Die geheimen Worte - Rebecca Martin - E-Book

Die geheimen Worte E-Book

Rebecca Martin

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Beschreibung

Wenn die Liebe verbotene Wege geht

Bad Kreuznach, 1840: In der aufstrebenden Kurstadt verlieben sich die Schwestern Anne und Sophie in den englischen Gast James Bennett. Es ist für beide der Beginn einer heimlichen Leidenschaft: Anne ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, während die viel jüngere Sophie ihr Leben selbstbestimmt gestalten möchte. Die Katastrophe ist unausweichlich, als James beide Schwestern zurückweist. Erst vier Generationen später kommt ans Licht, was damals geschah …

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Das Buch

Frankfurt am Main, 1920: Die einundzwanzigjährige Marlene Gellert aus gutem Hause steht kurz vor ihrer Hochzeit. Obwohl sie ihn nicht liebt, soll sie den Sohn eines Geschäftspartners ihres Vaters heiraten. Doch ihre Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmtheit ist stärker als die Aussicht auf Sicherheit. Als sie schließlich den schönen Künstler Adrian Nussbaum trifft, wird ihr klar, dass sie ihr vorbestimmtes Leben aufgeben muss.

Bad Kreuznach, 1840: Die Schwestern Anne und Sophie wachsen als Töchter eines angesehenen Arztes auf. Die sechsundzwanzig Jahre alte Anne ist eher zurückhaltend, bereits verheiratet und hat eine kleine Tochter. Ihre jüngere Schwester Sophie hingegen ist impulsiv und lebenshungrig. Noch ledig, sehnt sie sich nach einer emanzipierteren Zukunft. Als die so unterschiedlichen Frauen den jungen, attraktiven Kurgast James Bennett kennenlernen, verfallen beide dessen Charme. Doch die heimliche Leidenschaft zu diesem rätselhaften Mann gefährdet ihr bisher inniges Verhältnis. Mehr noch, Annes Ehe und Sophies guter Ruf stehen auf dem Spiel.

Fast ein Jahrhundert später erfährt Marlene von den Folgen dieser Ménage-à-trois und muss erkennen, dass diese auch nach vier Generationen ihr Leben bestimmen …

Die Autorin

Rebecca Martin studierte Englisch und Deutsch in Frankfurt am Main und in Dublin, Irland. Ihre Leidenschaft gehört dem Reisen, der Geschichte und ihren Geschichten. Ihr Roman Die verlorene Geschichte gelangte sofort nach Erscheinen auf die SPIEGEL-Bestsellerliste, gefolgt von ihrem zweiten Roman Der entschwundene Sommer. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Nahetal.

REBECCAMARTIN

Die geheimenWorte

Roman

Originalausgabe 04/2015

Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion | Carola Fischer

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv |© age fotostock/LOOK-foto; Shutterstock

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-14502-6

www.diana-verlag.de

Erstes Kapitel

Frankfurt am Main, Mai 1923

Die Stimmen der anderen verklangen langsam in der Ferne. Marlene hatte lange überlegt, sich einfach zurückfallen zu lassen, unsicher, ob nicht irgendjemand ihr Tun bemerken musste, das dann zu unangenehmen Fragen oder Zurechtweisungen führen würde. Dann waren Mama und Tante Ottilie aber doch zu sehr in ihr Gespräch vertieft gewesen, und Papa hatte sich kurz vorher mit dem fünfzehnjährigen Gregor, ihrem jüngeren Bruder, seitwärts in die Büsche geschlagen. Wohin Marlene ihnen im Übrigen gerne gefolgt wäre, aber dazu war sie mit ihren knapp zwanzig Jahren mittlerweile ja zu alt. Sie hatte nur sehnsüchtig auf die Stimmen der beiden hören können, die in der Ferne leiser und leiser wurden.

Frei sein … Marlene blieb erstmals seit ihrer »Flucht« stehen und atmete tief durch. Seit sie Eltern, Bruder und Tante verlassen hatte, war sie nur gelaufen und gelaufen, ohne nach rechts oder links zu blicken; in Gedanken verloren an das, was die Zukunft bringen würde. Sie hatte einfach nicht anhalten können. Sie hatte weggemusst von ihrer Familie, weg von jenen, die das Morgen planten, ohne sie einmal nach ihren Wünschen zu befragen. Mit jeder Minute mehr war es Marlene enger um die Brust gewesen. Dann hatte sie es einfach nicht länger ausgehalten: die Gespräche nicht und nicht den langweiligen Spaziergang, auf dem sie sich gesittet zu verhalten hatte und es allen vollkommen gleichgültig war, wonach ihr der Sinn stand.

Als ob ich noch ein kleines Mädchen wäre …

Tatsächlich drehte sich in letzter Zeit alles nur noch um die bevorstehende Verlobung mit Albert Schwedt. Mama redete unablässig davon, sprach darüber, was es bei der Feier zu essen geben sollte, wo das Fest stattfinden musste, welches Kleid die Tochter tragen, welche Musik gespielt, welche Gäste geladen und welche Ringe Marlene und Albert tauschen würden.

Die Hochzeit muss einfach perfekt sein.

Auch Tante Ottilie suchte die Nichte beinahe tagtäglich über deren Zukunftspläne auszuhorchen, darüber, wie viele Kinder sie sich wünschte und ob Marlene wohl gern einen großen Garten hätte.

»Dann«, sagte Tante Ottilie bedeutsam, »wirst du allerdings auch einen Gärtner bezahlen müssen. Ein großer Garten braucht ganz unbedingt einen Gärtner.«

Vater war der Einzige, der schwieg, was diesen »Weiberkram« anging, aber auch er blickte stolz drein, zufrieden über die gute Verbindung, die sich da anbahnte. Wirtschaftlich betrachtet war die Hochzeit in diesen schweren Zeiten »eine prächtige Sache«. Nur auf Marlene hörte niemand, und niemand kümmerte es, dass sie überhaupt nicht heiraten wollte.

Jetzt nicht, vielleicht nie …

Einmal hatte sie versucht, mit Mama darüber zu sprechen.

»Aber«, hatte die geantwortet und nur den Kopf geschüttelt, »Frauen müssen heiraten – du willst doch nicht als alte Jungfer enden, Liebes. Und Albert ist doch gar kein schlechterKerl, gut aussehend, nicht auf den Kopf gefallen, Erbe eines beträchtlichen Vermögens, das sich auch in diesen schweren Zeiten der Inflation nicht mindert.«

Nein, die Schwedts mussten sich wirklich nicht die geringsten Sorgen machen. Sie besaßen Land, Häuser, ausgedehnte Waldungen.

»Und«, endete Mama meist, »ihr habt schon als Kinder so schön miteinander gespielt.«

Marlene schüttelte ihren hellbraunen Lockenkopf, den sie heute locker im Nacken zusammengebunden hatte.

Gewiss, sie mochte Albert, aber heiraten? Sie waren Freunde. Sie hatten miteinander gespielt und waren sich nie fremd gewesen, aber man heiratete doch keinen Freund.

Oder etwa doch?

Zum ersten Mal, seit sie gedankenverloren einfach weiter gelaufen war, hob die junge Frau den Kopf und blieb gleich darauf unvermittelt stehen.

Wo bin ich?

Für die erste Wegstrecke hatte sie sich einfach in entgegengesetzter Richtung zu Eltern, Bruder und Tante bewegt. Sie hatte ja nur fortgewollt, doch als sie sich nun wieder umsah, war ihr die Umgebung vollkommen unbekannt.

Marlene legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, wo sich zwischen den lichten Buchen blauer Himmel und Sonne zeigten. Aber auch so konnte sie nicht erkennen, wo sie sich befand.

Fliegen müsste man können.

Sie lachte, aber es heiterte sie nicht auf. Marlene fühlte sich mit einem Mal kläglich. Kalt wurde ihr, dann schlagartig warm. Sie fuhr sich mit dem rechten Ärmel über das Gesicht. Im Wald mochte es schattig sein, aber die Luft war stickig, und man spürte die Hitze, die wohl noch zugenommen hatte, seit sie das Ausflugsschiff verlassen hatten.

Hatte sie sich etwa verlaufen? Sie hatte nicht gedacht, dass das möglich war. Sie waren schließlich nicht zum ersten Mal hier. Vater mochte den Niederwald zwischen Assmannshausen und Rüdesheim, und eigentlich kannten sie ihn doch alle wie ihre Westentasche.

Vater kennt ihn wie seine Westentasche …

Nochmals blickte Marlene sich unruhig um, doch um sie war nur Wald, so weit sie blicken konnte: Wald, Bäume, Bäume und noch mehr Bäume, Wald, der ihr jetzt mit jedem Atemzug düsterer erschien. Warum sprach man eigentlich immer von lichten Buchenwäldern? Hier war nichts Helles, alles war dunkel, drückend und bedrohlich, und die Geräusche, ein Knacken hier, ein Rascheln dort, eben noch unbemerkt, ließen Marlene jetzt zusammenzucken.

Warum habe ich nicht besser aufgepasst?

Eine neuerliche Gänsehaut überlief ihren Körper. Wieder drehte sie sich langsam um ihre eigene Achse. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Noch immer zeigte sich nichts Bekanntes, und inzwischen war sie sich auch unsicher, aus welcher Richtung sie eigentlich gekommen war.

Den ersten schwachen Blitz, der den Himmel über ihr durchzuckte, bemerkte Marlene kaum, erst der darauffolgende Donner ließ sie zusammenfahren. Unwillkürlich beschleunigte die junge Frau ihre Schritte. Noch regnete es nicht, aber sicherlich würde sehr bald ein heftiger Schauer niedergehen. Dunkler und dunkler wurde es, sodass sie mittlerweile schon nicht mehr sehr weit blicken konnte. Trotz der Schwüle war das Sommergewitter für sie unerwartet gekommen.

Wie spät es wohl war? Wie viel Zeit war vergangen, seit sie Eltern, Bruder und Tante verlassen hatte?

Marlene hob ihre schmale Damenarmbanduhr an die Augen, auf andere Weise konnte sie das Zifferblatt kaum erkennen. Eine knappe halbe Stunde mochte vergangen sein, seit sie festgestellt hatte, dass sie sich verlaufen hatte. Entschlossen war sie danach noch eine Weile geradeaus in eine Richtung gelaufen, voll der Hoffnung, sehr bald etwas Bekanntes zu sehen, doch sie hatte sich geirrt.

Ich erkenne immer noch nichts. Was, wenn ich in die völlig falschen Richtung unterwegs bin?

Ein neuer Blitz zuckte über den grau-schwarz dräuenden Himmel, dieses Mal so hell und kräftig, dass die junge Frau ihn auch unten im Wald gut sehen konnte. Der Donner krachte nur wenig später. Nicht zum ersten Mal zuckte Marlene zusammen. Gleich darauf ließ die Angst sie schneller laufen, dann rannte sie einige Meter und stockte erneut.

Was sollte das? Sie wusste ja gar nicht, wohin sie sich retten, wo sie Schutz finden konnte. Es war deshalb auch sinnlos, blindlings loszuhetzen wie ein Tier …

Ich muss nachdenken.

Marlene schaute sich um. Erneut krachte der Donner, und doch konnte sie nicht sagen, was sie in diesem Moment schlottern ließ, die Kälte oder die Furcht vor dem Gewitter, oder doch eine Mischung aus beidem? Sie konnte nur hoffen, dass man sie inzwischen vermisste und sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte …

Der Gedanke daran, wie ein dummes Kind zurückgebracht zu werden, verärgerte sie allerdings bei aller Furcht. Sollte sie tatsächlich auf die anderen warten – oder doch versuchen, sich selbst zu retten? Nein, es behagte Marlene wirklich nicht, hier einfach zitternd stehen zu bleiben und sich ihrem Schicksal zu ergeben.

Ich bin nicht dumm.

Sie konnte selbst für sich sorgen, das war es ja, was sie beweisen musste und wollte. Vielleicht würden ihre Eltern dann auch einsehen, dass nur sie selbst, über ihr Leben bestimmen konnte. Heutzutage durften Frauen doch auch wählen – auch wenn Mama keinen Gebrauch davon machte, Marlene würde es tun, sobald sie alt genug war.

Heute bestimmen Frauen selbst über ihr Leben, und ich werde das auch tun.

Entschlossen schob die junge Frau das Kinn vor. Ein erneuter Blitz erhellte ihre düstere Umgebung und schälte mit einem Mal etwas aus der Dämmerung heraus, das ihr vage bekannt vorkam. Endlich erinnerte sie sich an etwas …

Marlene kniff die Augen zusammen. Da war doch diese Höhle, hier ganz in der Nähe – doch, ja, sie erkannte diesen Baum dort, dessen Stamm im unteren Bereich zweigeteilt war und weiter oben zu einem zu werden schien –, ein künstlicher Gang, der sich wie eine Schlange über den Waldboden zog, auf den sie immer kurz nach dem Aufstieg von Assmannshausen aus stießen.

Die Zauberhöhle …

Einst, vor über hundert Jahren, waren ihre Wände von glitzernden Glassteinen verziert gewesen, die Rotunde an einem Ende mit Spiegeln versehen. Gregor und sie waren natürlich wie immer sofort hindurchgelaufen. Die Mutter und Ottilie grausten sich vor den Spinnen in dem düsteren Gang und lehnten deshalb ab. Der Vater blieb als ihr Beschützer ebenfalls zurück.

War das die Möglichkeit? Hatte sie wirklich den Weg zurück gefunden?

Marlene atmete tief durch. Vielleicht konnte sie sich ja doch besinnen, vielleicht würde sie den Weg zu ihrer Familie finden, oder zumindest zu dieser Höhle – so sie sich nicht irrte – und in dem kleinen Vorraum dort Schutz vor dem Regen finden, denn das Blätterdach, unter dem sie sich befand, würde sie nicht auf Dauer schützen, inzwischen fanden immer mehr Regentropfen ihren Weg bis ganz zu ihr herunter.

In diesem Moment öffnete der Himmel endgültig seine Schleusen. Binnen Minuten war Marlene klatschnass. Das schmal und gerade geschnittene Sommerkleid mit dem auffälligen grafischen Muster in dunklem Lila klebte binnen kürzester Zeit an ihr. Besonders der lange, modische Rock verfing sich jetzt bei jedem Schritt zwischen ihren Beinen und machte es ihr schwer, nicht zu stolpern.

Obgleich Marlene das kaum für möglich gehalten hatte, wurde es noch dunkler. Entschlossen kämpfte sie sich Schritt um Schritt voran. Es war nicht mehr weit, davon war sie inzwischen überzeugt. Natürlich musste sie vorsichtig sein, damit sie sich nun in der Eile in der Finsternis nicht verletzte, aber gleich war sie ja gerettet.

Sie streckte die Hände tastend vor sich, ging Schritt um Schritt vorwärts, stolperte hie und da, fiel aber zumindest nicht zu Boden. Ab und an schrammte sie an einem Baum vorbei, dessen Abstand sie falsch eingeschätzt hatte. Immer wieder musste sie den nassen Rock von ihren Beinen lösen. Der Regen war ein dunkles, dumpfes Rauschen. Einmal peitschte ihr ein Ast ins Gesicht und hinterließ eine schmerzende Abschürfung, doch Marlene hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Sie würde sich retten. Einzig das zählte.

Die kleine Rotunde tauchte so plötzlich aus der Finsternis auf, dass die junge Frau zurückschreckte. Dann musste sie lachen, ein etwas schrilles Lachen, das seltsam an diesem einsamen Ort klang und sie gleich wieder verstummen ließ.

Aber ich habe es geschafft.

Erst jetzt bemerkte Marlene, wie schwer ihre Beine von dem weiten Weg waren, wie sehr sie unter der feuchten Kleidung fror.

Geschafft, sang es trotzdem weiter in ihr, geschafft, während sie sich nun rascher dem Eingang näherte.

Sie fühlte sich sofort ruhiger, auch wenn sie jetzt schlagartig müde war und äußerst froh, sich gleich setzen zu dürfen.

Sie zitterte. Im nächsten Moment überlief die junge Frau ein solcher Schauder, dass sie stehen bleiben musste. Noch einmal löste sie den Rock von ihren Beinen, schluckte einen leisen Fluch herunter. Der feuchte Stoff fühlte sich unangenehm an. Sie biss entschlossen die Zähne aufeinander.

Wenn ich die Rotunde erreicht habe, bin ich sicher vor dem Unwetter, dann kann ich mich ausruhen.

Also stolperte sie voran, wäre kurz vor dem Ziel fast noch über eine Unebenheit gestürzt, konnte sich aber gerade noch halten.

Dann prasselte der Regen endlich nicht mehr auf ihren Kopf. Sie hatte es geschafft. Marlene wischte sich mit beiden Händen notdürftig die Wassertropfen aus dem Gesicht, schlang die Arme um sich, im Versuch, sich selbst etwas Wärme zu geben.

Jetzt, wo sie angekommen war, fror sie noch mehr. Ihr Atem, der schnell gegangen war, beruhigte sich dagegen rasch. Ihre Augen gewöhnten sich bald an das dämmrige Licht. Marlene schaute sich nach einem Sitzplatz um. Da erregte in einer Ecke etwas ihre Aufmerksamkeit, etwas, was sich bewegte, sich aus den Schatten löste und auf sie zukam. Marlene schrie gellend auf.

»Wie konnte Marlene denn einfach verschwinden?« Karl Gellert schaute von seiner Frau Gisela zu deren Schwester Ottilie und wieder zurück, während der fünfzehnjährige Gregor das ganze Geschehen genüsslich aus einiger Entfernung beobachtete. Tatsächlich war es ihnen noch knapp vor Ausbruch des Unwetters gelungen, Schutz in der kleinen Schenke in Rüdesheim zu finden, die heute ihr Ziel war.

Dort war Marlenes Fehlen erstmals aufgefallen. Die zarte Gisela schaute ihre kräftigere Schwester Hilfe suchend an. Ottilie wiederum betrachtete die Regentropfen, die über das Glas draußen liefen, und wusste offensichtlich auch nichts zu sagen.

»Wir haben uns unterhalten«, brachte sie schließlich mit einer derart leisen Stimme hervor, dass ihre kräftige Gestalt dazu in seltsamem Widerspruch stand. »Wir haben einfach nicht bemerkt, dass sie nicht mehr da war.«

Gregor feixte und wartete gespannt auf die folgenden Entwicklungen, zuckte jedoch im nächsten Moment zusammen, als sein Vater sich ihm zuwandte und mit messerscharfer Stimme fragte: »Und du? Was hast du zu sagen?«

Karls Augenbrauen zogen sich bedrohlich über der Stirn zusammen. Gregor wich seinem festen Blick unsicher aus.

»Ich habe nicht darauf geachtet«, stotterte er. »Als wir beide in den Wald gegangen sind, war sie noch da.«

Der Vater sah ihn scharf an. »Als Mann muss man immer den Überblick bewahren. Es ist unmöglich, die Frau, die dir anvertraut ist, einfach so aus den Augen zu verlieren.«

»Aber meine Schwester …«

»Schweig, Gregor!« Karls Blick ließ den Jungen verstummen. Dann wandte er sich wieder den Frauen zu. »Und jetzt erinnert euch bitte, wo habt ihr Marlene zuletzt gesehen?«

Nur einen Moment später wurde aus dem Schemen die Gestalt eines jungen Mannes. Marlene presste die Lippen aufeinander und straffte die Schultern. Auf keinen Fall wollte sie Verunsicherung oder Angst zeigen.

»Guten Tag«, sagte sie also hoheitsvoll und ärgerte sich auch schon über ihre leise Stimme. So furchtsam hatte sie gerade nicht klingen wollen.

»Guten Tag, Fräulein!«, erwiderte der Mann. Er kam gleich noch etwas näher.

Marlene konnte nicht zurückweichen und wollte es ja auch nicht. Es war lediglich ein Impuls gewesen.

Sie straffte die Schultern und verbot sich, unruhig an dem nassen Kleid zu zupfen, während sie den Mann musterte.

Er war jung, das hatte sie gleich gemerkt, und nein, sie kannte ihn nicht, auch wenn sie das wohl insgeheim gehofft hatte. Ja, irgendwie hatte sie sich wohl eingebildet, es würde einfacher sein, wenn man sich schon irgendwo vorher begegnet war, auf dem Ausflugsschiff womöglich oder auch auf dem Weg. Eine absurde Hoffnung sicherlich und überhaupt: Was machte das denn für einen Unterschied?

»Mit wem habe ich das Vergnügen?«, wagte sie sich vor.

»Adrian.«

»Herr Adrian?« Marlene bemühte sich weiter, ihre Unsicherheit zu überspielen, auch wenn sich bei ihr der Eindruck verfestigte, dass ihr dies nicht besonders gut gelang.

»Nein, nicht Herr.« Der fremde Mann war jetzt so nahe, dass sie erstmals das Lächeln auf seinem Gesicht erkennen konnte.

Er hatte etwas längeres Haar – zu lang, wie ihr Vater sicher finden würde –, das er sich nun in einer Bewegung hinter die Ohren schob.

Und Mama würde seine Kleidung nachlässig nennen und abfällig die Stirn runzeln …

»Mein voller Name ist Adrian Nussbaum. Und mit wem habe ich das Vergnügen, jetzt, wo Sie bereits alles über mich wissen?«

Sein Lächeln war einem neckenden Grinsen gewichen.

Marlene zögerte. Nichts wusste sie über ihn, gar nichts, aber natürlich hatte auch er ein Anrecht, ihren Namen zu erfahren. Das gebot die Höflichkeit.

»Marlene Gellert.«

Sie schaute immer noch so hochmütig sie konnte. Er verbeugte sich.

»Fräulein Gellert, sehr erfreut!«

»Herr Nussbaum!«, grüßte Marlene zurück, während die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten. Seine Verbeugung hatte sie überrascht. Für ihre Eltern sah dieser Mann doch gewiss aus wie ein Hallodri, der sich eben nicht zu benehmen wusste – und doch hatte er sich vor ihr verbeugt …

»Habe ich Sie durcheinandergebracht?« Adrian grinste. »Doch, ich kann mich benehmen. Sagen Sie schon, wer würde Sie eher vor mir warnen? Der Vater oder die Mutter?«

Marlene schaute ihn verwirrt an, aber er hatte recht. Sie hatte sich tatsächlich gerade genau diese Gedanken gemacht. Sie entschied sich, die Frage nicht zu beantworten.

»Nachdem wir nun unsere Namen kennen«, sagte sie stattdessen und zögerte, bevor sie ihrer Neugier nachgab: »Wo kommen Sie her, und was bringt Sie in diese Gegend? Ich für meinen Teil mache einen Ausflug mit meiner Familie.«

Sie wartete ab. Ganz sicher hatte er sich das schon ausgerechnet. Sie wollte ihm nur zeigen, dass ihr dies nichts ausmachte.

»Nun gut«, sagte er, »ich bin Adrian Nussbaum, komme aus Frankfurt am Main und nutze meinen freien Tag für einen Ausflug, nachdem ich die letzten Wochen über mehr als hart gearbeitet habe«, gab er zurück. »Darf ich Ihnen übrigens meine Jacke anbieten, Sie sind ja bis auf die Haut durchnässt!«

Aus irgendeinem Grund hoffte Marlene, dass man im schwachen Dämmerlicht nicht sah, wie sie errötete. Mit immer noch fragendem Blick überreichte er ihr eine graue Strickjacke. Sie schlüpfte schnell hinein. Die Jacke war trocken und schwer. Die Wolle kratzte durch den dünnen, nassen Stoff ihres Kleides. Für gewöhnlich hätte sie sich beschwert, doch jetzt war sie froh um jedes bisschen Wärme, wie sie feststellen musste. Sie hob den Kopf und lächelte dankbar.

»Ich bin Marlene Gellert, wie Sie ja bereits wissen, ebenfalls aus Frankfurt.«

»Ah.« Adrian Nussbaum trat wieder einen Schritt von ihr weg. Marlene fragte sich, was sie tun sollte, falls er den Abstand nicht mehr wahrte. Was, wenn er sie angelogen hatte? Was, wenn er nicht auf einem Ausflug war, sondern etwas ganz anderes im Sinn hatte? Womöglich lauerte er hier armen Wanderern auf. Sie hatte Zeitungsberichte darüber gelesen. Das Leben war heutzutage sehr gefährlich.

Aber das ist doch albern.

Marlene schluckte. »Sind Sie alleine unterwegs, Herr Nussbaum, oder haben Sie auch den Anschluss an eine Gruppe verloren?«

»Nein, ich bin alleine unterwegs.« Adrian lächelte. »An manchen Tagen ziehe ich die Einsamkeit vor, Fräulein Gellert. Nur so komme ich dazu, ungestört das zu tun, was ich möchte.«

Ungestört hörte sich gut an, das musste sie schon zugeben. Zu Hause galt es, ständig darauf bedacht zu sein, dass niemand ihr Zimmer betrat und sie bei irgendetwas erwischte.

»Und was ist das?«, erkundigte sie sich neugierig. »Was tun Sie hier?«

Er gefiel ihr immer mehr. Gleichzeitig gelang es ihr einfach nicht, die seltsamen Fantasien in ihrem Kopf abzustellen. Es hieß, wegen der schweren Zeiten nähmen die Verbrechen zu. Was, wenn er sie doch ausrauben wollte, und ihr ganz sicherlich nicht glaubte, wenn sie angab, kein Geld zu haben … Vielleicht würde er sie sogar töten …

Auch er musterte sie. Marlene kam es vor, als läse er ihre Gedanken. Sie griff suchend hinter sich, ertastete aber nur ein Stück Mauer. Der junge Mann machte eine nickende Bewegung zur Seite, wo Marlene jetzt erstmals eine Staffelei ausmachte.

»Wissen Sie, Fräulein Gellert, ich male einfach am besten alleine. Heute wurde ich leider vom Regen überrascht.«

Als wollte der Himmel sie beide darauf aufmerksam machen, dass das Unwetter noch nicht vorbei war, fuhr jetzt ein Blitz in unmittelbarer Nähe nieder, gefolgt von krachendem Donner, der die Umgebung erbeben ließ. Marlene biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe.

»Interessant, dass wir beide aus Frankfurt stammen«, sagte sie dann im Bemühen, das Gespräch in Gang zu halten. Es fühlte sich gut an, über Belangloses zu reden. Im nächsten Moment fügte sie etwas hinzu, für das sie sich nur kurz später am liebsten geohrfeigt hätte. »Ich glaube, ich habe Sie dort noch nie gesehen.«

»Ich glaube«, erwiderte Adrian, »das liegt daran, dass wir in unterschiedlichen Kreisen verkehren.«

Marlene senkte den Kopf. Ja, er hatte recht. Sie fragte sich, ob sie ihn verärgert hatte.

»Würden«, fragte sie dann, »würden Sie mir eins ihrer Bilder zeigen?«

»Wie konnte das Kind denn nur verloren gehen?«, hörte Marlene als Erstes die Stimme ihrer Mutter.

Ich bin in Sicherheit, fuhr es der jungen Frau durch den Kopf.

Zugleich schämte sie sich dafür, dass sie Adrian Nussbaum, der doch in gewisser Weise ihr Retter war, immer noch nicht gänzlich trauen wollte. Nur wegen seiner längeren Haare, der einfachen, geflickten Kleidung? Mancher zog auf einer Wanderung eben nicht das Beste an, um die gute Kleidung zu schonen. Außerdem malte er, und die Farbe … Ganz bestimmt wollte er seine gute Kleidung schonen.

Sie dachte an das verwirrende Bild, das er ihr gezeigt hatte: eine Straßenszene, so, wie sie sie schon oft gesehen hatte und dann wieder nicht. Die Menschen darauf hatten hässlich ausgesehen, gierig, verzweifelt, als wären sie bereits tot und wollten es nur nicht wissen.

Der Regen hatte aufgehört, und Marlene beschloss, sich zu verabschieden. Adrian Nussbaum bestand darauf, sie zu begleiten. Auch seine Strickjacke wollte er nicht zurück.

»Behalten Sie sie ruhig noch etwas. Sie sind immer noch ziemlich nass.«

Natürlich hatte er recht. Es war ihr unangenehm, dass sie sich auch jetzt noch beim Gehen immer wieder in ihrem Rock verfing, doch er sagte nichts, sondern wartete nur geduldig, bis sie den Stoff von ihren Beinen gelöst hatte.

Sie musste zugeben, dass sie erleichtert über sein Angebot war, erleichtert darüber, nicht alleine durch den Wald laufen zu müssen.

Endlich kam auch die Sonne wieder hervor. Während sie Seite an Seite gingen, und die Regentropfen hier und da in den Sonnenstrahlen glitzerten, warf Marlene ihrem Begleiter verstohlene Blicke zu. Nachdem sie sich aneinander gewöhnt hatten, musste sie zugeben, dass er ihr ziemlich gut gefiel. Vor der Tür zur Schenke, in der sie ihre Eltern vermutete, denn hier war die Familie schon oft eingekehrt und dieser Ort war auch ihr heutiges Ziel gewesen, zögerte sie. Dann nahm sie allen Mut zusammen.

»Wir werden uns wohl nicht wiedersehen?«

Adrian hob kaum merklich die Schultern und nickte mit dem Kopf zur Tür hin.

»Wollen Sie nicht zuerst einmal nach Ihren Eltern schauen?«

Marlene unterdrückte einen Seufzer, zog dann schnell die Strickjacke aus und drückte sie ihm in die Arme.

»Danke«, sagte sie leise, bevor sie hastig die Tür zur Gaststube aufstieß.

»Ich bezweifle, dass sie einfach so verloren gegangen ist«, hörte sie als Zweites die Stimme ihres Vaters. »Unser Töchterchen hat sich abgesetzt. Gibt sich wieder ihren Tagträumereien hin. Du solltest ihr diese Flausen ganz schnell austreiben, Gisela. Was wird ihr zukünftiger Ehemann dazu sagen, was ihre Schwiegereltern? Marlene ist wirklich kein kleines Mädchen mehr, sie muss lernen, wo ihr Platz ist.«

Marlene trat langsam einen Schritt vor. Gregor entdeckte sie.

»Da ist unsere Leni ja endlich, und oho, sie hat einen Mann dabei.«

Gregors Worte ließen Marlene erröten. Aber sie konnte nicht darüber nachdenken, was sie entgegnen wollte, da eilten schon Tante Ottilie und Vater auf sie zu.

»Kind, wo warst du nur?«

»Ich dachte, ich hätte ein paar reife Brombeeren gesehen und habe den Anschluss verloren.« Marlene war froh, dass ihre Stimme bei dieser Lüge nicht zitterte. »Dann fing es an zu regnen«, fuhr sie fort, bevor der Vater nachhaken konnte, »und schließlich kam noch das Gewitter hinzu. Plötzlich war alles dunkel, ich wusste nicht mehr, wo ich war, und dann bin ich eine ganze Weile allein im Wald umhergeirrt.« Sie zeigte auf Adrian. »Herr Nussbaum war so freundlich, mir aus meiner misslichen Lage zu helfen, nachdem wir bei der Zauberhöhle zufällig aufeinanderstießen.«

»Zufällig, so«, ließ sich ihr Vater hören. Marlenes Blick wanderte verunsichert zu ihm zurück, doch Karl Gellert hatte sich schon ihrem Begleiter zugewandt. »Herr Nussbaum, also.«

»Herr Nussbaum kommt aus Frankfurt. Ist das nicht überraschend?«, platzte Marlene heraus. Herr Gellert schüttelte missbilligend den Kopf.

»Ich bin mir sicher, Marlene, dass Herr Nussbaum selbst antworten kann. Ob ich deine Geschichte überraschend finde, kann ich noch nicht sagen.«

»Gewiss kann ich das«, mischte sich Adrian mit ruhiger Stimme ein, die den Vater, wie Marlene gleich bemerkte, ganz offensichtlich gegen ihn aufbrachte.

»Sie kommen also auch aus Frankfurt?« Karls Augen verengten sich, während sein Blick fragte: »Kennen wir uns?«

»Ja, ich bin auch aus Frankfurt. Ich wollte das schöne Wetter heute nutzen, um ein wenig zu malen.« Adrian drehte sich seitwärts, sodass alle auf die kleine Staffelei aufmerksam wurden, die er über der Schulter trug.

»Sie sind Maler?«, erkundigte sich der Vater, immer noch deutlich um Überlegenheit bemüht. »An der Städelschule?«

Marlene hielt den Atem an. Es gab tatsächlich nur eine Art Künstler, die ihr Vater ein wenig akzeptierte, und das waren die Schüler der Städelschule. Adrian zögerte.

»Nein«, sagte er dann, »ich bin freier Künstler.«

Karl schnaubte. Marlene fühlte, dass damit nicht nur ihr Tag verdorben war.

»Hättest du nicht höflicher zu dem jungen Mann sein können?«, ließ Gisela Gellert ihre sanfte, kultivierte Stimme hören. Karl stand am Fenster des Wintergartens der Familienvilla und starrte nach draußen. Er war froh, dass Gisela ihn niemals vor anderen maßregelte, doch abends, wenn sie zusammensaßen, ließ sie ihn stets wissen, was er falsch gemacht hatte. Und er akzeptierte ihr Urteil. Seine Gisela wusste so viel besser als er, wie man sich zu benehmen hatte. Ärgerlich war nur, dass seine Tochter nicht daran dachte, sich endlich auch ein Beispiel daran zu nehmen.

Vielleicht hätten wir sie doch auf dieses Schweizer Internat schicken sollen …

Karl atmete tief durch und drehte sich zu seiner Frau um.

»Zu einem dahergelaufenen Künstler soll ich höflich sein? Ist das dein Ernst?«

Gisela schaute ihn nur an. In ihrem Ausdruck zeigte sich jene Stärke, die man ihrer zarten Gestalt auf den ersten Blick kaum zutrauen wollte.

»Gutes Benehmen ist keine Frage des Gegenübers«, sagte sie ruhig.

Karl wollte etwas Wütendes entgegnen, konnte sich aber beherrschen. Das hatte sie ihn gelehrt, und er war ihr dankbar dafür, dass er es inzwischen beherzigen konnte. Das war nicht immer so gewesen. Inzwischen verlor er nicht mehr allzu oft die Fassung.

»Ich weiß«, sagte er. »Ich mache mir doch nur Sorgen wegen der bevorstehenden Verlobung, der Hochzeit und … Dieser Adrian Nussbaum ist der falsche Umgang, besonders jetzt.«

»Marlene ist ein anständiges Mädchen. Und sie ist ihm ja auch nur zufällig begegnet«, erwiderte Gisela. »Ich glaube meiner Tochter.«

Karl schaute seine Frau düster an.

»Zufall? Nun, das hoffe ich zumindest.«

»Natürlich war es Zufall. Willst du ihr denn überhaupt nicht mehr trauen, Karl?«

»Doch«, antwortete er, während in ihm die Angst brodelte.

Adrian Nussbaum war nicht einfach so in ihr Leben getreten. Karl Gellert hatte keinen Beweis, aber er wusste es. Und er kannte seine Tochter. Diese Hochzeit war wichtig. Die Zeiten waren schwer, der Aufruhr im Ruhrgebiet, die Besetzung durch belgische und französische Truppen und die von den Deutschen geleistete Gegenwehr hatten die Lage im Land dramatisch verschlechtert. Heute brauchte man, mehr denn je, Verbündete. Angestrengt lächelte Karl seine Frau an.

»Du weißt, wie wichtig diese Heirat für uns ist.«

»Ich weiß es.« Gisela sah ihn fest an. »Ich weiß es, und Marlene weiß es auch. Sie ist ein gutes Kind.«

»Kind«, mit einem tiefen Seufzer setzte sich Gisela später am Abend an der Bettseite ihrer Tochter nieder, »du musst Vater verstehen. Das Städel’sche Kunstinstitut ist eine alte und ehrwürdige Einrichtung und der einzige Ort in unserer Stadt, wo ernst zu nehmende Künstler ausgebildet werden. Vater kann nicht jedem Dahergelaufenen glauben, der sich Künstler nennt.«

Marlene drückte ihr Kopfkissen unwillkürlich fester gegen ihren Bauch.

»Künstler lassen sich nicht ausbilden.«

»Wer sagt das? Herr Nussbaum?«

Marlene gab keine Antwort.

Gisela schüttelte den Kopf. »Oh doch, auch Künstler müssen geschult werden«, fuhr sie dann fort, »und diese sogenannten freien Künstler …« Sie seufzte. »Vater hat einfach recht, das ist nichts. Das kann nichts sein.«

Marlene biss sich auf die Lippen, um nicht mit einer wütenden Entgegnung herauszuplatzen.

»Zumindest hat mir Herr Nussbaum aus einer schwierigen Lage geholfen. Das werdet ihr wohl kaum abstreiten wollen.«

»Nein, Kind, natürlich nicht. Er hat sich sehr anständig verhalten.« Vorübergehend betrachtete Gisela ihre Hände. Dann hob sie den Kopf und schaute ihre Tochter an. »Kann ich mich auf dich verlassen, Marlene?«

»Sicher, Mama.«

Marlene war froh, die Kontrolle über ihre Gesichtszüge zu behalten, bis ihre Mutter das Zimmer verließ. Dann ließ sie sich mit einem Seufzer ins Kissen sinken und dachte zurück an die Zauberhöhle und daran, was Adrian ihr auf dem Weg zur Schenke von seinem Leben erzählt hatte und damit von einer Welt, von der sie bislang nichts gewusst hatte. Tatsächlich war er ihr in dieser kurzen Zeit immer vertrauter geworden, und dann zum Abschied, als sie einander die Hand gegeben hatten …

Marlene lauschte sehr aufmerksam, öffnete dann ihre Nachttischschublade und holte das Zettelchen heraus, das er ihr gegeben hatte, als sie auseinandergegangen waren.

»Soirée«, entzifferte sie im Licht ihrer Nachttischlampe. »Bilderausstellung.« Daneben standen das Datum und eine Adresse. Marlene prägte sich sicherheitshalber alles ein, dann stand sie auf und versteckte das Zettelchen in ihrem Bücherregal in »Nesthäkchens Backfischzeit«. Zufrieden kehrte sie endlich in ihr Bett zurück und zog die weiche Decke bis an ihre Nasenspitze. Die Begegnung mit Adrian war Zufall gewesen, aber sie musste und würde ihn wiedersehen, davon war sie überzeugt.

Zweites Kapitel

Kreuznach, Juli 1855

Aus dem Casinogebäude drang Musik in die reizvolle, im abnehmenden Sonnenlicht daliegende Anlage hinaus. Auf Anne Kastners Lippen bildete sich ein unwillkürliches Lächeln. Wie sehr genoss sie es doch, endlich einmal wieder, wie früher, am Arm ihres stolzen Vaters zu einer Veranstaltung zu gehen. Wilhelm Preuße, der angesehene Arzt, war ein beliebter Gast auf den verschiedensten Festlichkeiten. Ein kurzer Blick Annes fing Wilhelms Lächeln auf, und sie erkannte, dass der Vater ihre Nähe genauso genoss wie sie die seine.

Für einen Moment schmiegte sich die sechsundzwanzigjährige Anne enger an den stattlichen, silberhaarigen Mann. Ihre Schwester, die achtzehnjährige Sophie, belegte den anderen Arm und schaute eben neugierig zum Eingang hin.

»Erinnere mich unbedingt daran«, flüsterte Wilhelm seiner Älteren augenzwinkernd zu, »deinem Mann zu danken, dass er heute erst später kommen kann. Ich habe es so vermisst, dich neben mir zu spüren.«

»Ach, Vater!« Anne schlug leicht mit dem Fächer auf Wilhelms Arm. »Das musst du nicht sagen.« Dann fügte sie scherzend hinzu. »Ich bin doch längst eine alte Frau mit Kind.«

Wilhelm schüttelte den Kopf, während er Annes ovales, von dunklem Haar umrahmtes Gesicht liebevoll betrachtete.

»Du redest einen solchen Unsinn, Kind. Du wirst niemals alt sein. Wie geht es übrigens Ada?«, erkundigte er sich dann nach seiner Enkelin.

»Gut.« Der Gedanke an ihre fünfjährige Tochter ließ ein Lächeln auf Annes Gesichtszügen aufscheinen. »Sie schreibt jeden Tag fleißig und rechnet auch schon recht sicher. Wir sind wirklich sehr zufrieden mit ihr.«

Wilhelm zögerte, fasste den Arm seiner Tochter dann kurz fester.

»Lasst ihr sie denn auch ausreichend spielen? Ich kenne meinen lieben Schwiegersohn doch. Der Herr Dr. Kastner kann ein wahrer Sklaventreiber sein. Die Kleine wird noch früh genug Unterricht erhalten und dem Ernst des Lebens begegnen.«

»Ach, Vater.«

Was die Erziehung von Kindern anging, lagen ihr Mann und ihr Vater einfach meilenweit auseinander. Wilhelm hatte mit Begeisterung »Mutter- und Koselieder« von Friedrich Fröbel gelesen, worin der Autor den Wert des kindlichen Spiels hervorhob, ihr Friedrich hingegen war dem berühmten Pädagogen nur im Namen gleich und befürwortete das stete Einüben von Buchstaben und Zahlen.

»Euch hat meine Erziehung auch nicht geschadet«, sagte Wilhelm jetzt ernst.

»Nein, bestimmt nicht, Vater.«

Anne überlegte noch, was sie weiter antworten könnte, da mischte sich ihre jüngere Schwester Sophie von der anderen Seite ein: »Nun kommt schon, ihr beiden, lasst uns schneller gehen, oder wollt ihr den Abend etwa hier draußen verbringen? Die Musik hat begonnen – hört ihr es –, und ich möchte doch so gerne tanzen!«

Die blonde Sophie machte ein paar tänzelnde Schritte, soweit es der Platz am Arm ihres Vaters erlaubte. Wilhelm und seine ältere Tochter tauschten einen belustigten Blick. Dann machte Sophie sich kurz entschlossen los und steuerte auf den Eingang des »Casino« zu, jenes in der Nähe des Binger Tors gelegenen beliebten Veranstaltungsorts.

Sophies Schritte waren in Erwartung des Ballabends höchst beschwingt. Schon den ganzen Tag über hatte es für die impulsive junge Frau kein anderes Thema gegeben als die Veranstaltung, die zum Dank für die englischen Kurgäste, die den gotischen Chor der Pauluskirche auf eigene Kosten hatten restaurieren lassen, heute hier stattfand.

Sophie, das wusste Anne, war insbesondere neugierig auf die Engländer, da sie gerade mit größtem Vergnügen »Jane Eyre«, den aus dem Englischen übersetzten Roman eines gewissen Currer Bell, las.

Nachdenklich schaute Anne der Jüngeren hinterher, die nun bereits den Eingang erreicht hatte und eben fröhlich einen Bekannten der Familie grüßte. Trotz ihrer ausladenden Krinoline drängte sie sich kurz darauf bereits geschickt weiter. Das zartblaue Abendkleid, dessen Oberteil mit einer Vielzahl kleiner rosafarbener Blüten abgesetzt war, verschwand aus Annes Blick. Die Ältere betrachtete vorübergehend das strengere Blau ihres eigenen Kleides und musste feststellen, dass die violetten Streifen darauf es nicht bunter, sondern eher noch dunkler wirken ließen. Auch war ihre eigene Krinoline weniger ausladend als die Sophies. Insgesamt sah sie nüchterner aus, ernster, wie man es von einer verheirateten Frau wohl erwarten würde.

Anne dachte flüchtig daran, wie sie einander vor dem Aufbruch noch einmal vor dem Spiegel bewundert hatten und wie ihr Sophie plötzlich so viel erwachsener vorgekommen war. Doch jetzt, da sich die Schwester ihrem Blick entzog und im Trubel des Festes verschwand, war Sophie plötzlich wieder ihr kleines Mädchen. Eine seltsame Ahnung, Sophie schützen zu müssen, durchfuhr Anne kurz und schmerzhaft.

Obgleich die beiden Schwestern gut acht Jahre auseinander lagen, waren sie stets eng miteinander verbunden gewesen. Ganz gewiss lag es daran, dass Anne die Jüngere nach dem Tod der Mutter quasi mit aufgezogen hatte. So hatte sie sich stets nicht nur als Schwester gefühlt, sondern auch als Mutter, als diejenige, die die Verantwortung trug.

Es ist ein wenig so, als ob nicht Ada, sondern Sophie meine älteste Tochter ist.

»Anne, Wilhelm!«

Von der Seite tauchte Tante Eulalie auf, Vaters letzte, in Kreuznach verbliebene Schwester. Zwei Schwestern waren mit ihrer Heirat weggezogen. Man sah sich höchstens einmal alle paar Jahre. Drei waren bereits verstorben. Einst war Wilhelm der einzige Junge unter sechs Mädchen gewesen. Noch einmal war Sophie kurz in der Menge zu sehen, aber sie hörte die Begrüßung natürlich nicht mehr. Anne bekam gerade noch Eulalies missbilligenden Blick mit.

Die strenge Tante sah nicht gern, welche Freiheiten Wilhelm seinen Töchtern ließ. Mehr als einmal hatte sie verlauten lassen, dass allein sie es war, die auf den Ruf der Preuße-Mädchen achtete. Als Anne vor sechs Jahren geheiratet hatte, war sie auch deshalb höchst erleichtert gewesen.

Dabei, so dachte Anne bei sich, kannte ich die Grenzen des weiblichen Geschlechts auch damals nur zu gut und wusste, was sich gehört – so, wie ich es immer noch weiß und mich danach richte.

Eulalie schaute sie und den Vater abwechselnd forschend an.

»Wollt ihr Sophie wirklich alleine dort hineingehen lassen? Wer weiß, auf welche Ideen das Mädchen wieder kommt!«

In ihrem dunkelgrauen, eher hochgeschlossenen Kleid mit den dicken Puffärmeln und dem schmalen Reifrock, das längst aus der Mode war, wirkte sie noch unnachgiebiger als gewöhnlich.

»Gewiss nicht«, entgegnete Anne, während sich auf dem Gesicht ihres Vaters leichter Unmut über die ungebetene Einmischung abzeichnete. Anne drückte seinen Arm, um ihn von einem Kommentar abzuhalten. »Wir sind ja schon auf dem Weg nach drinnen, Eulalie«, suchte sie die Tante zu beruhigen.

Die schüttelte den Kopf. »Dann geht rascher. Ihr wisst, dass ich nicht immer alles wiedergutmachen kann. Wenn das Kind erst in den Brunnen gefallen ist, kann man nichts mehr machen.«

Anne biss sich auf die Lippen. Von Wilhelm war ein kaum hörbares Räuspern zu vernehmen. Eulalie spielte natürlich auf ihre anhaltenden Bemühungen an, einen Ehemann auch für das jüngere Fräulein Preuße zu finden, bevor die eigensinnige Achtzehnjährige ihren Ruf gänzlichruiniert hatte. Schon jetzt galt das Mädchen als eigenwillig. Auch das Wort »überspannt« war bereits gefallen, aber als Tochter des angesehenen Arztes Wilhelm Preuße hatte Sophie zumindest ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ.

Erneut drückte Anne Wilhelms Arm, um den Vater an einer unbedachten Äußerung zu hindern. Was das anging, konnte sich Wilhelm Preußes Impulsivität durchaus an der seiner Jüngeren messen, während Anne im Verhalten eher nach ihrer Mutter Emma kam; auch wenn es Sophie war, die der Verstorbenen wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Sophie sieht Mama so ähnlich … Ich habe Papas dunkle Haare, und Sophie hat Mamas goldblonde Locken und ihre blauen Augen.

Anne zwang sich, ihre Tante freundlich anzulächeln.

»Das wissen wir, und wir danken dir für deine Bemühungen, aber wir achten auch auf Sophies Benehmen. Wollen wir jetzt vielleicht hineingehen?«

Eulalies Stirn legte sich in tiefe Furchen.

»Besser ist das wohl.«

War das nicht wunderbar? Indem sie den Saal betreten hatte, verflüchtigten sich Sophies Gedanken an Vater und Schwester. Hatte sie zuerst noch in Erwägung gezogen, in der Nähe des Eingangs auf die beiden zu warten, bannte sie nun der Rausch des Festes.

Das »Casino« war vor einigen Jahren als Ort der Begegnung erbaut worden und stand Alten und Jungen, Einheimischen und Fremden, sogar Frauen und Mädchen unbeschränkt offen. Es war ein Platz für leichte und auch besinnliche Unterhaltung, für Tanz und Scherz. Auf der Rückseite des »Casino« schlossen sich schöne Anlagen an, lichte Plätze, mit Kugelakazien und Rosen bepflanzt, die sich mit dunkeln Gängen abwechselten, über die wildes Gehölz seine dichten Schatten warf. Auf der Höhe eröffnete ein kleiner Pavillon die lieblichste Aussicht auf die Umgebung der Stadt.

Das Orchester spielte einen Walzer. Ein fröhliches Lächeln bildete sich auf Sophies Lippen, während ihre Füße wie von selbst erste kleine Tanzschritte machten. Sie war schon immer eine gute Tänzerin gewesen. Ihr Blick wanderte suchend über die Tanzfläche. Sie sah Meta, eine Freundin aus der Schulzeit, im Tanz mit ihrem Zukünftigen vereint, und hob grüßend die Hand. Meta grüßte vergnügt zurück.

Als ein Diener mit einem Tablett erfrischender Getränke vorüberkam, nahm Sophie sich nach kurzem Zögern eine Weinschorle. Noch war sie alleine, noch konnte niemand sie daran hindern, auch Tante Eulalie nicht. In jedem Fall gedachte Sophie, möglichst viel zu erleben, bevor die Tante sie erwischte und die Nichte unerbittlich auf den Pfad der Tugend zurückführte.

Dabei tue ich gar nichts Unrechtes. Ich weiß durchaus, was sich gehört.

Sophie nippte an der Weinschorle. Kurz dachte sie an Meta und wie gerne sie die Freundin wieder einmal besuchen würde. Dann überlegte sie, warum der Vater und seine Schwester wohl so unterschiedlicher Natur waren. Tante Eulalie konnte wirklich nur daran denken, wie man anständig und tugendhaft blieb.

Wie langweilig …

Sophie verzog das Gesicht.

»Warum so missmutig?«, flüsterte in diesem Moment eine unbekannte Stimme dicht neben ihrem Ohr. Die junge Frau schreckte leicht zusammen und drehte dann den Kopf.

Das Erste, was ihr an dem jungen Mann auffiel, der da so unverhofft neben ihr aufgetaucht war, war dessen gutes Aussehen. Und dieser unschuldige Gedanke ließ sie sofort erröten. Wenn der Fremde es bemerkte, hatte er zumindest den Anstand, nicht darauf anzuspielen. Dass er ein guter Beobachter war, zeigte er mit dem, was er als Nächstes sagte: »Ich glaube, Sie werden gesucht, mein Fräulein.«

Er wies mit einem kaum merklichen Nicken in Richtung Eingang. Dort war eben Tante Eulalie aufgetaucht, die Sophie auch schon entdeckt hatte und nun entschlossen auf die Nichte zusteuerte. Nur die Menge minderte ihre Geschwindigkeit.

»Oh nein«, entfuhr es dem jungen Mädchen.

»Am besten«, hörte sie die Stimme des Fremden neben ihrem linken Ohr, »am besten, Sie tun so, als hätten Sie sie nicht gesehen, und verschwinden durch diese Tür dort nach draußen.«

Sophie hatte den Eindruck, als überlegte sie gar nicht, während sie schon durch den Ausgang huschte, den ihr der junge Fremde gewiesen hatte. Gleich darauf fand sie sich in der Anlage wieder. Der Garten war bereits in dämmriges Abendlicht getaucht.

Es überraschte sie nicht, dass der Mann ihr folgte. Direkt vor ihr blieb er stehen. Er trug einen dunklen Frack, der ihm überaus gut stand. Unter der ebenfalls dunklen Weste schimmerte zart das Perlmutt der weißen Hemdknöpfe hervor. Sophie straffte die Schultern. Sein Blick war ebenso entschlossen wie ihrer.

»Gehen wir ein wenig spazieren?«, fragte er.

»Wer sind Sie?«, fragte Sophie geradeheraus. Sie fand den Mann forsch, anmaßend; interessant … Seine Augen waren von einem intensiven dunklen Blau, das hatte sie drinnen schon bemerkt, hier draußen, im schwindenden Licht, wirkte es fast so dunkel wie sein schwarzes Haar. Er war eindeutig dem Anlass entsprechend gekleidet, zugleich war da etwas … Sie konnte es nicht recht fassen. Der Anzug war neu und aus sehr gutem Stoff, aber man konnte ihm ansehen, dass er nicht zum ersten Mal getragen wurde, ganz als müsste sich dieser Mann nichts beweisen. Jetzt verbeugte er sich, auch dies mit einer Nachlässigkeit, die aufreizend wirkte.

»Ich bin James Bennett«, er lächelte, »einer der Engländer, für die man dieses Fest veranstaltet. Glaube ich.«

Sophie bemühte sich, die Kontrolle über ihre Gesichtszüge zurückzuerlangen. Daher rührte also dieser leichte Akzent, abgesehen davon sprach der junge Mann ausgezeichnet Deutsch.

»Sie sprechen gut Deutsch«, sagte sie.

»Danke, meine Mutter ist Deutsche.«

Für einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Sophies Kopf war mit einem Mal betrüblich leer, dabei war sie sonst nicht auf den Mund gefallen. Jetzt aber konnte sie ihren neuen Bekannten nur ansehen: das Gesicht mit der schmalen, geraden Nase, die geschwungenen Lippen, die schweren Augenlider unter den ausdrucksstarken Augenbrauen. Er sprach zuerst wieder.

»Also, mein Name ist James Bennett, wie ich schon sagte. Dürfte ich um Ihren Namen bitten?«

»Sophie Preuße.«

»Preuße …« Er lächelte wieder. »Sie scheinen mir aber weitaus liebreizender als Ihr Name zu sein.«

ENDE DER LESEPROBE