Das goldene Haus - Rebecca Martin - E-Book
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Das goldene Haus E-Book

Rebecca Martin

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Beschreibung

Eine schillernde Kaufhausdynastie, begründet auf Schuld und Verrat

Frankfurt 1901: Bettina Wessling hat ihr Leben dem Aufbau des prächtigsten und modernsten Kaufhauses der Stadt gewidmet. Ihr Ehemann Arnold ist das Oberhaupt der angesehenen Familie. Doch Bettinas heimliche Leidenschaft gilt einem anderen: Sie liebt Richard, Arnolds verfeindeten Bruder, doch sie hält es für ihre Pflicht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Bettina hütet nicht nur dieses Geheimnis. Genauso wie ihre Ehe auf Lügen aufbaut, gründen das Kaufhaus und der Reichtum ihrer Familie auf Schuld und Verrat. Eines Tages kommt ein fremdes junges Mädchen aus Paris zu den Wesslings. Alles droht aufzufliegen, und die Zukunft und das Glück der nachfolgenden Generationen stehen auf dem Spiel …

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Frankfurt, 9. September 1880: Kostbare Waren sind auf den Tischen dekoriert, der Marmorboden glänzt, und die Verkäuferinnen halten sich bereit, den Kunden die Wünsche von den Augen abzulesen. Das Warenhaus Wessling öffnet seine Pforten – das größte Kaufhaus Frankfurts. Die halbe Stadt ist auf den Beinen, viele hochrangige Persönlichkeiten sind der Einladung der Familie gefolgt. An der Seite ihres angesehenen Ehemannes Arnold hat Bettina Wessling lange auf diesen Moment hingearbeitet. Die Erwartungen sind hoch. Doch für sie ist es kein guter Tag, denn Bettina erfährt, dass ihrer Ehe eine Lüge zugrunde liegt. Eine Lüge, die sie dazu gebracht hat, Arnold zu heiraten, obwohl sie seinen Bruder liebt.

1900: Familie Wessling hat das Kaufhaus zum bedeutendsten der Stadt ausgebaut, und Arnolds Neffe Jakob steht kurz davor, die Geschäfte zu übernehmen. Als ein fremdes Mädchen aus Paris zu den Wesslings kommt, ist die Existenz der Familie gefährdet: Ein dunkles Geheimnis droht aufzufliegen, denn der Wohlstand der Wesslings gründet auf Schuld und Verrat …

REBECCA

MARTIN

Das goldene Haus

ROMAN

Von Rebecca Martin sind im Diana Verlag erschienen:

Die verlorene Geschichte – Der entschwundene Sommer –

Die geheimen Worte – Das goldene Haus

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Originalausgabe 04/2016

Copyright © 2016 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion: Carola Fischer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Lee Avison/Trevillion Images;

akg images; shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17574-0V001

www.diana-verlag.de

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Prolog

Frankfurt am Main, September 1900

Ich habe Sie erwartet.«

Falk Wessling hustete und wankte zur gleichen Zeit rückwärts. Nach nur zwei Schritten spürte er die Kante des wuchtigen Schreibtischs hart an der Hinterseite seiner Oberschenkel. Der Stoff seiner Hose schob sich etwas nach oben. Seit Anfang des Jahres hatte er nochmals stark abgenommen. Er hatte einfach keinen Appetit, musste sich oft zwingen zu essen, wenn er es nicht ganz vergaß.

Doch jetzt war es endlich so weit. Jetzt würde er das tun, was schon längst hätte getan werden müssen. Er würde sich von dem befreien, was auf ihm lastete. Er würde sie alle befreien. Er konnte den Dingen nicht ihren Lauf lassen. Er musste eingreifen, sonst war alles verloren, und das durfte nicht sein. Arnold war kein Verlierer. Sie alle waren keine Verlierer, dafür würde er sorgen. Er hatte als Einziger die Wahrheit erkannt. Als Einziger besaß er den Mut dazu.

Falk hustete nochmals, dann hob er die Hand und winkte seinen Besuch energisch näher.

»Kommen Sie. Ich habe Sie erwartet. Sagte ich das nicht? Ich halte meine Ohren immer offen, wissen Sie. Ich habe zugehört …«

Die Gestalt im Türrahmen zögerte, dann trat sie in das Büro ein, machte ein paar Schritte und hielt wieder inne. Falk wollte ihren Namen aussprechen, doch die Laute weigerten sich, über seine Lippen zu kommen. Es war unmöglich, als klebten sie an seiner Zunge fest.

Er atmete tief durch und sah die junge Frau an. Die Abendsonne schickte ihr tiefrotes Licht durch das Fenster, und dann für einen flüchtigen Moment hatte Falk das irritierende Gefühl, dass er sich geirrt hatte: Wer war das? Was war das in ihrem Arm? Stoffproben – oder doch eine Waffe …? Er kannte sie, doch, er kannte sie … War sie gekommen, um ihn endlich für das zu bestrafen, was er vor so langer Zeit getan hatte?

Falk fröstelte. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie es einmal zu Ende gehen würde, doch er zweifelte nicht daran, dass dies sein Ende war. Er würde diesen Raum nicht lebend verlassen. Er hatte immer gewusst, dass es eines Tages so weit war. Er verdiente Strafe. So lange schon verdiente er Strafe.

Die Frau kam näher. O doch, sie war es. Natürlich. Er hatte sie bei den Schneiderinnen gesehen. Er hatte sie bei der Arbeit beobachtet. Er kannte sie. Er kannte ihren Namen und konnte ihn nicht aussprechen.

Für einen Moment horchte er. Hinter der Stille war etwas, draußen vor der geschlossenen Tür: Stimmengemurmel, Schritte, Gläserklirren, Lachen, Arnolds Gäste … Sein Bruder würde stolz auf ihn sein. Er musste stolz auf ihn sein. Es war so einfach gewesen, sie hierher zu locken. Er hatte Frau Beyerlein einen Zettel gegeben, auf dem die Bitte um neue Stoffproben und der Name der jungen Frau gestanden hatte. Frau Beyerlein stellte nie Fragen.

Falk trat vom Schreibtisch weg, straffte den Rücken und stellte sich sehr gerade hin. Er würde jetzt hinter den Schreibtisch gehen, zum Stuhl hin. Er würde der Frau den Rücken zukehren, auch wenn er es nicht gerne tat. Er musste sie in Sicherheit wiegen. Er musste ihr zeigen, dass keine Gefahr bestand.

Als er auf der anderen Seite vom Tisch stand und sich wieder zu ihr drehte, schien es ihm, als hätte sie sich gar nicht bewegt – oder doch?

Er betrachtete sie erneut und überschlug ihr Alter. Er musste zugeben, dass er sich jetzt etwas wunderte. Sie wirkte so jung, in etwa so alt wie sein Sohn, in jedem Fall nicht älter. War das möglich?

Falk runzelte die Stirn. Nein, er musste das nicht verstehen. Er musste lediglich eine Entscheidung treffen. Er hatte so lange auf diesen Tag gewartet, auf den Tag, an dem er alles ins Lot bringen konnte.

Wortlos winkte er sie näher. Sie kam tatsächlich heran, streckte ihm entgegen, was sie in den Händen trug. Sein Zusammenzucken erstaunte sie sichtlich. Etwas Fragendes zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sein Versuch zu lächeln misslang.

Meine Güte, sie war so jung. Ihre Haut war glatt, ihre Wangen noch rundlich, die Wangenknochen verborgen unter kindlichem Speck, obgleich sie ansonsten sehr schlank war.

Sie wusste offenkundig nicht, was sie von der Situation halten sollte. Er wusste es auch nicht. Sie räusperte sich. Ihre Stimme war dunkler, als er erwartet hatte. Er hatte sie nicht oft reden hören.

»Hier werden die Entscheidungen getroffen?« Ihr Tonfall zeigte, dass ihr nichts anderes zu sagen eingefallen war.

»Ja«, sagte er und ließ sich endlich in den Sessel fallen.

Sie war keine kleine Frau. Jetzt, wo er saß, kam sie ihm sogar recht groß vor. Falks Fingerspitzen berührten die große Schublade. Er zog sie auf, ließ die rechte Hand unter die Papiere gleiten. In einer fließenden Bewegung zog er die Pistole hervor und richtete sie auf sein Gegenüber. »Und jetzt bleiben Sie, wo Sie sind, und keine Bewegung.«

Bei Thionville, Lothringen, Frankreich, 1870

Minette, beeil dich, es wird Zeit, mon petit chou.«

Das Mädchen, das alle nur Minette, kleines Kätzchen, nannten, drehte sich vom Fenster weg, von dem aus es in den Hof geschaut hatte und dann weiter über die Dächer der niedriger liegenden Stallungen hinweg, bis zu der Stelle hin, wo es immer wieder hell aufblitzte. In den letzten Tagen war das Donnergrollen, das dieses Blitzen begleitete, anhaltender und deutlicher geworden, und es war fast nicht mehr verstummt. Zuerst hatte Minette sich geängstigt, inzwischen war sie daran gewöhnt.

»Minette, komm jetzt.« Die Stimme ihrer nounou, der Kinderfrau, wurde strenger. Minette wandte den Kopf. Ihre nounou breitete ihre weichen Arme aus.

»Nounou!«, rief das Mädchen aus. Wieder blitzte es, zeitgleich war das dumpfe Grollen zu hören, das ihr jetzt doch wieder ein wenig Angst machte. Es war kein Gewitter. Minette kannte Gewitter. Dieses Geräusch, dieses rollende, metallische Dröhnen war etwas anderes. Sie war froh, dass das Fenster geschlossen war. Es war sicherlich schrecklich laut da draußen.

Die Kleine kletterte von der Fensterbank herunter, lief ein paar Schritte und stürzte sich endlich in die Arme der Kinderfrau. Nounous Wärme umfing und schützte sie. Ihr Duft hatte etwas, was Minette sofort beruhigte. Sie spürte, dass ihre nounou sie hochhob, spürte, wie ihre Füße den Boden verließen, wie sie doch sicher gehalten wurde.

Mit den Augen suchte Minette das Porträt ihrer Mutter. Man hatte maman in einem Garten in Paris gemalt, in leichten, flirrenden Farben, die an einen Sommertag erinnerten. Um mamans Lippen spielte ein Lächeln. Papa an ihrer Seite trug einen Strohhut und stützte eine Hand auf den Tisch, an dem sie beide saßen. Wahrscheinlich hatte Minette an diesem Tag die Großeltern besucht. Sie konnte sich nicht erinnern, mit den Eltern in diesem Garten gewesen zu sein.

Wo bist du, maman?

Minette wollte ihre nounou fragen, aber schon gingen sie auf die Tür zu. Ihre nounou bewegte sich schnell und entschlossen. Kurz spürte Minette ihre Lippen auf ihrem Kopf. Nounou küsste sie und flüsterte etwas. Die Bewegungen änderten sich, als die Kinderfrau sie die Treppe hinuntertrug. Sie wurde nicht mehr häufig getragen, dazu war Minette bereits zu alt. Heute musste wohl etwas Besonderes vorgefallen sein. Minette schlang ihre Arme fester um den weichen Hals der Kinderfrau. Nounous dunkle Locken kitzelten ihre Nase, machten sie prusten und kichern.

Dieses Mal stimmte ihre nounou nicht in ihr Lachen ein wie sonst, dieses Mal blieb sie ernst. Die Erwachsenen sind allesamt ernst geworden, dachte Minette. Sie schauten ernst. Sie flüsterten häufig und warfen sich noch ernstere Blicke zu. Minette dachte an maman, die geweint hatte und dann mit papa fortgegangen war. Sie hatten gesagt, dass sie bald zurückkommen würden, doch das war jetzt schon Tage her. Minette war bereits mehrfach zu Bett gegangen und wieder aufgewacht.

Warum kommen sie nicht wieder?

Im Hof wartete der Kutscher auf sie. Der mit der harten Stimme, vor dem sich Minette manchmal fürchtete. Sie wollte nicht zu ihm in den Wagen steigen, doch ihre nounou zwang sie dazu. Minette wollte weinen, doch die nounou sah gar nicht zu ihr hin. Sie sagte etwas zu dem Mann, was Minette nicht verstand, weil die beiden Erwachsenen zu weit weg standen. Der Kutscher war alt, er hatte silbergraues Haar. Er trug einen schweren Mantel und derbe Stiefel. Papa trug immer viel feinere Stiefel.

Wo bist du, papa?

Minette fragte sich mit einem Mal, warum man ihr nur solch einen einfachen Kittel angezogen hatte. Sie hatte, weiß Gott, schönere Kleider. Und sie mochte ihre schönen Kleider. Warum hatte man ihr keins davon angezogen? Maman würde schimpfen, wenn sie das sah. Maman hasste Nachlässigkeit.

Nounou und der Kutscher hatten ihr Gespräch beendet. Der Kutscher kletterte auf den Kutschbock. Minette sah Hilfe suchend zu ihrer Kinderfrau hin, die jedoch stehen blieb und keine Anstalten machte, ebenfalls einzusteigen. Minette war verwirrt. Sie sah, wie ihre nounou ein Taschentuch an ihre Augen hob und sanft tupfte. Minette starrte sie an, dann erkannte sie: Ihre nounou weinte.

»Nein«, schrie das Mädchen auf. Nein, sie wollte nicht allein mit dem Mann fahren. Nein, sie wollte nicht … »Nein! Nounou, nein!«

»Fahren Sie«, sagte die Kinderfrau und wandte sich ab.

»Aber das Kind!« Der Kutscher war unentschlossen.

»Sie ist neun Jahre alt, Robert.« In nounous Stimme war ein winziges Zittern. »Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie wird sich beruhigen. Fahren Sie, bevor die Deutschen kommen.«

Die Deutschen … Minette erinnerte sich, dass die Erwachsenen über die Deutschen gesprochen hatten. Flohen sie jetzt vor den Deutschen? Aber warum kam ihre nounou nicht mit? Für einen Moment war sie abgelenkt. Die Kutsche fuhr los. Minette verlor aufschreiend den Halt. Sie versuchte, sich am Rand der Kutsche festzuhalten, um zurück zu ihrer Kinderfrau zu sehen, doch sie hatte die Kraft nicht. Immer wieder stürzte sie und sackte endlich weinend in sich zusammen.

Sie weinte und weinte. Sie wusste nicht, was geschah, wusste nicht, wohin die Reise ging. Irgendwann schlief sie ein. Als sie aufwachte, regnete es. Vielleicht erwachte sie auch vom Regen. Es war dämmrig. Die Kutsche hatte angehalten. Das breite Gesicht des Kutschers beugte sich über sie. Das Mädchen schlang die Arme um sich und drehte den Kopf weg. Sie mochte den Kutscher, er war ein lustiger Mann, aber heute machte er ihr Angst. Sie wollte nicht, dass er sie so ansah. Wo war ihre nounou? Wo waren maman und papa? Warum hatte man sie alleingelassen?

Familienbande

Erstes Kapitel

Spiekeroog, Ostfriesland, Deutsches Reich, August 1872

Am Vorabend waren sie endlich in Neuharlingersiel eingetroffen, nachdem Arnold Wessling, ihr Schwager, in Bremen einen alten Schulfreund besucht hatte. Die Reise war beschwerlich gewesen, aber das war nicht der Grund für Ludmillas schlechte Stimmung. Zuerst einmal konnte sie die alljährlichen Sommerwochen mitsamt der ganzen Familie fernab von Frankfurt nicht ausstehen, zum anderen hatte sie eine Veränderung an Bettina festgestellt, über die sie sich einfach nicht klar wurde – oder war sie überspannt? Machte sie ihr eigener Zustand, machte sie diese schreckliche Schwangerschaft etwa überempfindlich?

Ludmilla schaute zu ihrer Schwägerin hin, die sich gemeinsam mit dem einzigen Hausmädchen, das sie begleitete, um die Verladung des Gepäcks auf das wartende kleine Schiff kümmerte, welches sie nach der Insel bringen sollte. Bettinas Tochter, die dreijährige Antonie, beobachtete das Ganze vom sicheren Arm ihres Vaters aus. Ludmilla schenkte ihrem Schwager nur einen kurzen Blick, bevor sie die Aufmerksamkeit erneut auf Bettina richtete. Auch Arnold war nur zu deutlich anzusehen, dass er in diesem Jahr lieber zu Hause geblieben wäre. Große Pläne hatte er, das wusste sie, mit denen es aber einfach nicht vorangehen wollte. Kurz vor der Abfahrt hatte er ein weiteres Mal mit seinem Schwiegervater über die Erweiterung des familieneigenen Geschäfts gesprochen, aber Siegfried Kuhn, der alte Starrkopf, hatte kategorisch abgelehnt. Nicht zum ersten Mal, wie Ludmilla von Bettina Wesslings Mädchen zugetragen worden war. Trotzdem hatte Arnold seine Enttäuschung kaum verhehlen können. Ebenso, wie er gewiss von der Tatsache enttäuscht war, dass sich nach der ersten Schwangerschaft seiner Frau keine zweite einstellen wollte.

Nur eine Tochter und seitdem nichts mehr …

Ludmilla zwang sich, den Blick abzuwenden, um sich nicht doch noch zu verraten. Niemanden ging es etwas an, was sie dachte.

Das Gepäck war inzwischen wohl zur allgemeinen Zufriedenheit verstaut, und Falk, ihr Ehemann, kam erneut auf sie zu. Er sah müde aus. In der Nacht hatte er zuerst schlecht in den Schlaf gefunden, war dann mehrfach aufgewacht und hatte sogar eine Weile wach gelegen. Wie ein geprügelter Hund hatte er sich bei ihr entschuldigt. Sie hasste und liebte seine Unterwürfigkeit.

»Gleich geht es los«, sagte er zu ihr, bemüht, eine sorglose Stimmung zu verbreiten. Ludmilla verbiss sich die spitze Bemerkung, er solle sie nicht mit dem Offensichtlichen verärgern. Falk bemerkte ihre schlechte Laune nicht. »Man nennt Neuharlingersiel übrigens auch das Venedig des Nordens …«, bot er etwas von dem Wissen dar, das er sich in den Tagen vor der Abreise angelesen hatte. Die ruckartige Bewegung, mit der Ludmilla ihren Kopf höher hob, nahm er aus den Augenwinkeln wahr und verstummte augenblicklich.

»Das hier?« Ludmilla zog die Augenbrauen hoch und schaute sich um. »Wie überaus albern …«, setzte sie dann hinzu.

Natürlich sagte Falk jetzt nichts mehr. Das hatte sie beabsichtigt, und sie schämte sich dessen auch nicht. Mit der fortschreitenden Schwangerschaft hatte sich Ludmillas Laune stetig verschlechtert. Sie hasste es, ihren Körper zu teilen. Sie hasste die Übelkeit der Anfangstage, das Sodbrennen und das häufige Wasserlassen. Sie wusste, dass Falk bereits Bettina um Hilfe gebeten hatte, aber die hatte ihn nur damit vertrösten können, dass er das Ende der Schwangerschaft abwarten müsse. Für die meisten Frauen sei die Zeit einfach belastend.

Nun, Ludmilla fühlte sich gewiss nicht belastet, aber es machte ihr durchaus Spaß, Falk in diesem Glauben zu lassen. Als sie Falk und Bettina bei ihrem Gespräch im Garten der Wesslings belauscht hatte, hatte sie wirklich an sich halten müssen, nicht laut loszulachen. Falk war mehrmals errötet wie ein Knabe und war sich offenbar vorgekommen, als teile Bettina eine Art Geheimwissen mit ihm, etwas, was bislang nur Frauen wussten.

»Bist du hungrig?«, hörte sie ihn fragen. »Soll ich dir etwas zu essen besorgen?«

Ludmilla beschloss, ihn nicht vom Haken zu lassen. Dazu war Falk einfach ein zu angenehmer Blitzableiter. Sie schüttelte den Kopf, sodass die hellbraunen Locken tanzten.

»Nein, wärest du aufmerksamer, dann wüsstest du, dass mir seit dem frühen Morgen schrecklich übel ist.«

»Das tut mir leid.«

»Vielleicht solltest du doch etwas essen«, mischte sich Bettina ein, die eben herangekommen war und Ludmillas letzte Worte gehört hatte. »Als ich mit Antonie …«

»Du hast doch nur ein Kind bekommen«, blaffte Ludmilla unterdrückt zurück. »Denkst du, du weißt alles besser?«

Bettina zuckte zusammen. Für einen Moment stand sie noch unschlüssig da, dann murmelte sie etwas von »um das Gepäck kümmern« und ging mit eiligen Schritten davon.

»Das war aber nicht sehr freundlich von dir«, wandte sich Falk seiner Frau zu.

»Ich habe aber recht«, beharrte die. »Sie will sich nur damit ablenken, dass der Herr sie offenbar nicht mit einem weiteren Kind segnen will.«

Falk sah unsicher zu Bettina hinüber.

»Meinst du …«, stotterte er. »Aber …«

»Natürlich habe ich recht. Glaubst du nicht, dein Bruder wünscht sich einen Stammhalter?«

»Doch, aber …« Falk versuchte, nach Ludmillas Hand zu greifen. »Ist das nicht unglaublich, dass mir so etwas nicht auffallen will?«

Ludmilla zuckte die Achseln. Unglaublich war es vielleicht, überraschen tat es sie nicht. Sie hängte sich an seinen Arm und schenkte ihm ein zartes Mädchenlachen.

»Ach, ich bin eine kleine Hexe. Ich hätte so etwas nicht sagen sollen, oder?«

»Nein«, bestätigte Falk und traute sich doch nicht, sie zu tadeln. »Aber du hast es ja gewiss nicht so gemeint.«

»Nein, gewiss nicht. Es ist eben alles so anstrengend gerade …« Ludmilla sah ihn aus großen Augen von unten her-auf an. »Ich brauche einfach meine Ruhe. Ich glaube, ich werde mich kurz dort drüben hinsetzen.«

Sie deutete auf einen herrenlosen Kasten, der ihr stabil genug erschien.

Falk nickte und hielt dann erneut nach seinem älteren Bruder Ausschau. Endlich entdeckte er den auf und ab laufenden Arnold in kurzer Entfernung. Bettina stand neben dem Schiff, hielt inzwischen Antonie an der Hand und sprach mit dem Kapitän. Sie wirkte wieder wie die Ruhe selbst. Für einen Augenblick bewunderte er das dunkelblaue Reisekleid seiner Schwägerin, das auch nach der stundenlangen Reise so sauber aussah wie am frühen Morgen. Nur aus der Frisur hatte sich eine aschblonde Locke gestohlen, tanzte vor Bettinas rechter Wange auf und ab. Falk gesellte sich zu Arnold, nickte schließlich zu dem Schiff hin.

»Jetzt wird es wohl bald losgehen«, sagte er.

Arnold hob den Kopf, und für einen kurzen Moment schien es, als sähe er alles zum ersten Mal.

»O ja«, erwiderte er dann. »Ich freue mich, letztes Jahr konnten wir nicht dort sein.«

»Zwei Jahre war ich nicht dort«, gab Falk zurück. »Der Krieg …«

»Ja.« Arnold runzelte die Augenbrauen. »Weißt du noch, wie es war, wenn wir damals als Kinder hierhergekommen sind?«

Falk zuckte die Achseln. »Nein«, gab er zögerlich zurück. Er erinnerte sich wirklich nicht.

Arnold schaute zuerst seinen Bruder etwas länger an, dann sah er auf das Meer hinaus.

»Du warst noch recht jung, und nach Vaters Tod sind wir nicht mehr gefahren«, sagte er dann langsam. »Es war Mutter zu anstrengend.«

»Es muss schön gewesen sein. Gemeinsam mit Vater. Leider kann ich mich nicht erinnern.«

Arnold starrte ihn seltsam an, dann nickte er. »O ja, das war es. Es war auch schön.«

Falk wollte etwas sagen, doch es fiel ihm nichts ein, sosehr er auch nachgrübelte.

Falk wich nicht von Ludmillas Seite, während sich ihr Schiff endlich, wenn auch langsam, der Küste Spiekeroogs näherte. Obgleich ihr das Schwanken des Schiffes nichts ausmachte, war die junge Frau froh, dass die Fahrt jetzt ein Ende hatte. Sie war nicht gern gefangen, und auf dem Schiff zu sein gab ihr hauptsächlich ein Gefühl: nicht fort zu können. Wie erleichtert sie war, wieder an Land zu kommen.

Ludmilla machte in kurzer Entfernung einen langen Steg aus, der ins Wasser gebaut worden war, doch offenkundig würde sie das Schiff nicht bis dorthin bringen, denn ein von Pferden gezogener Karren suchte sich eben seinen Weg durch das niedrige Wasser. Also mussten sie zuerst das Schiff verlassen, in den Karren steigen, der sie dann zu dem Steg bringen würde …

Ludmilla biss die Zähne aufeinander. Sie hatte Angst, ja, aber das würde sie nicht zeigen. Als ihr der schmale Gehilfe des Kutschers wenige Augenblicke später die Hand hinstreckte, griff sie zu und hielt sich stolz und aufrecht, während sie so elegant wie möglich das Fahrzeug wechselte. Es gelang ihr recht gut, wie sie fand.

Vom schwankenden Schiff aus ging es auf den Karren, dann auf den Steg und auf diesem entlang, bis man an dessen Ende in eine etwas bequemere Kutsche stieg.

Ludmilla setzte sich neben Bettina, die sie trotz der Bemerkung über den vergeblichen Kampf um ein weiteres Kind freundlich anlächelte. Ludmilla konnte nicht erkennen, ob diese Freundlichkeit nur vorgegeben oder ehrlich gemeint war. Sie jedenfalls wusste, dass sie in Bettinas Lage nicht so ruhig geblieben wäre. Aber ihre Schwägerin machte tatsächlich nicht den Eindruck, ihr etwas nachtragen zu wollen.

Sie fuhren los. Etwas später, im Ort, hielt die Kutsche wieder. Man stieg aus, wurde nun von den Wirtsleuten und Hoteldienern begrüßt, während sich gleichzeitig eine ganze Schar interessierter Zuschauer versammelte.

Als ob wir Tiere im Zoo sind, schoss es Ludmilla durch den Kopf. Stolz würdigte sie keinen der Anwesenden eines Blickes. Ein Junge beeilte sich damit, das Gepäck der Familie Wessling mit geradezu bewundernswertem Geschick auf seinen Leiterwagen zu stapeln. Ludmilla durfte sich ebenfalls dazusetzen. Es war keine feine Kutsche, aber es war besser als nichts, denn sie war mittlerweile tatsächlich sehr angestrengt, wie sie sich eingestehen musste.

Wieder wich Falk nicht von ihrer Seite. Ludmilla dachte an das Kind, das unter ihrem Herzen wuchs. Sie wusste, dass es ein Mädchen war. Das spürte sie. Ob es beim nächsten Mal ein Junge sein würde? Sie wünschte es sich sehr, dann hatte sie ihre Pflicht erfüllt. Dann hatte sie alles richtig gemacht. Vorerst würde sie sich aber in Geduld üben müssen.

Am nächsten Morgen erwachte Ludmilla früh, bekämpfte einen leichten Anflug von Übelkeit mit einem kleinen Stück trockenen Brots, kleidete sich mithilfe des Hausmädchens an und verließ die Pension, um einen Spaziergang zu machen. Ganz unerwartet fühlte sich die junge Frau nach nur wenigen Schritten zum ersten Mal seit Wochen entspannter. Sie konnte nicht sagen, ob es an der Luft lag, die sich so seidenweich auf ihrer Haut anfühlte und ein ganz klein wenig nach Salz schmeckte, oder an diesem unglaublich klaren, hellen Licht. Während der Nacht hatte sie auch nur wenig Wasser lassen müssen. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie gut geschlafen. Als sie aufgestanden war, schnarchte Falk noch leise neben ihr, doch noch nicht einmal das hatte sie gestört.

Für einen Moment war sie sogar neben ihm sitzen geblieben und hatte sich die Zeit genommen, ihn anzusehen. Sein dunkelblondes Haar war ihm halb über die Augen gefallen und hatte ihn wieder einmal jünger aussehen lassen, als er wirklich war. Auf der zarten Haut unter seinen Augen hatten die dichten, geschwungenen Wimpern kleine Schatten geworfen. Sie hatte mit einem Finger die Linie seiner hohen Wangenknochen nachfahren können und ihn doch nicht geweckt. Er war ein hübscher Mann. Man sah es nur nicht, weil er so unsicher war, weil er sich immer zurücknahm und seinem ältesten Bruder geradezu hündisch ergeben war.

Zugegebenermaßen hatte sie ihn nicht geheiratet, weil sie ihn liebte. Er war eine gute Partie, die beste, die ein Mädchen, wie sie es war, erwarten konnte. Trotzdem war er ihr mittlerweile auch nicht mehr gleichgültig. Nein, gleichgültig war er ihr nicht. Das konnte man nicht sagen. Vielleicht ergab sich so etwas ganz von selbst, wenn man Zeit miteinander teilte, so wie sie es beide taten.

Sie dachte daran, wie sie am Vortag noch am späten Nachmittag einen Ausflug zum Strand gemacht hatten. Arnold und Falk, die Hosen bis zu den Knien aufgekrempelt, waren mit Antonie zur Wasserlinie vorgelaufen. Auch Bettina und sie zogen die Schuhe aus und schlenderten stumm, wenn auch nebeneinander her. Manchmal piksten scharfkantige Muschelschalen in ihre Fußsohlen, dann schnappte Ludmilla lediglich leise nach Luft, während Bettina auch mal einen Schmerzensschrei hören ließ.

Sie ist schwach, war es Ludmilla ganz automatisch durch den Kopf gefahren. Sie selbst wusste sich zu beherrschen. Es hatte Schlimmeres gegeben in ihrer Kindheit, mit einem Vater, der erst der Spielsucht und dann dem Alkohol erlegen war und der Schmerz und Verzweiflung über das eigene Versagen an den Kindern und seiner Frau ausgelassen hatte, auch er ein schwacher Mann.

Wie Falk, fuhr es ihr durch den Kopf.

Manchmal fragte sich Ludmilla, ob sie Falk vielleicht doch auch genau deswegen geheiratet hatte – weil er so schwach war, wie sie es von ihrem Vater erinnerte, und weil sie wusste, wie man mit solchen Männern umging.

Vierzehn war sie gewesen, da hatte sie die Schule verlassen und begonnen, in dem kleinen Geschäft des Vaters zu arbeiten, während ihre Mutter den Bruder verhätschelte oder sich einfach mit Migräne zurückzog, wenn ihr wieder einmal alles zu viel wurde.

Natürlich gab es auch schöne Momente, dann, wenn der Vater nüchtern war und sich wieder als der gute Verkäufer entpuppte, der er eigentlich war. Gott, er hatte den Menschen alles verkaufen können, einfach alles.

»Guten Tag, meine Dame, was kann ich für Sie tun? Knöpfe gibt es heute im Angebot, Spitzenware, darf ich Ihnen noch ein Band einpacken? Aber selbstverständlich geht das aufs Haus. Sie wollen noch die neue Lieferung sehen? Aber gerne.«

Sie hatte ihn beobachtet und gelernt. Und wenn sie allein im Geschäft stand, versuchte sie es ihm gleichzutun. Sie war eine gute Verkäuferin, und trotzdem blieb am Ende des Monats wenig übrig, denn die Mutter kaufte stets zu viele Sachen. Sie wollte nie verstehen, dass es ihrer Familie nicht mehr so gut ging wie am Anfang, und der Vater war zu schwach, es ihr zu sagen.

Während sie Fuß auf Fuß setzte, schaute Ludmilla nachdenklich in die Ferne. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob das Kind unter ihrem Herzen ihr oder seinem Vater ähnlich sehen würde. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Einheimischen, der ihr entgegenkam, erst kaum wahrnahm. Er dagegen verlangsamte seinen Schritt und sah sie neugierig und prüfend an. Er war einfach gekleidet, in groben Hosen und einem blauen Hemd. Eine wollene Mütze hatte er über seine struppigen Haare gezogen. Ein Fischer. Ludmilla lächelte und erwiderte seinen knappen Gruß.

Kurz darauf erreichte sie eine Art Wäldchen. Sie erinnerte sich, dass Falk davon gesprochen hatte, weil das nämlich etwas Seltenes auf den Inseln hier im Norden war. Wirklich trug auch das Wäldchen zu dem freundlichen Eindruck der Insel bei. Ob das Badepublikum hier wirklich so vornehm war, wie man sich erzählte? Ob sich hier Grafen, Freiherren, Generäle und hohe Beamte tummelten und solche, die dem Lärm auf Norderney entgehen wollten?

Welcher Lärm? Hier oben konnte es doch nur still sein.

Um Ludmillas Mundwinkel spielte ein leises Schmunzeln. Eine Stunde später kehrte sie in die kleine Pension zurück, in der das Ehepaar Falk Wessling und das Ehepaar Arnold Wessling nebst Tochter Antonie zwei Schlafzimmer mit je zwei Betten bewohnten. Arnold war ebenfalls zu einem Spaziergang aufgebrochen. Falk saß mit Bettina und Antonie beim Frühstück. Ludmilla setzte sich zu ihnen und begann mit gutem Appetit zu essen.

Bettina war es nicht leichtgefallen, Ludmilla dazu einzuladen, Antonie und sie auf ihrem gemeinsamen Ausflug zum Westergroen, der Spiekerooger Kuhweide, zu begleiten. Ludmillas gestrige Bemerkung hatte sie durchaus geschmerzt. Sie war immer noch unsicher, ob es ein Versehen gewesen war oder nicht.

Vielleicht sollte ich es einfach vergessen, überlegte Bettina, während sie der kleinen Antonie beim Spielen zuschaute. Vielleicht sollte ich mich mit meiner Tochter darüber freuen, die Kuhjungen mit ihren Tieren zum Melksett zu begleiten, wo die Kühe gemolken wurden. Wahrscheinlich reagiere ich einfach nur so, weil Ludmilla den Finger in die Wunde gelegt hat, genau dorthin, wo es schmerzt.

Es war wohl kaum die Schuld ihrer Schwägerin, dass Arnold und sie bislang nicht mit einem weiteren Kind gesegnet worden waren. Seit Antonies Geburt wurde sie einfach nicht mehr schwanger. Zwar mochte die Geburt noch nicht lange her sein, aber sie hatte kein gutes Gefühl und deshalb schon die unterschiedlichsten Ärzte konsultiert.

Ludmilla und Antonie rückten jetzt wieder näher, und sie konnte hören, wie ihre Schwägerin die Kleine auf ein paar Enten und Möwen aufmerksam machte. Bettina selbst entdeckte eine Lerche, mehrere Seeschwalben und natürlich die charakteristischen schwarz-weißen Austernfischer mit ihren langen, spitzen, orangefarbenen Schnäbeln und auch Rotschenkel, wenn sie ihrer Erinnerung trauen konnte. Aber sie kannte sich nicht besonders gut aus mit Vögeln.

Einen Augenblick später machte Antonies Jauchzen sie darauf aufmerksam, dass die Kühe nun endlich zum Melken getrieben wurden. Ludmilla ermahnte ihre kleine Nichte, gut aufzupassen. Dann gesellte sie sich an Bettinas Seite. Unruhig verfolgte die, wie ihre Tochter den Kühen entschlossen immer näher rückte. Die Tiere kamen Bettina mit einem Mal riesig vor, doch Antonie hatte überhaupt keine Angst, und sie war offenbar fest entschlossen, die Tiere zu streicheln.

»Antonie, nicht!«, rief Bettina, doch ihre Tochter hörte sie nicht. Als eine der Kühe ihren breiten Kopf zu Antonie drehte, wollte Bettina der Atem stocken. Ein Kuhjunge wurde aufmerksam, mühte sich im nächsten Moment ab, die Kleine hochzuheben, und ermöglichte es ihr damit, die Kuh zu streicheln. Antonie freute sich lautstark. Bettina legte sich eine Hand auf die Brust und versuchte, ruhiger zu atmen.

Es ist alles gut, sagte sie zu sich, alles ist gut.

»Es ist schön, sie so fröhlich zu sehen«, bemerkte sie langsam, bemüht, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen.

»Ja, du hast recht.« Ludmilla lächelte. »Erstaunlich, wie wenig wir zu Hause dazu kommen, auch nur ein ruhiges Wort miteinander zu wechseln, nicht wahr?«, fügte sie dann hinzu.

»Ja.« Bettina vergewisserte sich kurz, wo Antonie war. »Ich …«

Ludmilla legte ihr eine Hand auf den rechten Arm.

»Was ich gestern gesagt habe, tut mir leid. Es war unpassend und wenig mitfühlend.«

Bettina schluckte. Sie musste jetzt etwas antworten, aber würde Ludmilla dann nicht wissen, was sie bislang nur geahnt hatte? Aber wusste sie es nicht ohnehin schon? Wussten sie es nicht längst alle?

»Du hast es gewiss nicht böse gemeint«, sagte sie mit kleiner Stimme. Dann trat sie einen Schritt von Ludmilla weg und rief Antonie zu sich. Sie kämpfte mit den Tränen, doch das, so hatte sie in diesem Moment entschieden, sollte Ludmilla nicht sehen.

Sie schlossen ihren Spaziergang mit einem Abstecher über den Weeksloot ab, wo die Spiekerooger Jungen in ihrer freien Zeit spielten und badeten oder mit selbst gebauten Flößen umherschipperten. Sie konnten ein paar Ältere dabei beobachten, wie sie Angeln auslegten und Reusen aufstellten, um Butt und Aal zu fischen.

Bettina hielt das Gesicht in den Wind und genoss es, wie die Böe an ihren Kleidern riss. Sie hatte erfolgreich gegen das Weinen angekämpft. Wenn ihr jetzt die Augen tränten, dann würde es ein Leichtes sein, den Schmerz zu verbergen.

Ich fühle mich frei auf dieser Insel, fuhr es ihr durch den Kopf, freier zumindest als in dem Korsett, in das ich zu Hause geschnürt bin. Ganz unwillkürlich musste sie an ihn denken, an Richard, Arnolds Bruder, der sie im Frühjahr gen Hamburg verlassen hatte.

Ja, sie war überrascht gewesen. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass er es vorziehen würde, zu gehen – aber hatte er nicht recht? Bettinas Blick ging in die Ferne, ihre Gedanken ließen sich nicht mehr bremsen. Sie huschten fort, ohne dass sie einen Einfluss darauf hatte. Wo war Richard? Wie ging es ihm?

In solchen Momenten war die Erkenntnis, sich falsch entschieden zu haben, wie ein Schmerz, der sie immer begleiten sollte. Sie liebte Arnold nicht und würde ihn nie lieben. Ja, sie achtete ihn. Sie bewunderte seine Zielstrebigkeit und seine Verlässlichkeit, aber sie liebte ihn nicht. Sie liebte ihren Mann nicht. Sie hatte ihn nur geheiratet.

Als sie in der Pension eintrafen, war keiner der beiden Männer da. Ludmilla klagte über Müdigkeit und zog sich zurück. Antonie genoss es, noch ein Weilchen auf Mamas Schoß zu sitzen und über die Erlebnisse des Tages zu sprechen, bevor auch sie sich zu Bett bringen ließ, um sehr rasch einzuschlafen. Danach zog Bettina sich auf die Veranda zurück. Das Mädchen brachte ihr auf ihren Wunsch einen friesischen Tee. Bettina hatte bereits eine Tasse getrunken und beugte sich nun vor, um ein Stück Kandiszucker in die zweite Tasse zu geben und dann Sahne hinzuzufügen. Ein Wölkchen verteilte sich in dem kräftigen, dunklen Braun. Wieder trank sie bedächtig.

Sie genoss es, für einen Augenblick allein zu sein, genoss die Ruhe, die nur von fernen Stimmen unterbrochen wurde. Sie dachte an den kleinen Brief, mit dem Arnold sie darüber informiert hatte, dass Falk und er bereits im Speisesaal waren und dass sie sich anschließen könne, aber sie verspürte keinen Hunger.

Als es kühler wurde, ging sie wieder hinein. Die Männer waren noch nicht zurück. Antonie träumte offenbar und bewegte sich unruhig. Bettina trat an ihr Bett heran und streichelte ihr Köpfchen. Ihre kleine Tochter murmelte etwas Unverständliches. Bettina setzte sich neben sie. Wie so oft kamen ihr mit einem Mal vor Rührung die Tränen. Seit Antonies Geburt konnte sie beinahe über alles weinen. Bettina zögerte, dann versenkte sie den Kopf in Antonies hellem Haar. Wie würde es ihrer Tochter ergehen, wenn sie groß war, wenn man sie in das Korsett presste, dass das Leben für Frauen vorsah? Würde sie sich ihren kindlichen Eigensinn bewahren? Würde sie ihre Wünsche nicht aus dem Blick verlieren und trotzdem ehrlich bleiben? Endlich legte Bettina sich neben Antonie, eine Hand ruhte auf dem runden Bauch des kleinen Mädchens. Irgendwann musste sie eingenickt sein. Arnold weckte sie, indem er sanft ihre Wange tätschelte. Sein Atem roch nach Alkohol.

An diesem Morgen hatte Falk sich allein auf einen langen Spaziergang gemacht, um nach Tagen voller Grübeln endlich auf klare Gedanken zu kommen. Wie wollte er sein Leben weiterführen, was erwartete er sich für sich und seine Familie? Er hatte es schon auf der Reise in den Norden befürchtet: Jetzt, da er sich nicht in Arbeit stürzen konnte, dachte er zu viel nach. Es war immer dasselbe, seit er aus dem Krieg heimgekehrt war: An ruhigen, einsamen Orten wie diesem hatten seine Gedanken zu viel Spiel. Er konnte sich einfach nicht davon abhalten, ein düsterer Kreislauf, der ihn tiefer und tiefer hinabzog.

Falk hob den Kopf und schaute sich um. Nachdem er die Dünen hinter sich gelassen hatte, hielt sich der Blick an kaum einem Hindernis mehr auf. Der Himmel war weit und blau, mit Wolken und Wolkenfetzen, die darüber huschten und von Augenblick zu Augenblick neue Aussichten boten. Am Horizont gingen der blaue Himmel und das blaugraue Meer ineinander über. Auf einem glänzenden Lichtfleck tanzte eine Jolle.

Er hatte den Weg zum Badestrand gemieden, weil er ungestört sein wollte. Er wollte keinen anderen Badegästen begegnen. Er wollte keine Gespräche führen müssen mit Menschen, die glaubten, man habe etwas gemeinsam, nur weil man hier Urlaub machte. Er wollte den Wichtigtuern entgehen, die er, warum auch immer, anlockte wie ein Stück Fleisch die Fliegen. Er dachte daran, dass er sich vor nunmehr fast genau zwei Jahren falsch entschieden hatte und dass er deshalb in seinem ganzen Leben gewiss nicht mehr glücklich werden würde.

Warum habe ich das getan? Weil er für einen Moment geglaubt hatte, dass es die richtige Entscheidung war.

Falk blieb erneut stehen und legte den Kopf in den Nacken. Möwen zogen über ihm ihre Kreise, segelten über das Wasser hinweg, stießen auf der Jagd nach Fisch hinab und schossen im nächsten Moment mit einer silbrig zuckenden Beute im Schnabel gen Himmel. Er dachte an das Frederiken-Wäldchen, durch das er auf seinem Weg gekommen war. Soweit er wusste, hatten Frauen aus dem Dorf die Bäume angepflanzt, um zu verhindern, dass der Wind den guten Boden davontrug.

Gestern hatte er Ludmilla davon erzählt. Sie hatte sich deutlich gelangweilt. Dann war Arnold dazwischengegangen und hatte irgendetwas Belangloses von sich gegeben. Natürlich hatte sie gelacht. Sie reagierte so anders, wenn sein Bruder da war. Der große Arnold mit seinen hochfliegenden Plänen.

Falk war sich wieder einmal hilflos vorgekommen, dann wütend. Er liebte seinen Bruder, und er hasste ihn in diesen Momenten. Dann wollte er damit herausplatzen, was geschehen war, und damit, was Arnold wusste, Arnold, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Teil ihres Geheimnisses geworden war. Seines und Richards Geheimnis. Arnold, der seine Gelegenheit nutzen wollte.

Nach mir die Sintflut. Drei Brüder auf immer vereint.

Als er die Vertraulichkeit zwischen Arnold und Ludmilla nicht mehr ausgehalten hatte, hatte er das Haus verlassen und war ziellos auf und ab gelaufen. Er hatte fortgehen wollen und doch noch nicht einmal gewusst, wohin es gehen sollte. Auf einer Insel mitten in der Nordsee konnte man kaum entkommen. Dann hatte sich Arnold zu ihm gesellt, hatte ihm auf die Schulter geklopft, und so sehr er sich auch gewünscht hatte, dass es anders sein möge, so hatte er die Berührung doch genossen.

Falk, der kräftig ausschreitend den Kopf gesenkt gehalten hatte, schaute auf. Es war nicht das erste Mal, fiel ihm jetzt auf, dass er seine Schritte zu jenem Friedhof gelenkt hatte, auf dem man die Toten der Johanne begraben hatte, der Bark, die bereits auf ihrer Jungfernfahrt vor Spiekeroog gesunken war. Ein Mann, der aus der anderen Richtung gekommen war, blieb ebenfalls stehen.

»Ein schreckliches Unglück«, sagte er unvermittelt, noch bevor Falk mit einem knappen Gruß an ihm vorübergehen konnte.

»Hm.«

Falk versuchte knapp und abwehrend zu klingen und war sich doch sicher, dass ihm auch dies misslang. In jedem Fall sprach der Fremde einfach weiter.

»Sie wollten in die Neue Welt, und was haben sie gefunden? Ein kühles Grab. Mein Vater und mein Großvater, Gott hab ihn selig, waren damals dabei … Ich war noch ein kleiner Junge von vier Jahren, doch auch ich erinnere mich an das Elend … Wie das Schiff gestrandet ist und man den armen Menschen nicht helfen konnte, wegen der Flut, und wie so viele ertrunken sind … Das Meer ist erbarmungslos, das muss man wissen.«

Das Meer ist nicht erbarmungslos, dachte Falk, Menschen sind es. Das Meer ist, wie es ist. Menschen treffen Entscheidungen. Er spürte, wie ihm der Mund trocken wurde, seine Gedanken drehten sich wie in einem rasenden Strudel.

»Wann war das?«, hörte er sich fragen.

»1854. Meinem Vater, dem lag die Schuld damals schwer auf den Schultern, weil er den armen Seelen nicht helfen konnte. Wir konnten nichts tun und ›Trotzdem‹, sagte mein Vater immer, ›wenn man dasteht und kann nichts tun und man hört die Schreie‹ … Es waren auch Kinder dabei, und mein Vater sagte immer, wenn er mich danach ansah, musste er an die armen Kinder denken, und da wollte es ihm das Herz zerreißen …«

Falk schwieg. Es war nicht so lange her, wie er gedacht hatte, der Mann jünger, als er geschätzt hatte. Und er hatte nichts vergessen, rein gar nichts. Ich werde auch nicht vergessen können, dachte er, niemals.

Seit vier Tagen waren sie nun schon hier. Fast täglich lockten der Strand, das Meer oder ein Spaziergang durch die Dünen. Gemeinsam mit Bettina hatte Arnold bereits zwei Segelfahrten mitgemacht, allein hatte er ein Bad genossen. Trotzdem konnte er nicht aufhören, an zu Hause zu denken. Was, wenn sich dort in Frankfurt endlich die Gelegenheit ergab, was, wenn er seine Chance verpasste?

Nein, er konnte sich einfach nicht entspannen. Während es sich der Rest der Familie auf Decken am Strand bequem gemacht hatte, während sich die Frauen mit Schirmen vor der Sonne schützten und Antonie beharrlich im weißen Muschelsand wühlte und juchzend immer neue Muscheln zu ihrem allerliebsten Schatz erklärte, starrte Arnold über das blaugraue, von Schaum bekrönte Wasser hinweg.

Als seine Brüder damals aus dem Krieg heimgekehrt waren, als er erfahren hatte, was geschehen war, hatte er nicht gezögert. Er hatte gewusst, was getan werden musste. Doch was nutzte all dieses Wissen, wenn der eigene Schwiegervater ein starrsinniger Esel war und die eigene Frau darauf bestand, der alte Kerl müsse sanftmütig von den neuen Ideen überzeugt werden? Ja, er hatte ihr versprochen, vorerst abzuwarten, und er tat es, weil er sie liebte und an seiner Seite brauchte, aber er hatte sich inzwischen bereits mehr als einmal gefragt, ob diese Entscheidung wohl richtig gewesen war.

»Manchmal denke ich, wir hätten das damals nicht tun sollen«, hörte er plötzlich die Stimme seines jüngeren Bruders Falk neben sich. »Manchmal denke ich, wir haben uns schuldig gemacht und werden nie wieder glücklich werden …«

»Glaubst du, Richard sieht das auch so?«, entgegnete Arnold mit der, wie er fand, notwendigen Härte. Für einen Moment lauschte er Falks Atemzügen und ließ seine Worte wirken, dann drehte er sich zu seinem jüngeren Bruder hin.

»Du darfst so etwas nicht denken, Falk. Es war Krieg, im Krieg ist alles ein wenig anders. Du musst dir nichts vorwerfen.«

»Meinst du?« Man sah es Falk an, dass er zweifelte.

»Ja.« Arnold klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »Ja, natürlich, du hast alles richtig gemacht.«

»Ich … Ich weiß nicht.«

»Doch«, Arnold tippte seinem Bruder gegen die Brust. »Und tief in dir, da weißt du es auch.« Falk wich seinem Blick aus und schaute auf das Meer hinaus. Arnold musterte ihn prüfend von der Seite. Kann ich ihm trauen?, fragte er sich plötzlich. Jetzt, in diesem Moment, war er sich da nicht sicher. Und wenn er ihm nicht trauen konnte, was dann …?

Einweihung

September 1880

Zweites Kapitel

Fünf Uhr morgens … Arnold war nicht abergläubisch, war es auch niemals gewesen, aber er fand seit jeher Gefallen an Daten. Er freute sich, wenn der Erste des Monats auf einen Montag fiel, und er begann mit der Umsetzung seiner Pläne ebenfalls gerne montags. Auch für sein Warenhaus, auf das er so lange hingearbeitet hatte, hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Damals, am 9. September 1869, war im Rahmen einer kleinen Feier der Grundstein für die Erweiterung des Kaufhauses Le Bon Marché in Paris gelegt worden. Die Einweihung vom Warenhaus Wessling würde deshalb ebenfalls am 9. September stattfinden. Arnold wusste, dass die wenigsten dem Datum irgendeine Bedeutung beimaßen – sehr wahrscheinlich sogar war die Besonderheit keinem bekannt –, aber Arnold wusste es, und das genügte.

Arnold schenkte der schwachen Spiegelung in der Scheibe ein kurzes Lächeln. Ja, er hatte es für Bettina getan. Er war ein guter Mann und jetzt auch noch Besitzer des größten Warenhauses, das Frankfurt je gesehen hatte – vom Warenhaus Wessling. Natürlich hatte er über einen französischen Namen nachgedacht, denn Frankreich hatte mit seinen Warenhäusern nun einmal Maßstäbe gesetzt, aber es war ihm letztendlich doch angemessener erschienen, einen ehrlichen deutschen Namen zu wählen.

Arnold atmete tief ein und aus. Heute war es also so weit. Man schrieb den 9. September. Er stand im Erdgeschoss vom Warenhaus Wessling, inmitten seines Ladens, und es war so früh und noch so kalt, dass sich kleine Atemwölkchen vor seinem Mund bildeten. Auch wenn es zuerst nicht danach ausgesehen hatte, war doch noch alles zu seiner Zufriedenheit zu Ende gebracht worden. Der Marmorboden glänzte, wo Licht auf ihn traf. Auf den Tischen waren die ersten Waren verlockend angerichtet worden, wie ein Dessert, auf das man sich die ganze Zeit gefreut hatte. Hier und da hatte man Raumunterteilungen aus glänzendem Edelholz geschaffen. Ein kleiner Schäfer stand inmitten eines plätschernden Brunnens, umringt von drei Schafen. Weiter hinten hielt eine große, weibliche Figur einen Korb im Arm. Arnolds Blick bewegte sich rasch die Treppen hinauf, entlang der Handläufe aus poliertem Messing.

Er war müde, doch dies würde man ihm heute nicht anmerken. Niemand würde bemerken, dass er in dieser Nacht kaum Ruhe gefunden hatte, oder dass er sich tagelang Gedanken darum gemacht hatte, wie die Ware noch gefälliger präsentiert werden konnte, damit sich genügend Käufer fanden. Niemand würde wissen, wie sehr er sich davor fürchtete zu scheitern …

Was, wenn sich nicht genügend Käufer fanden? Was, wenn sein seliger Schwiegervater recht gehabt hatte und er seine Familie in den Abgrund riss? Ob hier überhaupt genügend Passanten vorbeikamen, genügend Menschen, die vor den Schaufenstern stehen blieben und sich dann zum Kauf hineinlocken ließen? Das Grundstück war auch nicht billig gewesen. Er hatte viel gewagt.

Arnold krampfte die Hände zusammen, bis sie schmerzten. Sein verkümmertes, rechtes Bein fühlte sich einen Moment lang an, als könne es ihn nicht mehr tragen. Seine Behinderung, die er sich sonst zu vergessen bemühte, drängte sich mit aller Macht in seine Wahrnehmung.

Ich werde es schaffen. Arnold straffte seinen Körper. Ich werde es schaffen, weil es das Richtige ist. Warum soll das, was in Paris Erfolg hat, nicht auch hier erfolgreich sein? Frankfurt ist eine Stadt. Er würde nicht scheitern, das war ganz unmöglich. Die Leute warteten auf das Warenhaus Wessling. Sie wussten es vielleicht noch nicht, aber so war es.

Sieben Uhr morgens … Zehn Jahre war es jetzt her, zehn Jahre lang hatte Arnold auf diese Gelegenheit gewartet. Zehn Jahre lang hatte ihr Ehemann geträumt, zehn Jahre lang hatte er Pläne geschmiedet, mit Rückschlägen leben gelernt, offenen und versteckten Spott ertragen.

Zehn Jahre lang hat Papa ihm Steine in den Weg gelegt.

Nein, Siegfried Kuhn hatte es Arnold nicht leicht gemacht, und trotzdem hatte Arnold die Stärke gehabt, an dessen Sterbebett persönlich von ihm Abschied zu nehmen. Ein Dreivierteljahr war das jetzt her, und Bettina rechnete es ihm hoch an.

Noch ein Weilchen blieb sie stehen, dann löste Bettina sich vom Schlafzimmerfenster, durch das sie die erwachende Stadt vor ihrem Haus beobachtet hatte. Noch ein letzter Spätsommermonat, bevor der Herbst Einzug hielt und das Jahr unaufhaltsam auf sein Ende zuging. Bald würde Arnold kommen, um sie abzuholen. Bis dahin musste sie fertig angekleidet sein. Er wartete nicht gern.

Bettina drehte sich zum Spiegel hin. Die zurückliegenden zehn Jahre hatten auch sie verändert, das ließ sich nicht verleugnen. Sie war keine dreiundzwanzigjährige Frau mehr, die mit ihren Entscheidungen haderte. Sie war kein Mädchen mehr, das davon träumte, mehr wagen zu wollen. Sie musste unwillkürlich an Richard denken, den sie so lange nicht gesehen hatte. Immer wieder war er in ihren Gedanken, immer wieder verbannte sie ihn daraus.

Noch einmal beugte Bettina sich näher zu ihrem Spiegelbild hin. Ja, sie war älter geworden. Unter den Augen wirkte ihre Haut dunkler. Da waren feine Fältchen um Mund, Nase und Augen. Nein, die Zeit war wirklich nicht unbemerkt an ihr vorübergegangen. Sie war nicht jünger geworden. Sie würde niemals mehr eine junge Mutter sein, niemals mehr die junge Ehefrau, und heute Abend würde sie die Bühne des Lebens mit einer weiteren neuen Rolle verlassen.

Und wer bin ich dann? Bettina Wessling, die Frau des Warenhausbesitzers? Die Frau des Warenhausdirektors? Wie nannte man so etwas? Bettina stützte die Arme auf den Tisch und schloss die Augen. Als Kind war sie Tochter des Kaufmanns Kuhn gewesen. Stunden hatte sie im Geschäft ihres Vaters verbracht, hatte zugehört, beobachtet, gespielt – und genau wie ihr Vater hatte sie lange geglaubt, dass Arnold das Geschäft eines Tages übernehmen würde. Nun, sie hatten sich beide geirrt.

Während Arnold sie rasch von seiner Idee überzeugt hatte, war er bei ihrem Vater auf heftigen Widerstand gestoßen. Siegfried Kuhn hatte ihm entschlossen jede Unterstützung verweigert, und ja, vielleicht war Arnold deshalb auch so lange vor der Umsetzung seiner Pläne zurückgeschreckt. Er hatte durchaus gewusst, dass er Siegfried Kuhns gute Beziehungen nicht außer Acht lassen durfte. Siegfrieds Wort hatte etwas gegolten in der Gemeinde der Frankfurter Kaufleute.

ENDE DER LESEPROBE