogar diese außergewöhnliche Situation es nicht vermochte, eine Brücke zwischen ihr und ihrer Mutter zu schlagen, schwappte ein Gefühl der Enttäuschung aus ihrem Inneren hoch und verursachte ihr einen Kloß im Hals.
»Mama.« Ein knapper Abschied, welcher mit einem ebenso knappen Nicken zur Kenntnis genommen wurde. »Ich melde mich bei dir, Laura, sobald ich etwas weiß«, versicherte Georgina ihr noch einmal. Laura verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort und ging zurück in den Frühlingsmorgen.
»Du bist spät dran!« Sergios harsch hervorgestoßene Worte prallten an Laura ab. Sie hatte verdammt gute Gründe, spät dran zu sein. In großer Eile fasste sie ihre glatten dunkelbraunen Haare zusammen und schlang ein Gummiband darum. Der Pferdeschwanz fiel bis unter die Schulterblätter. Dann band sie sich eine frische weiße Schürze um und wusch sich gründlich die Hände, bevor sie an die Seite des Restaurantchefs trat.
»Beim nächsten Mal bleibt es nicht bei einer Verwarnung, Laura!«, drohte Sergio ihr und reichte ihr seine Notizen für das Tagesmenü herüber. »Ich kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen. Und jetzt sieh zu, dass du das Gemüse vorbereitest!«
»Alles klar, Sergio!«, brummte Laura knapp und griff sich eins der Messer aus dem Messerblock. Besser, sie behielt den Grund ihres Zuspätkommens für sich, Sergio würde dahinter ohnehin nur eine Ausrede vermuten.
Die Küche des Restaurants Pescatore war klein und beengt. Laura musste sich zuerst etwas Platz auf einer der Arbeitsflächen verschaffen, bevor sie mit dem Putzen und Schneiden des Gemüses für das Mittagsmenü beginnen konnte. Sie stapelte Eimer mit pürierten Tomaten in einer Ecke der Küche, stellte benutzte Gewürze wieder zurück an ihren Platz im Gewürzregal und schleppte einen Sack Kartoffeln in den angrenzenden Vorratsraum. Natürlich hätte Sergio selbst für Ordnung sorgen oder einen seiner Helfer anweisen können, aber Laura hatte schon längst herausbekommen, dass Sergio lieber vorne im Restaurant an der Bar saß und telefonierte oder das Wochenmenü zum dritten Mal umänderte. Da Laura nicht befugt war, die Helfer anzuweisen, blieb das lästige Aufräumen zum wiederholten Mal an ihr hängen.
Endlich war die Arbeitsfläche freigeräumt. Das geputzte und geschnittene Gemüse wurde in weißen Kunststoffbehältern mit Deckel gelagert, von denen Laura sich nun einige bereitstellte. Sie wusch grüne und rote Paprika und schnitt sie anschließend in mundgerechte Stücke. Laut Sergios mehrmals überarbeiteter Tageskarte sollten diese die Beilage für das Hauptgericht, Lachs vom Grill, sein. Sein handschriftlich verfasster Plan war schwer zu lesen, offensichtlich hatte er sich mehrmals umentschieden. Vieles war durchgestrichen worden oder wieder unterkringelt und mit Anmerkungen versehen. Für Laura wies der Notizzettel erschreckende Ähnlichkeit mit der chaotischen Restaurantküche auf.
Der Job hier war vollkommen anders, als sie es sich erhofft hatte, nachdem sie ihrem Wunsch, Köchin zu werden, gefolgt war und die Ausbildung mit Auszeichnung bestanden hatte. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte nach Jahren der Berufspraxis immer mehr das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Damals, als sie ihre Ausbildung gemacht hatte, glaubte sie, ihrer Kreativität freien Lauf lassen zu können. Das Kochen liebte sie wie nichts anderes auf der Welt. Es erschien ihr als das einzig Verlässliche in ihrem Leben. Abgesehen von Tante Harriet natürlich, aber diese drohte ihr nun für immer zu entgleiten, sodass auch dieser Halt verloren schien.
»Wie weit bist du denn, Laura?« Sergios ungeduldige Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Am liebsten hätte sie ihm eine passende Antwort gegeben in Bezug auf aufgeräumte Arbeitsflächen, aber sie verkniff sie sich. Sie sollte nicht auch noch diesen Job verlieren, da musste sie ihrer Mutter notgedrungen recht geben.
»Das Gemüse für den Hauptgang ist fast fertig vorbereitet«, beeilte sie sich mit ihrer Antwort. Sie schnitt die letzte Paprika und griff dann noch einmal nach dem Plan. Mühsam entzifferte sie »Frühlingszwiebelsuppe« in einem Bereich weiter oben. Schon wieder? Die Gäste des Pescatore hatten diese Suppe gerade erst vor zwei Wochen auf der Tageskarte gehabt, aber Laura hütete sich, etwas zu sagen.
»Es ist gleich elf, Laura. Nun beeil dich mal! Warum dauert das so lange mit dem Gemüse?« Sergio stand plötzlich neben ihr und warf einen kritischen Blick in die weißen Plastikbehälter. »Du hast die Paprikastücke zu groß geschnitten. Und an die Zitronenscheiben für den Fisch hast du ja noch gar nicht gedacht!«
»Ich halte mich zuerst an die Zutaten für die Tagessuppe, Sergio. Damit ich diese schon mal aufsetzen kann«, entgegnete Laura bestimmt und deutete auf die Frühlingszwiebeln, die sie gerade in feine Ringe schnitt.
»So ein Quatsch!«, widersprach ihr Chef. »Mach zuerst das Gemüse für den Hauptgang fertig. Ich bereite schon mal den Lachs vor. Die Suppe kannst du danach vorkochen.«
»Sergio, ich –«
»Nein, Laura!« Sein harter Blick duldete keinen Widerspruch. »Ich bin der Chef dieses Restaurants. Und wenn ich sage, dass du die Paprika nicht vernünftig vorbereitet hast, dann kümmerst du dich gefälligst sofort darum. Ist das klar?«
»Ja, Sergio. Ist klar«, gab sie nach. Sie schob die Frühlingszwiebeln beiseite, kippte die Plastikschale mit den Paprika kurzerhand auf der Arbeitsplatte aus und machte sich daran, die zu großen Stücke herauszusuchen und diese noch einmal durchzuschneiden.
Als Sergio sah, dass sie seiner Anordnung Folge leistete, verließ er ihren Arbeitsbereich. Laura hielt kurz inne, um den Frustkloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie hasste diesen Arbeitsplatz mit seiner ständigen Unordnung, dem cholerischen Chef und der vermaledeiten Wochenkarte. Laura schwor sich, niemals Frühlingszwiebelsuppe anzubieten, falls sie jemals ihren Traum, ein eigenes Restaurant zu besitzen, umsetzen sollte.
Viele Stunden später warf sie ihre schmutzige Schürze in den Wäschesack der Mitarbeiterumkleide des Restaurants. Sie hielt den vollgestopften Raum jedenfalls für die Umkleide, obgleich er ihr wie eine Besenkammer vorkam, in die Sergio eine Handvoll Spinde gestellt hatte, um dieses Loch großzügig als Umkleide bezeichnen zu können.
Vor dem Restaurant atmete Laura die frische Luft tief ein und spürte den Stress und das Gefühl des Unwohlseins, für so einen Egozentriker wie Sergio zu arbeiten, von sich abfallen. Und obwohl die Erleichterung gerade groß war, wieder einen Arbeitstag »geschafft« zu haben, war es nicht zu übersehen, dass ihr Leben derzeit nur noch daraus bestand, »Tage zu schaffen«.
Als sie sich in die Schlange der Wartenden vor der S-Bahn einreihte, fragte sie sich nervös, wann ihr die Freude am Leben abhandengekommen war und warum ihr nicht schon viel eher bewusst geworden war, dass sie etwas ändern musste. Arbeitslohn hin oder her, sie weigerte sich schlicht, zu akzeptieren, dass der Inhalt ihres Daseins nur noch aus »geschafften Tagen« bestehen sollte.
Auf dem Nachhauseweg machte Laura einen Abstecher zu ihrer Tante ins Krankenhaus. Lange hielt sie sich dort nicht auf, denn alles war unverändert: Harriet lag so friedlich im Bett, dass es Laura schien, als schliefe sie sich einfach nur einmal gründlich aus. Zu schön wäre es, wenn dieser Gedanke wahr wäre. Laura saß verzagt auf dem Stuhl und beobachtete Harriet einen Moment. Dann wandte sie den Blick ab und starrte aus dem Fenster. Sie konnte nichts tun, konnte nicht helfen, nur warten. Für einige Zeit hockte sie noch bei ihrer Tante und hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Das Gefühl, sich beruflich in einer Tretmühle zu befinden, hielt immer noch an und beschäftigte sie, während sie untätig an Harriets Bett saß. Es nagte sogar so sehr an ihr, dass sie es abends bei ihrem Treffen mit ihrer Freundin Fiona ansprach.
»Sag mal, glaubst du eigentlich, dass es das jetzt schon gewesen ist?« Laura rührte nachdenklich in ihrem Cocktail. Ihre ehemalige Mitauszubildende Fiona saß ihr gegenüber, sie hatte nach bestandener Prüfung Arbeit in einer Krankenhausgroßküche gefunden.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, so, wie ich es sage. Wir sind jetzt halt Ende zwanzig, haben unsere Jobs, und tja, das war’s dann, oder wie? So wird es jetzt immer weitergehen, jahrelang, bis wir irgendwann siebzig sind, arthritische Finger haben und uns fragen, ob wir das Grau noch einmal überfärben sollen?«
Fiona lachte so schallend auf, dass sich einige Gäste verwundert nach den zwei Frauen umblickten. Laura stierte zurück. Sollten die doch denken, was sie wollten. In ihr nagte etwas. Und dieses Etwas war unangenehm hartnäckig.
»Mensch, Laura, was ist denn heute mit dir los? Hast du deinen Philosophischen, oder was?« Fiona lachte weiter. Ihre blonden Locken wippten dabei fröhlich auf und ab.
»Vielleicht liegt es an Tante Harriets Krankenhausaufenthalt«, meinte Laura. »Ich hatte dir ja heute Vormittag vor der Arbeit noch eine SMS geschickt, dass sie überraschend ins Krankenhaus gekommen ist und dass es nicht gut aussieht. Na ja. Jedenfalls hab ich seit einiger Zeit das Gefühl, dass es irgendwie nicht mehr so rundläuft, und heute Morgen dann, als ich sie dort liegen sah, da wurde mir wohl bewusst, wie schnell so ein Leben auch zu Ende sein kann. Keine Ahnung«, schloss sie ihre Erklärung ab und spielte frustriert mit ihrer Cocktailserviette.
»Ach komm!«, versuchte Fiona sie wieder aufzumuntern. »Du bist ja echt früh dran mit der Midlife-Crisis. Es tut mir echt leid für deine Tante. Du hängst sehr an ihr, nicht wahr? Und dass du mit dem lieben Sergio deine Probleme hast, ist auch für jeden offensichtlich. Aber da klingt ja schon fast so etwas wie Resignation heraus. Das ist doch nun wirklich ein bisschen übertrieben, meinst du nicht?«
Laura nahm einen Schluck von ihrem Cocktail. Das pinkfarbene Schirmchen wackelte bedenklich, als sie das Glas zurück auf die Serviette stellte. »Nun ja, sieh uns beide doch mal an, Fiona! Wir sollten doch unsere Schäfchen schon längst im Trockenen haben, sonst wird das nichts mehr mit unserer Traumkarriere! Müssten wir nicht längst das Kapital für unser eigenes Restaurant zusammenhaben, damit wir endlich mal loslegen können?«
Noch in der Ausbildung hatten sie sich geschworen, eines Tages gemeinsam ein Restaurant zu eröffnen. Sie waren sich schnell darin einig geworden, dass es vollkommen egal war, wo sich ihr Lebenstraum erfüllen sollte, das einzig unverrückbare Kriterium war, dass die Gäste ihres Hauses unbedingt die Möglichkeit haben sollten, einen Meerblick genießen zu können.
»Laura, du weißt doch, dass wir geduldig sein müssen!«, ermahnte Fiona. »Die Banken werden uns nicht genug Kredit geben, wenn wir nicht ausreichend zusammengespart haben. Das weißt du doch. Wir beide, wir haben diesen Traum, und wir haben nun mal auch einen gewissen Anspruch, damit unser Haus eben nicht das nächste Pescatore wird. Da lohnt sich das Warten doch allemal!«
»Du hast ja recht«, lenkte Laura wenig überzeugt ein. »Es ist nur so frustrierend, sich für andere abrackern zu müssen, während man mit der Realisierung seines eigenen Traums keinen Schritt weiterkommt.«
»Das stimmt ja gar nicht, Laura!«, rügte Fiona sie. »Wir sparen jeden Monat Geld. Wir verkneifen uns Urlaube, gehen kaum aus und versuchen doch nun wirklich, unsere Ausgaben so klein wie möglich zu halten.«
»Cocktailabende ausgenommen!«
»Okay, ja. Einmal im Quartal gehen wir Cocktails trinken. Das war es dann aber auch schon mit den Extras. Ich für meinen Teil glaube ganz fest daran, dass wir unseren Traum realisieren können. Und du sollst mal sehen: Zu zweit geht das viel schneller, als wenn sich jede von uns alleine abmühen müsste.« Fiona erhob ihr Glas. »Auf uns! Wir schaffen das!«
»Hoffentlich früher als später!«, ergänzte Laura noch, bevor sie mit Fiona anstieß.
»Mmmmhhh. Bin gleich da.« Irgendjemand störte ihren Traum. Ein nerviges, aufdringliches Geräusch, das einfach nicht weggehen wollte, hatte es gewagt, ihr beim Zubereiten von Lammkeule auf den Nerv zu gehen. Laura musste doch nur noch rasch in den Küchengarten, der sich hinter dem Restaurant befand, um frischen Rosmarin für das Lamm zu holen … Allein der Duft würde dafür sorgen, dass ihren Gästen das Wasser im Mund zusammenlief. Dazu der passende Rotwein, tiefdunkelrot, gehaltvoll –
»Was ist denn!?«, rief sie laut aus und schreckte hoch. Das Geräusch hatte ihren Traum erfolgreich platzen lassen. Irritiert blickte sie sich um, stellte fest, dass sie in ihrem Bett in ihrer Einzimmerwohnung lag und dass es das Mobiltelefon war, welches unablässig klingelte und ihren Traum zerstört hatte. Lauras Schädel dröhnte. Im Dunkeln tastete sie auf dem Fußboden vor dem Bett herum. Irgendwo dort hatte sie es doch am Abend liegen lassen.
»Ja?«, sagte sie, als sie das Gespräch annahm. Es war mitten in der Nacht. Welcher Idiot konnte das schon sein?
»Laura. Hier ist Georgina.«
»Mama? Was … was ist? Wieso rufst du mich mitten in der Nacht an?« Sie knipste ihre Nachttischleuchte an. Das Licht brannte in ihren Augen, aber wenigstens war sie nun annähernd wach. Laura erinnerte sich schwach daran, dass es am vorherigen Abend mit Fiona nicht nur bei einem Cocktail geblieben war.
Spätestens als sie den zweiten Cocktail halb ausgetrunken hatten, verloren sie sich in ihrem Traum, besprachen Einrichtung, Farben und Menükarten ihres zukünftigen Restaurants. Es war wunderbar gewesen, diese Bilder in ihrem Kopf entstehen zu lassen. Fiona schaffte es, Laura wieder Zuversicht zu geben und den Glauben an ihren gemeinsamen Traum zu erneuern. Sie erinnerte sich daran, dass sie glücklich und beschwingt heimgekehrt war – und ziemlich angeheitert.
»Laura, bist du noch dran?«, fragte Georgina jetzt.
»Ja klar.« Offenbar hatte Georgina etwas gesagt, das Laura nicht mitbekommen hatte. »Was hast du gesagt, Mama?«
»Ich sagte, dass ich dir etwas Trauriges mitzuteilen habe, Laura.«
»Was?«, fragte Laura beklommen. Durch den heraufziehenden Kater von zu vielen Cocktails dämmerte ihr langsam, welche Bedeutung Georginas Anruf mitten in der Nacht nur haben konnte. Plötzlich klammerte sie sich an ihr iPhone. »Nein, Mama, bitte nicht«, flehte sie, aber da sprach Georgina ihre schlimmste Befürchtung auch schon aus.
»Es tut mir leid, Laura. Harriet ist tot.«
»Nein!« Das durfte nicht wahr sein! Niemals war das wahr! Das ging schlichtweg nicht. »Nein, Mama, das glaube ich nicht!«
»Es tut mir so leid. Ich weiß, was sie dir bedeutet hat, Laura. Falls –«
»Pah! Woher willst du wissen, was Harriet mir bedeutet hat?«, unterbrach Laura ihre Mutter ungehalten. Dann biss sie sich auf die Zunge.
»Ich meine ja nur. Entschuldige, es war nicht böse gemeint.« Während in Laura ein Sturm aus Schmerz, Wut und Aggression zu toben begann, verfiel Georgina sofort in ängstliche Zurückhaltung.
»Du weißt gar nichts, Mama. Nichts. Und daran bist du selbst schuld!« Sie sollte aufhören, das wusste Laura im selben Moment, da sie ihren nächsten Angriff abgefeuert hatte. Aber sie konnte nicht. Sie wollte ihrer Mutter am liebsten noch mehr an den Kopf werfen, ihre ganze Wut und Verzweiflung, ihre ganze Einsamkeit vor Georginas Füße schütten und schreien: »Hier! Siehst du, was du mit mir angerichtet hast? Siehst du es endlich!?« Aber ihr letztes Fünkchen klarer Verstand hielt sie zurück. Laura konnte nur verlieren, da Georgina nichts bot, um das sie kämpfen konnte. So war es schon immer zwischen ihnen gewesen.
»Ich … Ach, Laura. Wenn du doch nur …« Ihre Mutter geriet ins Stammeln und verstummte.
Alles in Laura schrie: »Kämpf endlich, Georgina! Fang doch einmal im Leben an, für etwas zu kämpfen! Für mich, deine einzige Tochter!«
»Ich melde mich wieder, Mama!«, würgte sie stattdessen heraus, weil sie es nicht mehr aushielt. Ohne Georginas Antwort abzuwarten, beendete sie das Gespräch, warf das Telefon aufs Bett und starrte ziellos auf das Muster ihres Bettbezugs. Harriet war tot. Laura konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben! Harriet war der einzige Mensch auf diesem Planeten gewesen, der sich wirklich mit Laura befasst hatte. Der für sie da gewesen war, der ihr den Rücken stärkte und sie unterstützt hatte, wo er nur konnte. Laura kannte ihren Vater nicht einmal, sowohl Georgina als auch Harriet hatten sich über ihn ausgeschwiegen. All das, was ihre eigene Mutter nicht zu geben in der Lage war, Kraft, Rückhalt und Liebe, das hatte Laura von Harriet empfangen. Ihre Tante Harriet hatte sie aufgefangen und sich ihrer angenommen, als sich immer mehr abzeichnete, dass ihre eigene Mutter dies nicht konnte. Wie sicher sie sich gefühlt hatte. Für wie selbstverständlich sie dieses Leben mit Harriet gehalten hatte.
Vorbei. Zerstört um drei Uhr in der Nacht.
Die Tränen begannen zu fließen in dem Augenblick, als Laura die Mauer aus Wut und Aggression niederriss und sich Angst und Einsamkeit offenbarten. »Verdammt noch mal!«, schluchzte sie verzweifelt. Jetzt war sie wirklich allein.
Die nächsten Tage hatte sie sich mechanisch zur Arbeit geschleppt. Sie hatte kaum ein Wort mit ihren Kollegen gesprochen und Sergios Launen kommentarlos über sich ergehen lassen. Natürlich informierte sie ihn über den Trauerfall, und sie hatte ihm auch gesagt, wann die Beerdigung war. Wenn sie auf Verständnis und Milde gehofft hatte, so lag sie da falsch: Sergio murmelte ein kaum verständliches »Mein Beileid« und meinte lapidar, dass die Arbeit sie von ihrem Kummer schon ablenken und sie auf andere Gedanken bringen würde. Offenbar hielt er seine eigenen Worte für eine Rechtfertigung, Laura dauerhaft im Blick zu behalten, noch kritischer zu sein als sonst und ihr ständig Vorhaltungen zu machen, was sie in seinen Augen noch verbessern könnte. Laura hielt es kaum mehr aus. Als der Tag der Beerdigung dann gekommen war, war sie geradezu erleichtert gewesen, nicht in die Restaurantküche gehen zu müssen. Sergio hatte ihr einen Tag Urlaub dafür zugestanden, mehr auch nicht.
Nun, am Tag danach, erwartete er Laura wieder in seiner Restaurantküche. Ob sie wollte oder nicht, sie musste zurück zur Arbeit. Dabei fühlte sie sich immer noch, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.
Es tat so weh. Und es war so ungerecht, fand sie. Wie hatte Harriet einfach gehen können? Natürlich war sie betagt gewesen. Bei einem Alter von vierundachtzig stand das außer Frage. Aber irgendwie hatte Laura die Sterblichkeit verdrängt. Wie töricht sie doch gewesen war!
Sie stand vor dem Spiegel in ihrem winzigen Bad und betrachtete die Riefen und Schatten, die sich im Laufe der letzten Tage um ihre Augen eingegraben hatten. Sie waren im Zuge der Trauer gekommen, und sie fragte sich, ob sie blieben. Wenn sie es schaffte, diesen Verlust zu verarbeiten, würden dann dessen Spuren ebenfalls heilen und wieder verschwinden?
Laura kämmte ihr braunes Haar zurück und schlang es zu seinem üblichen Alltagsknoten zusammen. Dann legte sie etwas Make-up auf, trug eine Spur Lidschatten auf und griff nach dem Mascarafläschchen, um ihre dunklen Wimpern zu betonen. Als sie mit dem Schminken fertig war, stäubte sie sich einen Hauch ihres Lieblingsparfums an den Hals und fand sich einigermaßen gerüstet für einen weiteren Tag im Pescatore. Innerlich fühlte sie sich mies und aufgerieben von der Trauer um ihre Tante, doch dieser kleine Moment der Selbstfürsorge gab ihr die nötige Kraft für den Tag.
Im Treppenhaus ihres Wohnhauses, in dem sich die Einzimmerwohnung befand, fiel ihr auf, dass sie ihr Portemonnaie liegen gelassen hatte. Sie wollte nach der Arbeit noch einen Strauß Blumen holen und sie auf Harriets Grabstätte legen. Da sie Angst davor hatte, im Mitarbeiterraum beklaut zu werden, nahm sie ihr Geld so gut wie nie mit. Sie drehte noch einmal um und kehrte in ihre Wohnung zurück.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Sie drückte den Türöffner und wartete ungeduldig ab, wer das sein könnte.
Sie war todtraurig, wollte am liebsten mit niemandem reden und war, wie sie mit Bestürzung feststellte, schon wieder sehr spät dran.
»Ja?«, fragte sie daher knapp nach unten ins Treppenhaus.
»Post!«, kam die ebenso kurze Antwort zurück, gefolgt von dem Geräusch widerhallender Schritte auf den steinernen Treppenstufen des Wohnhauses.
»Guten Morgen!« Der Briefträger begrüßte sie knapp. »Ich habe hier einen Brief für Laura van Dyck. Sind Sie das?«
»Ja. Das bin ich.«
»Können Sie sich ausweisen?« Der Briefträger hielt den Brief bereit.
»Ausweisen?« Laura blickte ihn verdutzt an. Dann kam Bewegung in sie. »Natürlich. Einen Moment!« Sie holte ihr Portemonnaie hervor und zog ihren Ausweis aus einem der Fächer. »Hier, bitte!« Sie zeigte ihm das Dokument.
»Alles klar«, murmelte der Bote und überreichte ihr den Brief. Während er das Dokument zur Unterschrift vorbereitete, betrachtete Laura interessiert den Brief. Er war mit einer Reihe italienischer Marken frankiert, trug Stempel in Kreisform, Wellen und andere Markierungen.
»Bitte unterschreiben Sie den Erhalt des Briefes hier!«, forderte der Briefträger sie auf und hielt ihr ein Dokument und einen Stift entgegen.
»Natürlich.« Laura war viel zu perplex darüber, das Dokument unter die Nase gehalten zu bekommen, um weitere Fragen zu stellen. Eilig unterschrieb sie, und der Briefträger verabschiedete sich mit einem Dank. Während seine Schritte durch das Treppenhaus rumpelten, stand Laura immer noch wie festgewurzelt vor ihrer offenen Wohnungstür und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, soeben einen Brief aus Italien mit persönlicher Zustellung erhalten zu haben.
Wenige Sekunden später schlug die Glocke des Kirchturms zur vollen Stunde. Dieses Signal weckte sie aus ihrer Versunkenheit. »Oh Shit!«, rief sie, schleuderte den Brief auf die Arbeitsfläche der Küche ihrer winzigen Wohnung und zog die Tür energisch hinter sich zu. »Verdammt, verdammt, verdammt!« Sie hastete die Treppenstufen nach unten, stürzte auf die Straße und rannte zur Bushaltestelle, von der aus sie die Linie 10 zur S-Bahn-Station bringen sollte. Egal, was es mit dem Brief aus Italien auf sich hatte, dieser musste warten. Sie hatte erst ihren Arsch bei Sergio zu retten. Nur zu gut klang seine Warnung bei ihrer letzten Verspätung noch in ihren Ohren nach. Dieser Job war wichtig. Sie konnte ihn nicht auch noch verlieren. Solange sie nichts anderes an Land gezogen hatte, musste sie aufpassen, es sich nicht vollends mit Sergio zu verscherzen.
Gerade als sie um die Straßenecke bog, schlossen sich vor ihren Augen die Bustüren. »Nein!«, rief sie aus und sprintete die letzten Meter bis zum Bus. Sie klopfte noch verzweifelt an die Tür, aber zu spät, der Bus fuhr bereits an und fädelte sich in den Verkehr ein. Ohne Laura.
»Scheiße, scheiße, scheiße!« Außer Atem und mit in die Seiten gestemmten Händen blickte Laura ihrer verpassten Chance, die Arbeit noch pünktlich zu erreichen, hinterher. Der nächste Bus fuhr in fünfzehn Minuten. Sergio würde ihr die Hölle heißmachen. Und dieses Mal zu Recht.
Alles war wie immer. Dieselbe Unordnung. Dieselben stummen Kollegen, die sich nicht verantwortlich fühlten. Dieselbe hastig hingekritzelte Tageskarte auf einem Blatt Papier.
Laura stand inmitten des Chaos. Sergio befand sich noch in einem Gespräch mit einem Lieferanten an der Restauranttür. Sie hatte sich an ihm vorbeidrücken müssen, um in das Restaurant zu kommen. Knappe fünfundvierzig Minuten Verspätung waren es geworden. Natürlich hatte er ihr nicht Platz gemacht, und dem Blick nach zu urteilen, den er ihr zuwarf, sollte sie sich besser jetzt schon mit dem Ausräumen ihrer persönlichen Sachen aus dem Spind beschäftigen.
Aber genau das tat Laura nicht. Sie straffte sich und ergriff stattdessen das vollgekritzelte Blatt. Sie musste eben schneller arbeiten und die verlorene Zeit wieder aufholen. »Kartoffelsuppe mit Shrimps«, las sie aus dem Durcheinander heraus und »Dorade vom Grill, Broccoli, Möhre, Paprika, Kartoffeln«. Zuvor hatte das Wort »Mais« hinter dem Broccoli gestanden, war aber durchgestrichen und durch Möhre ersetzt worden. Ebenso war es dem Reis ergangen, der ursprünglich als Beilage hätte dienen sollen, jedoch von den Kartoffeln einen Platzverweis erhalten hatte.
Laura legte das Blatt zurück und machte sich daran, die Gemüse zusammenzusuchen. Dieses Mal ignorierte sie das Chaos um sich herum einfach und verfolgte zunächst das simple Ziel, alle Zutaten zusammenzustellen. Dabei fiel ihr sofort auf, dass die Kartoffeln entweder für die Vorsuppe reichten oder als Beilage für den Hauptgang. Für beide Gänge wären sie zu wenig. Sergio hatte wieder einmal nicht kontrolliert, womit er überhaupt arbeiten konnte. Ein Versäumnis, das es schon häufiger gegeben hatte.
Da sie wusste, wie wichtig Sergio die Tagessuppe war, entschied Laura kurzerhand, die Kartoffeln dafür zu verwenden. Dann würde es eben, seinem ursprünglichen Gedanken entsprechend, Reis als Beilage zum Fisch geben. Laura machte sich ans Werk, schob störende Gegenstände einfach zusammen und beiseite, anstatt sie wie sonst üblich aufzuräumen. Es musste eben auch so gehen.
»Was machen Sie da!?«, wurde sie kurze Zeit später von ihrem Chef angeherrscht.
»Wie bitte?« Laura blickte verdutzt von dem Julienneschneider auf, mit dem sie Möhren in gleichmäßige Stifte schnitt.
»Was Sie da machen, habe ich gefragt!« Sergios Ton war deutlich ungehalten. Er deutete auf die Julienne, die sich bereits in einer der großen Plastikboxen stapelten.
»Ich schneide Julienne für die Beilage zur Dorade«, erklärte Laura mit erzwungener Gemütsruhe. Sie machte sich wieder ans Werk, doch Sergio hielt sie zurück.
»So ein Quatsch!«, blaffte er. »Abgesehen davon, dass Julienne zu schneiden viel zu lange dauert, standen sie nicht auf der Karte!«
»Wir haben Möhre in Beilagenform in diesem Restaurant bisher immer in Form von Julienne serviert!«, rechtfertigte Laura sich. Ein Seitenblick verriet ihr, dass die Arbeiten um sie herum zum Erliegen gekommen waren. Die Kollegen beobachteten den Disput mit gespannter Neugier.
»Wären Sie heute Morgen mal wieder nicht zu spät gekommen, hätten Sie auch genug Zeit gehabt, Julienne zu schneiden! Aber jetzt ist schon elf Uhr vorbei, und Sie sind immer noch am Schnippeln, statt zu kochen!«
»Das stimmt ja gar nicht! Die Suppe ist bereits auf dem Feuer!«, widersprach sie nun doch mit Vehemenz. »Da, sehen Sie doch: Sie köchelt seit zehn Minuten vor sich hin. Gleich ist sie so weit, dass ich sie pürieren kann.« Mit dem Kopf wies sie in Richtung der Kochplatte, auf der zwei große Kochtöpfe das Gemüse auf sanfter Flamme in Kartoffelsuppe verwandelten. Befeuert durch die Angst um ihren Job, hatte sie die Zutaten Kartoffeln, Möhren, Lauch und etwas Sellerie in Rekordzeit zerkleinert und mit der Brühe aufgekocht. Sie hatte ihre verlorene Zeit definitiv wieder aufgeholt, fand Laura.
»Gut. Immerhin etwas, das Sie hier heute noch auf die Reihe kriegen«, brummte Sergio. Dann blickte er sich suchend um. »Wo sind die Kartoffeln für den Fisch?«
»Es gibt keine.«
»Was sagen Sie? Es gibt keine!?« Sergio trat einen Schritt näher und baute sich bedrohlich vor Laura auf. Diese verschränkte die Arme vor der Brust und begegnete ihm selbstbewusst.
»Es gibt keine Kartoffeln als Beilage zur Dorade, weil sie alle sind, Sergio. Stattdessen wird es Reis geben, so, wie Sie ursprünglich geplant hatten.«
»Was erzählen Sie denn da für einen Quatsch, Laura!« Sein Zorn traf sie mit voller Wucht. »Wie kommen Sie darauf, zu behaupten, dass die Kartoffeln alle sind? Und was fällt Ihnen ein, sich eigenmächtig über meine Kreation hinwegzusetzen?«
»Also, entschuldigen Sie mal, aber ich habe doch die Kartoffeln gesucht: Der letzte Rest ist in die Tagessuppe gewandert!« Laura fühlte sich ungerecht behandelt. »Es gibt keine anderen!«
»Wären Sie nicht ständig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, würden Sie die Arbeitszeiten einhalten und einfach das tun, was man Ihnen sagt, Laura van Dyck, dann hätten Sie die zwei Zentner Kartoffelsäcke, die draußen auf der Palette stehen, sicherlich wahrgenommen, als Sie heute Morgen an mir vorbei ins Restaurant gestürzt sind!« Sergios Kopf wurde hochrot. Er taxierte sie aus wenigen Zentimetern Entfernung. »Packen Sie Ihre Sachen, und hauen Sie ab, Laura! Jemand so Unzuverlässigen und Eigensinnigen wie Sie kann ich hier nicht brauchen.«
»Was!?« Der Schock stand Laura ins Gesicht geschrieben.
»Sie haben mich verstanden, Laura.« Sergios kalter Blick versetzte ihr einen Stich in die Magengegend. Er trat beiseite, um ihr den Weg zum Mitarbeiterraum frei zu machen, und ließ sie keine Sekunde aus den Augen, während sie wie in Trance und gedemütigt die Möhre auf die Arbeitsfläche zurücklegte, die sie immer noch in der Hand hielt. Alle starrten sie an, als sie einen Fuß vor den anderen setzte und zum Kabuff hinüberging.
»Den noch ausstehenden Lohn überweise ich Ihnen. Auf ein Zeugnis und ein Empfehlungsschreiben verzichten wir besser. Sie kämen nicht gut dabei weg.«
Sergios letzte Worte hallten ihr in den Ohren, als sie die Schürze aufband und in den Korb mit der benutzten Wäsche tat. Er war leer. Ihre war die erste. Lauras Finger zitterten so sehr, dass sie Mühe hatte, ihren Spind aufzuschließen, um ihre wenigen Sachen herauszunehmen.
»Und das alles nur wegen dieser dämlichen Kartoffeln«, flüsterte sie, den Tränen nahe. Ganz tief in ihrem Innern wusste sie, dass das nicht stimmte. Es waren nicht die Kartoffeln gewesen. Auch nicht das ständige Chaos im Pescatore hatte Schuld daran. Nicht einmal Sergio an sich war es, nein. Es war etwas in ihr, das nicht stimmte. Etwas, das sie immer wieder dieselben Verhaltensmuster durchlaufen ließ, die zu immer denselben Fehlern führten und sie damit einen Job nach dem anderen kosteten. Sie spürte, wie ihr die Tränen kommen wollten, verbot es sich jedoch zu weinen.
Sie schlich aus dem Restaurant heraus, vermied jeden Blick zu den anderen Angestellten und war mehr als dankbar, dass ihr Sergio nicht noch ein weiteres Mal über den Weg lief. Sie öffnete die Tür, und sofort stach ihr die seitlich des Eingangs stehende Palette ins Auge. Säcke dicker gelber Kartoffeln lagen darauf. Zwei Helfer schickten sich an, sie in die Vorratskammer zu räumen, bevor die ersten Gäste das Lokal betraten. Wie hatte sie die übersehen können?
»Scheiß Kartoffeln«, grummelte Laura, und dann waren die Tränen nicht mehr aufzuhalten. Sie hatte es wieder einmal vermasselt.
»Hey, ich bin’s. Hast du Zeit?« Laura merkte selbst, wie kleinlaut ihre Stimme klang. Sie schniefte, dann riss sie sich am Riemen. Sie hatte die Blumen für Harriet gekauft, war auf dem Friedhof gewesen. Am Grab ihrer Tante waren die Tränen unaufhaltsam geflossen. Laura hatte um alles getrauert, das ihr in den letzten Tagen genommen worden war. Zuerst ihre Tante, nun auch noch ihr Arbeitsplatz. Es war so ungerecht. Noch nie hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt wie an diesem Tag. Nicht einmal in dem Moment, als Georgina sie, die Vierjährige, damals vor Harriets Tür ablud und sagte, sie würde bald wiederkommen. Aus dem »bald« war ein »gelegentlich« geworden.
»Laura, was ist denn mit dir los?« Fiona klang besorgt. »Was ist passiert?«
»Können wir uns treffen? Also, ich meine, wenn du Zeit hast, natürlich«, ergänzte sie ihre Frage. Sie war vollkommen konfus. Es kam ihr so vor, als wäre sie über die Kante eines Abgrunds spaziert und stellte im Fallen erst fest, dass sie einen Schritt zu weit gegangen war und den Halt komplett verloren hatte. Laura fror, obwohl die Sonne schien und es angenehme 25 C hatte. Ein Wetter, bei dem sie sich normalerweise ausgesprochen wohlfühlte. Heute nicht.
»Ja, klar. Natürlich hab ich Zeit. Ich hab heute Spätschicht. Ich muss erst um zwei im Krankenhaus sein. Wollen wir uns bei Barney’s treffen?«
Barney’s war eine Brasserie an der Strandpromenade, etwa einen halben Kilometer vom Pescatore entfernt. Sie hatten sich schon oft dort verabredet, weil sie das Konzept der Brasserie sehr bewunderten. Es hatte sich zu einem stillen Vorbild für ihr eigenes Vorhaben entwickelt.
Lauras Magen verkrampfte sich, als ihr bei dem Gedanken an ihre eigenen Zukunftspläne bewusst wurde, wie weit sie bei diesen wieder zurückgeworfen worden war, indem sie es sich mit dem Chef des Pescatore verscherzt hatte. Fiona würde von ihr maßlos enttäuscht sein.
»Okay, Barney’s. Danke!«, sagte sie knapp, weil sie schon wieder schlucken musste.
Kurze Zeit später saßen sich Laura und Fiona an einem Tisch mit Blick über die belebte Promenade gegenüber.
»Du siehst grauenhaft aus, ehrlich gesagt.« Fiona nahm wie immer kein Blatt vor den Mund.
»Er hat mich rausgeschmissen, Fiona.« Laura bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie schämte sich. »Ich hab’s schon wieder vermasselt. Der dritte Job in zwei Jahren.«
»Oh nein! Was war es dieses Mal?«
»Kartoffeln.«
»Was!?« Fiona gluckste ein paarmal, bevor sie in helles Gelächter ausbrach.
Laura schämte sich in Grund und Boden. Und dann passierte etwas Wunderbares: Sie lachte. Sie lachte mit ihrer Freundin Fiona, erzählte ihr unter Lachtränen, wie mehrere Zentner Kartoffeln ihren Abschied vom Pescatore verursacht hatten.
»Du hast dort nicht hingepasst, Laura«, sagte Fiona schließlich versöhnlich und trank einen Schluck Wasser. »Das war dir doch im Grunde genommen bereits selbst klar, oder?«
»Ja, schon«, nickte Laura. »Aber ich brauche einen Job, Fiona, egal, ob ich dort hineinpasse oder nicht.«
»Hey, jetzt sei doch nicht so hart zu dir selbst!«, ermahnte ihre Freundin sie mit sanfter Stimme. »Hör mal, du hast gerade einen geliebten Menschen verloren, und wahrscheinlich bist du deswegen noch vollkommen von der Rolle. Wer wäre das nicht?« Fiona strich sich eine blonde Locke aus der Stirn.
»Das stimmt schon, aber …« Lauras Stimme verebbte. Sie wusste nicht, wie sie ihrer Freundin die Gefühle beschreiben konnte, die in ihr tobten. Kannte Fiona solche Gefühle überhaupt und würde sie verstehen?
»Aber was?«, hakte diese gerade nach.
»Ach, Fiona. Ich weiß nicht, wie ich das jetzt erklären soll. Bei dem Job – bei allen Jobs, die ich bisher hatte – ging es ja nicht nur um das monatliche Gehalt auf dem Konto, sondern … ich hab es ja immer auch für Mama gemacht und für unser Projekt.« Laura merkte, wie sie sich genierte. Ihre Mutter hätte sie vielleicht besser unerwähnt gelassen.
»Deine Mutter? Wieso, was hat Georgina mit deiner Arbeit in einem Restaurant zu tun?« Fiona blickte sie verwundert an.
»Na ja. Direkt natürlich nichts. Es ist meine Arbeit. Aber indirekt … ach, ich weiß nicht.« Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. Es war doch gar nicht ihre Art, so herumzudrucksen. Wieso jetzt? Und wieso vor Fiona? Sie gab sich einen Ruck.
»Du weißt ja, dass ich ziemlich früh zu Tante Harriet gekommen bin. Georgina hat mich dort abgesetzt und mir versichert, dass sie bald wieder zurückkommt, um mich zu holen. Das hat sie nicht gemacht. Jedenfalls glaube ich, dass sie das drei Jahre lang nicht gemacht hat. Ich war noch so klein, ich kann mich nicht richtig erinnern. An eins jedoch schon: Als ich sieben war, stand sie wieder vor Harriets Tür und wollte mich mitnehmen.« Laura blickte auf ihren Teller herunter, auf dem Salatblätter, Tomaten und Mozzarella ein rot-weiß-grünes Streifenmuster bildeten. »Ich wollte das aber nicht mehr.« Nun ruhte ihr fester Blick auf Fionas Gesicht. »Ich, ihre einzige Tochter, wollte nicht wieder zurück zu ihr. Weil ich sie überhaupt nicht mehr kannte. Ich hatte kein Gefühl mehr für die fremde Person da an der Tür, die von sich als meine Mama geredet hat. Ich wollte bei Harriet bleiben, wollte zur Schule gehen mit den Mädchen, die ich kennengelernt hatte.«
»Aber du bist nicht dortgeblieben, bei Harriet, richtig?«, fragte Fiona leise.
»Nein. Georgina ist nun mal meine Mutter. Also hatte sie das Recht, mich wieder mitzunehmen. Und das hat sie getan. Ich erinnere mich an einen ziemlich schlimmen Streit deswegen. Harriet und Georgina waren unten, in Harriets Küche, und stritten sich, was das Zeug hielt. Ich habe mich so erschreckt, dass meine Nonna – ich durfte sie so nennen, obwohl sie meine Tante war – so laut werden konnte. Ich war oben in meinem Zimmer und sollte von meinen Sachen alles zusammensuchen, was ich mitnehmen wollte. Ein Koffer, hatte Georgina gesagt. Einer. Der Rest sollte bei Harriet bleiben.«
»Wieso hat Georgina das gemacht? Ihr muss doch selbst klar gewesen sein, dass du bei Harriet viel besser aufgehoben warst. Abgesehen davon, dass du mit sieben Jahren ja auch zur Schule musstest!«
»Ich weiß bis heute nicht, warum Mama mich damals in dieser Hauruckaktion von Harriet fortgeholt hat. Ich bezweifle mittlerweile sogar, dass es in dem Streit zwischen den beiden um mein Wohl ging. Zuerst dachte ich das, weil ich glaubte, dass Harriet sich für mich einsetzte. Das hat sie sicherlich auch, aber es ging da auch noch um etwas anderes. Ich kann mich daran erinnern, wie Mama mehrmals völlig außer sich geschrien hat: ›Du hättest es mir sagen müssen!‹, und auch: ›Warum hast du es mir nie gesagt?‹ Irgendwas war da zwischen den beiden, das überhaupt nichts mit mir zu tun hatte. Ich war bloß diejenige, die darunter litt. Im Endeffekt bin ich tatsächlich zu Georgina ins Auto gestiegen, mein Koffer hinten im Kofferraum, eingequetscht neben ihren Sachen. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, und ich erinnere mich auch noch an Harriet, wie sie vor der Tür stand und ebenfalls weinte. Ich habe so lange Theater gemacht, bis Georgina mich voller Inbrunst anschrie: ›Hör endlich auf zu heulen, Laura!‹«
»Schrecklich!« Fiona wirkte bestürzt. »So geht doch keine Mutter mit ihrem Kind um!«
»Doch. Georgina schon. Und es ist so geblieben. Es gibt keine Gefühle zwischen uns. Jedenfalls nicht die, die eine Mutter und Tochter miteinander teilen sollten. So etwas wie Liebe, Stärke, Rückhalt. Und auch Freundschaft. Diese Dinge habe ich von Georgina nie erfahren, stattdessen ist sie immer sehr distanziert. Ich habe schon sehr oft das Gefühl gehabt, dass sie mich eigentlich gar nicht will, mich irgendwie ablehnt.«
»Und dann holt sie dich trotzdem von Harriet weg? Das ist doch unlogisch. Dann wäre es doch besser gewesen, wenn sie dich dort gelassen hätte.«
»Sicher. Nur wie gesagt: Da war ja noch dieser seltsame Streit. Vielleicht hatte sie sich verpflichtet gefühlt, mich von Harriet wegzuholen, obwohl sie es eigentlich nicht gewollt hatte?«, spekulierte Laura.
»Wohin ist sie denn mit dir gefahren?«, nahm Fiona den Faden wieder auf.
»Nach Italien.«
»Italien!?« Fiona guckte ehrlich überrascht. »Nun, ich hätte ja mit vielem gerechnet, aber Italien? Was hat sie denn in Italien zu schaffen gehabt? Wie alt war deine Mutter damals überhaupt?«
»Anfang dreißig muss sie gewesen sein.« Laura stocherte in ihrem Salat herum. »Wir sind nach Neapel geflogen. Dort hat uns jemand abgeholt. Wir sind mit dem Auto eine Zeit lang gefahren, eine Küstenstraße entlang. Ich saß auf der Seite, die dem Abgrund näher war. Ich weiß noch, wie ich vollkommen verängstigt den felsigen Schlund hinunterblickte, mich an dem Haltegriff an der Tür festklammerte, immer in dem Glauben, jeden Moment mit dem Auto da runterzustürzen, und gleichzeitig vollkommen fasziniert von diesen intensiven Farben und dem Geruch, der durch die geöffneten Fenster hereinströmte.«
»Klingt, als wärst du wie ein junger Baum entwurzelt und verpflanzt worden.« Fiona schmunzelte ein wenig.
Laura lachte kurz auf. »Ja, kann man so sagen.« Mit einem Kopfschütteln fuhr sie fort: »Wir kamen in ein Dorf, das innerhalb von Hügeln lag. Dort wohnten wir für die nächsten Jahre. Ich bin dort zur Schule gegangen, habe Italienisch gelernt und Freundschaften geschlossen. Und in jeden Ferien setzte meine Mutter mich in Neapel ins Flugzeug, damit es mich in England bei Harriet wieder ausspuckte.«
»Tja. Auf der einen Seite kann man denken, dass sie dir damit einen Gefallen tun wollte, damit du deine Nonna wieder um dich hast. Auf der anderen Seite …« Fionas Worte verebbten.
»Ja. Die andere Seite. Die ist die wichtige Seite.« Laura blickte sie fest an. »Das ist die Seite, die du als Kind nie vergisst. Die sich dir einprägt. Und die dir immer wieder die Frage vor Augen führt: Will deine eigene Mutter dich loswerden? Warum ist deine eigene Mutter nicht in der Lage, eine gesunde, stabile Mutter-Kind-Beziehung aufzubauen? Ich weiß die Antwort bis heute nicht. Und sehr wahrscheinlich werde ich die Antwort auf diese Frage auch nie bekommen.«
»Es tut mir ehrlich leid für dich, Laura.« Fiona wirkte betroffen. »Nun hast du deine Tante Harriet verloren, von der du so viel Liebe und Bestärkung bekommen hast, während es nicht so aussieht, als würde sich an dem Verhältnis zu deiner Mutter etwas ändern, oder?« Fionas Blick war voller Sorge. Alleine ihr Mitgefühl sorgte schon dafür, dass Laura sich verstanden und getröstet fühlte.
