Das Erbe von Talgrund - Rebecca Martin - E-Book

Das Erbe von Talgrund E-Book

Rebecca Martin

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Beschreibung

Patriarch Bruno Hofer ist mit 97 Jahre verstorben, und die entzweite Familie wird auf den Familienstammsitz Talgrund gebeten. Alle sind angespannt, hat Bruno doch kürzlich Änderungen im Testament angekündigt. Dann zieht ein heftiges Unwetter auf. Kurz bevor Überschwemmungen das Gutshaus tagelang isolieren, trifft Maya Dudek ein. Wer ist diese junge Frau, die angeblich eine Freundin von Bruno sein soll? Und was fällt ihr ein zu behaupten, auf Gut Talgrund seien im Zeiten Weltkrieg Zwangsarbeiter verpflichtet worden? Auf sich allein gestellt begibt sich die Familie auf die Suche nach einem plötzlich verschwundenen Testament und einer verdrängten Familiengeschichte, die jahrzehntelang im Verborgenen lag.

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Das Buch

Patriarch Bruno Hofer ist im hohen Alter verstorben und die entzweite Familie kommt auf dem Familiensitz Talgrund zusammen. Alle sind angespannt, hat Bruno doch kürzlich eine Änderung im Testament angekündigt. Unerwartet zieht ein heftiges Unwetter auf. Kurz bevor Überschwemmungen das Gutshaus tagelang von der Außenwelt abschneiden, trifft Maya Dudek ein. Wer ist diese fremde Frau, die angeblich eine enge Freundin von Bruno sein soll? Und warum behauptet sie zu wissen, was auf Gut Talgrund im Zweiten Weltkrieg geschehen ist? Auf sich allein gestellt begibt sich die Familie auf die Suche nach dem plötzlich verschwundenen Testament. Und ein jahrzehntelang verdrängtes Geheimnis kommt hierbei unaufhaltsam an die Oberfläche.

Die Autorin

Rebecca Martin studierte Englisch und Deutsch in Frankfurt am Main und in Dublin, Irland. Sie reist leidenschaftlich gern, interessiert sich für Geschichte und liebt es, Geschichten zu erzählen. Ihre Romane waren alle SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Nahetal.

Rebecca Martin

Das ErbevonTalgrund

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Editorische Notiz

In diesem Roman verwendet die Autorin für ihre Figuren

auch rassistische Wörter und Konzepte, die im Kontext

dieser Zeit gebräuchlich waren

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung: © t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von ullstein bild (ullstein bild – mauritius), Shutterstock.com (Duet PandG, brickrena, Monkey Business Images, Jan Wehnert, Frederick Doerschem)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29895-1V001

www.heyne.de

1

Talgrund, Frühling 1941

Leni holte noch einmal Schwung, bevor sie das Seil am höchsten Punkt losließ und mit einem hellen Aufschrei in den Mühlenweiher eintauchte. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie sank noch ein Stück tiefer, kurz war es still, aber als sie wenig später die Wasseroberfläche durchbrach, hörte sie auch schon das durchdringende Jubeln der anderen. Es war geradezu so, als trügen sie die Stimmen ihrer Freunde, während sie mit kräftigen Armschlägen das Ufer ansteuerte: »Leni, Leni!«, feuerte ihr Cousin Friedrich sie besonders laut an. Ihr gemeinsamer Freund Georg kam der knapp Neunzehnjährigen bei ihrer Ankunft bereits mit ihrem Handtuch und einem Lächeln entgegen, das sie für einen Moment innehalten ließ. Seine blaugrünen Augen strahlten und das Sonnenlicht ließ sein Haar noch heller wirken. Georg mochte der Sohn des ersten Knechts sein, doch sie alle verbrachten ihre Zeit bereits gemeinsam, solange sie sich erinnern konnte, und nie hatte etwas zwischen ihnen gestanden. Jeder wusste um die besondere Beziehung zwischen Friedrichs Vater Alfred und Georgs Vater Werner, die beide als junge Männer, fast Kinder noch, die Schrecken des Großen Krieges durchlebt hatten. Werner, so hatte Alfred mehr als einmal erzählt, hatte ihm damals das Leben gerettet. Das hatte er ihm nicht vergessen.

Auch wenn es ihre Eltern Siegfried und Ilse anders sehen mochten und Georg gern an seinen Platz verwiesen hätten, war Alfred der Herr über Talgrund, und so waren sie als Kinder gemeinsam ganze Tage über die Wiesen und Felder des Guts gezogen. Sie waren kleine Schluchten hochgeklettert, die sich hier und da die umliegenden Berge hinaufzogen, ausgewaschen von Bächen und kleineren Flussläufen, die manchmal ganz verschwanden und dann wieder auftauchten, wenn es stark regnete. Sie hatten sich Hütten in den Wäldern gebaut oder Verstecken gespielt, Cowboy und Indianer, Römer und Germanen. Natürlich war es stets Friedrich als Arminius, der Varus besiegte. Varus, gib mir meine Legionen wieder.

Ja, wie viele heiße Tage hatten sie hier nicht schon gemeinsam am Weiher verbracht, waren im algengrünen Wasser bis auf den Grund getaucht oder hatten sich Geschichten von Wassermännern erzählt, die sie immer bedrohlicher ausschmückten, je älter sie wurden. Und wie oft schon hatten sich die Jungs Wettkämpfe geliefert, wer dem Wehr mit seinen unangenehmen Strudeln und Strömungen am nächsten kommen konnte. Man konnte es nicht anders sagen, aber ihr Gefüge war gut ausbalanciert, so wie ein fein austariertes Uhrwerk.

Georgs Lächeln vertiefte sich, als Leni aus dem Wasser stieg. Sie streckte die Hand nach dem Handtuch aus. Der Siebzehnjährige öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da rief Lenis Bruder Bruno sie zu sich.

Rasch müsse sie kommen, wenn sie noch etwas von den Leckereien wolle, die man heute früh eingepackt habe.

Während Leni sich neben ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder niederließ, war es nun an Friedrich und Georg, ein weiteres Mal ins Wasser zu rennen. Für einige Zeit schwammen die beiden um die Wette. Irgendwann tauchten sie. Vorübergehend waren ihre Köpfe nur noch ab und an zu sehen. Dann erschien Friedrich plötzlich hinter Georg und schwärzte ihm mit dem dunklen Schlamm vom Grund des Weihers das Gesicht. Der wehrte sich prustend und schließlich gelang es ihm, Friedrich zu entkommen. Erst in einiger Entfernung kam er wieder hoch.

Bruno schnalzte bedauernd.

Leni runzelte die Stirn. Ja, sie hatten immer gut gemeinsam gespielt, aber da war auch immer diese Konkurrenz zwischen Bruno und Georg gewesen. Man stritt sich um den Platz, der Friedrichs am nächsten kam, aber das waren Kleinigkeiten.

Leni schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. Hier zu sein, hatte sich dennoch immer wie das Paradies angefühlt, bis …

»Es ist schön, dass du heute dabei bist«, riss Brunos Stimme sie unvermittelt aus den Gedanken. Fröstelnd zog Leni ihr Handtuch enger um die Schultern.

»Eben, als ich Georgs schwarzes Gesicht gesehen habe, musste ich an den Sommer der Olympiade denken, damals, als wir in Berlin waren«, fuhr ihr Bruder fort. Sie runzelte die Stirn. »1936 … Es ist viel passiert seitdem«, murmelte sie. Ihre Stimme klang rau und etwas verloren, undefiniert. Sie fragte sich, ob sie an dasselbe dachten, und ob sie daran denken sollte an einem Tag, so schön wie dieser …

»Ja, das stimmt. Ich …« Vielleicht wollte Bruno noch etwas anderes sagen, aber dann tat er es nicht. Sie sprachen nicht über die Dinge, die sich vor nun über zwei Jahren ereignet hatten, oder über Esther Goldstein, Lenis beste Freundin und deren Familie.

Esther wird immer meine beste Freundin sein.

»Weißt du noch, wie Friedrich Georg das Gesicht damals mit Kohle geschwärzt hat, damit er mehr wie Jesse Owens aussieht?«, hörte sie ihren Bruder sagen.

Natürlich erinnerte sie sich. Die Jungen hatten die Läufe der Olympiade nachgestellt. Damals waren sie alle noch Kinder gewesen. Inzwischen hatte sich das geändert.

Sie seufzte.

»Aber du hast den Wettlauf gewonnen.«

Bruno sah kurz sehr zufrieden aus, dann zuckte er die Schultern.

»Owens hat damals vier Goldmedaillen gewonnen.«

»Dabei war man sich eigentlich sicher gewesen, dass ein Schwarzer keinen Weißen, und vor allem keinen Deutschen besiegen kann, nicht wahr? Aber es ist anders gekommen«, sagte Leni nachdenklich.

Vieles ist anders gekommen, setzte sie stumm hinzu. Ihre Stimmung drohte zu kippen. Sie wollte das nicht.

Bruno nickte nur. In jenem Sommer 1936 war der Jubel über die Olympiade groß gewesen und der dunkelhäutige Jesse Owens ihr heimlicher Held.

»Es waren gute Tage.« Er räusperte sich. »Ich erinnere mich noch an das Reichssportfeld und die Formationen der Hitlerjugend und des BDM und wie wir Unter den Linden nach dem Kirner Stadtwappen gesucht haben. Weißt du noch, die vielen, vielen Fahnenmaste?«

»Natürlich, es gibt Fotografien davon.«

»Ach ja, stimmt.«

Erst hatte Friedrich ein Bild von Bruno und ihr aufgenommen, dann hatte Bruno dasselbe mit Leni und Friedrich gemacht, und zum Abschluss hatten sie noch einen zufällig vorbeikommenden Passanten gebeten, ein Bild von ihnen allen gemeinsam zu machen. Bruno räusperte sich. »Vater hat mir damals erzählt, dass diese Aluminium-Profil-Maste eine technische Meisterleistung aus der Flugzeugfertigung sind.«

Hätte jemand ahnen können, dass man sich bereits drei Jahre später tatsächlich im Krieg befinden würde, fuhr es Leni durch den Kopf. Hier auf Talgrund bekam man nicht viel davon mit. Natürlich beschwerten sich die Eltern manchmal, dass ihnen die Arbeitskräfte fehlten, wenn nach den jungen auch noch die älteren Knechte an die Front geschickt wurden. Sie griff nach ihrem Zopf, um ihn über die Schulter nach vorne zu ziehen und legte sich das Handtuch neu um die Schultern.

»Und weißt du noch die Fernsehstuben?«, fragte Bruno.

Leni nickte. Ja, sich die Wettkämpfe im Fernsehen anzusehen, war wirklich etwas Besonderes gewesen. Das hatte es vorher nicht gegeben. Seitdem hatte keiner von ihnen mehr ferngesehen.

Wieder musste sie an die anderen Dinge denken, die sich seitdem geändert hatten. Als sie aus Berlin zurückgekehrt waren, hatte es diesen kurzen Moment gegeben, in dem sie sich sicher gewesen war, dass alles gut werden würde, dass sie alle ihr Leben weiterführen konnten, wie sie sich das wünschten. Sie war zuversichtlich gewesen und hatte das auch den Goldsteins gegenüber geäußert. Esthers Bruder Heinrich aber hatte nur gelacht und er hatte recht behalten.

Sie blinzelte, die Tränen kamen nicht. Bruno legte eine Hand auf ihren linken Arm.

»Es ist wirklich gut, dass du dabei bist, Leni, du hast so sehr gefehlt.«

»Ich weiß.«

Sie schluckte unvermittelt. Sie wusste ja, wie es war, wenn jemand fehlte. Nachdem ihre beste Freundin Esther und deren Familie Deutschland Anfang 1939 verlassen hatten, hatte sie sich einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben gefühlt. Für einige Zeit hatte sie sich von den gemeinsamen Unternehmungen ganz zurückgezogen und auch danach nicht mehr so häufig daran teilgenommen. Sie vermisste Esther noch immer. Sie würde sie immer vermissen. Sie verstand auch, dass ihre Freundin wahrscheinlich nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollte, weil sie eine Deutsche war, aber es tat weh.

Ilse fiel es schwer, sich vom Anblick der Kinder draußen loszureißen. Die kleine Gruppe war erst vor ein paar Minuten vom Weiher herübergekommen, schien jedoch noch nicht daran zu denken hereinzukommen. Vielleicht war es auch falsch, sie Kinder zu nennen, sogar Friedrich, der Jüngste, war inzwischen siebzehn Jahre alt. Ihre Tochter Leni ordnete gerade ihre Haare mit den Fingern, um sie dann in einen lockeren Zopf zu flechten. Georg stand mit ihrem Handtuch an ihrer Seite und tat sich offenbar schwer, den Blick abzuwenden, was Ilse missbilligend die Augenbrauen heben ließ. Sie würde mit ihrer Tochter reden müssen – wieder einmal.

Ilse schaute kurz zu ihrer Schwägerin Maximiliane und dann gleich wieder nach draußen. Die Ehefrau ihres Bruders Alfred saß hochaufgerichtet in ihrem Sessel und gab vor, in ihrem Buch zu lesen, aber Ilse war klar, dass ihre Gedanken ganz woanders waren, denn sie hatte schon seit Minuten nicht mehr umgeblättert. Bedauerlicherweise hatte sie keine Ahnung, was ihre Schwägerin beschäftigte, dabei wusste sie so gerne Bescheid. Maximiliane wirkte schon seit einiger Zeit wie in Gedanken versunken. Hin und wieder sah Ilse ihre Schwägerin und den Bruder auch zusammenstehen und angeregt miteinander reden, und wenn sie dann dazukam, wurden plötzlich beide still oder wechselten das Thema. Sie erkannte das, sie war nicht dumm.

Flüchtig runzelte sie die Stirn. Es war Sonntag und inzwischen früher Abend. Der Tag war wieder einmal nur so an ihr vorbeigerast. Es gab viel zu tun, und sie achtete eben stets darauf, sich nützlich zu machen. Sie hoffte, dass es sich einmal auszahlte. Morgens waren sie alle gemeinsam in der Kirche gewesen. Bald würde die ganze Familie zu Abend essen. Auf Talgrund verbrachte man jede Mahlzeit zusammen, und sehr oft dachte Ilse, dass dies nur dazu diente, ihr die eine brennende Ungerechtigkeit vor Augen zu führen: Dass sie zwar die Ältere war, aber ihr Sohn Bruno Talgrund niemals erben würde, sondern der jüngere Friedrich, sein Cousin, Sohn ihres ebenfalls jüngeren Bruders Alfred, denn so wollte es eine Tradition, die Mädchen außer Acht ließ, und die sie in diesem Fall allzu gerne außer Kraft gesetzt hätte. Natürlich ließ sie sich ihren Ärger nicht anmerken – sie wusste sich zu benehmen –, aber in ihren eigenen Zimmern, vor ihrem Mann Siegfried verbot sie sich den Mund ob dieser Ungerechtigkeit nicht!

Von draußen schallte es »Auf die Plätze, fertig!« herein. Die Trillerpfeife schrillte und Ilse sah wenig später mit Genugtuung, dass ihr Bruno als Erster ins Ziel gelangte und nicht dieser Georg. Vor ein paar Jahren hatten sie dort unten die Olympiade nachgestellt. Ob die Kinder sich daran erinnerten? Damals hatte Georg diesen Neger gespielt, der so viele Medaillen gewonnen hatte, und doch hatte wieder ihr Bruno gewonnen. Er war ein guter Läufer.

Ilse blieb noch etwas länger stehen, zupfte dann ihre Bluse zurecht und strich sich kurz über den Rock, bevor sie sich zu ihrer Schwägerin umdrehte: »Entschuldige mich, ich kleide mich noch rasch zum Essen um.«

Maximiliane hob den Kopf und warf einen Blick auf die Standuhr. »Ist es denn schon wieder so weit? Oh, natürlich. Ich sollte mich wohl auch fertig machen.«

Sie stand aus ihrem Sessel auf und legte so langsam das Buch zur Seite, dass Ilse gegen das seltsame Bedürfnis ankämpfen musste, ihr einen Stoß zu geben. Dann verließen sie nacheinander das Zimmer. Auf dem Weg in den Flügel ihrer Familie versuchte Ilse, sich nicht wieder in Gedanken zu verlieren. Heute war es aber wirklich ganz besonders schlimm. Sie kam kaum aus dieser Spirale heraus, die ihre Laune immer tiefer herunterzog, und eigentlich, befand sie, konnte sie das auch erst schaffen, wenn ihr endlich Gerechtigkeit widerfuhr.

Siegfried, ihr Mann, stand vor dem Spiegel und überprüfte den Sitz seiner Krawatte, als sie den Raum betrat. Ilse verschwand zuerst im Schlafzimmer, wo sie ihr Kleid am Morgen bereitgelegt hatte. Als sie zurückkam, hatte Siegfried sich eine Zigarette angezündet. Der Rauch kräuselte sich im Gegenlicht gegen die Zimmerdecke. Ilse beobachtete ihn einen Moment lang. Was war er doch für ein stattlicher, schöner Mann! Er hätte für Arno Breker Modell stehen können: dieser feste Kiefer, die wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen, der entschlossene, aber nicht zu schmale Mund und das volle blonde Haar. Sie ging auf den Spiegel zu, um die Ohrringe anzulegen, die ihr die Großmutter vererbt hatte. Wenigstens die hatte man ihr nicht nehmen können.

»Gut, dass dieses Mädchen nicht mehr ständig zu Besuch kommen kann.«

»Wer? Esther?« Siegfried runzelte die Stirn. »Das ist drei Jahre her. Sie sind nach Frankreich gegangen, oder? Ich frage mich, wie es ihnen dort ergangen ist, nachdem wir Paris erobert haben …«

»Irgendwann hätten wir es Leni verbieten müssen«, sagte Ilse in den Raum hinein. Sie hatte ihm nicht wirklich zugehört. »Ich frage mich immer noch, was die Leute damals wohl gedacht haben? Wer weiß, welchen Einfluss das auf alles genommen hat …«

»Wovon sprichst du?« Siegfried legte die Zigarette auf dem Aschenbecher ab, kam zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern. Ilse bewegte sich unwillkürlich, als wolle sie ihn abschütteln. Es war wie eine instinktive Reaktion, die sie nicht wollte und gegen die sie ärgerlicherweise nichts tun konnte. Sie hasste es so sehr, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Er zog die Hände abrupt zurück. Als habe sie es nicht bemerkt, näherte Ilse ihr Gesicht dem Spiegel und zog sorgfältig ihren Lippenstift nach, weshalb sie nur undeutlich antworten konnte. »Von Lenis Freundschaft mit Esther Goldstein natürlich und unseren Schwierigkeiten in der Partei.«

Siegfried nahm seine Zigarette wieder hoch, tat einen Zug und blies gleich darauf einen Rauchkringel aus.

»Vergiss das Judenmädchen.«

»Mhm.« Ilse drehte sich zu ihrem Mann und schaute ihn etwas länger an, bevor sie sagte: »Mein Bruder hat es jedenfalls viel zu lange zugelassen. Er hat mich nie unterstützt.« Sie seufzte tief. »Wahrscheinlich behandelt man uns deshalb immer noch wie Aussätzige …«

Siegfried wandte seine Aufmerksamkeit kurz der Spitze seiner Zigarette zu. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Aber ja, sicher hast du recht, es war der falsche Umgang für unser Mädchen, andererseits …« Er räusperte sich. »Andererseits hat unsere Leni dieses Judenmädchen einfach geliebt. Das war schon immer so, schon, als die beiden einander begegnet sind. Da waren sie kaum drei Jahre alt.«

»Es war der falsche Umgang.« Ilse zog die Augenbrauen hoch. »Es steht Kindern außerdem nicht an, Entscheidungen über solche Dinge zu treffen.«

Siegfried schwieg und das überraschte sie nicht. Natürlich hatte er seine Prinzessin nicht enttäuschen wollen, deshalb hatte er die unangenehmen Entscheidungen auch immer ihr überlassen. Gut, dass sich die Zeiten geändert hatten, besonders für das Judenpack. Gut, dass die Goldsteins das Land verlassen hatten. Die Zeit war endlich auf ihrer Seite.

Das spätere Abendessen verlief angenehm und ohne Streit. Während Maximiliane sich danach sogleich in den Wohnbereich ihrer Familie zurückzog, wechselte Alfred mit seinem Schwager ins Raucherzimmer. Ilse leistete ihnen Gesellschaft. Zumindest das forderte sie ein, auch wenn sie eine Frau war und sich natürlich nicht am Gespräch beteiligte. Stattdessen verzierte sie ein Leintuch mit einer Bordüre aus kleinen Hakenkreuzen in Rot und Schwarz und lauschte aufmerksam den Männern, die zunächst über dies und jenes redeten und schließlich auf Siegfrieds Bemühungen zu sprechen kamen, endlich in der Partei voranzukommen. In letzter Zeit war zumindest etwas Bewegung in die Sache gekommen. Leider unterstützte Alfred den Schwager immer noch nicht mit ganzem Herzen, dabei zeigte ihr Bruder ja selbst nur zu deutlich, wie wichtig es heutzutage war, die richtigen Verbindungen zu pflegen. Und ja, es verärgerte Ilse, dass manche Siegfried vorwarfen, zu lange mit seinem Eintritt gewartet zu haben, dabei hatte sich Alfred ja selbst spät entschieden, aber so konnte man natürlich handeln, wenn niemand den eigenen Status anzweifelte.

»Ich denke immer, unsere tiefste Verpflichtung sollten wir Talgrund gegenüber fühlen, nicht einer Partei«, pflegte er immer noch hin und wieder zu sagen, wenn sie gemeinsam beim Essen saßen, um dann mit einem Augenzwinkern hinzuzufügen: »Vielleicht bin ich im tiefsten Inneren aber auch einfach Monarchist. Ich vermisse den Kaiser, ich vermisse die alten Zeiten.«

Aber sie kannte ihren Bruder, und sie konnte sich keine Behauptung vorstellen, die alberner war, als eine etwaige Liebe zur Monarchie. Alfred stand nur einer Person nahe: sich selbst. Das war schon immer so gewesen. Er war ein elender Opportunist.

Als Alfred an diesem Abend ins Schlafzimmer kam, war Maximiliane noch wach. Sie las, hob den Blick auf das Geräusch der Tür hin aber und sah ihren Mann über den Rand der Brille hinweg an, die sie seit Neuestem tragen musste. Sie mochte sie nicht, aber sie liebte das Lesen. Er dagegen fand, dass sie hübsch damit aussah, klug und irgendwie hilflos zugleich, wie damals auf dem Ball, auf dem sie sich kennengelernt hatten. Überraschenderweise erinnerte er sich ausgerechnet in diesem Moment daran, dabei hatte er sich eigentlich den ganzen Tag mit anderem beschäftigt. Es gab so viel zu bedenken. Die Zeiten waren nicht leicht. Erst in den letzten Monaten war Bewegung in gewisse Dinge gekommen, und niemand bis auf seine geliebte Frau ahnte, dass er erst seit Kurzem Licht am Horizont sah.

Ach, dieser Ball damals … Normalerweise besuchte er solche Veranstaltungen nicht, aber ein Freund hatte ihn dazu überredet. Und dann war es die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, denn seit damals war sie an seiner Seite: seine Geliebte, seine Freundin, seine Vertraute, seine Ehefrau. Er erzählte ihr alles und sie hörte ihm zu. Mit ihr sprach er über die Schulden, die Talgrund belasteten und die er nur sehr langsam wieder abbaute, immer in der Gefahr, dass neue Ausgaben auf ihn zukommen würden, mit denen er nicht gerechnet hatte und die das fein austarierte Gleichgewicht zerstörten. Nein, sie hatte ihm niemals Vorwürfe der amerikanischen Aktien wegen gemacht, die er so leichtsinnig gekauft hatte, weil sie doch eine so schwindelerregend hohe Rendite versprochen hatten. Er wusste selbst, dass es ein Fehler gewesen war, und er hatte ihn ja nicht als Einziger begangen. Er wusste auch, dass er diese Schulden wieder loswerden musste. Dafür würde er alles tun, danach trachtete sein ganzes Sinnen. Es war seine Pflicht und in den letzten drei Jahren hatte er endlich die richtigen Schritte dazu gemacht. Er würde nicht derjenige sein, mit dem Talgrund unterging. Er würde wie ein Phoenix aus der Asche steigen und Maximiliane war an seiner Seite, um ihn zu unterstützen, egal, was er tat.

Die Goldsteins

November 1938

Laute Stimmen waren zu hören, auf Grölen folgten ängstliche Rufe. Leni erstarrte in der Bewegung, und dann explodierte nicht weit von ihr etwas, und die eben noch eigenartig heimelig erhellte Fensterscheibe zerschellte in einem Glasschauer auf dem Trottoir.

Was passierte hier? Leni wusste, dass sie längst zu Hause sein sollte, aber es war zu spät. Esther und sie hatten zu lang draußen im Baumhaus verbracht, waren dortgeblieben, auch wenn es längst nicht mehr die richtige Jahreszeit dafür war, doch wo sollten sie neuerdings auch hin? Sie brauchten doch einen Ort für sich, einen Ort, an dem sie nichts als zwei junge Frauen sein konnten, Sechzehnjährige, die sich über all das austauschten, was sie eben beschäftigte, einen Ort, an dem sie über Erwachsene sprachen, sich über Brüder oder Jungen im Allgemeinen beschwerten und von Filmstars träumten.

War es nicht so, dass Esthers Leben, dieses behütete Aufwachsen in einer großen Villa mit vielen Annehmlichkeiten, seit jenem Sommer der Olympiade mehr und mehr auseinanderfiel? War es nicht auch so, dass Leni alles geben wollte, damit die Freundin die drückende Gegenwart einmal vergessen konnte? Seit Neuestem sparten sie auch das Thema Auswanderung nicht aus, wenngleich Leni am liebsten nicht daran denken wollte. Eigentlich war es Esthers Bruder Heinrich, der immer wieder davon sprach, und Esthers Mutter, die sich am wenigsten an den Gedanken gewöhnen konnte, Deutschland zu verlassen: »Es ist doch meine Heimat«, sagte sie stets. »Was auch immer passiert, dieser Spuk wird schon vorübergehen.« Erst gestern hatte sie es wieder gesagt, worauf Heinrich sie wütend angefahren hatte: »Das ist aber kein Spuk, Mama, und es geht auch nicht vorbei. Versteh das endlich!«

Wieder splitterte Glas. Leni rannte los. Sie rannte und rannte, während ihr Mantel wie ein kleines Segel um sie wehte und sie irgendwann kaum noch vorwärtszukommen schien. Sie musste Hilfe holen. Sie hatte es Esther versprochen, die sich immer noch im Baumhaus versteckt hielt, während sich eine Menschenmenge vor der Familienvilla gesammelt hatte und lautstark Einlass forderte.

2

Sommer 1941

Mit einem Ruck fuhr Leni aus dem Schlaf. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie sich orientieren konnte. Wieder einmal hatte sie von jenem Tag geträumt, als sie durch den brodelnden Ort gelaufen war, um Hilfe zu holen. Vielleicht veränderte die stete Erinnerung an die Ereignisse manches, aber sie wusste doch, als sei es gestern gewesen, wie sie an einigen Stellen über Glasscherben balanciert war, während sie anderswo angehalten und wie gelähmt und mit aufgerissenen Augen zugesehen hatte, wie schneeweißes Bettzeug achtlos auf die Straße geworfen und in den Schmutz getrampelt wurde. Aus dem Nähatelier der Familie Kuhn flogen Bahnen an wunderschönem Stoff hinaus aufs Pflaster. Noch heute sah sie das schrecklich blasse Gesicht von Frau Kuhn vor sich, durchlebte den Moment, in dem sie einander kurz in die Augen gesehen hatten, bevor Leni hilflos weitergerannt war. Bis heute konnte sie auch den Motorenlärm nicht vergessen, den Lastwagen voller jubelnder Männer, der kurz darauf die Hauptstraße entlanggefahren kam. Dann hatte jemand ihren Namen gerufen, aber sie war stur weitermarschiert. Ab dieser Stelle waren es ja auch nur noch ein paar Schritte gewesen, bis sie das Haus erreichte, in dem sich das Kontor ihres Onkels befand. Alfred hatte die Räumlichkeiten schon lange abstoßen wollen, aber er hatte es damals noch nicht getan, und das war an diesem Tag ihr Glück gewesen. So hatte sie ihren Onkel um Hilfe bitten können.

Ein paar Wochen später hatten die Goldsteins mit seiner Unterstützung Deutschland endgültig verlassen und waren nach Frankreich zu Verwandten gegangen. Nur der alte Moses Himmelreich, Esthers Großvater, war geblieben. Im Moment des Abschieds hatte Leni Esther überschwänglich versprochen, regelmäßig nach ihm zu schauen, was sie auch gewissenhaft tat. Für kurze Zeit war er damals noch in der Familienvilla geblieben, inzwischen bewohnte Herr Himmelreich ein winziges Zimmer in einem Haus in der Nähe der ehemaligen Synagoge, das allgemein als das Judenhaus bekannt war. Der alte Mann rechnete jederzeit damit, abgeholt zu werden. Täglich verschwanden Menschen aus seinem Umfeld.

Der vollkommenen Zerstörung war die Synagoge damals nur entkommen, weil sie sich so fest mitten in den alten Ortskern einfügte, als sei das Gebäude schon lange Zeit Teil des Örtchens gewesen. Inzwischen nutzten die umliegenden Nachbarn sie, um Dinge unterzustellen, für die sich anderswo gerade kein Platz fand. Ein Gotteshaus … Leni zog sich jedes Mal der Magen zusammen, wenn sie dort vorbeikam.

Esther und sie hatten sich noch für ein gutes Jahr, nachdem die Goldsteins gegangen waren, regelmäßig geschrieben, etwa bis zum Ausbruch des Krieges. Als die Deutschen in Paris einmarschierten, war die Verbindung abgerissen, und inzwischen war da manchmal diese Stimme in Lenis Kopf, die ihr sagte, dass sie nie wieder etwas von Esther hören würde. Ob der Familie Goldstein eine weitere Flucht gelungen war?

Leni schluckte. Sie konnte es nicht anders sagen, aber sie trauerte sehr über diesen Verlust, einen Verlust, über den sie nur mit Georg sprechen konnte, und vielleicht auch ein wenig mit Cousin Friedrich. Ihrem eigenen Bruder dagegen sagte sie nichts von ihren Ängsten. Wie auch in dieser Nacht kehrten die Träume immer wieder zu ihr zurück.

3

2021 – Tag 1 auf Talgrund

Jenny ließ ihren Toyota langsam ausrollen und stoppte ihn dann ganz. Sie war von Mainz über Bad Kreuznach in Richtung Hunsrück gefahren und hatte vor nicht allzu langer Zeit Kirn hinter sich gelassen. Danach ging es bald nach rechts und von dort schraubte sich die Straße in Bögen den Berg hinauf, weitere Biegungen folgten, der Weg wurde schmaler und schmaler, bis man schließlich das Schild mit dem Namen Talgrund erreichte.

Von dieser Stelle am Eingang des Tals aus konnte man aus der Ferne einen Blick auf das großartige, alte Gutshaus erhaschen. Strahlend weiß getüncht leuchtete es mit seinen verspielten Türmen und Erkern rechts und links aus dem dichten, immer noch grünen Septemberwald hervor. Jenny nahm sich noch etwas Zeit, den größeren Erkerturm links anzuschauen, der zum ältesten Teil des Gebäudes gehörte, dann noch einmal das Hauptgebäude und die nach hinten wegführenden Nebengebäude zu betrachten, die auf der anderen Seite eine Veranda und einen sich daran anschließenden Hof umschlossen, auf dem stets hier und da Gras zwischen den Ritzen des Pflasters hervordrängte.

Es kostete Jenny keine Mühe, alles vor ihrem inneren Auge erstehen zu lassen. Früher hatte sie hier jeden Sommer verbracht.

Trotz allem.

Sie erinnerte sich an den Haupteingang vorne, zu dem eine breite, halbrunde Treppe emporführte, davor bedeckte feiner Kies den Boden. Bei größeren Festen, auch noch in ihrer Kindheit, an die sie sich allerdings nur undeutlich erinnerte, hatten hier dicht an dicht die Autos geparkt. Es gab auch Bilder von ganz früher, als deren Zeitalter kaum erst begonnen hatte, fremdartige schwarz-weiße oder sepiafarbene Abbildungen, Männer im Frack und Frauen mit riesigen Hüten, in der Art, wie man sie heute mit Smartphones nachahmen konnte. Als Kind hatte Jenny manchmal auf dieser Treppe gesessen und dem Geräusch der ankommenden Wagen gelauscht, oder später auch dem von Großvaters altem mausgrauen Käfer, wenn er von einem Ausflug oder einem Geschäftsessen oder so etwas zurückgekommen war. Da war dieses spezifische Knirschen, wenn die vielen Kiesel unter dem Druck der Reifen aneinander gerieben wurden und zur Seite wegspritzten. Wenn Großvater Bruno weggefahren war, hatte er ihr außerdem stets etwas mitgebracht, allein deshalb hatte es sich gelohnt, dort zu warten.

Jennys Stirn runzelte sich, während sie weiter in Erinnerungen versank. Ein Windstoß brachte die Baumwipfel in Bewegung. Ein leises Rauschen war zu hören. Im Auto selbst war es still. Sie hatte das Radio schon vor einer ganzen Weile ausgemacht. In ihrem Kopf waren zu viele Gedanken gewesen, auch solche, die sie durchaus überraschten.

Wie fühlte es sich an, hierher zurückzukommen? Sie spürte noch immer diese Verbindung mit Talgrund, aber dieser Ort fühlte sich für sie und ihre Mutter Medea auch immer ambivalent an. Sie atmete tief durch.

Ihr Großvater, als Teil einer alteingesessenen, wirtschaftlich führenden Familie hatte immer eine wichtige Rolle in dieser Gegend gespielt. Er war ein großzügiger Spender gewesen, hatte über mehrere Jahre hinweg Sommerferienspiele veranstaltet und war häufig von den Honoratioren der Gegend aufgesucht worden, auch wenn er sich selbst stets aus der Politik zurückgehalten hatte. Jeder kannte Bruno Lenhart. Seine Meinungen und Ansichten waren gefragt.

Sie strich über das Lenkrad. Von hier oben konnte man es kaum erahnen, aber wenn man die Straße nach unten nach etwa zwanzig Minuten bewältigt hatte – nicht etwa, weil sie so lang war, aber eben doch sehr schmal und kurvig –, befand man sich in einem weiten, großzügigen Tal. Unten angekommen, konnte man zuerst rechter Hand einen Blick auf das Häuschen erhaschen, in dem stets der erste Knecht von Talgrund mit seiner Familie untergebracht gewesen war. In Großvaters Kindheit war das Werner gewesen, danach sein Sohn Georg, der vor etwa einem halben Jahr in ein betreutes Wohnheim umgezogen war; und wenn man das Gutshaus dann endlich erreichte, konnte man zu Fuß noch weiter und weiter in das Tal vordringen. Dort fanden sich dann Spuren der Felder, die inzwischen längst aufgegeben waren, eine alte Mühle sogar, ebenfalls schon lange nicht mehr in Betrieb, samt Zulauf und Mühlenweiher, in dem sie früher mit den anderen geschwommen war. Es gab dort sogar noch Unterkünfte für Knechte und Mägde, die von jenen Zeiten herrührten, als hier viele Menschen in Lohn und Brot gestanden hatten.

Erst in den letzten Jahren hatte Desirée, Großvaters junge Frau, sie renovieren lassen, um sie in Zukunft als Ferienunterkünfte nutzen zu können. Wahrscheinlich war das keine schlechte Idee. In der alten Mühle sollte es vielleicht einmal Veranstaltungsräume und ein kleines Sommercafé für Wanderer geben. Bisher waren die Pläne allerdings vage geblieben, Träume eben, aber Jennys Mutter zufolge, von der sie all das wusste, lohnte es sich immer, zu träumen.

Jenny würde mehr als froh sein, wenn Medea morgen endlich auch hier ankommen würde: Großvater war nun tot und die engste Familie traf zum ersten Mal seit Längerem wieder zusammen. In den nächsten Tagen musste die Beerdigung geplant werden, und die war sicherlich kein kleines Ereignis in einer Region, in der Talgrund schon immer eines der größten Güter gewesen war.

Sie atmete noch einmal tief durch. Sommertage auf Großvaters Gut … Ansgar, ihr Cousin, Georgs Enkelsohn Sam und sie hatten sie dort am Mühlenweiher verbracht, bei den kleinen, geduckten Häusern der ehemaligen Bediensteten, oder in der Nähe eines der vielen Bachläufe, am alten Eishaus und natürlich auch, wenn es dunkel wurde oder regnete, im riesigen Gutshaus selbst mit seinen endlos langen Gängen und Treppen und den alten Fensterscheiben, die das, was draußen lag, immer etwas verschwommen wiedergaben.

Mit dem Älterwerden waren ihre Besuche seltener geworden. Sie war im Sommer eben lieber mit Freundinnen weggefahren. Außerdem hatte die Schule sie beansprucht, neue Themen und Freundschaften. Jedenfalls sagte sie sich das. Aber es gab eben auch Dinge, die passiert waren, Erfahrungen, die sie verdrängt hatte und die jetzt wieder hochzukommen drohten.

Talgrund hat es Mama und mir wirklich nie leicht gemacht. Einmal da, ließ sich der Gedanke einfach nicht verdrängen. Medea war immer die gewesen, die von außen kam, und Jenny war ihre uneheliche Tochter. Oh ja, es klang seltsam, dass so etwas heutzutage eine Rolle spielen sollte, aber auf Talgrund und in ihrer Familie tat es das. Onkel Gerhard und besonders seine Frau, Tante Angelika, hatten Jenny ein ums andere Mal zu verstehen gegeben, dass ihre Mutter und sie nicht hierher passten. Eine Zeit lang hatte Jenny das Gefühl verstört, nicht dazuzugehören, dann war sie älter geworden, hatte sich ihren eigenen Freundeskreis zugelegt, hatte irgendwann ihr Studium begonnen und gleich zwei Auslandsjahre eingelegt. In diesen Jahren war sie kaum noch nach Talgrund gekommen; auch ihre Mutter nicht, denn sie und ihr Schwager Gerhard, der ältere Bruder ihres früh verstorbenen Mannes, der Vater, den Jenny nie kennengelernt hatte, standen einander nicht sehr nahe.

Ob Angelika immer noch diesen verkniffenen Zug um den Mund trägt?

Jenny schaute kurz in die Ferne. Trotz allem, was schwierig war, hatte sie ihren Großvater natürlich wiedersehen wollen. Sie hatte eben nur noch etwas Zeit gebraucht. Doch nun war Bruno Lenhart im hohen Alter von siebenundneunzig Jahren gestorben. Wahrscheinlich sollte das niemanden überraschen, doch Jenny hatte es überrascht. Ihr Großvater hatte auf sie stets gewirkt, als würde er ewig leben. Zum Schluss aber, so hatte Desirée in ihrem letzten Brief, der Einladung, die sie nun alle wieder hierherführte, geschrieben, war es schnell gegangen. Und dann hatte sie mit einem kleinen Abstand unter ihre Zeilen hinzugefügt: »Bitte komm, auch wenn es dir schwerfällt. Ich schreibe dir das, weil wir Freundinnen sind, aber ganz ehrlich, ich fürchte mich vor den anderen.«

Die anderen. Jenny schluckte. Die anderen, das waren Onkel Gerhard, Brunos ältester Sohn, Tante Angelika, seine Ehefrau, der Sohn Ansgar … Und Sam natürlich, der Enkel von Brunos bestem Freund Georg, vor dem sich Desirée sicher nicht fürchtete.

Ach, warum habe ich mich nicht überwunden und Opa Bruno zumindest noch einmal besucht? Ihre Mutter Medea hatte sie doch extra angerufen, als er vor sechs Wochen gestürzt war, und gesagt, dass sie zwischen zwei Konzerten einen Abstecher zu ihm machen würde, ob Jenny nicht dazustoßen wolle? Wieder etwas später hatte sich Desirée gemeldet, aber so weinen müssen, dass sie kaum ein verständliches Wort herausbekommen hatte, obgleich Jenny natürlich verstand, dass Bruno gestorben war.

Da hatte sie sich wieder daran erinnert, wie viel Zeit sie früher bei Bruno verbracht hatte, denn ihre Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt mit Konzertauftritten und hatte sie oft nicht mitnehmen können. Medea spielte klassische Gitarre, seit sich Jenny erinnern konnte, hatte ihre eingeschworenen Fans und war in bestimmten Kreisen sehr bekannt. Besonders in den Ferien oder im Sommer war sie oft unterwegs gewesen und dann hatte Bruno auf seine Enkelin aufgepasst. Damals waren auch Angelika und Sohn Ansgar in jeden Ferien da gewesen und Gerhard war oft zu den Wochenenden dazugekommen, schließlich leitete er eine erfolgreiche Firma und hatte seine Verpflichtungen. Später, mit dem Älterwerden, war Jenny öfter alleine geblieben, und ihre Mutter war noch häufiger auf Tour gegangen.

»Auch ich muss an meine Rente denken«, hatte sie gesagt. Damals hatte sie auch begonnen, Konzerte auf Kreuzfahrten zu geben. Medea war das gleich, solange sie ein Publikum hatte und spielen konnte. Sie spielte einfach überall mit Leidenschaft. Jenny fand das bewundernswert.

Ach, Opa Bruno … Sie seufzte. Jetzt waren sie also alle zur Planung der Beisetzung eingeladen worden und zur Testamentseröffnung natürlich, sie alle, die sich seit Jahren nicht wirklich gesehen hatten, sie alle, die sich seit Langem nicht verstanden …

Ich muss weiterfahren.

Jenny erinnerte sich plötzlich daran, dass auch ihre Mutter hier oben immer angehalten hatte, als müsse sie sich auf den Käfig vorbereiten, den sie betreten wollte. Offenbar hatte sie diese Gewohnheit übernommen. Medea hatte an dieser Stelle meist auch noch einmal ihre Frisur gerichtet, dabei hatte sie noch zu Hause darauf bestanden, dass es ihr ganz gleich war, was insbesondere Gerhard und Angelika zu ihren Haaren sagten. Dafür hatte sie dann aber auch ihre Lippen im tiefsten Rot nachgezogen – solche Farben trug eine Dame nicht, fand Angelika –, während Jenny sich einfach auf ihren Opa und Talgrund gefreut hatte.

Jenny überprüfte ihren neuen Kurzhaarschnitt im Spiegel. Ob Sam schon da war, fragte sie sich, und wie es ihm wohl in den letzten Jahren ergangen war? Es war lange her, dass sie sich aus dem Blick verloren hatten. Die Zeit war reif, dass sie endlich miteinander redeten.

Onkel Gerhard und Angelika mussten kurz vor ihr eingetroffen sein, denn ihr großer BMW X2 stand da, und die Türen zum Haupthaus waren noch geöffnet. Offensichtlich war man gerade noch inmitten der Begrüßung. Im ersten Moment sah Jenny nur Desirée, die ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Als Nächstes machte sie im Schatten des Eingangs einen Mann im dunklen Anzug aus, an seiner Seite eine hagere Frau im dunklen Kostüm. Die beiden hatten sich wirklich nicht verändert.

»Es ist erschreckend«, hörte Jenny Gerhards Stimme, als sie näher kam. »Es war so überraschend, auch wenn Vater ein wirklich gesegnetes Alter erreicht hat, für das wir alle dankbar sind. Mein herzliches Beileid zum Verlust, Desirée.«

»Danke, Gerhard, dir auch. Ich weiß, wie viel dir dein Vater bedeutet hat. Er hat auch oft von dir geredet.«

»Ach ja?«, rutschte es Gerhard heraus. Dann räusperte er sich, als fürchte er, zu viel preisgegeben zu haben.

Desirée warf Jenny einen weiteren Blick zu. Onkel Gerhard und Angelika betraten das Haus, ohne sich noch einmal umgesehen zu haben, entweder, weil sie Jenny nicht bemerkt hatten, oder sie nicht hatten bemerken wollen. Dafür kam ihr Desirée entgegen. »Jenny!«, rief sie, um dann etwas leiser hinzuzufügen: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich bin, dich zu sehen. Ich dachte schon, du kommst später, am Ende erst morgen wie Medea.«

Die beiden Frauen nahmen sich spontan in die Arme, dann zuckte Desirée zurück. Jenny lächelte.

»Ich habe einen Coronatest gemacht.«

»Ich auch.« Desirée erwiderte das Lächeln. »Ich bin es einfach schon sehr gewohnt. Wir waren sehr vorsichtig in den letzten Monaten, Bruno und ich …« Jenny nickte. Mit ihren vierunddreißig Jahren war Desirée zwei Jahre jünger als Jenny. Anfangs hatte Jenny das durchaus seltsam gefunden. Schließlich hatte die Heirat Desirée streng genommen zu ihrer Großmutter gemacht, aber sie hatten bald entschieden, dass Jenny weder Desirées Enkelin war, noch die ihre Oma.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich so selten da war, Desirée, aber irgendwie schaffte ich es nicht.«

Desirée lächelte. »Reden wir nicht darüber. Es war für alle schwierig, besonders in letzter Zeit, mit den Lockdowns und so. Du hattest deine Gründe, da bin ich mir sicher.«

Jenny überlegte, ob sie etwas darauf sagen sollte. Dann nickte sie einfach kurz. Nicht alles ließ sich in ein paar kurzen Worten erklären. Es würde andere Gelegenheiten geben.

»Folgen wir den anderen?«, fragte Desirée sie.

»Klar. Ich freue mich, dich zu sehen, Desi.«

Desirée schmunzelte über den Kosenamen. Man sah der jungen Witwe die Erleichterung über ihr Eintreffen immer noch sehr deutlich an und Jenny konnte das gut nachvollziehen. Es war nicht leicht für Desirée gewesen, als sie Bruno vor elf Jahren geheiratet hatte. Keinesfalls hatte die Familie die Erbschleicherin mit offenen Armen empfangen. Und ja, natürlich war die Sache etwas klischeehaft verlaufen. Als Jenny zum ersten Mal von Desirée gehört hatte, war auch sie misstrauisch gewesen: Nach einer schweren Lungenentzündung hatte Bruno intensiverer Pflege bedurft. Da war Desirée gekommen, um ihn zu unterstützen. Sie hatte ihm den Haushalt geführt. Sie hatte gekocht. Die beiden waren sich nähergekommen. Zuerst waren sie nur gute Freunde gewesen, irgendwann war daraus Liebe erwachsen.

»Ich weiß, wie das aussieht«, hatte Desirée einmal während eines von Jennys seltenen Besuchen gesagt. »Er ist über sechzig Jahre älter, aber wir lieben uns einfach. Da ist nicht mehr, nur Liebe.«

Die beiden Frauen umarmten sich noch einmal.

»Jetzt komm aber«, sagte Desirée dann. »Ich muss ja noch allen die Zimmer zeigen. Dann können wir uns noch etwas ausruhen. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen.«

Desirée hatte im Esszimmer decken lassen. Das Mittagessen war noch von der langjährigen Haushälterin und Köchin, Frau Schwan, zubereitet worden, die sich nach der Begrüßung auch gleich von allen verabschiedete, denn Desirée hatte ihr auf eigenen Wunsch ein paar Tage freigegeben.

»Dieser Moment gehört der Familie«, erklärte Frau Schwan entschlossen. »Ich will da nicht stören. Sie brauchen jetzt Zeit füreinander. Das verstehe ich schon.«

»Oh, das tut mir aber leid«, sagte Jenny, während sie Frau Schwan zum Abschied die Hände schüttelte. »Für mich sind Sie einfach Teil von Talgrund. Wenn Sie nicht da sind, fehlt etwas, und Ihre Küche …«

»Keine Sorge, Sie wissen sicherlich, dass Frau Lenhart ebenfalls eine ausgezeichnete Köchin ist. Es wird Ihnen gewiss an nichts fehlen. Und ich werde endlich eine alte Freundin in Hamburg besuchen, die Gegenwart Gegenwart sein lassen und über die Zeit reden, als wir noch jung waren. Ich freue mich schon sehr.«

Jenny lächelte, während ihr durch den Kopf schoss, dass Frau Schwan diesen Moment vielleicht auch einfach nicht mit einer Familie verbringen wollte, die doch sehr entschlossen miteinander zerstritten war.

»Da ich aber auch glaube, dass Frau Lenhart viel zu tun haben wird«, ließ sich Frau Schwan weiter hören, »habe ich den Kühlschrank, die Eisfächer und die Vorratskammern gut gefüllt. Alles in allem sind Sie ja nicht ewig hier, aber es wird Ihnen so gewiss auch an nichts mangeln«, endete die ältere Frau mit einem Lächeln. »Und Sie müssen meine Küche auf diese Weise nicht vollkommen missen, Jenny.« Jenny erwiderte Frau Schwans Lächeln aus tiefstem Herzen.

»Vielen Dank, Frau Schwan, das hört sich gut an.«

»Und wer soll das alles für so viele Leute zubereiten?«, mischte Angelika sich ein.

»Das kriegen wir schon hin, oder hast du zu Hause ständig Personal?«, entschlüpfte es Jenny, die sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. »Tut mir leid«, murmelte sie. Offenbar reizte sie Tante Angelikas Gebaren immer noch zu unüberlegten Äußerungen. Dabei hatte sie gedacht, sie sei darüber hinweg. Angelika zog eine Augenbraue hoch.

»Wir als Familie sind eben gewisse Standards gewohnt, nicht wahr, Gerhard?«, wandte sie sich dann an ihren Mann.

»Ja, das sind wir«, erwiderte der knapp, während Jenny sehnsüchtig Desirée hinterherschaute, die Frau Schwan zur Tür brachte. Als Desirée wenig später das Esszimmer wieder betrat, inspizierte Angelika gerade die Gedecke. Jenny sah, wie sich Desirées Schultern bewegten, so tief atmete sie bei diesem Anblick durch.

»Wo ist eigentlich Ansgar?«, fragte sie dann.

»Er konnte sich nicht freinehmen«, sagte Gerhard.

»Es tut ihm sehr leid«, setzte Angelika hinzu. »Er stand seinem Großvater ja sehr nahe.«

Jenny konnte sich an nichts dergleichen erinnern, schwieg aber. »Ich werde dann mal die Suppe holen«, sagte Desirée unvermittelt in die Stille hinein. Jenny begleitete sie kurz entschlossen und trug den Korb mit frischem Brot auf dem Rückweg. Angelika bot sich mit plötzlich betont guter Laune an, jedem aufzutun. Auf die leckere, klare Brühe mit zarten Grießklößchen folgten ein exquisites Gulasch mit Spätzle und als Nachtisch Wackelpudding.

»Na, das ist aber ein kleiner Dämpfer«, bemerkte Angelika, während sie einen winzigen Löffel der Nachspeise zu sich nahm.

»Ich mag es«, gab Desirée zurück. Zum ersten Mal klang ihre Stimme schärfer und durchaus ein wenig trotzig.

»Ja, hm, das mag wohl so sein, allerdings …«

Desirée und Jenny wechselten einen Blick. Jenny biss sich auf die Lippen, fest entschlossen, sich zu beherrschen.

Für den Rest des Mittagessens wurde nicht viel geredet. Nur Gerhard stellte einige Fragen, bemüht, Interesse zu zeigen. Die Antworten fielen eher einsilbig aus. Gegen Ende trugen Jenny und Desirée gemeinsam das Geschirr ab.

Nachdem sie die Geschirrspülmaschine schweigend eingeräumt hatten, lehnte sich Desirée rücklings gegen die Arbeitsplatte. Jenny dachte, dass sie sehr hübsch aussah in ihrem schwarzen Kaschmirpullover zu schmalen, schwarzen Hosen und Chelsea Boots. Ihr Haar war zu einem Long Bob geschnitten, die blauen Augen leuchteten im Kontrast zu der dunklen Haarfarbe und der durchscheinend hellen Haut katzenartig. Sie ist wirklich eine verdammt schöne Frau, fuhr es Jenny durch den Kopf.

»Puh.« Desirée räusperte sich. »Ich habe es mir leichter vorgestellt.«

»Es lief bislang doch eigentlich ganz gut.«

»Findest du?« Desirée sah sich überdeutlich in der Küche um. Dann fuhr sie fort: »Für Gerhard und Angelika ist das hier ja mein eigentlicher Platz, das ist mir während des Mittagessens wieder einmal sehr bewusst geworden.«

»Für mich nicht.«

»Ich weiß.«

»Ich bin wirklich froh, dass Bruno dich kennengelernt hat.«

»Das war nicht immer so, oder?« Desirée schaute sie jetzt unverwandt an. Da war dieser Moment, in dem sich Jennys Magen kurz zusammenzog.

»Nein, aber ich kann zugeben, dass ich mich geirrt habe.«

Ja, sie war zuerst durchaus misstrauisch gewesen, aber das Misstrauen war verflogen, nachdem sie Desirée näher kennengelernt hatte. Über die Heirat hatte sie sich dann, anders als Gerhard und Angelika, bereits sehr gefreut. Großvater hatte sehr glücklich gewirkt. Zweifelsohne hatte Desirée sein Leben nach Jahrzehnten als Witwer noch einmal zum Positiven verändert. Rückblickend hatte sie auch nie den Eindruck gehabt, dass Bruno und seine erste Frau Herlind gut harmoniert hatten. Die beiden hatten damals sehr jung geheiratet, kurz nach dem Krieg. Die Ehe hatte als gut gegolten, die Vereinigung zweier Menschen und zweier Güter, aber tatsächlich gab es heute wenige bis gar keine Spuren von ihrer Großmutter im Haus. Es war geradezu unmöglich, sich die Mutter von Gerhard und ihrem Vater Robert vorzustellen. Herlind war damals kurz nach Roberts schrecklichem Unfall gestorben. Manche glaubten, so wusste sie von Medea, sie habe den Verlust ihres jüngsten Sohnes nicht ertragen. Jenny straffte den Rücken und lächelte Desirée an: »Gehen wir zurück?«

»Das müssen wir wohl, sonst suchen sie noch nach uns.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Desirée starrte sie für einen Moment fassungslos an, dann grinste sie. »Du hast recht. Wahrscheinlich wären sie froh, wenn wir uns in Luft auflösen, uns irgendwo hier verlaufen und niemals wieder gefunden würden.«

Die anderen hatten sich mittlerweile in den Salon zurückgezogen. Gerhard saß in Brunos Sessel, erhob sich jedoch sofort wieder daraus, als Jenny und Desirée eintraten. Angelikas Gesichtsausdruck zeigte, dass sie gerne anderes von ihm gesehen hätte.

»Darf ich noch etwas anbieten? Einen Digestif?«, erkundigte sich Desirée.

»Nein danke«, gab Angelika zurück. »Ich finde ja, dass es für Alkohol jedweder Art noch etwas früh am Tag ist.«

Jenny wandte sich kurz zum Fenster, damit niemand ihr Augenrollen sah. Angelika nutzte aber auch jede Gelegenheit zu sticheln. Als sie sich zurückdrehte, fand sie, dass Gerhard etwas enttäuscht aussah, aber auch er lehnte entschlossen ab.

»Jenny?«

»Für mich auch nicht, danke, Desirée«, sagte Jenny. »Später aber gerne.«

Wieder stockte das Gespräch. Jenny machte sich gerade besorgt Gedanken darum, was sie wohl die nächsten Stunden miteinander anfangen würden, als draußen das Geräusch eines Motorrads zu hören war. Sie sprang auf.

»Da kommt jemand.«

Die anderen hatten es auch gehört. Gerhard erreichte das Fenster als Erster: »Das ist dieser Sam.«

»Georgs Enkel«, fügte Angelika hinzu, und in ihrer Stimme lag alle Ablehnung, zu der sie fähig war. 

Sam war bereits von seinem Motorrad abgestiegen und gerade dabei, den Helm abzunehmen, als sie sich wieder einmal an der Tür versammelten. Desirée lief die Treppe herunter und stand nun auf der untersten Stufe, ganz offensichtlich so weit entfernt von Gerhard und Angelika wie möglich. Jenny nahm kurz entschlossen den Platz zwischen ihr und den beiden auf der mittleren Treppenstufe ein. Ihr Herz klopfte etwas schneller, als Sam zu ihnen herübersah. Zögerte er etwa, als er sie sah? Erinnerte er sich auch? Sein Haar war kürzer, als sie es vom letzten Treffen erinnerte und doch länger als ihres und ganz sicher länger, als es Angelika angemessen empfand, denn die presste bereits wieder missbilligend die Lippen aufeinander. Vielleicht war es ihrer Tante aber auch einfach nicht möglich, etwas anderes auszudrücken als Abneigung und Kritik. Sie mochte Sam nicht, weil sie Brunos Freundschaft mit ihm und seinem Großvater Georg missbilligte, daraus hatte sie nie ein Hehl gemacht. Sie fand diese Verbindung unpassend. Jenny selbst war in den Augen ihrer Tante vielleicht ein Bastard, Sam aber war lediglich der Enkel von Brunos bestem Freund, und der war Zeit seines Lebens nichts als ein Knecht auf Talgrund gewesen. Zwar hatten die beiden als Kinder miteinander gespielt, dass man sich aber später einmal mit so jemandem abgeben musste, gar mit ihm an einem Tisch saß, widerstrebte ihrer Tante zutiefst.