Die vergessene Freundin - Rebecca Martin - E-Book
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Die vergessene Freundin E-Book

Rebecca Martin

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Beschreibung

Frankfurt. Elisabeth Kramer, einst eine berühmte Schauspielerin, ist entsetzt als sie von den Plänen ihrer Nichte erfährt. Diese möchte eine Festschrift zum 90. Jubiläum des Lichtspieltheaters Odeon schreiben lassen. Elisabeths Vater gründete das Odeon einst, und die alte Frau fürchtet, dass mit den Recherchen ihre Vergangenheit aufgerührt wird. Eine Vergangenheit, die sie seit Jahrzehnten verdrängt hat - und damit eine lang zurückliegende Schuld … Die Geschichte nahm ihren Anfang im Jahr 1923 als die forsche und doch verletzliche Tonja in Elisabeths Klasse kam. Eine tiefe Freundschaft begann – und sie endete in einer Katastrophe.

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Über dieses Buch

Zwei Herzensfreundinnen. Ein gemeinsamer Traum. Und ein schrecklicher Verrat.

Frankfurt. Elisabeth Kramer, einst eine berühmte Schauspielerin, ist entsetzt als sie von den Plänen ihrer Nichte erfährt. Diese möchte eine Festschrift zum 90. Jubiläum des Lichtspieltheaters Odeon schreiben lassen. Elisabeths Vater gründete das Odeon einst, und die alte Frau fürchtet, dass mit den Recherchen ihre Vergangenheit aufgerührt wird. Eine Vergangenheit, die sie seit Jahrzehnten verdrängt hat – und damit eine lang zurückliegende Schuld … Die Geschichte nahm ihren Anfang im Jahr 1923 als die forsche und doch verletzliche Tonja in Elisabeths Klasse kam. Eine tiefe Freundschaft begann – und sie endete in einer Katastrophe.

Über die Autorin

Rebecca Martin studierte Englisch und Deutsch in Frankfurt am Main und in Dublin, Irland. Ihre Leidenschaft gehört dem Reisen und dem Schreiben. Ihr Roman »Die verlorene Geschichte« gelangte sofort nach Erscheinen auf die SPIEGEL-Bestsellerliste, gefolgt von »Der entschwundene Sommer«, »Die geheimen Worte« und »Das goldene Haus«. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Nahetal.

REBECCA MARTIN

Die vergessene

Freundin

ROMAN

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Originalausgabe 02/2019

Copyright © 2019 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Volknant

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Jill Battaglia, Romany/Trevillion; Matthew Dixon, EKramar, E_Sh_, crystalfoto/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-18023-2V001

www.diana-verlag.de

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Prolog

BERLIN, 1934

Aus dem großen Filmvorführungssaal drang Licht in den düsteren Gang. Tonja musste also schon da sein. Elly stand im Dunkeln und zögerte weiterzugehen. In der Tasche ihres hellen, wadenlangen Rocks knisterte der Brief. Nach dem Abendessen hatte er plötzlich auf ihrem Schreibtisch gelegen, lange, nachdem der Postbote ins Haus gekommen war. Wer hatte ihn gebracht? War es Tonja selbst gewesen? Sie hatte nicht weiter nachgeforscht, wollte vermeiden, dass jemand unangenehme Fragen stellte. Dies hier ging nur sie beide etwas an.

Elly schluckte.

Sie verharrte noch einen weiteren Moment, bis sie die schwere Schwingtür aufstieß und den Gang entlang auf den großen Saal zuging. Es war drei Monate her, dass Tonja und sie einander zuletzt gesehen hatten.

Die Zweiundzwanzigjährige machte ein paar Schritte und hielt dann wieder inne, um nervös über ihren Rock zu streichen. War sie womöglich zu extravagant gekleidet? Hätte sie etwas Schlichteres auswählen sollen? Unvermittelt hob die junge Frau die Hand zu dem raffiniert gerafften Kragen ihrer Bluse, der Nacken und Kinnpartie besonders vorteilhaft unterstrich. Würde sie womöglich den Eindruck erwecken, mit Äußerlichkeiten von etwas ablenken zu wollen? Nein. Sie schob den Gedanken weg. Sie würde lediglich zeigen, dass alles so war wie immer. Sie atmete tief durch.

Tonja wartete. Elly horchte. Es war still. Da waren nur die vertrauten Geräusche des Gebäudes, des Ortes, der ihnen beiden einmal so viel bedeutet hatte.

Elly hörte ihre eigenen schweren Atemzüge. War da ein Luftzug? Vielleicht von einer geöffneten Tür? Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Sie schauderte, und ohne etwas dagegen tun zu können, fing sie mit einem Mal heftig zu zittern an. Für einen Moment war es, als verlöre sie die Kontrolle über ihren Körper. Sie dachte an die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte und die jetzt wie fortgepustet waren. Die Schuldgefühle kamen zurück, gruben sich wie ein Faustschlag in ihren Magen und machten den Hals eng.

Sie wollte sich nicht mehr schuldig fühlen. Sie wollte reden. Sie musste sich endlich erklären. Noch einmal atmete sie tief durch, dann lief sie entschlossen auf das Licht zu.

Elly musste die Augen zusammenkneifen, als sie aus dem Dunklen ins Helle trat. Sie blickte sich um, konnte Tonja jedoch nirgends sehen. Aber dass sie da war, dessen war sie sich gewiss. Sie spürte es einfach. Es gab da diese Verbindung zwischen ihnen, immer noch.

Freundinnen.

»Tonja?«

»Elly.«

Tonjas Antwort kam mit leichter Verzögerung. Elly versuchte, dem keine Bedeutung beizumessen. Sie schaute sich nochmals um, während sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnten. Tonja stand vorn, direkt vor der Leinwand, eine schlanke, große Frau mit Pagenkopf, in langen schwarzen Hosen und einem weißen Männerhemd. Sie nahm gerade einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, und Elly fiel auf, dass sie den Tabakgeruch schon vorher wahrgenommen hatte, ohne ihn einordnen zu können.

Sie suchte nach Worten.

»Du siehst gut aus«, sagte sie dann. Es klang falsch. Tonja schwieg. »Weißt du noch, damals, als …?«, fuhr Elly zögernd fort, und ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Tonja würde sich doch auch an die alten Zeiten erinnern. Das musste sie einfach.

»Früher sind wir glücklich gewesen.«

Tonja antwortete immer noch nicht. Elly nahm allen Mut zusammen. Sie würde davon sprechen, was sie geteilt hatten: die guten Momente, die gemeinsamen Erlebnisse, die sie zusammengeschweißt hatten, das Vertrauen, das zwischen ihnen gewesen war. Das konnte unmöglich alles verloren sein.

»Weißt du noch, als wir einander in diesem Saal zum ersten Mal begegnet sind? Du hast dich versteckt, und ich …«

»Das ist lange her«, fiel Tonja ihr harsch ins Wort. »Die Dinge haben sich geändert.«

Die Dinge haben sich geändert, wiederholte Elly bei sich. Aber was hatte sich geändert? Sie wollte nicht, dass sich etwas ändert, jedenfalls nicht zwischen ihnen beiden. Alles sollte so bleiben, wie es immer gewesen war.

Sie suchte noch nach den richtigen Worten. Irgendwo knackte etwas. War da außer ihnen noch jemand im Raum? Nein, ausgeschlossen. Es war das Haus, das arbeitete, die Balken, die Rohre und Leitungen, hier ein Knarren, dort ein Surren, wie ein lebender Organismus eben. Aber hatte sich da nicht doch etwas bewegt? Elly drehte den Kopf zur Seite.

Nichts.

Ich sehe Gespenster, sagte sie sich und wandte sich wieder Tonja zu. Doch während sie Tonjas herausforderndem Blick standzuhalten versuchte, war er plötzlich da. Für einen Augenblick kam es ihr so vor, als sähe sie ihn den Mittelgang herunterkommen, die vertrauten Bewegungen, die Art, wie er den Kopf leicht schräg legte, sein einnehmendes Grinsen … Sie schluckte.

»Tonja, ich … Ich würde alles darum geben, wenn …«

»Wenn was?« Tonjas Lippen formten sich zu einem höhnischen Lächeln. Achtlos schnippte sie die Zigarettenasche zu Boden. Elly war verunsichert.

»Ich weiß nicht.«

Doch, sie wusste es. Sie würde alles darum geben, wenn sie rückgängig machen könnte, was passiert war. Wenn diese Entscheidung nie gefallen wäre. Wenn alles wäre wie früher.

»Tonja, ich …«

Wieder ein Knarren.

»Soll das alles sein? Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Tonja, bitte…«

Elly musste sich zusammenreißen. Warum waren sie beide hier? Schließlich hatte Tonja sie herbestellt. Sie starrte gegen den schweren roten Samtvorhang, der die Leinwand verbarg, als könnte er sich jeden Augenblick öffnen, aber die erste Vorführung war später angesetzt. Wie durch einen dicken Nebel hörte sie das Orchester spielen, das es hier seit Jahren nicht mehr gab. Sie sah zwei Mädchen vor sich, gerade mal elf Jahre alt, die mit dicken Karamellen im Mund in den Kinosesseln versanken und gebannt nach vorn starrten. Dieser Saal hier war so etwas wie Heimat gewesen, aber es fühlte sich nicht mehr so an.

»Was war noch mal der erste Film, den wir gemeinsam gesehen haben?«

»Der ›Dieb von Bagdad‹. Mit Douglas Fairbanks.«

Elly wunderte sich, dass Tonja das noch wusste. Angeblich hielt sie doch nichts von gemeinsamen Erinnerungen.

»Ja, mit Douglas Fairbanks. Weißt du noch, wie der Rauch aus der Pfeife nach oben stieg und sich daraus der Satz bildete … ›Man muss sich sein Glück verdienen‹, oder so etwas.«

»Warum bist du hier, Elly?«

»Weil du mir den Brief geschrieben hast.«

»Wirklich?«

Tonja verschränkte die Arme. In ihren Augen blitzte jetzt ein wehmütiges Lächeln auf, und Elly glaubte, etwas von der alten Tonja darin zu erkennen. Ihr Herz schlug schneller.

»Ich hatte viel Zeit nachzudenken«, fuhr Tonja fort.

»Das ist gut.«

»Findest du?«

»Na ja, ich finde, also … nichts sollte vergessen werden«, stotterte Elly.

»Hm.« Tonja nickte langsam. »Warum hast du es getan?«, fragte sie dann brüsk.

Elly schluckte. »Warum habe ich was getan?« Ihre Stimme klang unsicher.

Tonja sah sie scharf an.

»Ich will wissen, warum du ihn umgebracht hast!«

1

FRANKFURT AM MAIN, DEZEMBER 1918

»Und, kommst du jetzt runter?«

Der Junge am Fuß des Baumes grinste sie an. Die sechsjährige Elly zog die Beine höher und umklammerte den Ast, an dem sie sich festhielt, noch stärker, als fürchte sie, dieser fremde Bursche wolle sie zu sich herunterziehen.

»Deine Mutter hat mich gebeten, dich zu holen. Wir wollen Kuchen essen. Schwarzwälder Kirsch, die magst du doch auch, oder?«

Elly presste die Lippen zusammen. Sie sprach nicht mit Fremden.

Sie sprach selbst mit ihren Eltern selten, die deshalb mit ihr beim Arzt gewesen waren. Aber der hatte nichts finden können. Mit ihren Ohren war alles in Ordnung. Sie hörte sehr gut. Dumm war sie auch nicht. Irgendwann würde sie schon anfangen zu reden, hatte der gemeint.

Der Junge kniff die Augen zusammen, während er ins helle Licht zu ihr nach oben sah. Corbin hieß der Fremde. Er war der Sohn eines von Papas Geschäftspartnern und schon dreizehn.

Was will er von mir? Elly sah, wie Corbin die Arme verschränkte. Sein Ausdruck verdüsterte sich.

»Verstehe schon, ich mag’s auch nicht, wenn mich meine Mutter ruft. Immer soll man machen, was sie sagen. Das ist blöd.«

Er machte ein paar Schritte weg vom Baum, und Elly dachte schon, er werde sie endlich in Ruhe lassen, da drehte er sich um und setzte sich einfach auf den Boden. Elly atmete scharf ein. Es war Dezember, und der Boden frostkalt. Sie starrte ihn an. Er sollte wieder aufstehen. Er würde sich noch den Tod holen. Das sagte Mama jedenfalls immer zu ihr, wenn sie sich zu dieser Jahreszeit im Garten herumtrieb oder gar irgendwo hinkauerte.

Corbin grinste sie wissend an.

»Wenn du dich jetzt fragst, ob ich hier sitzen bleibe … Ja, das werde ich. Ich habe schließlich versprochen, dass ich dich nach drinnen bringe, und was ich verspreche, das halte ich auch … oder ich komme eben nicht zurück.«

Elly schwieg immer noch. Sie wollte nicht, dass der Junge fror. Da war etwas an ihm, das ihr gefiel.

»Ah, entschuldige übrigens. Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Ich bin Corbin Harloff.«

Das weiß ich, dachte sie.

Er deutete eine Verbeugung an. Im Sitzen sah das etwas lächerlich aus. Machte er sich über sie lustig? Ellys Lippen wurden wieder schmaler. Corbin verschränkte die Beine im Schneidersitz und warf einen kurzen Blick ringsum.

»Magst du es auch, wenn die Gräser so silbrig überzogen sind?«, wechselte er zu ihrer Überraschung das Thema.« So muss es im Garten einer Eiskönigin aussehen, oder?«

Elly lockerte den Griff um den Ast ein wenig, denn es schmerzte allmählich, sich so festzuklammern. Außerdem ging von dem Jungen offenbar keine Gefahr aus. Und es war kalt, sowohl hier oben als auch da unten.

»Brrrr.« Corbin schlang die Arme um den Körper, als hätte er in diesem Moment die gleichen Gedanken. »Du machst es einem aber wirklich nicht leicht. Also, wie wäre es, wenn wir jetzt doch nach drinnen gehen? Dann kann ich mein Versprechen halten, und wir essen gemeinsam ein bisschen Kuchen. Das ist doch keine schlechte Idee, finde ich.«

Elly runzelte die Stirn. Ich mag ihn, fuhr es ihr durch den Kopf, ich mag seine Stimme. Sie mochte es auch, wie er dasaß und fror, nur damit sie mit ihm ins Haus kam. Es war seltsam, aber sie dachte, dass sie ihn gern zum Freund hätte.

Dann bin ich weniger allein.

Elly überlegte noch einen Moment und ließ dann ihre Beine nach unten baumeln. Kurzentschlossen drehte sie sich auf den Bauch und hangelte sich nach unten. Als sie auf dem Boden landete, stand er bereits neben ihr.

»Du kletterst gut.«

Elly schaute Corbin tief in die dunklen Augen, dann streckte sie ihm ihre kleine Hand hin. Er ergriff sie, ohne zu zögern.

Verwundert beobachtete Alice Kramer durch das Fenster, wie Corbin Harloff und ihre Tochter Elly über den Rasen auf das Haus zukamen. Zwar war Amelia Harloff überzeugt gewesen, dass es ihrem Sohn gelingen werde, Elly nach drinnen zu bringen, doch Alice selbst hatte stark daran gezweifelt. Elly war ein schwieriges Kind, das war sie schon immer gewesen; ein besonderes Kind, das sich am liebsten in seiner Fantasiewelt bewegte. Sie war eigen, hatte spät zu sprechen begonnen, war überempfindlich.

Manchmal kam es Alice vor, als ob sie eigentlich keine anderen Menschen mochte. Umso erstaunter war sie, als sie sah, dass Elly ihre rechte in die linke Hand des Jungen gelegt hatte. Sie sprachen zwar nicht miteinander, aber in der Haltung lag etwas Vertrautes, das Alice schon lange nicht mehr an ihrer Tochter wahrgenommen hatte.

»Habe ich es nicht gesagt?«, war Amelia zufrieden zu vernehmen.

Alice zuckte zusammen.

»Oh, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ach, ich war in Gedanken. Entschuldige, Amelia.«

Die beiden Frauen wechselten einen verstehenden Blick. Sie standen sich sehr nahe, waren schon seit Schulzeiten miteinander befreundet.

Die Männer kamen aus dem Arbeitszimmer, in das sie sich kurz nach der Begrüßung zurückgezogen hatten, um Geschäftliches zu besprechen.

»Jetzt könnte ich einen Kaffee vertragen«, sagte Toni Kramer, und Richard Harloff fügte hinzu: »Und zu einem Stück Kuchen würde ich auch nicht Nein sagen. Wo sind eigentlich die Kinder?«

Alice lächelte.

»Ja, ja, der Tisch ist schon gedeckt. Setzt euch doch. Die Kinder kommen gerade.«

»Und, habt ihr alle offenen Fragen klären können?«, erkundigte sich Amelia.

»In der Tat, in der Tat«, brummte Richard. »Unserem neuen Lichtspieltheater steht nichts mehr im Wege.«

»Ist euer Projekt jetzt wirklich spruchreif?«

Alice schaute ihren Mann über den Spiegel an, während sie mit langsamen Bewegungen ihr langes hellbraunes Haar kämmte.

»Oh ja, glaub mir, das wird eine ganz große Sache. Der Erfolg wird Harloff & Kramer treu bleiben, das ist schon einmal gewiss.«

Toni, ihr Mann, der eigentlich Anton hieß, kam näher, beugte sich über sie und küsste zart den Nacken seiner Frau. Alice hielt inne und betrachtete ihn nachdenklich über den Spiegel.

Er sah zufrieden aus, zufrieden über das, was er erreicht hatte. Und er schien sich auf das zu freuen, was vor ihm lag. Gewiss verschwendete er keinen Gedanken daran, dass ihre Elly, so vermutete Alice zuweilen, auch deshalb in der Schule ihren Platz nicht fand, weil ihr eigentlich kriegstauglicher Vater damals vom Kriegsdienst freigestellt worden war. Nur, weil man Tonis und Richards Tätigkeit als Hersteller von Uniformen für kriegswichtig erachtet hatte, war ihre Familie von so viel Elend verschont geblieben. Auch deshalb würde Elly wahrscheinlich niemals verstehen können, welches Leid den anderen in dieser Zeit widerfahren war. Sie wusste nichts von Vätern oder Brüdern, die auf dem Schlachtfeld geblieben waren.

Toni allerdings dafür zu verurteilen war falsch und albern, das wusste Alice auch, doch manchmal konnte sie sich einfach nicht von diesem Stachel freimachen.

»Corbin und Elly scheinen sich gut zu verstehen«, sagte Toni aus heiterem Himmel. Es erstaunte Alice, dass ihm das aufgefallen war.

»Ja, das tun sie. Sie hat ihn sogar mit in ihr Zimmer genommen.«

»Er ist ein guter Junge.«

»Ich weiß.«

Alice unterdrückte einen Seufzer. Sie wollte so sehr darauf vertrauen, dass sich in Ellys Leben etwas zum Guten wandte, aber sie konnte ihre Vorbehalte nicht abschütteln.

2

FRANKFURT AM MAIN, 1919

Zweifelsohne war es ungehörig zu lauschen. Eine junge Dame tat so etwas nicht, doch als die siebenjährige Elly die sich nähernden Stimmen gehört hatte, war sie einfach kurzerhand in den Unterschrank gekrochen, der seit einigen Wochen leer stand, und hatte die Schranktür so gut es ging hinter sich zugezogen.

Sie wollte endlich wissen, was los war. In den letzten Tagen hatten die Erwachsenen viel zu besprechen gehabt, und ihr war aufgefallen, dass sich ihre Stimmen senkten, wenn sie in der Nähe war. Und dann dieser besorgte Blick ihrer Mutter. Elly war ein aufmerksames Kind, dem so etwas nicht entging, und sie war fest entschlossen, sich nicht länger hinhalten zu lassen.

Durch einen schmalen Schlitz fiel noch etwas Licht zu ihr in den Schrank, aber sehen konnte sie nichts mehr. Dafür hörte sie umso besser und wünschte sich doch schon im nächsten Moment, sie wäre nicht hier, denn bereits nach wenigen Worten wusste sie, was die Stunde geschlagen hatte.

»Diese neue demokratische Beliebigkeit, der Sieg des Pöbels über Recht und Ordnung … Alice, ich kann meinen Jungen einfach nicht in solch einem Land aufwachsen lassen«, sagte Amelia Harloff mit schwerer Stimme. »Jeder sollte seinen Platz kennen. In Deutschland kennt ihn keiner mehr.«

Eine der Frauen stand jetzt auf.

Mama.

Elly erkannte den Rhythmus ihrer Schritte, denn eins ihrer Beine war ein winziges Stück kürzer als das andere. Porzellan klirrte.

»Tee?«

»Gerne, Alice.«

»Wann werdet ihr Deutschland verlassen?«

Mamas Stimme klang ruhig, aber Elly hörte das leise Beben darin. Ihre Mutter machte sich Sorgen.

»Im nächsten Monat. Wir werden fürs Erste bei Verwandten von Richard unterschlüpfen. Corbin wird ab dem nächsten Semester ein englisches Internat besuchen.«

»So bald schon?«

Jemand stellte eine Tasse zurück auf den Tisch.

»Worauf sollen wir noch warten?«

Alice seufzte. »Vielleicht hast du recht.«

»Natürlich habe ich recht.«

»Hm.«

Die Teetassen klirrten. Die Frauen tranken. Jemand nahm Zucker und rührte um. Es wurde geredet, aber Elly war wie gelähmt. Sie war nicht mehr in der Lage, dem Gespräch der Frauen zu folgen, denn ihre eigenen Gedanken rasten wie Nadelstiche durch ihren Kopf und über den ganzen Körper: Die Harloffs würden nach England übersiedeln, und sie würde Corbin, ihren einzigen Freund, verlieren. Sie war wieder allein.

Es klopfte. Elly starrte gegen die Zimmertür und schwieg. Eine Stunde war es her, dass sie aus ihrem Versteck geplumpst war und ihre schmerzenden Glieder massiert hatte, bevor sie sich so rasch wie möglich in ihr Zimmer verzogen hatte. Jetzt stand Corbin vor der Tür. Sie kannte seine Art zu klopfen.

Auf dem Bett sitzend zog Elly ihre Beine enger an ihren immer noch schmerzenden Körper und umklammerte die Knie so gut es eben ging.

»Elly? Ich weiß, dass du da drin bist. Darf ich reinkommen?«

Elly drückte die Fingernägel ihrer rechten Hand in die Handfläche der linken, setzte einen Schmerz gegen den anderen und schwieg weiter. Corbin wartete noch einen Moment, dann öffnete er die Tür vorsichtig und steckte den Kopf durch den Spalt.

»Darf ich?«, wiederholte er.

Elly sagte immer noch nichts und gab ihm auch sonst kein Zeichen. Corbin zögerte, dann gab er sich einen Ruck und trat ein.

»Ich muss mit dir reden«, sagte er.

Elly wich seinem Blick aus. Sie hörte, wie er näher kam. Dann schaute sie ihn doch an. Corbin seufzte.

»Du weißt es.«

»Natürlich weiß ich es. Ich bin nicht dumm.«

»Nein, gewiss nicht.«

Er fragte sie nicht, wie sie es erfahren hatte. Für einen Augenblick war es still im Zimmer.

»Es tut mir leid«, sagte er dann.

»Mir auch.«

Elly lauschte dem Schmerz in ihrer Stimme nach, und sie dachte, dass ihr das erspart geblieben wäre, wenn sie damals nicht beschlossen hätte, von diesem Baum zu klettern. Wie oft war es einfach falsch, Dinge zu tun.

Sie hörte, wie sich Corbin räusperte.

»Wir könnten uns doch schreiben, weißt du. Und im Sommer können wir einander besuchen.«

»Ich will nicht, dass du mich besuchst.«

»Das ist hart.« Er schaute sie traurig an, aber er nahm sie ernst. Nie wieder würde sie jemand so ernst nehmen, da war Elly sich sicher.

3

Frankfurt am Main, Oktober 1923

Gegen Mittag stand Toni Kramer vor den prächtigen Flügeltüren des Lichtspieltheaters Odeon und betrachtete das Treiben auf der Straße vor dem Gebäude. Er nickte den Passanten freundlich zu, die stehen geblieben waren, um die Aushänge in den Glaskästen zu studieren. Hin und wieder öffnete der Portier jemandem die Tür zu dem mit weichem rotem Teppichboden ausgelegten Eingangsbereich. Von dort waren es nur noch vier Stufen hinauf bis zum Kassenhäuschen, wo ein hübsches Mädchen saß, das die Eintrittskarten verkaufte.

Toni achtete darauf, dass sein Personal stets gut gekleidet war und vertrauenswürdig aussah. Die Traumwelt des Films sollte sich bis ins Foyer und vor das Lichtspielhaus fortsetzen; er wollte, dass sich die Menschen wohlfühlten, wenn sie hier eintraten und wenn sie aus der Vorführung kamen. Auch sonst dachte er sich stets etwas Neues aus: In dieser Woche verschenkte das Odeon bunte Bildchen an seine Besucher. Es hatte auch schon Bonbons und Stifte als Zugabe zu den Karten gegeben, und im letzten Jahr war ein Malwettbewerb veranstaltet worden. So hielt man sich im Gespräch.

Toni verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stellte sich etwas breitbeiniger hin. Frau Schell, einen Einkaufsbeutel über dem Arm, blieb vor dem Aushang stehen. Sie grüßten einander respektvoll. Meta Schell ging mit seiner Tochter in eine Klasse. Tonis Gedanken gingen zum Treffen der Kinobesitzer, das am Ende der Woche anstand.

Kürzlich hatte es einen kleinen Schlagabtausch über den Film als Kunstform und den Film als (minderwertige) Unterhaltung gegeben, der ihn verstimmt hatte. Was war denn falsch daran, wenn die Leute sich im Kino amüsierten? Ihn freute es jedenfalls, wenn die Besucher des Odeon sich gut unterhalten fühlten.

»Herr Kramer!«, rief eine vertraute Stimme.

Franz Cohn, seit Weihnachten der vierte Kinomusiker des Quartetts, bog gemeinsam mit seinem Vater Herbert in die Seitengasse ein, in der sich der Nebeneingang befand. Toni nickte ihnen zu, nahm dann sein Taschentuch zur Hand und rieb einen Fleck von einer der großen Glastüren. Die großen Messinggriffe, die an stilisierte Flügel gemahnten, waren nicht billig gewesen, aber sie waren ihr Geld wert. Sie machten etwas her, sie zu kaufen war also eine gute Entscheidung gewesen.

Toni trat einen Schritt zurück und überprüfte sein Werk. Alles sauber.

Ein Pärchen hatte die Aushänge studiert und verschwand jetzt im Foyer. Toni verschränkte die Arme hinter dem Rücken und drückte die Brust heraus. Er war stolz auf sich. Seinerzeit hatte er ein Vermögen mit Uniformen und Zubehör verdient. Dass er einmal ein Kino besitzen würde, hätte er sich nicht im Traum vorstellen können, aber er hatte sich dem Neuen auch nie verweigert, und als Richard Harloff, sein guter Freund und Geschäftspartner aus Kriegszeiten, sein stiller Teilhaber, ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, war er sofort begeistert gewesen. Er hatte die Uniformen ohnehin hinter sich lassen wollen, und die Bekleidungsindustrie an sich interessierte ihn nicht im Mindesten.

Im nächsten Moment spürte er, dass jemand hinter ihm stand.

»Papa!«

Toni drehte sich um, nahm einen Lutscher aus der Tasche.

»Elly, meine Prinzessin.« Mit einem Griff seiner starken Arme hob er sie in die Höhe, ohne darauf zu achten, ob sein guter Dreiteiler in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss. »Geht es dir gut?«

»Jetzt schon.« Elly lächelte. Die Elfjährige hasste es, in die Schule zu gehen, auch wenn ihr der Stoff keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Am liebsten war sie im Odeon, und nach Möglichkeit schaute sie jeden der Filme, die hier im Wechsel der verschiedenen Wochentage gezeigt wurden. Ihr Vater hatte es sich zwar zur Aufgabe gemacht, jeden Film persönlich zu prüfen, bevor er seiner Tochter erlaubte, ihn anzuschauen, doch zuweilen hatte er die Vermutung, dass Elly sich heimlich in Vorführungen schlich.

An Wochenenden besuchte die Familie Kramer manchmal gemeinsam einen der Märchenfilme, aber Mutter Alice konnte dem Ganzen nicht viel abgewinnen und ging lieber ins Theater.

Elly dagegen war Feuer und Flamme. Sie tauschte sich gerne mit ihrem Vater über die Filme aus, besprach mit ihm, welche Streifen als Nächstes gezeigt werden sollten, hörte zu, wenn die Kinomusiker probten. Sie liebte es auch, sich im Technikraum herumzudrücken und den Vorführern bei der Arbeit zuzusehen. Sie konnte inzwischen sogar schon ganz allein einen Film einlegen.

»Hunger, Prinzessin?«Toni schaute sie prüfend an.

Sie nickte. Er schickte einen der Laufburschen Erbsensuppe und Würstchen aus einem nahe gelegenen Lokal holen, die sie gemeinsam in seinem Büro verspeisen würden. Ellys Mutter gefiel das ganz und gar nicht. Gegessen werden sollte zu Hause am stilvoll gedeckten Tisch. Aber Toni und Elly genossen ihre »heimlichen« Imbisse.

Wenn seine Tochter das Odeon später einmal übernehmen würde – und daran hatte Toni Kramer keinen Zweifel –, dann wäre sie auch Tag und Nacht vor Ort.

Ach, ich sollte nicht zu weit in die Zukunft blicken.

Alice hatte ganz andere Pläne für die gemeinsame Tochter. Sie wollte sie gut verheiraten und sah deren späteren Gatten als künftigen Geschäftsführer des Odeon. Aber was wusste Alice schon vom Kino. Sie teilte die Leidenschaft ihres Mannes und ihrer Tochter nicht. Alice war keine Träumerin. Alice war besorgt – und das den ganzen Tag lang.

4

FRANKFURT AM MAIN, 2013

Dieser Märztag fühlte sich wie der erste Frühlingstag nach einem viel zu langen, grauen Winter an. Fast ein Jahr war es jetzt her, dass die sechsundzwanzigjährige Carina ihr Studium mit Bravour abgeschlossen hatte. Und was hatte es ihr gebracht? Ihre dreimonatige Anstellung bei einem Projekt war nicht verlängert worden. An den Wochenenden kellnerte sie immer noch in dem kleinen Café, in dem sie schon während des Studiums gejobbt hatte, gab Nachhilfe und half in der Fachbereichsbibliothek aus. Irgendwie hatte Carina sich ihr Leben nach dem Studium anders vorgestellt: Sie war es gewohnt, für harte Arbeit belohnt zu werden, aber das wahre Leben belohnte einen nicht.

Sie müsse forscher sein, hatte Jan gesagt. Seit dem ersten Semester waren sie zusammen, damals, als es ausgesehen hatte, als läge ihnen, den beiden exzellenten Studenten, die Welt zu Füßen. Manchmal fühlte sie sich unverstanden, wenn er so etwas sagte, doch sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Womöglich hatte er ja recht.

Carina seufzte. Trotzdem, das letzte Jahr war wirklich nicht einfach gewesen. Zuerst hatten sich ihre Eltern getrennt, und Carina hatte trotz aller vorausgehenden Warnzeichen stärker darunter gelitten, als ihr erwachsenes Ich das wahrhaben wollte. Sie hatte in dieser Zeit auch häufig über Jan und sich nachgedacht. Ergebnislos. Er war ihr Partner. Sie mochte ihn. Sie vermisste ihn, wenn er nicht da war. Sie galten immer noch als das Traumpaar schlechthin, aber was machte ihre Beziehung eigentlich aus?

»Wo willst du in fünf Jahren sein?«, hatte sie ihn einmal gefragt. »So beziehungstechnisch, meine ich.«

Er hatte sie irritiert angesehen und dann gelacht.

»Ach komm, das fragst du jetzt nur, weil das mit deinen Eltern passiert ist. Und du bist neidisch, weil ich eine Doktorandenstelle bekommen habe und du nicht.«

Vielleicht hatte er recht. Vielleicht lag es daran. Vielleicht lag es auch daran, dass er sich auf Molekularbiologie spezialisiert hatte und nicht auf Geschichte, was eh niemand brauchte.

Carinas Blick verlor sich in der Ferne.

Ich sollte jetzt aussteigen. Schließlich habe ich einen Termin.

Die Anzeige war ihr Anfang dieser Woche bei der morgendlichen Zeitungslektüre aufgefallen. Soweit sie dem Text entnehmen konnte, ging es um eine Festschrift zu einem Firmenjubiläum. Es wurde eine gute Bezahlung in Aussicht gestellt. Ganz entgegen ihrem eigentlichen Naturell hatte Carina sofort angerufen und aufgeregt nach Worten gesucht, während sie dem Freizeichen lauschte, um dann erschrocken aufzulegen, als sich der Anrufbeantworter meldete. Eine junge Frauenstimme. Sie war überrascht gewesen, konnte aber auch nicht sagen, was sie eigentlich erwartet hatte. An diesem Tag hatte sie nicht mehr angerufen. Am nächsten Tag hatte sie keinen Erfolg gehabt. Erst am dritten Tag erreichte sie endlich jemanden. Sie stotterte dermaßen, dass sie überzeugt war, man werde sie noch am Telefon abwimmeln, wenn der Job nicht ohnehin längst vergeben war. Doch die junge Frauenstimme – dieselbe, die sie auf dem Anrufbeantworter gehört hatte – klang tatsächlich erfreut. Sie stellte sich als Alea Kramer vor und sagte, dass sie Carina gern zu einem Gespräch treffen würde. Bisher habe man noch niemand geeigneten gefunden. Sie tauschten Adressen und Telefonnummern und machten einen Termin für den nächsten Tag aus. Erst gegen Ende des kurzen Gesprächs hatte die Frau plötzlich gesagt: »Es muss passen, wissen Sie? Ich kann Ihnen die Stelle jetzt noch nicht versprechen.«

»Natürlich«, hatte Carina unsicher geantwortet. »Das ist doch selbstverständlich.«

Und hier bin ich nun. Carina warf einen Blick auf das Display ihres Navis. Sie haben ihr Ziel erreicht.

Als sie die Autotür öffnete, sog sie die milde Frühlingsluft tief in ihre Lungen. Wie herrlich, dass man nicht mehr sofort fröstelte, wenn man ohne Winterjacke unterwegs war. Mit einem leisen Klick schloss Carina die Autotür, warf noch einmal einen prüfenden Blick auf die Handbremse und hängte sich dann ihre Tasche über die Schulter.

Sie musste unwillkürlich an das Freibad denken, in dem sie im letzten Sommer so oft ihre Bahnen gezogen hatte – ohne Jan, denn der hasste öffentliche Bäder. Carina dagegen schwamm wirklich gern, und die Erinnerung ließ ihr den spezifischen Geruch in die Nase steigen: Chlor, Wasser, das auf Steinen trocknete, Pommes mit Mayo und Ketchup, Eis am Stiel.

Passen wir noch zusammen? Sind wir noch glücklich?

Carina nahm sich vor, abends nach den Öffnungszeiten des Hallenbades zu googeln. Etwas Bewegung würde ihr definitiv guttun.

Sie ging ein paar Schritte, der Riemen ihrer Tasche rutschte von der Schulter, worauf sie ihn kurz entschlossen über den Kopf zog, sodass er quer über ihrer Brust zu liegen kam.

Die nächste Hausnummer war die 16. Die Grundstücke waren hier deutlich größer, die Straßen breiter, und nur wenige Autos parkten draußen. Offensichtlich hatte sie ihr Auto viel zu früh abgestellt. Das da hinten musste aber jetzt die Nummer 18 sein. Zwischen altem Baumbewuchs lugte eine weiße Jugendstilvilla hervor. Das Anwesen war umgeben von einem alten schmiedeeisernen Zaun, dem man ein sehr modernes Tor verpasst hatte, an dem Carina weder eine Klinke noch eine Klingel ausmachen konnte. Sie ging ein paar Schritte weiter und spähte durch den Zaun. Ein bekiester Fahrweg führte in einer leichten Kurve auf das Haus zu.

Ratlos stand sie da. Wie sollte sie nur auf sich aufmerksam machen? Irgendwo musste es doch eine Klingel geben, aber sie konnte einfach keine entdecken. Carina ging noch ein Stück am Zaun entlang und erhaschte dabei immer neue Blicke auf die Villa. An einem Türmchen prangte in goldenen Ziffern das Erbauungsjahr: 1900. Dann war sie am Ende des Zauns angelangt. Zwischen den Grundstücken 18 und 20 führte ein schmaler, sandiger Weg von der Straße weg. Carina bog kurz entschlossen ab. Vielleicht würde sie ja hier irgendwo einen Zugang finden.

Eine hohe Buchsbaumhecke nahm ihr für einige Meter die Sicht. Die hat offenbar auch länger keinen Gärtner mehr gesehen, dachte sie. Auf dem engen Pfad war es düster und deutlich kühler als auf der frühlingssonnenbeschienenen Straße. Carina beschleunigte ihre Schritte. Und da war sie plötzlich: die Tür. Wie aus dem Nichts tauchte sie in dem Zaun auf, so schmal, dass Carina sie fast übersehen hätte. Sie drückte die Klinke herunter und stellte überrascht fest, dass sie sich öffnete.

Sollte sie sich einfach Zutritt verschaffen? Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie schob die Tür auf. Ein durchdringendes Quietschen ließ sie zusammenzucken, und doch zögerte sie nicht. Nur ganz kurz fragte sie sich, was sie wohl tun würde, wenn die Besitzer des Anwesens Hunde hielten.

Vorsichtig tastete sie sich voran. Entlang des Zaunes war der Pflanzenbewuchs dicht. Je weiter sie kam, desto gepflegter wurde der Garten: englischer Rasen, ein paar schöne alte Obstbäume und jede Menge Ziersträucher. Schließlich erreichte sie einen weiß bekiesten Weg, der schnurstracks auf die Rückseite des Hauses zuführte, wo sich eine überdachte, einst weiß gestrichene Holzveranda befand, an der vielerorts die Farbe abblätterte. Auch hier war alles verlassen und verriegelt. Fast wirkte es, als wäre das Haus unbewohnt, aber das konnte nicht sein. Man hatte ihr ganz sicher diese Adresse genannt.

Carina ging um die Villa herum. Nichts. Verdammt, das konnte ja wohl nicht wahr sein. Sie schaute an dem Haus hoch. Die Fenster waren geschlossen und wirkten dunkel. Sie horchte. War da nicht das Plätschern von Wasser zu hören? Sie konzentrierte sich. Ein Gartenschlauch, oder eher ein Springbrunnen? In diesem Ambiente wäre ein Springbrunnen gut vorstellbar. Sollte sie dem plätschernden Geräusch folgen? Oder doch lautstark an die nächstbeste Tür klopfen?

Carina drehte sich unschlüssig wieder zum Haus hin. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Mit einem Mal wirkte die eben noch so prächtige Villa abweisend, eine trutzige Fassade mit Fenstern wie leere Augenlöcher in einem Horrorfilm. Sie nahm plötzlich eine Bewegung hinter einem der Fenster wahr. Eine schmale, sehr alte Frau stand da und beobachtete sie. Carina kniff die Augen zusammen.

Nein, sie hatte sich geirrt. Da war doch niemand.

Sie schauderte.

Sei nicht albern und sieh zu, dass du jemanden findest, ermahnte sie sich dann. Mach auf dich aufmerksam.

Sie atmete tief durch und schlug dann den schmalen Weg ein, der in die Richtung führte, aus der das Plätschern kam. Hinter ein paar dichten Büschen endete er, und vor ihr lag eine große Rasenfläche, in deren Mitte sich zu ihrer Überraschung ein lang gezogenes Schwimmbecken befand.

Ein Swimmingpool.

Damit habe ich nun wirklich gar nicht gerechnet. Carina blieb stehen und starrte den Mann an, der dort konzentriert seine Bahnen zog. Bei aller Liebe, war es nicht doch noch etwas kühl, um im Freien zu baden? Dem Fremden schien das jedenfalls nichts auszumachen. Prustend durchpflügte er mit kräftigen Armschlägen das Wasser. Carina konnte sich nicht von seinem Anblick lösen und überlegte fieberhaft, wie sie auf sich aufmerksam machen sollte, ohne dass es peinlich wurde. Die Vorstellung, gleich einem fremden Mann in Badehose gegenüberzustehen, verunsicherte sie. Was würde er sagen, wenn er sie entdeckte? Sie würde sich erklären müssen.

Die Entscheidung wurde ihr im nächsten Moment abgenommen. Der Mann hatte sie offenbar bemerkt, schwang sich aus dem Wasser und kam mit schnellen, einschüchternden Schritten und einem düsteren Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zu.

»Was tun Sie hier? Das ist Privatgelände!«

Carina war überrascht, mit welch erstaunlicher Autorität man halb nackt und in tropfender Badehose auftreten konnte. Sie öffnete den Mund. Der Fremde gab ihr keine Chance zu antworten: »Also, wer sind Sie, und was machen Sie hier, aber ein bisschen dalli! Oder soll ich die Polizei rufen?«

Carina starrte die kleinen Rinnsale an, die von seinen raspelkurzen, dunklen Haaren über sein Gesicht und auf die breiten Schultern herabliefen. Seine Badehose war dunkelblau und eher schlicht. Sie spürte Röte in ihre Wangen aufsteigen.

»Ich … Frau Kramer hat mich … Ich, also, ich suche eine Frau Kramer.«

»Frau Kramer?« Die Falte zwischen seinen Augen wurde tiefer. »Welche Frau Kramer?«

»Alea Kramer. Ich bin mit ihr verabredet. Mein Name ist Carina Wahlsberg.« Sie starrten einander an. Carina schätzte den Mann auf Anfang dreißig. »Ich hatte gestern mit Frau Kramer telefoniert … Entschuldigen Sie mein Eindringen, aber ich wusste nicht, wie ich sonst …«

»Normalerweise kommt man durch den Haupteingang. Meine Schwester hat Sie also eingeladen? Sind Sie die Journalistin?«

»Ich hatte mich auf die Anzeige gemeldet.«

»Die Anzeige?« Der Gesichtsausdruck des Mannes, der sich eben etwas entspannt hatte, verhärtete sich umgehend wieder. Er sah Carina prüfend an. Dann hielt er ihr überraschend die Hand hin: »Ich bin Tom Kramer. Entschuldigen Sie, dass ich so grob war. Ich werde Sie ins Haus bringen, allerdings habe ich Alea heute noch nicht gesehen. Ich hoffe, meine liebe Schwester versetzt sie nicht. Sie ist nicht die Verlässlichste, wissen Sie. Durchaus möglich, dass unsere Prinzessin noch schläft.«

»Was erzählst du denn da für einen Unsinn!«

Carina fuhr herum und erstarrte für einen flüchtigen Moment in der Bewegung. Himmel, es hätte ein Bild von irgend so einem Werbeplakat sein können: Eine junge Frau mit glattem honigblondem Haar in einem schmal geschnittenen dunkelgrünen Strickkleid, mit schlanken, gebräunten Beinen und braunen Overknees kam freundlich lächelnd auf sie zu.

»Frau Wahlsberg?« Eine zierliche Hand streckte sich ihr entgegen. Carina schüttelte sie. Sie erkannte die Stimme vom Telefon und stellte nun erstaunt fest, dass sie sich keine Vorstellung der Person gemacht hatte, wie sie es sonst zu tun pflegte. Die junge Frau ließ ihre Hand wieder los.

»Ich bin Alea Kramer, wie Sie ja bereits wissen, und«, sie deutete auf den jungen Mann, »der Griesgram dort ist mein Bruder. Er ist übrigens der Ältere und weiß deshalb alles besser, das ist ja klar. Tom, das ist Frau Wahlsberg, die Historikerin, von der ich dir erzählt habe. Ich denke, Sie ist die geeignete Person für unser Vorhaben. Und jetzt komm schon, gib dir einen Ruck und zeig, dass unsere Eltern nicht umsonst Tausende Euros und harte deutsche Mark in deine Erziehung gesteckt haben.«

»Wir haben uns schon bekannt gemacht«, knurrte Tom, bückte sich nach einem Handtuch und fuhr sich übers Haar. Die letzten Rinnsale verschwanden.

»Wirklich?« Alea wandte sich an Carina. »Er kann so ein Stoffel sein.«

»Nein, nein, es ist alles gut …«, stotterte Carina, »schließlich bin ich es, die hier einfach eingedrungen ist. Dafür möchte ich mich noch einmal entschuldigen, Herr Kramer.«

»Ist schon in Ordnung. Herzlich willkommen, Frau Wahlsberg«, gab er in einem Tonfall zurück, dem nicht zu entnehmen war, ob der Willkommensgruß wirklich ernst gemeint war. »Meine Schwester hat uns ja immerhin bereits gestern Nacht von ihren Plänen in Kenntnis gesetzt.« Seine Wortwahl wirkte kühl. »Früher als erwartet.«

»Du hättest ja die Anzeige lesen können«, gab Alea flapsig zurück. »Das hat Frau Wahlsberg auch getan, nicht wahr?« Sie blickte Carina an. »Haben Sie leicht hergefunden?«

»Ja, nein … Es war, ehrlich gesagt, nicht ganz einfach, einen Eingang zu finden.«

»Ach je, war das Tor verschlossen? Das tut mir leid, die Handwerker haben die neue Klingelanlage noch nicht installiert, und wir kriegen so selten Besuch. Ich habe nicht daran gedacht.«

»Auch wenn du mir gestern schon ein paar Details erzählt hast. Könntest du mich jetzt bitte vollständig aufklären?« Tom wandte sich seiner Schwester zu und würdigte Carina keines Blickes mehr.

»Himmel, es geht um die Festschrift«, sagte Alea. »Wir hatten doch schon darüber geredet.«

»Wir hatten darüber geredet, und ich hatte gesagt, dass ich deine Pläne nicht billige.«

»Und ich bin anderer Meinung. Ich denke, es wird ihr und uns allen guttun. Du willst immer, dass alles so bleibt, wie es ist, Tom, aber«, Aleas Stimme klang jetzt schärfer, »so ist das Leben nicht. Das müsstest du doch am besten wissen. Die Dinge ändern sich. Ständig. Und das ist gut so.«

Ihr und uns? Wen meinte sie mit »ihr«?

Carina traute sich nicht nachzufragen. Sie war zu verunsichert und hatte Angst, etwas falsch zu machen. Sie wollte diesen Job jetzt unbedingt. Was hier gerade zwischen den Geschwistern ablief, verstand sie nicht, aber die Stimmung war durchaus explosiv.

»Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, Alea.«

»Aber du, oder was? Du würdest sie ja am liebsten von allem fernhalten.«

»Ich kenne sie eben besser als du.«

»Weil du älter bist, oder was? Das sind auch nur drei Jahre.«

»Ja, genau, drei Jahre.«

Die beiden schauten einander wütend an, keiner war bereit zurückzuweichen.

Himmel, von wem sprachen die beiden eigentlich?

»Darf ich unseren Gast jetzt vielleicht ins Haus bringen?«, sagte Alea endlich kühl. »Frau Wahlsberg hat nun wirklich lange genug gewartet.«

»Das macht doch nichts«, entgegnete Carina. »Wirklich, es macht gar nichts.« Sie war verwirrt.

Carina folgte Alea ins Haus. Wenige Minuten später stieß Tom in verwaschenen Jeans und einem blauen, langärmligen Shirt zu ihnen. Er machte sich daran, Kaffee zu kochen, während Alea ihr gestenreich erläuterte, worum es bei dem ausgeschriebenen Auftrag ging: Aleas und Toms Großvater väterlicherseits hatte Anfang des letzten Jahrhunderts ein Kino eröffnet. Im kommenden Jahr würde man das 95. Jubiläum feiern.

»Anlässlich dieses Datums haben wir uns überlegt …«

»Hast du dir überlegt«, verbesserte Tom seine Schwester aus dem Hintergrund.

Carina sah kurz zu ihm hin. Ob dieser Mensch wohl auch mal lachte? Alea schnaubte ungehalten. Über ihrer Nase zeigten sich Zornesfalten. Sie erinnerte Carina an jemanden, aber es wollte ihr einfach nicht einfallen, an wen.

»Ja, okay, es war meine Idee.« Alea wandte sich in einer knappen Bewegung Carina zu. »Und deshalb besprechen wir beide auch alles Weitere allein. Danke, Brüderchen, du kannst verschwinden.«

Tom öffnete kurz den Mund, als wollte er noch etwas sagen, dann verabschiedete er sich zu Carinas Überraschung knapp und verschwand in Richtung Garten. Carina runzelte die Stirn.

»Was hat er denn gegen das Projekt?«

»Ach«, Alea zuckte die Achseln. »Tom ist generell lieber für sich, und er mag es überhaupt nicht, wenn Privates öffentlich gemacht wird. Allerdings ist für ihn sehr vieles privat. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Eltern früher ziemlich häufig Gesellschaften gaben. Tom würde lieber irgendwo tot über dem Zaun hängen, als auf eine Party gehen und sich zeigen.« Sie deutete auf den Kaffee. »Schmeckt er? Kaffee kochen kann er nämlich. Sobald Sie ausgetrunken haben, zeige ich Ihnen das Haus. Irgendwie gehört das auch dazu, oder? Die Familie hinter allem, wissen Sie? Ja, ich denke, es ist wichtig, dass die Familie in der Festschrift vorkommt.«

Carina trank aus, lobte den Kaffee und folgte Alea dann die Treppe hinauf in den ersten Stock. Endlich fiel ihr ein, an wen die junge Frau sie erinnerte: Sie sah aus wie die Zwillingsschwester von Cara Delevigne.

Das Haus war groß, und es dauerte seine Zeit, bis Alea ihr alles gezeigt hatte. Zum Teil hatte man den Eindruck, hier wäre die Zeit stehen geblieben. Die Elektrik war uralt, das Licht schaltete man mittels Drehschalter an. Es gab sogar noch Stofftapeten. Neben der kleinen modernen Küche, die sie bereits kennengelernt hatte, gab es noch eine ältere mit einem riesigen gusseisernen Herd und einer Spüle, deren Boiler mit Holz befeuert wurde. Das Ganze wirkte wie eine Kulisse für einen Historienfilm. Die Badewanne in einem der Zimmer hatte Löwenfüße.

»Frau Wahlsberg …« Aleas Stimme klang eindringlich, als sie Carina jetzt ansprach. Seit sie hier im oberen Flur vor den Aufnahmen der Familie Kramer standen, rasten die Gedanken in Carinas Kopf hin und her. Sollte sie sich Bedenkzeit auserbitten? Was sprach für diese Arbeit, was dagegen? Sie wollte diesen Job. Ganz pragmatisch betrachtet brauchte sie ihn natürlich auch. Ihre Ersparnisse waren nahezu aufgebraucht, der Dispo ständig ausgereizt, und mit den Nebenjobs kam man nicht weit. Natürlich gab es Jan, der ihr aushalf, aber sie wollte sich nicht ständig vor ihm rechtfertigen müssen. Aber würde sie überhaupt vernünftig arbeiten können, wenn Tom Kramer gegen die ganze Sache war? Was, wenn er ihr Steine in den Weg legte?

Alea Kramer entging ihre Nachdenklichkeit nicht.

»Frau Wahlsberg«, wiederholte sie sehr sanft.

Die beiden jungen Frauen sahen einander in die Augen. Carina fragte sich, ob sie wohl gleich alt waren.

»Sie haben sicher mitbekommen«, Alea lächelte zaghaft, »dass Tom und ich über jemanden gesprochen haben?«

Carina nickte.

»Es handelt sich dabei um unsere Tante, Elly Kramer. Sie ist die Letzte, die das Odeon noch aus der Anfangszeit kennt, zumindest die Letzte, von der ich weiß, und wenn Sie über unser Odeon schreiben, dann würde ich mir wünschen, dass Sie sie einbeziehen. Sie ist eine Zeitzeugin. Kommen Sie gut mit Menschen zurecht? Es wird vielleicht nicht ganz leicht mit ihr.«

»Äh, ich denke schon.«

»Ich bin nämlich der Meinung, es würde Elly guttun, über früher zu sprechen, auch wenn Tom das anders sieht.« Alea seufzte. »Es gibt allerdings ein Problem. Tante Elly ist keine besonders zugängliche Person.«

Carina schaute wieder die Aufnahmen an der Wand vor ihr an. Es gab moderne Fotos, offenbar von Alea und Tom und ihren Eltern, und alte Aufnahmen, auf denen die Dargestellten ernst (die Frauen) und gewichtig (die Männer) in die Kamera schauten.

»Wer von den Damen ist denn Ihre Tante?«

Alea deutete auf ein Foto, dann auf ein anderes. Auf einem war eine junge Frau in einem Trenchcoat zu sehen, auf dem anderen ein Mädchen mit riesiger Schleife auf dem Kopf.

»Warum ist Ihr Bruder dagegen, sie einzubeziehen?«

»Ach mein Bruder … Tom denkt immer, er müsse uns vor allem beschützen, aber das geht nicht. Elly erzählt zum Beispiel ausgesprochen wenig von früher, aber ich denke, dass da etwas ist, irgendetwas, was sie belastet und von dem sie sich befreien muss.«

»Warum denken Sie das?«

»Nun, sie war zum Beispiel noch nie im Odeon, jedenfalls nicht, seit ich auf der Welt bin. Natürlich waren wir schon gemeinsam im Kino, aber nicht im Odeon, kein einziges Mal, verstehen Sie?« Alea machte eine Pause und holte dann tief Luft. »Ist das normal?«

Carina runzelte die Stirn.

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Genau …« Alea schaute in die Ferne. »Ich denke, dass es da etwas in ihrer Vergangenheit gibt, etwas, das sie verdrängt. Aber glauben Sie nicht auch, dass wir uns alle unseren Dämonen stellen müssen? Um glücklich zu werden, meine ich?«

Carina schwieg von Neuem. Ging es jetzt darum, die Geschichte des Odeon aufzuschreiben, oder eher darum, etwas über eine Frau herauszufinden, die früher einmal eng mit dem Lichtspielhaus verbunden war? Womöglich war das gar nicht voneinander zu trennen. Vielleicht neigte Alea Kramer jedoch auch dazu, alles zu überinterpretieren. Aber seltsam war es in der Tat, dass ihre Tante Elly das Odeon in den letzten Jahrzehnten nicht mehr betreten hatte.

Alea lächelte.

»Und machen die Dämonen unser Leben nicht gerade interessant? In jedem Fall glaube ich, dass es in der Vergangenheit meiner Tante viel zu entdecken gibt. Kannten Sie das Odeon eigentlich, bevor Sie meine Anzeige gelesen haben?«

Carina schüttelte den Kopf. Eine Zeit lang war sie gern ins Kino gegangen, in den letzten Monaten aber weniger. Nein, sie kannte sich nicht wirklich aus.

»Es ist schon seit zehn Jahren nicht mehr in Betrieb«, sagte Alea nachdenklich. »Ich war immer gern da. Als Kind, meine ich. Tom und ich haben in den Sälen Verstecken gespielt.« Sie lachte.

»Ein außergewöhnlicher Spielplatz.«

»Ja.« Alea machte eine kurze Pause. »Sie werden ihn noch außergewöhnlicher finden, wenn Sie ihn erst gesehen haben. Tom wird das zu gegebener Zeit organisieren … Er kümmert sich um das Gebäude, und er kennt sich auch am besten dort aus.«

Carina fragte sich, weshalb das Filmtheater wohl geschlossen worden war. War etwas Besonderes vorgefallen, oder hatte die Schließung einfach nur betriebswirtschaftliche Gründe gehabt? Aleas Erwähnung von Dämonen hatte ihre Fantasie womöglich unnötig befeuert. Nicht wenige Kinos hatten in den letzten Jahren schließen müssen. Die großen Zeiten des Kinos waren vorüber.

Alea lief die Bildergalerie entlang und blieb dann wieder vor einem der historischen Fotos stehen. Es war vor dem Odeon aufgenommen worden, eine der wenigen Außenaufnahmen. Zu sehen waren ein Mann, eine Frau, ein Mädchen – Elly. Dahinter wahrscheinlich die Mitarbeiter, in gebührendem Abstand.

»Ich würde das Odeon ja gern wieder in Betrieb nehmen«, sagte Alea wehmütig, »aber Tom ist dagegen. Ich denke, die Leute würden es lieben. Wissen Sie, es ist ein richtig prunkvoller Saal. Das Odeon hat nichts mit der Funktionalität heutiger Kinos zu tun. Da gibt es Schnörkel und Gold und viel zu viel roten Plüsch. Wissen Sie, wie so eine Filmvorführung damals ablief? Mit echtem Orchester und so … Es gibt Dokumentarfilme darüber, die müssen Sie sich unbedingt anschauen. Damals war so ein Filmtheaterbesuch etwas ganz Besonderes.«

Carina nickte.

»Das werde ich. Wofür dient das Theater denn heute, oder steht es einfach nur leer?«

»Nein, man kann es für Feiern anmieten. Wie gesagt, es hat wirklich etwas Pompöses, ein bisschen wie die »Titanic«, sage ich immer. Haben Sie den Film gesehen? Tom findet, dass ich übertreibe, aber es gibt da Parallelen. Ich liebe diesen Film. Ein Klassiker! Tom, na ja …«

Carina überraschte das nicht. Tom machte den Eindruck eines äußerst nüchternen Menschen. Bestimmt schaute er sich gar keine Spielfilme an, sondern nur Dokumentationen auf Phoenix.

Sie hielt erstaunt inne. Und wieso machte sie das jetzt so wütend? Sie kannte ihn doch gar nicht, und er bedeutete ihr auch nichts.

»Ich würde sehr gern einmal mit Frau Kramer sprechen«, hörte Carina sich im nächsten Moment sagen.

»Wunderbar.« Alea riss sich endlich von dem Foto los. »Und nennen Sie mich doch bitte Alea. Ich komme mir sonst so alt vor.«

»Gut, Alea. Ich bin Carina.«

Die jungen Frauen lächelten einander an.

5

FRANKFURT AM MAIN, 1924

Das Geräusch war sehr leise gewesen, und doch hatte Elly es genau gehört. Ein leichtes Scharren, gefolgt von einem Knarzen. Im Kinosaal war es bereits dämmrig, denn die Vorführung würde in wenigen Minuten losgehen. Elly schaute sich um. Es waren nur wenige Menschen in der Mittagsvorführung. Fünf saßen auf den billigen Plätzen, zwei in der Loge. Die Geiger des Cohn-Quartetts stimmten ein letztes Mal ihre Instrumente. Herbert Cohn spielte auf dem Klavier die Tonleiter.

Ellys Magen zog sich vor Aufregung zusammen – wie vor jedem neuen Film. Sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich anfing, dass der Saal noch dunkler wurde und sich die Bilder auf der Leinwand zu bewegen begannen. Der schönste Moment war dann, wenn die Musik einsetzte. Das war etwas ganz Besonderes.

Seit Corbin weg war, hatte Elly das Kino für sich entdeckt, und sie verpasste nach Möglichkeit keine Aufführung. Das Odeon war für sie zu einem Zufluchtsort geworden. Hier war es ihr möglich, in eine andere Welt einzutauchen, hier musste sie sich um die Welt da draußen keine Gedanken machen. Im Kino war alles gut.

Wie immer saß sie in einer der hinteren Sitzreihen und hatte den Kopf so weit als möglich eingezogen, damit man sie nicht sah. Ihr Vater durfte nicht wissen, dass sie hier war. Sie hatte ihn nicht um Erlaubnis gefragt. Ihr Blick fiel auf das Pärchen auf den günstigen Plätzen, das den Eindruck erweckte, als wollte es sich gleich küssen. Aber dann rückten sie wieder voneinander ab.

Der vierzehnjährige Franz Cohn schaute suchend in den Zuschauerraum. Wahrscheinlich konnte er sich denken, dass sie hier saß. Allerdings würde er sie nicht sehen können, so tief, wie sie im Sessel kauerte.

Kürzlich hatte er sie abgepasst.

»Ich weiß, dass du heimlich Filme schaust.«

»Na und?«, hatte sie ihm patzig geantwortet. Ihre unwirsche Reaktion hatte ihn offenbar eingeschüchtert, jedenfalls hatte er sie nur angeschaut, aber nichts weiter gesagt.

Warum spricht er mich auch so blöd an, hatte Elly gedacht.

Das Scharren … da war es wieder. Elly horchte, und dann war sie sich sicher. Hinter ihr atmete jemand, leise und unterdrückt, bemüht, nicht aufzufallen.

So wie ich.

Ellys Sitz knarrte, als sie vorsichtig das Gewicht verlagerte, um sich zur Seite zu drehen. Da war jemand, kein Zweifel. Irgendwer versteckte sich in der Sitzreihe hinter ihr. Vielleicht würde sie durch den schmalen Spalt zwischen den Sitzen etwas sehen können. Ihr Herz schlug schneller. Die Gestalt, die dort saß, war klein, so viel konnte sie erkennen, nicht größer als sie selbst jedenfalls.

Ein Kind?

»Ich habe dich gesehen«, zischte sie.

Die Gestalt verharrte in ihrer Stellung, hob nur den Kopf etwas an, sodass Elly ein weißes Gesicht mit großen Augen erkennen konnte.

Ein Mädchen? Sie musste es wagen. Auf die Gefahr hin, dass sie nun doch von Mitarbeitern ihres Vaters bemerkt wurde, kniete Elly sich auf den Sitz und spähte über den Rand hinweg.

Tatsächlich, ein Mädchen, wie sie es vermutet hatte. Ein Kind in einfacher Kleidung mit einem schmalen Gesicht und schwarzem Rabenhaar. Herausfordernd starrte es Elly an.

»Du hast kein Recht, hier zu sein«, sagte Elly mit der Überzeugung eines Erwachsenen. Wahrscheinlich war das eins der Kinder, die sich auf den Straßen herumtrieben und deren eigene Eltern sich nicht um sie kümmerten; Kinder wie die, auf die Mama während ihrer Wohltätigkeitsarbeit traf und vor denen sie ihre Tochter stets eindringlich warnte.

Elly stemmte die Hände in die Seiten. Jetzt war sie diejenige, die Recht und Ordnung zu verteidigen hatte, auch wenn sie sich selbst ohne Erlaubnis hier hereingeschlichen hatte. Sie sah die Fremde fest an.

»Du darfst nicht hier sein«, wiederholte sie.

»Und was willst du dagegen tun, na?«

Die Fremde flüsterte, sodass man ihren Tonfall nur schwer heraushören konnte, aber ängstlich klang er nicht.

»Ich werde es meinem Vater sagen. Man muss bezahlen.«

Elly wusste nicht, woher sie plötzlich den Mut nahm, aber sie hatte das Bedürfnis, dieses Mädchen aufzuhalten. Es war nicht richtig, dass sie hier war.

»Dann musst du mich wohl festnehmen.«

Das fremde Mädchen grinste herausfordernd, dann sprang sie unvermittelt auf und machte auf dem Fuß kehrt. Vorn setzte Musik ein und verschluckte Ellys energisches »Halt!«

Das Mädchen ließ sich davon nicht beeindrucken. Aber sie lief nicht, wie Elly erwartet hatte, auf den gewöhnlichen Ausgang zu, sondern wählte den Seiteneingang. Offenbar kannte sie sich aus, sie war ganz bestimmt nicht zum ersten Mal hier. Da Elly ihre Sitzreihe auf der falschen Seite verlassen hatte, verlor sie nun wichtige Sekunden. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Ein paar der Kinobesucher reckten die Hälse. Elly hatte inzwischen den Nebeneingang erreicht und schlüpfte ebenfalls durch die Tür. Als sie hinter ihr zufiel, war es schlagartig noch dunkler. In diesem Gang brannte kein Licht. Aus Furcht sich zu stoßen, ging Elly langsamer und verlor noch mehr wertvolle Zeit. Als sie endlich die Tür ins Freie erreichte, war von dem Mädchen nichts mehr zu sehen. Elly lief zuerst nach links, bis zur nächsten Straßenecke, dann nach rechts. Nichts. Sie war zu spät. Die Fremde war verschwunden.

6

Vierundzwanzig Schülerinnen der Mädchenoberschule hielten ihre wohlfrisierten Köpfe über ihre Hefte gebeugt, vierundzwanzig Federn kratzten über das Papier, als sich die Tür geräuschvoll öffnete. Vorübergehend fiel heller Sonnenschein durch das Flurfenster in den Klassenraum. Ein Raunen war von jenen zu hören, die es auch unter Fräulein Zierles scharfen Augen wagten, die Köpfe zu drehen.

Fräulein Zierle zischte ungehalten und Elly wusste, dass sich ihre buschigen Augenbrauen jetzt über der Nase bedrohlich zusammenzogen. Sie war eine strenge, aber durchaus gerechte Lehrerin.

Zu hässlich, um zu heiraten, sagten die frecheren Mädchen.

Die ängstlicheren Mädchen senkten ihre Köpfe jetzt tiefer.

Meta Schell stieß Elly in die Seite. Die legte zuerst sorgsam ihre Feder ab. Sie alle wussten, dass heute ein neues Mädchen zu ihnen kam.

Elly hatte längst beschlossen, nichts Besonderes darin zu sehen. Niemand in ihrer Klasse interessierte sie wirklich. In der Rocktasche knisterte Corbins letzter Brief. Als damals die ersten Briefe von ihm aus England kamen, hatte sie sie ignoriert, doch sie hatte nicht lange durchgehalten. Inzwischen schrieben sie einander regelmäßig, auch wenn die Abstände in letzter Zeit größer geworden waren. Er hatte mittlerweile die Schule abgeschlossen und studierte in Cambridge. Sein Leben hatte sich wieder verändert. Sie fragte ihn nicht mehr, wann er zurückkehren würde. Sie wusste, dass sie ein kleines Mädchen war und er mittlerweile ein erwachsener Mann. Immerhin, solange sie sich vorstellte, dass sie die Einzige war, der er schrieb, war alles gut. Elly hatte noch nie gerne geteilt.

»Dies ist Tonja Lövenich«, stellte Fräulein Zierle jetzt das Mädchen vor. »Sie wird ab heute in diese Klasse gehen. Seid freundlich zu ihr.«

Elly hob jetzt doch den Kopf, und im nächsten Moment machte ihr Herz einen kleinen Sprung: Von allen Anwesenden sah die Neue ihr direkt in die Augen.

Das Mädchen aus dem Kino.

»Woher sind sie zugezogen?«, zischelte Meta ihr von der Seite zu.

»Aus Berlin«, flüsterte Elly. Die Neue hatte den Vater verloren, man solle nett zu ihr sein, das hatte die Lehrerin am Vortag gesagt.

Und ich kenne sie. Gestern hat sie sich im Kino meiner Eltern versteckt, um heimlich einen Film zu sehen.

Das sagte Elly jedoch nicht laut. Meta musste nicht alles wissen.

Tonja Lövenich stand derweil vorn neben der Lehrerin am Pult und musterte die anwesenden Mädchen scheinbar ungerührt. Sie hatte hellgraue Augen und schwarzes Haar, das heute zu einem festen Zopf geflochten war. Zu einer einfachen Bluse trug sie einen dunklen Rock, der die Knie nur knapp bedeckte und aus dem sie schon etwas herausgewachsen war.

Hinter Elly scharrte ein Stuhl. Dann war Annemie Ernstmanns unangenehme Stimme zu hören. Annemie, die sich als Anführerin der Klasse sah, saß direkt hinter Elly und flüsterte Bruni, ihrer treuesten Gefolgsfrau, eben etwas zu. Der Tonfall verhieß nichts Gutes, aber Elly konnte weiterhin nur nach vorn starren.

Tonja Lövenich, dachte sie, ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe.

Tonja hielt den Kopf hoch und den Rücken gestreckt, als sie an diesem Tag die neue Klasse betrat, und auch, als sie sie zur Pause wieder verließ. Niemand sollte bemerken, wie viel Angst in ihr steckte; Angst, die, wie ein kleines wildes Tier, immer wieder auszubrechen drohte. Es bedeutete für sie viel, dass sie endlich wieder eine Schule besuchen durfte, und die Vorstellung, man könnte sie wieder dahin zurückschicken, wo sie herkam, war ihr einfach unerträglich.

Ein schreckliches Jahr lang waren Mama und sie von Fürsorge und Suppenküche abhängig gewesen. In dieser Zeit hatte sie gelernt, für sich selbst zu sorgen, und war nicht zerbrochen. Nein, sie war stärker geworden. Sie würde bleiben. Sie würde ihren Platz gegen die Hyänen verteidigen, die hinter diesen unschuldigen Mädchengesichtern lauerten.

Natürlich hatten ihre neuen Mitschülerinnen längst registriert, dass ihre Kleidung selbst genäht und verschossen war. Tonja musste wachsam sein. Sie durfte nicht zulassen, dass man sie niedermachte, denn wenn sie einmal strauchelte, würde sie so leicht nicht wieder aufstehen.

Und dann war da dieses Mädchen, das sie gestern im Kino erwischt hatte. Die war die Gefährlichste. Würde die ihr schaden?

Schon während ihrer ersten zwei Wochen in Frankfurt hatte Tonja das Odeon entdeckt und herausgefunden, dass man sich über den Seiteneingang hineinschleichen konnte. Früher war Papa mit ihr ins Lichtspielhaus gegangen. Sie hatten es beide geliebt. Immer wenn sie ihm nahe sein und sich an die guten Zeiten erinnern wollte, zog es sie zum Kino.

Wird mich dieses Mädchen verraten?

Tonja ließ ihren Blick über den Pausenhof schweifen, konnte sie aber nirgends entdecken.

Die erste Pause an der neuen Schule.

Erneut betrachtete sie den sonnendurchfluteten Schulhof aus dem Dunkel des Gebäudes heraus. Tonja war etwas später dran, denn Fräulein Zierle hatte noch mit ihr reden wollen. Sie war eine gute Lehrerin. Ihre Schülerinnen lagen ihr deutlich am Herzen. Tonja beobachtete, wie die anderen Mädchen langsam ihre Kreise zogen. Es wurde geredet und gelacht. Zwei hatten sich untergefasst und versuchten, im Gleichschritt zu springen. Sie würde jetzt hinausgehen müssen, ob sie wollte oder nicht. Es war den Mädchen nicht gestattet, drinnen zu bleiben. Außerdem hatte Tonja sich noch niemals feige vor einer Situation gedrückt. Für sie hatte ein neues Leben begonnen, und in diesem neuen Leben war es gefährlicher, Furcht zu zeigen als Gleichgültigkeit.

Nur, wo waren die, von denen ihr Gefahr drohte?

Inzwischen hatte sie einen Blick dafür: Annemie und ihre Freundinnen standen in der Nähe eines Kastanienbaums. Sie warteten.

Sie warten auf mich.

Tonja atmete tief durch, dann ging sie mit festen Schritten die Treppe hinunter in den Schulhof. Sie hatte ein Buch mitgenommen; das half, wenn man deutlich machen wollte, dass man keinen Wert auf Gespräche legte. Gewohnheitsmäßig wählte sie den Ort, von dem aus sie am besten alles im Blick behalten konnte. Sie würde den Mädchen zuallererst zeigen, dass sie die Oberhand hatte, dass sie allseits bereit war zu kämpfen.

Schon im Klassenraum hatten sie die ersten skeptischen Blicke getroffen. Auch das eifrige Wispern war ihr nicht entgangen. Sie kannte das Spiel genau. Da gab es die Anführerinnen, die um ihre Stellung fürchteten und jeden Neuankömmling unerbittlich in die Schranken wiesen, und dann gab es die ohne Rang, die sich lieb Kind machen wollten, weil man sie sonst zertrampeln würde.

Tatsächlich verließ Annemie als Erste ihren Platz und schlenderte näher, ihr Gefolge dicht hinter ihr. In manchen Gesichtern sah man Sensationsgier, andere schauten unsicher weg.

Tonja dachte, dass Annemie eigentlich eine hübsche Person war, aber da war etwas Kaltes an ihr, vor dem man unweigerlich zurückschreckte. Es musste an ihren Augen liegen, an dem wässrigen Blau, in dem nicht ein Fünkchen Wärme zu erkennen war.

Annemie beobachtete mit Adleraugen, was um sie herum geschah, war ständig bedacht darauf, alles unter Kontrolle zu haben. Heute war Tonja ihr Ziel. Sie würde der Neuen klarmachen, wer in der Klasse das Sagen hatte. Jeder sollte wissen, dass sie an der Spitze des Rudels stand, unangefochten … Aber Tonja hatte gar nicht die Absicht, Teil eines Rudels zu werden, und gerade das würde Annemie fuchsen. Sie klappte das Buch auf.

Obgleich Annemie und ihr Gefolge kurz darauf um sie herumstanden, blickte Tonja nicht hoch. Zwar verschwammen die Zeilen vor ihren Augen, und sie konnte kein Wort erkennen, aber sie würde Annemie nicht die Genugtuung einer Reaktion geben. Sie tat einfach so, als sei das Mädchen nicht da. Allerdings war es nicht Annemie, die die ersten Worte an sie richtete.

»Warum«, fragte Bruni mit durchdringender Stimme in die Runde, »verstehen manche einfach nicht, wo sie hingehören?«

Tonja hob jetzt doch den Kopf. Von den nächsten Minuten würde abhängen, wie sich ihre Zukunft in der Schule gestaltete.