Das Kind der Wellen - Rebecca Martin - E-Book

Das Kind der Wellen E-Book

Rebecca Martin

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Beschreibung

Bei einem tragischen Unfall am Meer verlor Lisa ihre Tochter in den Fluten. Unfähig ihr altes Leben wieder aufzunehmen, kehrt sie an die Nordsee zurück. Im Ferienhaus der Familie ist noch alles so, wie sie es damals hinterließen. Mit der unerwarteten Hilfe von Schreiner Lars und seinem Sohn dem Arktisforscher Jonas beginnt sie zu renovieren - und findet unter den alten Holzdielen die Notizen zu einem Märchen über eine Meerjungfrau. Der Verdacht, dass dieses auf realen Begebenheiten beruht, lässt die drei nicht los. Im alten Zeitungsarchiv lesen sie von einer blutjungen Frau, die 1920 ihr Kind am Strand verlor. War es ein Unfall oder Mord, wie die Leute damals behaupteten? Auf den Spuren der Meerjungfrau muss sich Lisa ihren verworrenen Gefühlen und dem eigenen Verlust stellen.

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Über dieses Buch

Ein altes Haus am Meer. Eine geheime Tochter. Eine Familie, in der nichts ist, wie es scheint.

Nordseeküste: Bei einem tragischen Unfall am Meer verlor Lisa ihre Tochter in den Fluten. Unfähig ihr altes Leben wieder aufzunehmen, kehrt sie dorthin zurück. Im Ferienhaus der Familie ist noch alles so, wie sie es damals hinterließen. Mit der unerwarteten Hilfe von Schreiner Lars und seinem Sohn, dem Antarktisforscher Jonas, beginnt sie zu renovieren - und findet in einem 1alten Ofen die Notizen zu einem Märchen über eine Meerjungfrau. Der Verdacht, dass dieses auf realen Begebenheiten beruht, lässt die drei nicht los. Im alten Zeitungsarchiv lesen sie von einer jungen Frau, die 1920 ihr Kind am Strand verlor. War es ein Unfall oder Mord, wie die Leute damals behaupteten? Auf den Spuren der Meerjungfrau muss sich Lisa ihren verworrenen Gefühlen und dem eigenen Verlust stellen.

SPIEGEL-Bestsellerautorin Rebecca Martin erzählt eine fesselnde Familiengeschichte, die ein ganzes Jahrhundert umspannt.

Über die Autorin

Rebecca Martin studierte Englisch und Deutsch in Frankfurt am Main und in Dublin, Irland. Sie reist leidenschaftlich gern und liebt es, Geschichten zu erzählen. Ihre Romane waren alle SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Nahetal.

REBECCA

MARTIN

Das Kind

der Wellen

ROMAN

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Copyright © 2020 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Volknant

Umschlaggestaltung: Favoritbüro GbR, München

Umschlagmotiv: © PurpleBird/Shutterstock.com

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-25695-1V001

www.diana-verlag.de

Prolog

NORDSEEKÜSTE, 1920

Man hatte sie belogen. Ilse, die an der Spitze der Gruppe gelaufen war, verzögerte ihre Schritte unwillkürlich. Links und rechts schwärmte man bereits aus, stürmte an ihr vorbei auf die Sandbank zu.

»In letzter Minute«, hörte die Siebzehnjährige eine Stimme, und dann: »Wir haben sie, endlich. Dem Herrgott sei’s gedankt, wir haben sie!«

Ilses Schritte verlangsamten sich weiter. Der nasse Sand schmiegte sich um ihre nackten Füße, so wie das Salz der Luft um ihre Lippen. Der immer wieder auffrischende Wind riss an ihrer Kleidung, peitschte ihr die Haare schmerzhaft ins Gesicht, die sich unter dem Kopf- und Schultertuch hervorgestohlen hatten.

Vicky hat mich belogen.

Ilse erkannte es in dem Moment umso deutlicher, da man der kleinen Herrin auf die Füße half.

Alles musste jetzt schnell gehen, schnell, schnell, schnell. Das Meer wartete nicht. Es drängte vorwärts, brüllte und warf sich gegen den Strand wie ein wildes Tier. Neue Wellen krachten gegen das Land. Ilse starrte für einen flüchtigen Augenblick an sich herunter, auf die letzte Welle, die ihre Beine bis um die Knie umspülte und sie fast umriss. Der Wind zerrte noch heftiger an dem Tuch, das sie um Kopf und Schultern gelegt hatte. Sie sollte vielleicht stehen bleiben, aber sie lief weiter. Sie musste alles sehen. Mühsam, auf ein paar Helfer gestützt, kam Vicky langsam auf sie zu. Sie sah erschöpft aus, aber da war noch etwas: Da war Blut auf ihrem Kleid, etwas hatte sich geändert, etwas fehlte, auch wenn es nur mehr eine Ahnung war.

Die kleine Herrin kam näher und noch näher. Sie wirkte wirklich elend, ja, das auch, konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Im nächsten Augenblick standen sie einander gegenüber und sahen sich an.

»Ilse«, krächzte Vicky kaum hörbar, als hätte sie über Stunden geschrien. Sie hatte Angst gehabt, das sah man ihr an. Sie hatte Höllenqualen erlitten, durchaus.

Ilse musste schlucken, weil ihr Mund so trocken war.

»Wo ist es?«

Einer der Helfer hielt inne, einer der Bauern oder Fischer aus der Gegend, sie kannte sie ja beileibe nicht alle.

»Was?«

»Das Kind.« Ilse schluckte. »Das Fräulein Schwayer hat doch ein Kind erwartet. Das hat sie mir kürzlich erst gesagt.«

Die Helfer blickten einander an, und Ilse konnte für diesen Moment das Entsetzen in ihren Augen sehen. Ein Säugling konnte hier nicht überleben, hier nicht. Sie schaute fragend zu Vicky hin. Die wich ihr nicht aus, doch ihr Gesicht war undurchdringlich. Ilse spürte, wie die Erleichterung darüber, dass man Vicky gefunden hatte, langsam schwand. Da war keine Erleichterung mehr. Da war nur wieder das untrügliche Gefühl, dass man sie belogen hatte, benutzt, dass sie im Grunde immer außen vor war. Vicky und Sontje hatten niemals die Absicht gehabt, sie in ihren Kreis aufzunehmen. Das Kind hatte niemals überleben sollen, aber diesmal würde Ilse nicht mitmachen. Vicky Schwayer würde damit nicht durchkommen.

1

NORDSEEKÜSTE, 2019

Lisa saß an ihrem gewohnten Platz am Strand und sah auf das Meer hinaus. Die Wellen waren heute nicht besonders stark. Sie hatte das schon anders erlebt in den letzten Monaten. Kaum zu glauben, dass schon ein halbes Jahr vergangen war, seit ihr Mann Lukas und sie eine Auszeit vereinbart hatten. Lisa war hierher zurückgekommen, um wieder zu sich zu finden, um herauszufinden, ob sie sich irgendwann wieder selbst vertrauen konnte und sich nicht wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper fühlte. Kaum einer hatte verstanden, dass sie ausgerechnet hierher fahren wollte, aber die hatten ja keine Ahnung, weder von ihr noch von dem, was geschehen war. Sie wussten nur das wenige, was Lisa und Lukas zu erzählen bereit gewesen waren. Seit gut einem Jahr war sie jetzt krankgeschrieben. Ihr Arbeitgeber war sehr entgegenkommend, das musste sie schon sagen, doch Lisa rechnete damit, dass die Kulanz irgendwann ein Ende haben würde. Irgendwann wurde erwartet, dass man wieder am Leben teilnahm, dass man sein Leben weiterlebte, funktionierte, ganz gleich wie zerbrochen man war.

Sie hatte eine Weile ins Nichts gestarrt und nahm jetzt wieder das Meer in den Blick. In der Ferne lagen ein paar Containerschiffe – wie aus Origamipapier gefaltet sahen sie aus. Sie warteten auf die Einfahrt in irgendeinen Hafen, Hamburg oder Bremen. Rechts von ihr kam eine Familie an den Strand. Die Mutter hielt das jüngste Kind an der Hand, und für einen flüchtigen Moment war ihr so, als spürte sie Millies Hand wieder in ihrer, doch das Gefühl verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war. Die fremden Kinder jauchzten. Die Familie war wohl gerade erst angekommen. In glücklicheren Zeiten war dies auch immer ihr erster Weg gewesen. Gleich nach ihrer Ankunft waren sie zum Meer gerannt und hatten Wetten darüber abgeschlossen, ob Flut oder Ebbe war. Meist gewann Lukas, aber Lisa hatte hin und wieder den Eindruck gehabt, dass ihr Mann heimlich den Tidekalender studierte.

Sie kniff die Augen zusammen: Das Meer – kurz danach hatte es eine Zeit gegeben, da war es ihr unmöglich, über die Wellen zu schauen, ohne furchtbare Wut zu empfinden, dann wieder war sie wütend auf sich gewesen. Die ersten Wochen allein hier oben waren entsetzlich gewesen. Wahrscheinlich konnte sie von Glück sagen, dass ihre fast fünfundachtzigjährige Nachbarin, Frau Peters, so beharrlich nach ihr schaute und schließlich dafür gesorgt hatte, dass Lisa eine Aufgabe bekam. Trotzdem war sich Lisa nach so vielen Monaten immer noch nicht im Klaren darüber, wie es weitergehen sollte. Die Zeit heilt alle Wunden, sagte man, aber tat sie das wirklich? Narben verschwanden nicht einfach. Narben blieben zurück, wulstig, manchmal heiß und puckernd, manchmal schmerzend. Hin und wieder telefonierten Lukas und sie, und inzwischen hatte sie auch ein- oder zweimal länger mit den Kindern gesprochen, mit ihren Jungs Johnny und Neo. Aber sie stand immer noch am Anfang. Sie hatte keine Ideen, sie schmiedete keine Pläne mehr, wie sie es früher täglich getan hatte. Sie existierte. Mehr nicht.

Existieren. Lisa runzelte die Stirn. Wie vollzog man den Schritt vom bloßen Existieren zurück zum Leben, und würde er ihr irgendwann gelingen?

Langsam wurde es kühl. Immerhin merkte sie das inzwischen. Das war vor nicht allzu langer Zeit noch anders gewesen. Ein auffrischender Wind blies ihr die Haare ins Gesicht. Sie strich sie zurück und schlang das Haargummi neu um ihren Pferdeschwanz. Dann stand sie auf, klopfte sich den Sand ab, griff nach ihren Schuhen und stapfte über den Sand in Richtung Land. Es war etwas mühselig, aber sie ging einfach Schritt für Schritt vorwärts, vielleicht würde sie genau so auch wieder in ihrem Leben ankommen.

In der Nähe vom Peters-Hof blieb sie noch einmal kurz stehen und schaute zum Haupthaus hinüber. Aus dem Wohnzimmer schimmerte goldenes Licht, ein wenig wie in einer Werbung über das Nachhausekommen. Sicher saß Frau Peters in ihrem Lieblingslehnsessel, die obligatorische Tasse Tee neben sich, ein Buch in der Hand. Lisa bückte sich und schlüpfte in ihre Schuhe, bevor sie weiterging. Sie passierte eine Art Senke. Frau Peters hatte ihr einmal erzählt, dass es dort früher einen Deich gegeben hatte, aber das war lange her. Frau Peters’ Vater hatte dort einst Ulmen gepflanzt, um den Boden zu festigen. Als Mädchen hatte sie mit den anderen Kindern dort gespielt. Die Bäume waren etwas Besonderes, es gab nicht viele in dieser Gegend.

Nach der Senke ging es ein Stück bergauf, dann hatte Lisa das Haus fast erreicht: das Ferienhaus ihrer Familie aus glücklicheren Tagen. Sie ging an diesem Abend früh zu Bett.

Am Morgen weckte sie strahlend heller Sonnenschein. Er machte sie noch nicht glücklich, aber sie nahm ihn immerhin wahr. Nach dem Aufstehen setzte sie Tee auf und machte sich einen Buttertoast, den sie im Stehen verspeiste, bevor sie erst nach hinten auf die Veranda trat und dann ums Haus herumging. Keine Wolke am Himmel. Es versprach ein wirklich schöner Sommertag zu werden. Lisa zwängte sich durch eine schmale Spalte zwischen dem Haus und einer alten Mauer, die wahrscheinlich einmal zu einem anderen Gebäude gehört hatte, das es längst nicht mehr gab, und gelangte in den bekiesten Bereich vor dem Haus. Einen Moment lang stand sie nur da, blickte auf ihr Auto und kämpfte gegen die Erinnerungen an. Es tat so weh.

Als sie die Stufen zur Eingangstür hinaufging, streifte Moses, der junge Kater, um ihre Beine. Frau Peters hatte ihn ihr kurz nach ihrer Ankunft entschlossen in die Arme gedrückt. Damals war das Tier kaum mehr als ein dünnes, schmutziges Fellknäuel gewesen, das man aus einem Korb im Kanal gerettet hatte: wie Moses eben.

»Kümmere dich um ihn«, hatte Frau Peters gesagt, und es war ihr anzusehen, dass sie keine Widerrede dulden würde. Lisa hatte auf das Bündelchen in ihrem Arm geschaut, das sich zuerst an sie gedrückt hatte und dann einfach eingeschlafen war. Kaum eine Stunde später war sie auf dem Weg zur Tierärztin gewesen.

»Ich kann dich nicht gebrauchen«, hatte sie ihm zugeflüstert. Sie hatte sich geirrt. Er hatte sie genauso gebraucht wie sie ihn.

Lisa bückte sich, um Moses zu streicheln. Er folgte ihr wie selbstverständlich ins Haus und stand dann maunzend neben seiner Katzenschüssel. Sie füllte etwas Futter nach, bevor sie ihn zum Fressen allein ließ. Es war nicht leicht gewesen, ihn hochzupäppeln. Inzwischen war er ein wohlgenährter, gar nicht mal so kleiner Kater, der sich glücklicherweise gut mit Frau Peters’ rotem Tiger Quentin verstand. Lisa riss den Blick von ihm los und ging zurück in den Flur. Am Treppenabsatz blieb sie einen Augenblick länger stehen und schaute nach oben. Sie war schon eine Weile nicht mehr im Zimmer ihrer Kinder gewesen. Es schmerzte einfach immer noch zu sehr. Heute aber atmete sie tief durch und ging dann mit festem Schritt die Stufen hinauf. Das Kinderzimmer lag oben links, genau über dem Elternschlafzimmer. Unten in ihrem Bett hatten Lukas und sie morgens immer Kinderfüße geschäftig über sich trappeln hören. Lisa stieß die Tür auf und hielt einen Augenblick inne. Ein großzügiges Fenster nach Nordosten bot einen herrlichen Blick über die Umgebung. In den ersten Tagen wieder hier oben hatte Lisa Millies Duft noch ganz deutlich wahrgenommen. Da hatte sie Abend für Abend heulend auf dem Boden gekauert und den Schlafanzug ihrer Tochter gegen die Nase gedrückt. Jetzt war da ein neuer Geruch, den sie nicht mit diesem Zimmer in Verbindung brachte, ein Geruch von Feuchtigkeit, der über das an der See übliche Maß hinausging. Lisas Blick huschte als Erstes zum Fenster, das sie fest verschlossen fand, dann zur Wand rechter Hand und als Letztes hoch an die Decke.

O nein, schoss es ihr durch den Kopf, nein, das durfte nicht wahr sein. Da war ein großer, dunkler Fleck. Von irgendwo dort oben drang Wasser durch die Decke.

2

EIN HALBES JAHR DAVOR

Lisa ließ sich tiefer ins Wasser sinken. Ihre Beine schoben sich nach oben, die Knie stießen durch die Wasseroberfläche, während ihr Gesicht darunter verschwand. Sie versuchte, die Augen offen zu halten, versuchte, dem Bedürfnis zu widerstehen, nach Atem zu ringen. Die Welt über ihr war ein verschwommenes Muster aus Hell und Dunkel, und dann war das Wasser plötzlich überall. Es drang in ihren Mund, der sich wie von selbst geöffnet hatte. Es drückte gegen ihren Rachen. Sie schluckte und schluckte. Ihr Körper bäumte sich auf, aber sie wollte nicht auftauchen. Sie wollte hierbleiben, unter Wasser, wo es schmerzte.

Luft.

Luft.

Luft.

Lisa kämpfte verzweifelt darum, in der Position zu verharren, mit dem Kopf unter Wasser. Aber ihr Körper weigerte sich einfach, drängte mit aller Macht nach oben. Wasser geriet in ihre Nase und in ihre Luftröhre. Ihr Körper wollte husten. Sie würgte.

Luft.

Luft.

Luft.

Sie schlug um sich. Sie kämpfte. Sie wollte nicht auftauchen, aber ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht, ihr Körper wollte die Wasseroberfläche durchbrechen, und dann konnte sie sich endgültig nach Luft schnappen hören, hustend, keuchend, verzweifelt, mit weit aufgerissenem Mund.

Luft.

Luft.

Luft.

Als die Husterei nachließ, setzte sie sich auf. Ihr war taumelig zumute und auch ein wenig übel. Erschöpft ließ sie den Kopf gegen den Badewannenrand sinken. Atmete. Ihr Körper hatte gewonnen. Wieder einmal. Nach einigen Minuten stemmte sie sich aus der Wanne hoch und kletterte vorsichtig über den Rand. Sie bebte und fror im kalten Licht der Badbeleuchtung, während das Wasser von ihr auf den Boden tropfte. Aus dem Spiegel sah ihr ein bleiches Gespenst mit wirrem Haar entgegen, die Unterlippe schuppig rot, weil sie sich angewöhnt hatte, sie mit den Zähnen zu bearbeiten, ohne dass sie es recht merkte, die Augen ebenfalls gerötet, weil sie heute Morgen wieder einmal nicht hatte aufhören können zu weinen.

Das unkontrolliert geschluckte Badewasser schmerzte. Hatte Millie so etwas gespürt? Hatte ihre kleine, wunderbare dreijährige Tochter so etwas Ähnliches gespürt, nachdem ihre Mutter sie nur für einen Moment aus dem Blick verloren hatte, als die Wellen über ihrem Kopf zusammengeschlagen waren und sie endgültig umgerissen hatten? Hatte sie das gespürt? Wasser … Wasser überall, in Mund und Nase und Augen, Wasser überall, Wasser, das sie schluckte und das wehtat im Brustkorb, als wollte es ihn sprengen, aber keine Luft mehr … keine Luft … keine Luft …

Nein, für Millie war es schlimmer gewesen, denn Millie, ihre süße, kleine, unvergleichliche Tochter, hatte sich aus eigener Kraft nicht retten können. Sie war zu schwach gewesen. Sie war nach unten gedrückt worden und hatte keine Chance gehabt.

Millie ist ertrunken. Weil ich nicht aufgepasst habe.

Lisa fröstelte heftiger. Sie griff nach dem Handtuch, trocknete sich ab, kämmte sich ruppig die Haare, weil sie jeden Schmerz verdient hatte, sah ihr scheußliches Gesicht noch einmal im Spiegel an.

Die Fratze einer Mörderin.

Lisa schlüpfte in einen ausgeleierten Jogginganzug, den sie früher noch nicht einmal im Haus getragen hätte, wickelte sich ein Handtuch um den Kopf und ließ das Badewasser ab. Sie trat in den Flur. Wie ruhig es hier war. Das fiel ihr in solchen Momenten immer auf. Seit ihr Mann Lukas und ihre beiden Jungs ausgezogen waren, herrschte Stille in der Wohnung.

»Du musst etwas tun, Lisa«, hatte Lukas vor dem Auszug in diesem bittenden, eindringlichen Tonfall gesagt, den sie so hasste. »Irgendetwas musst du tun. Wieder eine Therapie anfangen, irgendwas, bitte … so geht das nicht mehr. Du machst uns kaputt. Du machst unsere Familie kaputt. Uns alle.«

»Ich habe mein Kind verloren.«

»Du hast noch zwei Jungs, Johnny und Neo. Auch andere Eltern …«

»Wag es nicht weiterzusprechen.« Ihre Stimme klang so scharf und so bitter, dass sie ihr selbst fremd vorkam, aber alles schien fremd, seit Millie nicht mehr da war, seit die Welt einen Riss bekommen hatte, der sich nicht mehr kitten ließ.

»… verlieren ihre Kinder«, beendete Lukas seinen Satz.

»Das ist etwas ganz anderes.« Lisa holte tief Luft. Es hatte durchaus lange gedauert, bevor Lukas sich wagte, so etwas überhaupt auszusprechen, dabei war sie sich sicher, dass er es schon lange dachte. In den ersten Wochen, sogar in den ersten Monaten nach dem Unfall war er sehr vorsichtig mit ihr umgegangen, hatte sie geradezu mit Glacéhandschuhen angefasst. Sie hatte auch das gehasst. Sie wusste, was geschehen war. Sie würde ihre Augen davor nicht verschließen. Sie wusste, was sie getan hatte. Sie kannte ihre Schuld, denn sie war schuldig, und sie konnte und musste es hören, immer und immer wieder. Lukas machte alles falsch.

»Was ist mit deinen anderen Kindern?«, fragte er.

»Was soll mit ihnen sein?«, blaffte Lisa zurück. »Sie sind alt genug. Sie schaffen das schon. Ich liebe sie ja.«

Ich liebe sie. Das muss genügen.

Im Flur blieb sie vor der Galerie mit Millies Bildern stehen. Stetig gesellten sich neue dazu. Sie hatten so viele Fotos von ihr gemacht, von ihrem kleinen Mädchen. Lisa würde heute mal wieder ihre Zeit damit verbringen, den Computer nach weiteren zu durchforsten. Sie war immer noch krankgeschrieben, arbeitsunfähig. Womöglich würde sie nie wieder arbeiten können. Womöglich würde es ihr irgendwann gelingen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie ging durch die Hölle, an jedem einzelnen Tag. Sie wollte das nicht mehr.

Für Millie hätte ich da sein müssen, aber ich habe versagt.

Nein, sie brauchte keine Therapie, die ihr dabei half, Millie zu vergessen. Sie wollte nicht, dass alles wieder gut wurde. Bla, bla, bla … Nichts würde je wieder gut sein. Sie wusste das. Nichts sollte je wieder gut sein, das war ihre verdiente Strafe.

Lukas dagegen war sehr hoffnungsvoll gewesen, anfangs.

»Wie kannst du Millie nur einfach vergessen?«, hatte sie ihn gefragt.

»Ich habe sie nicht vergessen, Lisa. Ich trauere um sie, aber ich weiß eben, dass wir noch zwei andere Kinder haben, Neo und Johnny. Was ist mit ihnen? Sie brauchen unsere Liebe und unsere Zuwendung. Sie haben ein Recht darauf. Auch sie haben ihre Schwester verloren.«

»Sie leben immerhin.«

Das war der erste Bruch gewesen. Lukas war an diesem Abend erstmals mit den Kindern zu seinen Eltern gefahren und danach immer öfter. Stück für Stück hatten sie sich voneinander entfernt: das gemeinsame Schlafzimmer, gemeinsame Zeit, gemeinsames Essen. Sie hatte begonnen, die Therapie zu schwänzen. Er war dahintergekommen und hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht.

»Du hast mir gar nichts zu sagen«, hatte sie ihn angefahren. Etwa eine Woche später war er mit den Kindern ganz ins Haus seiner Eltern gezogen.

»Es ist nicht weit weg, du kannst uns besuchen, wann immer du willst. Unsere Tür steht offen, aber du musst etwas ändern.«

Sie hatte geschwiegen.

Im Briefkasten wartete heute ein Umschlag auf sie. Johnny, ihr Zehnjähriger, hatte ihr wieder einmal geschrieben. Er war jetzt in der vierten Klasse und würde bald auf die weiterführende Schule wechseln. Sie wusste nicht, wie es ihm ging oder wie es in der Schule lief. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Wie sollte sie über eine Zukunft nachdenken, die es für Millie nicht mehr gab? Das konnte sie nicht.

Lisa öffnete die kleine Schublade an der Garderobe und stopfte den Brief zu den anderen ungeöffneten Umschlägen, dann schob sie das Schublädchen mit Gewalt wieder zu. Sie schaute sich im Garderobenspiegel an, die Lichtverhältnisse waren hier schmeichelnder als im Bad. Da war ein Werbeaufkleber, den eines der Kinder dort hingeklebt hatte. Du bist ein Gewinn, stand da. Lisa hatte geschimpft. Aber die Kinder hatten einander nicht verraten, sondern zusammengehalten – ein schöner Moment und umso schmerzhafter, als sie jetzt daran dachte. Sie hielt inne. Ein Gedanke, der sie schon länger umtrieb, drängte sich wieder in ihr Bewusstsein.

Na gut, dachte sie. Dann soll es wohl so sein. Sie drehte sich um und ging ins Schlafzimmer, wo sie wahllos Kleidungsstücke in ihre Reisetasche stopfte. Sie würde noch einmal ins Ferienhaus ihrer Familie fahren, an die Küste, wo alles passiert war, und Millie endlich folgen.

Lisa war fast ohne Pause durchgefahren, zuerst auf der A5 in Richtung Nordhessen, dann auf der A7, vorbei an Göttingen, Hannover und Hamburg, Itzehoe, Heide. Sie hatte das Radio an, ohne jedoch wirklich hinzuhören; irgendein Gedudel, unterbrochen von Nachrichten, die sie nicht interessierten. Sie hatte irgendwo Kaffee getrunken und war auf der Toilette gewesen. Sechs, eher sieben Stunden Autofahrt – und sie hatte nichts gegessen. Ihr fiel das kaum auf, weil es ihr so unwichtig war. Millie aß auch nichts mehr. Millie aß nie wieder etwas. Wie fühlte sich das an, nie wieder zu essen? Inzwischen konnte Lisa ihre Hosen nur noch mit Gürtel tragen. Natürlich hätte sie neue kaufen können, aber wozu? Bald würde sie ohnehin keine mehr brauchen.

Je weiter sie nach Norden kam, desto konkreter wurde die Idee, mit der sie aufgebrochen war. Sie hatte sich lange nicht mehr so ruhig und sicher gefühlt, lange nicht mehr so entschieden.

Es dämmerte schon, als sie endlich in die hell bekieste Einfahrt ihres Ferienhauses einbog. »Die kleine Villa« – so nannte man es hier in der Gegend, dabei war es eigentlich gar keine echte Villa, sondern ein etwas größeres Hofgut aus Backstein, wie auf dem flachen Land üblich: zweistöckig mit Dachboden und einem Walmdach. Heute waren nur noch das großzügige Wohnhaus und eine Scheune erhalten. Irgendwann hatte es wohl auch einmal Stallungen und Weideland gegeben. Den größten Teil des Weidelands hatte man schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts aufgegeben, den Rest in einen großzügigen Garten umgewandelt. Etwas weiter östlich, mehr in Richtung Husum, lag der Hof der Familie Peters; die Familie gehörte zu ihren Ferien wie die norddeutsche Landschaft, und bei jeder Ankunft brachten die Alteingesessenen die Urlauber auf den neuesten Stand.

Das grüne Holztor vor ihrem Grundstück stand offen, und Lisa hatte sich, bevor sie hindurchgefahren war, gefragt, ob es wohl unverschlossen war, seit sie den Ort so überstürzt verlassen hatten. Das war gut möglich, warum sollte jemand das Gatter geschlossen haben?

Sie lauschte dem Geräusch der Reifen auf dem Kies, das früher stets Vorfreude bei ihr ausgelöst hatte und ihr jetzt ein Gefühl von Übelkeit verursachte. Das Haus war dunkel. Natürlich, niemand erwartete sie. Es würde auch kalt und leer sein. Sie hatte keinem Bescheid gesagt, dass sie kommen würde, auch Frau Peters nicht. Sie wollte ohnehin niemanden sehen, und sie würde ja auch nicht lange bleiben.

Leise schloss sie die Autotür zu, als befürchtete sie, es könnte sie doch jemand hören, aber wer sollte das sein? Der Peters-Hof lag in der Nähe, aber nicht so nah, dass man eine schlagende Autotür hören konnte. Außerdem war es von Vorteil, dass das Ferienhaus in einem großen Garten lag. Früher, bevor ihrer Familie ein Teil des Landes überschrieben worden war, hatte Frau Peters einmal erzählt, war der Garten noch größer gewesen. Trotzdem war das Grundstück immer noch riesig.

Lisa holte ihre Tasche vom Beifahrersitz und ging die paar Schritte zum Eingang. In den Blumenkästen neben der Tür wippten überraschenderweise tiefrote Geranien. Es musste also doch jemand nach dem Rechten gesehen haben, ganz so, als wollte man der Familie einen möglichst schönen Empfang bereiten, wenn sie für die nächsten Ferien zurückkehrte.

So hat es im letzten Sommer auch ausgesehen.

Lisa zog sich der Magen zusammen, als sie ein paar Schritte weiter ein kleines, von Wind und Regen verwittertes Bobbycar liegen sah. Millie war jauchzend darauf gefahren, bevor sie zum letzten Mal zum Strand aufgebrochen waren. So war es doch gewesen? Lisa sah es jedenfalls vor sich, wie ein gestochen scharfes Foto. Millie war eigentlich immer fröhlich gewesen. Neo und Johnny hatten ihr damals einen Parcours aus Pylonen aufgebaut. Die Pylonen lagen über den Hof verstreut, manche in den Büschen, manche fehlten. Wahrscheinlich hatte der Wind sie fortgetragen. Für einen Moment meinte Lisa, die Stimmen und das Lachen ihrer Kinder zu hören.

Sie gab sich einen Ruck, stolperte auf die Tür zu, schob mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss. Die Tür öffnete sich knarrend. Es roch klamm, so wie es immer roch, selbst im Sommer. Sie hatte sich einen kleinen Ofen für das Wohnzimmer gewünscht, aber dazu war es nicht gekommen. Lisa schob sich hinein, schloss die Tür hinter sich und blieb dann einen Moment mit dem Rücken dagegen gelehnt stehen. Sie atmete einige Male tief durch. Ihr war klar gewesen, dass es nicht leicht sein würde, wieder hier zu sein, und sie hatte sich davor gefürchtet. Die Übelkeit in ihr blieb jetzt wie ein stetiger, leiser Ton im Hintergrund. Sie bediente den Kippschalter. Es klackte, und das Licht flammte auf.

Lisa schaute sich um. Alles war so, wie sie es im letzten Jahr zurückgelassen hatten. Ihr Herz klopfte schneller. Tränen stiegen in ihrem Hals auf und ließen sie schlucken: Da lag Millies Puppe, die sie damals so verzweifelt gesucht hatten, damit Millie etwas Vertrautes um sich haben würde, während man im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte. Dort hatten Neo und Johnny am Morgen des Unglückstages eine Rampe für ihre Autos aufgebaut, und sie hatte noch mit ihnen geschimpft, weil sie darüber gestolpert war und fast gestürzt wäre. Vor der Garderobe lag das sandige Strandzeug, so wie sie es hatten fallen lassen. Es war absurd, aber sie hatten tatsächlich nichts am Strand liegen lassen. Aus Millies Einhorn-Badereifen war die Luft gewichen, der Kopf des Einhorns zur Seite abgeknickt. Lisa setzte ihre Tasche endlich ab und ging in Richtung Küche. Das Geschirr stand noch auf dem Tisch, wie sie es nach dem späten Frühstück zurückgelassen hatten: ein Korb mit Resten steinharter Brötchen, die Kaffeekanne, etwas Undefinierbares in den Bechern der Kinder. An Millies Platz der Kinderstuhl, der ihr verhasst war. Lisa erinnerte sich daran, wie sie ihrer Tochter hatte versprechen müssen, dass sie bald auf einem echten Stuhl sitzen durfte.

»Ich bin ein großes Mädchen, Mama.«

»Ja, das bist du.«

Sie wird niemals auf einem echten Stuhl sitzen. Von einem Moment auf den anderen spürte Lisa, wie ihre Beine nachgaben. Wimmernd brach sie zusammen.

3

Lisa hörte das Freizeichen und spielte für den kürzesten Moment mit dem Gedanken, wieder aufzulegen. In den letzten Monaten hier oben hatte sie es sich irgendwie angewöhnt, jedes Mal Frau Peters anzurufen, wenn sie Hilfe brauchte.

Als ob ich keinen Schritt allein gehen kann.

Zu Anfang war es nicht leicht gewesen zwischen ihnen beiden. Aber Frau Peters war beharrlich an Lisas Seite geblieben, hatte sich einfach nicht fortschicken lassen, ganz egal wie bissig und ungerecht sich Lisa ihr gegenüber auch gezeigt hatte. Und Lisa war sehr wütend gewesen und sehr ungerecht, hatte ihren Schmerz geradezu herausgeschrien. Frau Peters, die ohnehin nicht viele Worte machte, hielt an ihrer Freundlichkeit fest. Sie war einfach da und hörte zu. Schließlich hatte sie mit Moses vor der Tür gestanden. Lisa hätte ihr die Tür am liebsten vor der Nase zugeschlagen, sich dann aber aus Gründen, die ihr nicht ganz klar waren, anders entschieden. Es kann nicht am Kater liegen, hatte sie sich immer wieder gesagt, aber sie musste zugeben, dass sie sich seit der Ankunft des kleinen Katers ein wenig besser fühlte. Dann waren sie erstmals wieder gemeinsam zum Meer gegangen.

»Hier bei Peters!«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Frau Peters, gut, dass du da bist.«

»Lisa? Ist was passiert?«

»Nein, nein, alles gut. Ich habe nur ein Problem. Im Kinderzimmer kommt Wasser durch die Decke. Womöglich ist das Dach undicht.«

Frau Peters sog scharf Luft ein. »Oh, so’n Schiet!«, stieß sie hervor.

»Ich hatte einfach keine Ahnung, wen ich sonst anrufen könnte«, fuhr Lisa unsicher fort und spielte mit der Telefonschnur. Lukas hatte dieses Telefon damals aus Jux mitgebracht. Er hatte ein Faible für Retro. Außerdem behauptete er, dass sie das Telefon dann nicht mehr verlegen könne, wenn es fest an der Wand hing. Die Kinder hatten über das Telefon mit der Schnur gestaunt. Moses kam neugierig herbei und schlug mit der Tatze nach dem Kabel. Liebevoll sah Lisa ihn an. Er hatte sich gut erholt, sein Fell glänzte, und er war nicht mehr ganz so mager. Das verängstigte Kätzchen hatte sich zum kecken Kater gemausert.

»Kennst du vielleicht jemanden, der mir helfen kann?«

»Hmm, lass mich mal überlegen …« Auf der anderen Seite blieb es für einen Augenblick still. »Wir machen so was ja immer selbst«, sprach Frau Peters langsam weiter, »deshalb fällt mir jetzt auf Anhieb … Leider ist mein Fiete gerade beruflich unterwegs.«

Lisa drehte die Telefonschnur in die andere Richtung und nahm Moses hoch. »Macht ja nichts. Hätte ja sein können, dass dir jemand einfällt. Fiete wird ohnehin selbst genug zu tun haben mit seiner Familie und der Arbeit. Ich schau einfach in den Gelben Seiten nach oder im Internet.«

»Moment, Moment mal. Vielleicht kann dir Lars Claassen weiterhelfen, der ist Schreiner.« Frau Peters nannte ihr eine Adresse, die Lisa notierte. Sie tauschten noch ein paar Worte und verabschiedeten sich dann. Die Schreinerei lag ganz in der Nähe, wie Lisa bei Google Maps herausfand. Sie war ihr bislang nicht aufgefallen. Wie auch, bisher hatten sie ja nie einen Schreiner gebraucht. Leider war die Telefonnummer, die Frau Peters ihr gegeben hatte, nicht mehr gültig, und eine andere war nicht herauszufinden. Sie würde wohl oder übel hinfahren müssen. Kurz runzelte Lisa die Stirn, schlüpfte dann in eine Jacke und griff sich den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett. Kaum fünf Minuten später war sie auf dem Weg und stand kurz darauf vor der Schreinerei.

Sie hoffte sehr, dass der Schaden am Haus nicht zu gravierend war. Wann war sie wohl das letzte Mal im Zimmer der Kinder gewesen? Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie jeden Tag dort gesessen, hatte sich zwischen Millies Kleidungsstücke und Spielsachen gesetzt und versucht, einen Hauch ihres Geruchs zu erschnuppern.

Lisa zog den Schlüssel aus der Zündung und tastete nach dem Türgriff. Eine Windbö riss ihr die Tür fast aus der Hand, aber sie konnte sie gerade noch halten. Sie stieg aus und ließ den Blick über die Fassade des Hauses wandern. Oben wies ein etwas älteres, verwittertes Schild mit einem Fünfzigerjahre-Schriftzug auf die Schreinerei Claassen hin. Doch offenbar hatte die Werkstatt geschlossen. Im Hof konnte sie zwar einige Gerätschaften erkennen, aber es war kein Mensch zu sehen. Alles wirkte wie ausgestorben. Lisa zögerte und entschied sich dann doch, zur Haustür zu gehen. Jetzt war sie schon einmal hier, also konnte sie auch klingeln. Sie drückte entschlossen auf die Schelle und wartete. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie langsam schlurfende Schritte hörte. Die Tür ging auf. Im Dämmerlicht dahinter konnte sie die Person, die ihr geöffnet hatte, nur schlecht erkennen. Dann trat sie einen Schritt vor, und Lisa erblickte einen älteren Mann mit schütterem weißen Haar und einer etwas käsigen Gesichtsfarbe. Er trug ein blau-grau kariertes Hemd, eine graue Breitcordhose, Hosenträger und schweren Schuhe.

»Sie wünschen?«

Er wirkte weder freundlich noch unfreundlich.

»Ist das die Schreinerei Claassen?«

»Steht wohl dran.«

»Ich habe einen Wasserschaden.«

Vielleicht irrte sie sich, aber Lisa hatte den Eindruck, als blickten die Augen des Mannes sie mit einem Mal etwas wacher an. »’nen Wasserschaden?«, echote er.

Sie nickte. »Ich bin auf der Suche nach einem Fachmann, der einen Blick darauf werfen könnte. Frau Peters hat mir Ihren Namen genannt.«

»Frau Peters? Unsere Anke?«

Lisa nickte, kam aber nicht dazu, mehr zu sagen, denn hinter der rechten Schulter des alten Mannes tauchte mit einem Mal ein jüngerer Mann auf: »Was wollen Sie hier?«, blaffte er. »Haben Sie denn keinen Anstand? Lassen Sie meinen Vater in Frieden.«

Lisa zuckte zusammen und nahm dann allen Mut zusammen.

»Ich bin auf der Suche nach einer Schreinerei.«

»Es gibt hier keine Schreinerei mehr.«

4

MAINZ, 1919

Das Erste, was der siebzehnjährigen Vicky Schwayer an Jamal Boissier auffiel, waren sein fein gezeichnetes Gesicht und die großen hellbraunen Augen unter den schweren Lidern, die ihn etwas verträumt aussehen ließen. Er war schlank und hochgewachsen, aber er hielt sich gerader, als das große Menschen gemeinhin taten. Tatsächlich hatte er eine natürliche Eleganz, die ihr bislang noch nirgends untergekommen war.

Sie waren einander zufällig auf der Straße begegnet, als Vicky mit ihrer Schulkameradin Lillian Kogler am Rheinufer spazieren ging, in etwa dort, wo die großen Hotels standen. Jamal gehörte zu der Truppe der siegreichen französischen Besatzungssoldaten, die sich in diesen Tagen überall in der Stadt befanden. Auf dem Trottoir wich er ihr höflich aus.

Ihre Blicke streiften sich flüchtig, hielten einander kurz fest und verloren sich wieder. Ein paar Schritte weiter jedoch drehten sie sich beide um, wie auf einen stummen Zuruf hin, und warfen erneut einen Blick aufeinander. Vicky erinnerte sich später deutlich daran, wie Lillian ihren Arm gedrückt hatte.

»Vicky. Sieh dich vor, der Schwarze schaut dich an.«

Der Schwarze schaut dich an.

Lillians warnender Tonfall war unüberhörbar. Sie waren schließlich alle dazu angehalten, in diesen Tagen besondere Vorsicht walten zu lassen. Aber Vicky konnte nur daran denken, dass der junge Soldat unglaublich gut aussah in seiner Uniform. Sie hatte keine Ahnung, welchen Rang er hatte. Mit Militärischem kannte sie sich, anders als ihr knapp zwei Jahre älterer Bruder Hagen, nicht besonders gut aus. Es interessierte sie einfach nicht. Nach so vielen Jahren Krieg, dessen Folgen man immer noch überall sah und spürte, konnte sie sich einfach nicht für das Militär erwärmen. Selbstredend gab es auch weiterhin Versorgungsprobleme, Lebensmittel und Brennmaterial wurden kommunal zugeteilt, und die Erinnerungen an Steckrübenwinter hingen immer noch beängstigend in den Köpfen. Am vordringlichsten aber war derzeit die Wohnungsnot, verschlimmert durch die Raumansprüche der französischen Besatzer, die schließlich die Zwangsbelegung von Wohnungen anordneten.

Sieht er nicht köstlich fremd aus?, dachte Vicky, als sich ihre Augen ein weiteres Mal trafen. Wie ein ägyptischer Prinz, ein Prinz aus Theben vielleicht. Ja, so sah er aus, und sie interessierte sich doch für alles, was aus Ägypten kam. Das war also einer der Schwarzen. Aber so schwarz war er eigentlich gar nicht, seine Haut war nur ein bisschen braun.

Lillians Mutter war die Erste gewesen, die empört erzählt hatte, dass sich Schwarze unter den fremden Soldaten befanden und solche aus dem Morgenland, die man wohl Sipahis nannte. Vicky hatte Lillian daraufhin zu einer der Paraden mitgeschleift, um die Fremden zu sehen. Die Turbane hatten sie am meisten fasziniert. Bislang kannte sie dergleichen nur von den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die zu Vickys liebsten Geschichten gehörten.

Natürlich gab es auch Leute, die gegen die Fremden wetterten und davon sprachen, dass es eine Schande war, diese Primitiven in das Herz Europas zu lassen, mitten hinein ins christliche Abendland. Frau Kogler gehörte dazu, und auch Vickys Bruder Hagen. Die Eltern hielten sich mit Äußerungen zurück.

Vicky jedenfalls nahm gar nicht wahr, dass Lillian ihren Arm immer fester drückte, während der junge Franzose und sie sich anblickten, als hätten sie einander irgendwie wiedererkannt. Dann kam er zu ihnen zurück, verbeugte sich formvollendet und sprach sie einfach an: »Jamal Boissier, Übersetzer. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Damen.«

»Vicky Schwayer.«

»Lillian Kogler.«

Er küsste ihnen beiden die Hand und verbeugte sich dann noch einmal knapp. Vicky und er wechselten ein paar Worte, Lillian dagegen schien es die Sprache verschlagen zu haben. Forschende Blicke anderer Spaziergänger und Flaneure trafen sie, hier am belebten Rheinufer, wo nicht nur Hotels, sondern auch die Anlegestellen für Passagierschiffe waren. Zwei junge Frauen in Gegenwart eines fremden, eines feindlichen Soldaten sorgten zwangsläufig für Aufmerksamkeit.

In kürzester Zeit erfuhren sie, dass Jamal nicht aus Ägypten kam. Vicky musste ihr Bedauern darüber ein wenig unterdrücken. Sein Vater war Franzose, seine Mutter Marokkanerin, und in Marokko war er auch die ersten Jahre seines Lebens aufgewachsen. Er arbeitete als Dolmetscher und Übersetzer und war mit einem Regiment der Sipahis assoziiert. Vicky fragte ihn kess, ob er öfter hier spazieren ging, und erntete dafür ein entsetztes Quietschen von Lillian. Er lächelte nur. »Wenn es meine Zeit zulässt.«

Vicky beschloss für sich, ab heute öfter am Rheinufer zu flanieren. Lillian zupfte sie ungeduldig am Ärmel.

»Wir müssen heim, die Eltern warten auf uns«, sagte sie zu Vicky gewandt, Jamal misstrauisch aus den Augenwinkeln beobachtend.

Vicky wollte unwillig den Kopf schütteln und wusste doch, dass ihre Freundin recht hatte. Es war schon fünf Uhr vorbei, die Eltern erwarteten sie ganz gewiss. Seit Mainz zum französisch besetzten Brückenkopf geworden war, legten sie ganz besonderen Wert auf die Einhaltung der Zeiten. Bedauernd schob Vicky die Unterlippe vor.

»Meine Freundin hat wohl recht, Monsieur Boissier, aber wir sind sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Jamal verbeugte sich auch zum Abschied nochmals.

»Vielleicht sieht man sich ja wieder«, sagte er leichthin, doch es kam Vicky vor, als sähe sie eine Frage in seinen Augen.

Lillian sagte nichts.

»Möglich«, erwiderte Vicky.

Als Lillian und sie kurz vor sechs Uhr nach Hause kamen, wussten Vickys Eltern schon Bescheid: Eine Nachbarin hatte sie in Kenntnis gesetzt, und die hatte es von jemandem, der die Mädchen gesehen hatte – mit einem Schwarzen! Leopoldine, Vickys Mutter, ließ ihre Tochter jedenfalls sofort ins Wohnzimmer rufen, als die Mädchen eintrafen, und bat um Auskunft.

»Ein Schwarzer, wirklich?« Ihre Stimme klang weniger entsetzt als vielmehr neugierig. Vicky war nicht überrascht. So kannte sie ihre Mutter: interessiert, ziemlich weltoffen und als jemand, der sich ungern einem äußeren Diktat beugte.

»Schwarz ist er nicht wirklich, also nicht pechschwarz, wie die Senegalesen. Seine Mutter ist wohl aus Marokko. Er heißt Monsieur Boissier und ist Übersetzer.«

»Interessant.«

Leopoldines Stirn kräuselte sich ganz leicht, während sie kurz in die Ferne blickte. Sie selbst trug an diesem Tag ein langes, weit geschnittenes, besticktes Kleid, das ebenfalls ein wenig orientalisch anmutete. Als Tochter des Kolonialwarenhändlers Kohlrabe war Leopoldine Schwayer früh mit Fremdartigen in Kontakt gekommen und kannte, zu Vickys Erleichterung, kaum Berührungsängste. Manchmal, wenn ihre Mutter aus ihrer Kindheit berichtete, von Feiern und Empfängen, von fremdländischen Waren und Begegnungen mit exotischen Tieren oder auch Menschen, da war es Vicky so vorgekommen, als hätte Leopoldine in ihrer Jugend selbst in einem Traum aus Tausendundeiner Nacht gelebt. Natürlich rügte sie ihre Tochter nicht wegen eines Gesprächs mit einem Mulatten, das wäre absurd gewesen. Man rühmte sich schließlich einer gewissen Weltläufigkeit, Toleranz und Großzügigkeit in der Familie Schwayer und war über den Handel mit Kolonialwaren nicht nur wohlhabend geworden, sondern hatte auch die Welt besser kennengelernt. Man wusste nur zu gut, dass es viel mehr auf diesem Erdenrund gab, als sich mancher vorzustellen vermochte. Auch Vicky ängstigte nichts so rasch, weder afrikanische Masken noch indische Statuen, noch chinesische Kleidung, und auch an Speisen hatte sie schon einiges mehr versucht als andere ihres Alters. Früher, besonders vor dem Krieg, als sie oft bei den Großeltern waren, hatte sie besonders gerne im Salon gespielt, der mit exotischen Stoffen, Teppichen und diversem Kleinkram geschmückt gewesen war. Leider waren die Eltern ihrer Mutter in den letzten Wochen des Krieges jener schweren Krankheit erlegen, die heute als Spanische Grippe bekannt war.

Leopoldine versuchte, die Mädchen noch ein wenig auszufragen, doch es gab nicht viel mehr zu sagen, und schließlich zogen sich die beiden nach oben zurück, auch wenn Lillian sich schon bald auf den Weg machen musste. Ihre Mutter wartete wie immer an der nächsten Straßenecke auf sie. Der Vater war im Krieg gefallen, und Frau Kogler hasste die Besatzer, die ihr den Mann genommen hatten. Aus diesem Grund tat sie sich schwer damit, das Haus der Schwayers zu betreten, das, wie so viele Häuser in Mainz, seit Beginn der Besatzungszeit voller Franzosen war.

Vicky seufzte. Eigentlich waren Lillian und sie kaum mehr als Schulkameradinnen, aber immerhin musste sie dieser Tage nicht allein spazieren gehen. Und Leopoldine sah es auch deutlich lieber, wenn die Mädchen zu zweit unterwegs waren, wohl wissend, dass sie ihr sturköpfiges Kind nicht überzeugen könnte, zu Hause zu bleiben.

Lillian ist wie ihre Mutter, dachte Vicky, als die Freundin wieder von der schrecklichen Schmach anfing, die fremde Soldaten und besonders Schwarze für sie waren. Sie saß dabei auf der Kante von Vickys Bett, den Rücken durchgedrückt, während Vicky es sich auf ihrem himmelblauen Sessel bequem gemacht hatte.

»Weißt du noch diese richtig Schwarzen auf der Parade, meine ich?«, fragte sie mit großen Augen. »Nicht so wie der Monsieur Boissier heute, nein, diese ganz kohlschwarzen … Ich frage mich immer, ob das überhaupt Menschen sind. Sie sehen so fremdartig aus, findest du nicht auch, Vicky? Ich habe gehört, dass Frauen vergewaltigt wurden, sogar Kinder … Es heißt auch, es mussten neue Bordelle eröffnet werden, um ihren …«, Lillian war es offenkundig schwergefallen, das Folgende auszusprechen, und sie war sogar tiefrot angelaufen, »… ihren unersättlichen Trieb zu stillen.« Sie senkte den Blick. »Der Schwarze hat nämlich einen stärkeren Trieb als der Weiße, weißt du, und er kann ihn auch viel, viel schlechter bezähmen.«

Vicky runzelte die Stirn. Sie hatte so etwas bislang weder gehört noch gesehen. Sie hatte überhaupt noch nicht viele Schwarze gesehen, und das meiste, was sie sonst wusste, entstammte den Erzählungen ihrer Mutter, die das Exotische sehr liebte. Woher wollten Lillian und ihre Mutter all das wissen? Sie kannten doch gar keine Schwarzen. Auf der Parade war Lillian jedenfalls genauso überrascht und fasziniert gewesen wie sie.

»Wer hat dir das erzählt, Lillian?«

»Meine Mutter.«

Vicky zog die Augenbrauen hoch. Frau Kogler hatte augenscheinlich große Angst vor allem, was ihr nicht vertraut war. Vicky konnte sich glücklich schätzen, in einem so offenen Haushalt wie dem ihrer Familie aufgewachsen zu sein. Sie wollte nicht mit Lillian streiten, das wäre sowieso vergeblich, deshalb schlug sie vor, noch kurz eine Runde Mensch ärgere dich nicht zu spielen, bis Lillian gehen musste. Ein-, zweimal hielt Lillian während des Spiels deutlich inne, weil über ihr feste Männerschritte zu hören waren. In vier der sechs Dachkammern, die früher die Dienerschaft beherbergt hatten, waren dieser Tage je zwei Soldaten untergebracht. Die anderen Stuben wurden von der Köchin, die gleichzeitig als Haushälterin fungierte, und den zwei Stubenmädchen belegt, die natürlich auch in der Küche aushalfen.

Als Lillian schließlich aufbrach, tauchte wie aus dem Nichts Hagen, Vickys neunzehnjähriger Bruder auf, um sich ebenfalls zu verabschieden. Vicky vermutete schon länger, dass er mehr für Lillian empfand, auch jetzt stand er noch lange in der Tür, um ihr hinterherzusehen.

»Frau Kogler macht es richtig«, sagte Hagen schließlich. »Wenn ich könnte, würde ich den Franzosen auch aus dem Weg gehen, aber wie soll das funktionieren, wenn sie das eigene Zuhause besetzen?«

Wie bestellt kamen in diesem Moment drei junge Offiziere vom obersten Stockwerk herunter. Hagen wich mit düsterem Gesichtsausdruck zur Seite aus und würdigte sie keines Blickes. Vicky lächelte freundlich und fragte sich, wie ihr Bruder mit solcher Inbrunst Menschen hassen konnte, die er gar nicht kannte. Auf der Treppe stieß Vicky kurz darauf fast mit Ilse, dem Stubenmädchen, zusammen.

»Hallo, Ilse.« Sie zögerte einen Augenblick, packte dann kurz entschlossen deren Hand. »Komm, ich muss dir etwas erzählen.«

5

Ilse war jetzt schon einige Zeit im Dienst der Schwayers. Dieser Tage ging es immer sehr geschäftig zu in der Villa. Neben der Familie galt es, die fremden Soldaten zu versorgen, die im Haus untergebracht waren; Männer, die stets großen Appetit hatten. Es galt, Nahrungsmittel heranzuschaffen, Vorräte aufzustocken und darauf zu achten, dass nichts verdarb. Die Gartenarbeit musste geplant werden. Ein Teil der parkähnlichen Anlage hinter der Villa, wo früher Blumen blühten, war inzwischen zum Gemüsegarten umfunktioniert worden, wie es auch an vielen anderen Orten geschah. Man hatte Mangold gepflanzt, Gurken, Karotten, Salat und natürlich Kartoffeln. Die Obstbäume, früher kaum mehr als hübsches Beiwerk, an dem man sich nach Lust und Laune bedient hatte, wurden heute besonders sorgfältig gepflegt. Im Keller lagen die Äpfel in großen Gestellen und mussten immer wieder untersucht werden, damit sich kein fauliger dazwischen schmuggelte, der die anderen verdarb. Auch die Kartoffeln und die Karotten in ihrem Sandbett mussten ständig kontrolliert werden.

Eigentlich war Ilse als Stubenmädchen angestellt worden, aber im Grunde war sie Mädchen für alles. In diesem Moment reckte sie sich seit Stunden zum ersten Mal und lief dann ein paar Schritte auf und ab, bevor sie sich wieder setzte, um den restlichen Berg Kartoffeln in Angriff zu nehmen, der noch geschält werden musste. Ilse fand, dass es eng war mit den Franzosen im Haus, und dennoch konnte sie ihr Glück immer noch kaum fassen, wenn sie morgens über ihre eigene Schüssel Haferbrei gebeugt saß, die ihr niemand streitig machen konnte.

Das ist das Paradies, war ihr beim ersten Mal durch den Kopf gegangen, und daran hatte sich bislang nichts geändert.

»Schneller, schneller«, hielt Frau Paul die beiden Mädchen energisch zur Arbeit an und sinnierte dann lautstark darüber, wie schön es wäre, wenn die Dinge wieder ihren normalen Gang nähmen und sie nur noch ihre Tätigkeit als Köchin zu erfüllen hätte, ganz ohne zusätzliche Verwaltungsaufgaben. »So wie vor dem Krieg. Da hatte alles und jeder seinen Platz«, wurde sie nicht müde zu betonen. »Vor dem Krieg hat es noch Kaiser und Könige gegeben, und niemand hat von der Demokratie gefaselt, als könnte man damit einen Blumentopf gewinnen. Da durften die Frauen noch nicht wählen, oder – Gott bewahre – sich wählen lassen. Und jetzt gibt es drei Stadträtinnen in Mainz, wo soll das nur enden?« Frau Paul gab ein dramatisches Stöhnen von sich. Ilse blickte kurz auf, senkte den Blick aber ebenso rasch wieder.

Erst einmal musste das Abendessen fertig werden. Die Kartoffeln kochten inzwischen im Topf. Als Frau Paul kurz den Deckel lüpfte, stieg Wasserdampf zu der hohen Decke auf und perlte von den Wänden wieder nach unten. Sie behielt die Mädchen streng im Blick. Ilse schabte jetzt die Karotten sauber, konzentriert, mit den immer gleichen Bewegungen, nicht zu viel und nicht zu wenig. Sie dachte an die letzten drei Monate, die sie in der Villa Schwayer zugebracht hatte, und an den Tag, als sie das enge Zimmer, in dem sie zuletzt mit ihrer Mutter gewohnt hatte, für immer verlassen hatte.

Mit jedem Schritt, mit dem Ilse dem Haus näher kam, schlug ihr Herz heftiger, und irgendwann hatte sie den Eindruck, sie müsse gleich in Ohnmacht fallen. Sie wusste nicht, was sie erwartete, und war noch ganz benommen vom Tod ihrer Mutter. Ich bin allein, dachte sie immer und immer wieder. Ich bin siebzehn Jahre alt und ganz allein.

Als die Mutter gestorben war, hatte keiner gewusst, was mit ihr passieren sollte. Man strich dem verzweifelt weinenden Mädchen über den Kopf, eine Nachbarin brachte eine dünne Suppe vorbei und richtete ein paar ungelenke Worte an sie. Bald würde jemand kommen, hieß es, sie solle nur geduldig sein. Also hatte Ilse gewartet. Sie dachte an den Vater, den der Krieg gefressen hatte, und an das Heim, in das man sie für eine Zeit lang gesteckt hatte. Sie wollte nicht wieder ins Heim.

Dann kam die Fremde; eine Frau von der Wohlfahrt, die jede Menge Fragen stellte, die Ilse schüchtern beant-wortete, und ihr am Ende einen Zettel in die Hand drückte.

»Kannst du lesen, Kleine?«, fragte sie mit dröhnender Stimme.

Ilse nickte. Sie las nicht sehr gut und langsam, aber es reichte aus. Sie war nicht dumm. Sie war nur ein Flittchen. Das jedenfalls hatte die Mutter geglaubt und Ilse deshalb damals in dieses Heim geschickt. Als sie wiedergekommen war, war Mama krank gewesen.

»Gut.« Die Frau, die nicht nur eine laute Stimme hatte, sondern auch ein sehr sauberes dunkles Kostüm von hoher Qualität trug, ließ ihre Hand schwer auf Ilses Schulter ruhen.

»Du gehst zur Familie Schwayer, die suchen ein neues Mädchen«, sagte sie bestimmt.

Ich kann das nicht, dachte Ilse. Sie wusste doch gar nicht, was so ein Mädchen machte. Sie war vorher nur sehr kurz in Stellung gewesen. Plötzlich bekam sie Angst. Im nächsten Moment steckte ihr die Frau einen Zettel in die Hand. Ich will nicht fort von hier, schoss es Ilse durch den Kopf, während sie den Zettel zwischen den schwitzigen Fingern spürte, und doch packte sie schließlich schweren Herzens ihr Bündel und griff nach der Lumpenpuppe, die ihr die Mutter vor dem Krieg genäht hatte, damals, als es ihnen noch gut gegangen war, als sie hin und wieder gelacht hatten und eine Familie gewesen waren. Jemand wie sie wurde ohnehin nicht gefragt. Ein paar Sonnenstrahlen brachen hinter düsteren Wolken hervor, während Ilse einen letzten Blick auf das Haus warf, das ihre Heimat gewesen war. Schmerzhaft zog sich ihr Magen zusammen, und das Gefühl des Verlusts schien unerträglich.

Bis zur Villa Schwayer war es ein gutes Stück zu laufen, und Ilse kam es vor, als wechselte sie langsam von einer Welt in eine andere. Von dem Viertel mit seinen düsteren Gassen, in denen es nach Kohl stank, in ein helles, lichtes Quartier, wo von Hunger, Leid und Krieg nichts zu spüren war. Sie sah Kindermädchen in Uniform, die die Kinder der Herrschaft ausführten oder -fuhren, französische Offiziere, einen kleinen Jungen in Matrosenanzug und Strohhut, der einen Kreisel die Straße entlang peitschte und sie frech dazu brachte, beiseite zu springen. Etwas weiter reichte eine Frau Kekse an ein Kleinkind im Kinderwagen, und Ilses Magen meldete sich lautstark, denn sie hatte seit gestern nichts Richtiges mehr zu essen gehabt.

Fast wäre sie an der Einfahrt vorbeigelaufen. Sie kannte keine Häuser, die nicht direkt an der Straße standen, doch dann war ihr die Hausnummer am schmiedeeisernen Gartenzaun aufgefallen, und sie war erst einmal stehen geblieben und hatte über die, wenn auch kurze, Allee alter Bäume geschaut, die noch nicht der Brennholznot zum Opfer gefallen war. Hier konnte man offenbar sogar ein Stück mit dem Auto hineinfahren, denn sie erkannte deutlich Reifenspuren.

Ilse hatte einen Augenblick gezögert, der Zettel mit der Adresse in ihrer Hand war auf den letzten paar Schritten des Weges zu einer schwitzigen Kugel geworden. Dann hatte sie tief durchgeatmet, war durch das Tor geschlüpft und entschlossen weitergegangen.

Die Einfahrt führte in einer sanften Linkskurve auf das Haus zu. Als Ilse die Villa Schwayer in voller Größe erblickte, blieb sie erst einmal stehen. Das Haus war so prächtig, dass es ihr schier den Atem nahm. So etwas Schönes hatte sie noch nicht gesehen. Drei Stockwerke erhoben sich über ihr, in Weiß mit Säulen und Figuren und Verzierungen und Türmen und Erkern – wie aus einem Märchen. Für eine Weile war sie so in Gedanken versunken, dass sie das Automobil kaum wahrnahm, das hinter ihr hupend um Aufmerksamkeit buhlte. Erschrocken sprang sie zur Seite, und es wurde dorthin geparkt, wo sie eben noch staunend gestanden hatte. Hinter den Scheiben konnte sie flüchtig ein paar Köpfe sehen. Ein fein gekleideter Herr und eine Dame stiegen aus, nachdem ihnen der Chauffeur die Tür geöffnet hatte. Ilse war sich für einen Moment nicht sicher, ob man sie überhaupt wahrgenommen hatte. Es folgten ein junger Mann, dessen Gesicht noch deutlich jungenhafte Züge trug, und eine junge Frau. Während der junge Mann sie keines Blickes würdigte und nach drinnen verschwand, drehte sich die junge Frau zumindest zu ihr um, musterte sie und lächelte dann freundlich.

»Vicky, komm jetzt«, wurde sie kaum zwei Lidschläge später zum Gehorsam angehalten. Ilse sah, wie diese Vicky für einen kurzen Moment die Augen verdrehte und ihr dann ein fröhliches, etwas freches Lächeln zuwarf, das gar nicht zu ihrem feinen Aussehen passen wollte. Der Chauffeur kam schließlich zu ihr gelaufen und versuchte, sie mit wedelnden Armen davonzujagen wie ein lästiges Tier.

»Geh, geh, du hast hier nichts zu suchen«, blaffte er sie an.

»Aber ich soll mich hier melden.« Ilse nahm allen Mut zusammen. »Das ist doch die Villa Schwayer, oder nicht?«

Sie öffnete die Hand, schaute den Adressklumpen darin an und schloss sie wieder. Sie wusste nicht, was sie weiter sagen sollte. Sie wusste noch nicht einmal, ob die Dame vom Wohlfahrtsverein sie angekündigt hatte.

Der Chauffeur nahm Haltung an und wog dann leicht den Kopf.

»Hier? Dann aber zum Dienstboteneingang, fix, fix.«

»Wer ist das denn?«, fragte das andere Stubenmädchen misstrauisch, als Ilse wenig später, begleitet vom Chauffeur, in die Küche trat. Kurz überlegte Ilse tatsächlich, ob sie kehrtmachen und davonlaufen sollte, aber wohin sollte sie sich flüchten? Sie war allein auf dieser Welt, ohne Familie oder Freunde. Während sie also starr dastand, trat eine ältere Frau in Schürze auf sie zu. In der hoch erhobenen Hand hielt sie einen Kochlöffel und musterte Ilse von oben bis unten.

»Na ja, sieht ganz danach aus, als hätte die Gnädige mal wieder ein Mädel aufgegriffen, Bärbelchen«, ließ sich die Frau vernehmen. »Sie hat einfach ein gutes Herz, auch wenn wir es ihr nicht leicht machen.«

»Ist das etwa der Ersatz für unsere Ruth?«, fragte Bärbelchen.

»Sieht ganz danach aus.«

Bärbelchen rümpfte die Nase. »Sie sollte ein Bad nehmen, puh!«

Ilse war rot angelaufen und fand, dass es jetzt wohl Zeit war, etwas zu dieser schwarz-weißen Elster zu sagen, aber sie war zu nervös. Sie konnte sich kaum auf irgendetwas besinnen, was gewiss auch daran lag, dass es ganz köstlich nach Essen roch. Sie hörte ihren Magen grummeln. Ihre Knie wurden weich, und kurz fragte sie sich, was wohl passieren würde, wenn ihr in diesem Moment die Sinne schwanden und sie ohnmächtig zu Boden ging.

Bärbelchen baute sich vor ihr auf. »Du sollst mir also zur Hand gehen? Hast du denn schon einmal in einem Haushalt gearbeitet?«

Ilse war unsicher. »Ein wenig«, flüsterte sie.

Ich habe Hunger, sagte die Stimme in ihrem Kopf lauter, Hunger, Hunger, Hunger. Bärbelchen musterte sie eingehend.

»So können wir sie der Gnädigen aber wirklich nicht vorstellen, die Gnädige hat eine sehr feine Nase.«

Ilse bemerkte, wie ihre Lippen schmal wurden. Wollte dieses Bärbelchen denn endlich mal von seinem Lieblingsthema abrücken?

»Hm, hm«, machte das Schlachtschiff von einer Köchin.

Ich habe Hunger, dachte Ilse, ich habe so furchtbaren Hunger, dass mir ganz schlecht ist.

»Wir müssen sie baden«, überlegte Bärbelchen.

Die Köchin kam zu ihnen herüber. Ilse bemerkte erst jetzt, dass sie sich beim Gehen auf einen Stock aufstützte.

»Ich habe Hunger«, wisperte Ilse und war ganz erstaunt, es doch laut ausgesprochen zu haben.

»Wie bitte?«

Die Köchin hob die dunklen Augenbrauen. Ilse dachte, dass sie sehr weiße Haut und sehr schwarzes Haar hatte und dass das irgendwie etwas gruselig aussah, trotzdem wiederholte sie ihre Worte: »Ich habe Hunger.«

Wider Erwarten wurden die Züge der Köchin weicher.

»Hunger, du armes Ding!«

Einen Augenblick später stand ein Teller kräftige Brühe mit Nudeln vor ihr. Ilse hatte lange nicht mehr so gut gegessen und musste sich bremsen, nicht alles hinunterzuschlingen. Jetzt fiel es ihr leichter, aufmerksam zu sein. Die ältere Frau stellte sich als Frau Paul vor, Köchin und derzeit auch Haushälterin. Der Chauffeur heiße Franz.

»Hast du denn schon einmal Kartoffeln geschält, Zwiebeln gehackt, Mohrrüben geraspelt?«, fragte Frau Paul.

Ilse nickte. Im Heim hatten sie kochen müssen, auch wenn sie spontan beschloss, nichts von ihrem Aufenthalt dort verlauten zu lassen. »Und hast du Böden gewischt, Kamine gereinigt, gefegt und Silber poliert?«, schloss sich Bärbelchen wichtigtuerisch mit weiteren Fragen an. Zumindest zum Wischen und Fegen konnte sie nicken, ohne die Unwahrheit zu sagen.

Die vier Schwayers sah Ilse in den nächsten Tagen nur flüchtig, wie Geister. Mal saß plötzlich jemand in einem Sessel, wenn sie den Kamin auskehrte, Tee und Gebäck abräumte, oder sie begegnete jemandem, wenn sie neues Wasser in den Krug neben der Waschschüssel füllte. Den jungen französischen Soldaten im Haus, die ihr Blicke zuwarfen, ging sie möglichst aus dem Weg. Sie machte die Hilfsarbeiten, während Bärbelchen der Tochter des Hauses zur Hand ging.

»Früher war ich auch mal an deiner Stelle«, prahlte Bärbelchen. »Ich bin so froh, dass ich mich mit guter Arbeit verbessern konnte und nun der jungen Herrin zur Hand gehe.«

Ilse nickte nur und war vor allem froh, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben.

Nach der ersten Woche wurde sie allerdings doch unruhig. Nach den ersten zwei Wochen fragte sie sich, wann Frau Schwayer sie wohl endlich in Augenschein nehmen würde, denn offenbar war sie ja der Grund, aus dem sie sich hier befand. Frau Schwayer aber schien vorerst keine Eile zu empfinden.

Nachdem Frau Schwayer sie also auch nach zwei Wochen noch nicht in Augenschein genommen hatte, wurde Ilse allmählich nervös. Immerhin lernte sie am nächsten Waschtag, als sie Bärbel dabei half, die frisch gewaschene Wäsche hinter dem Haus auf der Wiese zum Bleichen auszubreiten, Vicky näher kennen. Bärbel sprach auch an diesem Tag ohne Unterlass: davon, dass früher mehr Personal im Haus war, dass sich die Zeiten allgemein zum Schlechteren gewendet hatten, dass die Arbeit immer mehr würde. Ilse hörte ihr zu, während sie gemeinsam die frische Wäsche heranschleppten, damit die Sonne ihre Arbeit verrichten konnte. Bärbel redete und redete und redete, und Ilse dachte irgendwann entnervt, dass es ihr doch gut ergangen war. Das Leben in der Villa Schwayer war doch ein sicheres, damals wie heute, es war wie in einer Oase, die von allem unberührt geblieben war, sogar vom Krieg.

Das Fräulein Schwayer saß an diesem Tag auf einer Bank in der Nähe, schien zuerst in Gedanken versunken, sah dann aber immer wieder zu den beiden Hausmädchen hinüber. Vicky musste im selben Alter sein wie sie, und dass Bärbel und sie schufteten, während Fräulein Schwayer einfach dasaß, fand sie für einen flüchtigen Moment eigentlich nicht richtig. Nun, es war wahrscheinlich immer so gewesen. Es gab die oben und die unten, das wusste Ilse nur zu gut, und wer den Hals zu weit reckte, dem würde es schlecht ergehen, so war das.

Später, als Bärbel noch einmal ins Haus zurückkehrte, war die junge Herrin überraschend zu ihr herübergekommen. Ilse konnte nicht umhin, ihr zartes, rosafarbenes Sommerkleid zu bewundern. Kürzlich war sie noch glücklich über ihre neue, saubere Uniform aus gutem Stoff gewesen, jetzt musste sie erkennen, dass ein solches Kleid doch tausendmal schöner war. Sie spürte einen kleinen Stich und empfand etwas, das ihr bislang unbekannt gewesen war: Neid.

»Du bist also die Neue, ja?«, fragte das Fräulein Schwayer und taxierte sie.