Das evangelische Pfarrhaus - Cord Aschenbrenner - E-Book

Das evangelische Pfarrhaus E-Book

Cord Aschenbrenner

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Beschreibung

Deutsche Geistesgeschichte von Luther bis in die Gegenwart

Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn, Albert Schweitzer, Gudrun Ensslin, Klaus Harpprecht oder Angela Merkel – der prominenten evangelischen Pfarrerskinder gibt es viele. Das protestantische Pfarrhaus selbst prägte die deutsche Geistesgeschichte wie kaum eine andere Institution. Cord Aschenbrenner erzählt die Geschichte des Pfarrhauses am Beispiel der deutsch-baltischen Pastorenfamilie von Hoerschelmann, die über neun Generationen hinweg geradezu idealtypisch das Wirken und Walten zwischen Glauben, Macht und bürgerlichem Leben verkörpert.

Das evangelische Pfarrhaus war über Jahrhunderte ein seelisch-geistiger Fixpunkt der deutschen Geschichte. Seit Martin Luther ging von ihm eine ungeheure Wirkung aus: Aus dem Ideal des für alle offen stehenden, christlichen Hauses mit geistiger Ausstrahlung und kultureller Ansprache erwuchs ein bis heute lebendiger Mythos.

Cord Aschenbrenner gelingt es, auf Grundlage des einzigartigen Quellenfundus der Hoerschelmanns ein schillerndes, neun Generationen währendes Familienepos zu schreiben und die Geschichte und Bedeutung des Pfarrhauses in großen Linien nachzuzeichnen. Familien- und Zeitgeschichte verschränken sich so zu einem großen Panorama deutscher Geistlichkeit, die die Verwerfungen der deutschen Geschichte überdauert und bis heute Bestand hat.

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Seitenzahl: 480

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CORD ASCHENBRENNER

DAS EVANGELISCHEPFARRHAUS

300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte

Siedler

Bildnachweis → Photo © Sphinx Fine Art/Bridgeman Images; → Wikimedia commons. Alle anderen Bilder stammen aus dem Familienarchiv der Hoerschelmanns oder aus Privatbesitz.Auf dem Cover ist das 1833 entstandene Gemälde »Pastor Johann Wilhelm Rautenberg und Familie« von Carl Julius Milde abgebildet.

Erste AuflageApril 2015

Copyright © 2015 by Siedler Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgLektorat und Satz: Ditta Ahmadi, BerlinGrafik: Peter Palm, BerlinReproduktionen: Aigner, BerlinISBN 978-3-641-12285-0

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Hoerschelmanns und ihre Geschichte

Der Einwanderer aus Thüringen

Martin Luther oder Die ideale Familie

Die Deutschen in der Provinz Estland

Erziehung im Pfarrhaus

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Der Ernst des Lebens

»Eingepfarrte und Beygepfarrte«

Die Herrnhuter und die Hoerschelmanns

Ein Hoerschelmann wird Domprediger

Die Pastorin

Die nächste Generation

Von der Kanzel auf den Lehrstuhl

Andere Länder, andere Probleme

Schwierige Lehrjahre

Das Amt

Von Krieg zu Krieg

Kandidat bei Propst Thomson

Die Zeit in Nõmme

Deutsche Einflüsse

Im Warthegau

Als Pastor im Krieg

Flucht nach Westen

Überleben im Lager

Der Neubeginn im Westen

Rückkehr ins Pfarrhaus

Die achte Generation

ANHANG

Dank

Quellen und Literatur

Personenregister

Anmerkungen zur Stammtafel

»Die Masse des wirklich Geschehenen – des auch nur an einem Tag, geschweige denn in dreitausend Jahren Geschehenen – bleibt nämlich für immer vollkommen unbekannt und unkennbar. Was davon ›Geschichte‹ wird, das bestimmen die Geschichtsschreiber – indem sie aus dem unentwirrbaren Knäuel jeweils einen Faden herausziehen und als intellektuellen Roman abspinnen. Alles, was sie erzählen, mag wahr sein: Die ganze Wahrheit ist es nie.«

SEBASTIAN HAFFNER

Vorwort

Pfarrhäuser sind für mich vertraute Orte. Das Haus meiner Großeltern war ein Pfarrhaus, zuletzt die Superintendentur eines Städtchens in der Lüneburger Heide. Die Stimmen und Schritte der vielen Besucher, das häufige Türklingeln, der Klang der Glocken von der nah gelegenen Kirche, das »Lobe den Herren«, gesungen an jedem Geburtstag meines Großvaters, vorher am Morgen der Posaunenchor seiner Gemeinde vor dem Haus, das kaum jemals endende Klappern von Tellern und Töpfen in der Küche, kurz: Die gemischten Geräusche eines offenen, bürgerlichen Hauses – das alles habe ich noch im Ohr, und die Erinnerung daran taucht zuverlässig auf, wenn es um Pfarrhäuser geht. Hinzu kommt die Erinnerung an die freundliche Geduld meiner Großmutter, die auch im größten Besucher- und Pflichtenansturm gelassen blieb, immer ansprechbar für meine Geschwister und mich sowie jeden, der etwas wollte, und ebenso an das preußische Pflichtbewusstsein meines Großvaters, der stets für seine Gemeinde da war. Bemerkenswert war seine Großzügigkeit in jeder Hinsicht, wozu auch gehörte, dass er in religiösen Fragen keinen Druck auf die Familie ausübte. Im Großen und Ganzen durfte man nach der eigenen Façon selig werden, nur evangelisch sollte sie nach Möglichkeit sein. Bemerkenswert erscheint mir heute auch die Ruhe des Großvaters, der noch zu jener Generation von Pastoren gehörte, denen ihre Ehefrauen fast alles Alltägliche abnahmen, sodass es ohne sie kaum gegangen wäre. Mit der Frau Pastor an der Seite konnten mein Großvater und seine Amtsbrüder, wie es unter Pastoren heißt, mit großer Gelassenheit der Menschheit im Allgemeinen, ihrer Gemeinde im Besonderen, aber auch Vorgesetzten wie Oberkirchenräten und Bischöfen entgegentreten.

Bei den Besuchen im Pfarrhaus der Großeltern und später, als sie pensioniert waren (streng genommen war ja nur mein Großvater pensioniert worden, aber alle Welt sprach davon, dass Pastors nun pensioniert seien), in ihrem eigenen Haus, das immer noch groß war und – so kam es mir vor – stets voller Besucher, habe ich ein Gefühl der Geborgenheit kennengelernt, das aus der Großzügigkeit, Freundlichkeit und Menschlichkeit seiner Bewohner erwuchs. Das verbinde ich seitdem mit Pfarrhäusern.

Bis heute ist das evangelische Pfarrhaus in den Augen der Welt etwas Besonderes, zumindest ist es anders als andere Häuser. Aber sehen seine Bewohner das auch so? Ich kann mich nicht erinnern, dass in meiner Familie das Bewusstsein herrschte, man sei etwas Besonderes, weder bei meiner Mutter noch bei ihren Eltern oder dem Bruder des Großvaters, der ebenfalls Pastor war. Wenn doch, dann wurde nicht darüber gesprochen. Vielleicht war man ein wenig anders als andere Familien – mit den Gottesdienstbesuchen und den Tischgebeten, der täglichen Herrnhuter Losung auf dem Schreibtisch meines Großvaters und den vielen Kirchenliedern, die meine Großmutter ebenso auswendig kannte wie die lateinischen Namen der Sonntage im Kirchenjahr. Kirchen waren auch für die Enkel vertraute Orte, an denen wir uns ohne Scheu bewegten. Das alles war selbstverständlich.

Jedenfalls wurde innerhalb der Familie um den Beruf des Großvaters kein Aufhebens gemacht, abgesehen davon, dass am Sonntagmorgen eine für den kleinen Enkel nicht zu übersehende Unruhe ausbrach. Diese gipfelte darin, dass meine Großmutter ihrem schon im Talar steckenden Ehemann auf dem Flur ein »liturgisches Ei« reichte: ein aufgeschlagenes, rohes Ei im Glas, das der Herr Pastor hinunterstürzte, um so der stimmlichen Herausforderung des Gottesdienstes besser gewachsen zu sein. Das war für mich nun doch etwas Besonderes. Und schon als ganz kleiner Junge hatte ich den Eindruck, dass mein Großvater, der »Herr Superndent«, eine – wenn auch sehr liebenswürdige – Respektsperson war, was übrigens auch die vielen Besucher, die ins Haus kamen, so zu sehen schienen. Man näherte sich ihm in respektvoller Haltung, und der Großvater zog sich dann mit dem einen oder anderen Besucher in sein Amtszimmer mit dem Kruzifix über dem Schreibtisch zurück, wo es warm und behaglich war und nach Zigarren duftete und vielleicht auch nach den vielen Büchern entlang der Wände. Die Welt und die Geräusche des Hauses blieben draußen. Ein solches Zimmer gab es sonst nirgends.

Später lernte ich andere Pfarrhäuser kennen mit ihren großen, manchmal karg, aber nicht unwirtlich wirkenden Dienstwohnungen darin. Meistens waren sie nur in Maßen aufgeräumt und fern irgendeines Stilwillens möbliert, fast immer gab es viele Bücher und viele Kinder. Manchmal waren sie aber auch ausgesprochen bürgerlich eingerichtet mit alten Möbeln, Teppichen und Ölgemälden – der Pastor hatte dann jedenfalls keine Pastorentochter geheiratet, sondern vielleicht die eines Arztes, eines Kaufmanns oder Architekten.

Pastoren – hin und wieder auch Pastorinnen – und ihre Familien waren überall, so schien es mir als Kind. Das lag auch daran, dass wir einige Jahre in dem wegen seines Klosters und seiner Evangelischen Akademie bekannten niedersächsischen Dorf Loccum lebten. Dort gab es, so meinten wir Kinder jedenfalls, neben den Bauern vor allem Lehrer, Professoren und Pastoren. Dass der Pastorenberuf gewissermaßen vererbt werden konnte, und zwar über viele Generationen, wurde mir später am Beispiel der Familie eines Schulfreundes klar, der aus einer alten deutschbaltischen Pastorenfamilie stammte.

Jedenfalls lag es für einen derart geprägten Journalisten nicht fern, einmal einen Artikel über eine Pastorendynastie zu verfassen, um an ihrem Beispiel von der Geschichte, aber auch vom Mythos des evangelischen Pfarrhauses zu erzählen. Der Artikel erschien im September 2011 in der Süddeutschen Zeitung und handelte von der Familie Hoerschelmann, die aus dem Baltikum stammte. Auf einer Zeitungsseite lässt sich jedoch nur anreißen, was das Besondere, was den Geist des Pfarrhauses ausmacht, ob es ihn überhaupt gibt und wie er sich von dem anderer bürgerlicher Häuser unterscheidet. Und auch die durchaus ungewöhnliche Familiengeschichte der Hoerschelmanns mit ihrer bis in unsere Tage reichenden Theologentradition konnte hier nur äußerst knapp behandelt werden. So fasste ich den Entschluss, mich eingehender mit dieser Familie zu beschäftigen, deren Dreh- und Angelpunkt seit dreihundert Jahren das evangelische Pfarrhaus ist.

Die Zeiten, da Verehrer und Verherrlicher das evangelische Pfarrhaus als Fundament deutscher Kultur- und Geistesgeschichte feierten, sind lange vorbei. Geblieben ist die nicht unwesentliche Wirkung und Ausstrahlung der Institution Pfarrhaus auf die deutsche Geschichte und Geistesgeschichte. Beides und ebenso die versunkene Geschichte der Deutschbalten spielt daher in diesem Buch eine gewisse Rolle. Und da sich nicht alles, was zur Geschichte des Pfarrhauses gehört, am Beispiel einer Familie schildern lässt, wird auch von anderen Pfarrersfamilien erzählt. Darüber hinaus gibt es allgemeiner gehaltene Kapitel – etwa zur Erziehung in Pfarrersfamilien oder über den vermeintlichen Pfarrhausgründer Martin Luther –, die über die Geschichte der Hoerschelmanns hinausweisen.

Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit über das evangelische Pfarrhaus, auch stellt es keine systematische Genealogie der Familie Hoerschelmann dar. Da die Geschichte der Hoerschelmanns vor allem in jener Zeit spielt, als die Deutschen das Sagen in Estland hatten, werden überwiegend die deutschen Ortsnamen verwendet. Geht es allerdings um die Jahre 1918 bis 1940, also um die Zeit der estnischen Unabhängigkeit, wird die dem Kontext entsprechende Bezeichnung verwendet.

Aus Gründen der Quellentreue wurden die Zitate in der ursprünglichen Schreibweise belassen. Auf Anmerkungen habe ich verzichtet und nur die benutzte Literatur genannt.

Cord Aschenbrenner

Hamburg, im März 2015

Die Hoerschelmanns und ihre Geschichte

Von Estland nach Nordfriesland · Neun Generationen · Ostern in St. Olaf · Aus Thüringen in die Welt · Der Einwanderer · Institution und Mythos · Pfarrerskinder

Hin und wieder, meist an Feiertagen, predigt Paul-Gerhard von Hoerschelmann noch. Am Ostersonntag 2012 etwa, einem eiskalten, strahlend blauen Apriltag, macht sich der damals Einundachtzigjährige morgens um kurz nach neun Uhr auf den Weg vom nordfriesischen Sönnebüll ins benachbarte Breklum. Sönnebüll, Struckum, Klanxbüll, Bredstedt, Breklum, so heißen die Dörfer und Städtchen hier im Nordwesten Schleswig-Holsteins. Von Breklum wurden früher die Missionare nach Indien und Afrika »ausgesandt«. Hier war Paul-Gerhard von Hoerschelmann bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1994 Direktor des Predigerseminars der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die mächtige romanische Backsteinkirche des Dorfes steht inmitten einer sanft gewellten Wiese – dem Friedhof. Gedrungen und fest überragt das mehr als achthundert Jahre alte Gotteshaus alles. Es war ursprünglich einem Heiligen geweiht, der im ganzen Ostseeraum verehrt wurde: Olaf, in Schweden Oluf, in Finnland Olavi, in Estland Olev. Im Inneren der Kirche ist der Heilige als König von Norwegen dargestellt, unter seinen Füßen liegt ein kleiner Mensch. Vielleicht wollte der Künstler einen besiegten Heiden darstellen, oder, in einer anderen Lesart, König Olaf selbst, bevor er zum Christen wurde.

Generationen von Pastoren haben von der Kanzel der Kirche schon gepredigt, und Generationen von Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern, vielleicht auch ein paar Fischer vom nahen Meer haben unter der Kanzel gesessen und ihnen mehr oder weniger aufmerksam zugehört. Als die Kirche jung war, haben die Pastoren nach dem alten lateinischen Ritus die Messe zelebriert; die Bauern mochten dem Klang lauschen, verstehen konnten sie nichts. Nach der Reformation – die wenigen Reliquien waren verschwunden – predigten die Pastoren auf Plattdeutsch zu den Bauern, aus deren Mitte sie meistens selber stammten. Einer von ihnen war im 17. Jahrhundert Pastor Petrus Pauli, der seiner Gemeinde 58 Jahre diente. Sein Porträtbildnis, das einen spitzbärtigen Pastor im Lutherrock zeigt, eine aufgeschlagene Bibel in der Linken, hängt in der Kirche. Tritt man aus einer anderen Richtung an das Bild heran, steht man vor dem Bildnis seiner Frau Maria. Das Paar, dem eine über fünfzigjährige Ehe beschieden war, ist durch ein sogenanntes Riffelbild auf ewig miteinander verbunden – je nach Blickrichtung sieht man den Pastor oder seine Frau. Nicht zu Unrecht sind hier beide und noch dazu durchaus gleichberechtigt dargestellt. Für viele Pastoren wäre die tägliche Arbeit ohne die Frau an ihrer Seite schließlich gar nicht zu leisten gewesen.

Wenn man auf dem Breklumer Friedhof vor den Grabsteinen steht, wird einem bewusst, dass das Leben der Menschen hier bis vor wenigen Jahrzehnten karg gewesen sein muss. Die Clausens, Jensens, Dethlefsens, Rickertsens und Boysens, die hier begraben sind, haben ihren Lebensunterhalt mit den Händen verdient: als Schmied oder Fischer, als Fuhrmann oder Bauer. Sehr alt wurden sie nur selten. Das war hier nicht anders als in den anderen Ländern rund um die Ostsee.

An der Ostsee, aber rund tausend Kilometer weiter östlich, erblickte Paul-Gerhard von Hoerschelmann im Pfarrhaus von Nõmme 1931 das Licht der Welt. Nõmme ist ein Vorort von Tallinn, der estnischen Hauptstadt. Dort war sein Vater Gotthard Pfarrer. Auch er war in einem Pfarrhaus aufgewachsen, in der Hauptstadt selbst, die die Deutschen Reval nannten. Und auch dessen Vater und Großvater und Urgroßvater waren in Estland, einem Land von Fischern und Bauern, Pastoren gewesen. Damit endet die Ahnenreihe geistlicher Herren aber noch nicht. Die ersten Hoerschelmanns, die den Beruf des Pastors ergriffen, übten ihr Amt in Thüringen und Brandenburg aus. Der Emeritus Paul-Gerhard von Hoerschelmann aus Sönnebüll ist Pfarrer in der achten Generation, ebenso sein Bruder Werner. Sein jüngster Sohn und sein Neffe haben die Familientradition fortgesetzt und sind ebenfalls Pastoren geworden. Ihrer aller Geschichte, die eng verbunden ist mit der Institution des Pfarrhauses, soll hier erzählt werden.

Diese Geschichte handelt von den Pastoren und ihren Frauen, den »Pastorinnen«, wie die Deutschbalten sagten, von ihren Kindern, den Gebräuchen im Pastorat und von den Besuchern, die ins Haus kamen. Die Geschichte der Familie Hoerschelmann spielte sich überwiegend in Estland und Livland ab, der nördlichen und der mittleren Ostseeprovinz des Zarenreiches. Die in Estland lebenden Deutschen nannten sich selbst Estländer, die in Livland sprachen von sich als Livländern. Das ist ein Unterschied zu den Esten und Liven, den Angehörigen der autochthonen Bevölkerung. Die Sprache der Esten ist das Estnische, die Liven, ein mittlerweile fast ausgestorbenes Volk, sprechen Livisch. Beides sind finno-ugrische Sprachen. Die nach den Liven benannte Provinz des Russischen Reiches war in etwa deckungsgleich mit dem südlichen Teil des heutigen Estland und dem nördlichen Teil des heutigen Lettland. Dort lebten Esten, Letten, Deutsche und Russen.

Die Hauptstadt der Republik Estland, die seit 1991 wieder unabhängig ist, heißt Tallinn. Die Esten haben die Stadt in ihrer Sprache schon immer so genannt, während die Deutschen – ebenso die Schweden – von Reval sprachen. Auch die Bezeichnung Reval kommt aus dem Estnischen. Für fast alle Ortsnamen in Estland gab es eine deutsche und eine estnische Bezeichnung, manchmal war die deutsche eine leicht erkennbare Ableitung der älteren estnischen, zum Beispiel: Hapsal (deutsch), Hapsaalu (estnisch), oder Haggers, das für die Familiengeschichte der Hoerschelmanns eine besondere Bedeutung hat. Der estnische Name ist Hageri. Auf den Landkarten fand man allerdings nur deutsche Bezeichnungen, etwa Wesenberg, aber die Esten wussten natürlich, dass damit Rakvere gemeint war. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Russifizierung der Ostseeprovinzen einsetzte, trat auf den Landkarten zu jedem Namen ein zweiter, beispielsweise zu Dorpat noch Jurjew. Der estnische Name, nämlich Tartu, taucht erst auf den Karten auf, die nach der Unabhängigkeit 1918 in der Republik Estland gedruckt wurden.

Das deutsche evangelische Pfarrhaus im Baltikum gibt es längst nicht mehr. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war es für seine deutschen Bewohner und Bewunderer ein Hort der Tradition, für die einheimische Bevölkerung der Esten und Letten stellte es dagegen zunehmend ein Ärgernis dar, weil diese in ihm nicht zu Unrecht ein Bollwerk der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts heftig kritisierten deutschen Kultur und der damit verbundenen Privilegien sahen.

An jenem kalten Ostersonntag, eben sind die Glocken von St. Olaf verklungen und die Festtagsgemeinde sitzt erwartungsvoll auf den harten Holzbänken in der maßvoll geheizten Kirche, schreitet Paul-Gerhard von Hoerschelmann – mittelgroß, mit weißem Haarkranz und weißem Kinnbart – energisch durch den Mittelgang. Anders als an gewöhnlichen Sonntagen trägt Hoerschelmann einen weißen Talar, die Farbe, welche die Osterfreude symbolisiert; über seinen Schultern liegt eine farbige Stola. Mit beiden Händen balanciert er eine große weiße Osterkerze, die er vor dem Altar vorsichtig auf einen Halter setzt. Dann wendet der alte Herr sich um, tritt einige Schritte auf die Gemeinde zu und entbietet ihr den alten Ostergruß: »Der Herr ist auferstanden!« Die Gemeinde antwortet etwas schütter: »Er ist wahrhaftig auferstanden!« Hoerschelmann lächelt und ruft: »Das geht noch besser!« Und tatsächlich, wesentlich kräftiger schallt es noch einmal durch das kalte Kirchenschiff: »Er ist wahrhaftig auferstanden.«

Es folgt ein Gottesdienst traditioneller Prägung, mit Posaunenchor und Gemeindegesang, mit einer schlichten Liturgie und einer schnörkellosen, unverkennbar im baltischen Deutsch gehaltenen Predigt über die Osterfreude. »Je dunkler die Osternacht, desto heller der Ostermorgen«, sagt der Pastor auf der hölzernen Kanzel, und wie er dort steht, gütig und seiner Sache sicher, kann man sich auch seine Vorfahren vorstellen: fürsorgliche Hirten die einen, geistliche Herren die anderen, Seelsorger dieser und Theologieprofessor jener, vom Rationalismus ergriffene darunter wie auch pietistisch gestimmte und alle zusammen evangelische Theologen seit bald dreihundert Jahren.

In der Nordostecke des Breklumer Friedhofs hat man einen Feldstein gesetzt, dessen Inschrift an die Flüchtlinge erinnert, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen und blieben – bleiben mussten, weil sie nicht in ihre Heimat zurückkonnten. Die Geschichte der ostpreußischen und pommerschen Flüchtlinge, die es nach Schleswig-Holstein, an den Westrand der Ostsee, verschlug, ähnelt in vielem der Geschichte der Hoerschelmanns. Flucht, Vertreibung, erzwungener Weggang von dort, wo die Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hatten, vielfacher Tod, großes Leid und Jahre der Heimatlosigkeit als Folge des von den Deutschen angezettelten Krieges – das ist auch die Geschichte der weitverzweigten Familie Hoerschelmann, deren theologisch geprägte Mitglieder nur einen Ast am Familienstamm bilden. Einen Unterschied zu anderen Vertriebenen und Flüchtlingen gibt es allerdings: Die Hoerschelmanns, Deutschbalten aus Estland, wurden schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten »umgesiedelt«. Nicht wenige Deutschbalten folgten dem Ruf des »Führers« gern, einige wenige blieben aber auch im Baltikum. Die verlorene Heimat im Rücken, mussten sie sich größtenteils dort niederlassen, wo gerade noch andere zu Hause gewesen waren: im sogenannten Warthegau, Teil des soeben von den Deutschen eroberten Polen. Von dort floh die Familie Hoerschelmann – die Mutter mit ihren fünf Kindern, von denen der vierzehnjährige Paul-Gerhard der Zweitälteste war – 1945 vor der anrückenden Roten Armee nach Westen. Der Vater hatte da schon den Weg in die russische Gefangenschaft angetreten, die für ihn bald elf Jahre dauern sollte. Mutter und Kinder verschlug es ins Wendland, also ein gutes Stück nördlich von Thüringen, woher die Hoerschelmanns ursprünglich stammten und woher einer von ihnen um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufgebrochen war.

Die thüringischen Wurzeln der Hoerschelmanns spielen in der familiären Überlieferung nur eine geringe Rolle. Viel wichtiger für die Familiengeschichte ist Estland, die deutsch geprägte Ostseeprovinz des Zarenreichs, in der die Hoerschelmanns zu den »Literaten« gehörten, den mit Bildung und weniger mit Gütern gesegneten akademischen Honoratioren des kleinen Landes. Hier fand sich ein ebenso einzigartiges wie eigenartiges Terrain für Pastoren- und andere Geschlechter, adlige und nichtadlige, die mit großem Selbst- und Familienbewusstsein jahrhundertelang Geschichte und Politik, Kultur und Kirche dieses Landes bestimmten, das nicht zum Deutschen Reich gehörte, dessen Oberschicht aber deutsch geprägt war. Seit den Tagen der Hanse besaß diese Oberschicht Privilegien, die sie zäh gegen alle Angriffe und Begehrlichkeiten der wechselnden Landesherren – Ordensritter, Dänen, Schweden, Russen, Polen – verteidigte. Der Dünkel und die Borniertheit des deutschbaltischen Adels dürften Ernst August Wilhelm Hoerschelmann, den ersten Hoerschelmann in Estland, in Erstaunen versetzt haben, denn eine derart privilegierte Schicht mit fast ungebrochen feudalen Traditionen gab es zur Mitte des 18. Jahrhunderts in den zahllosen deutschen Fürstentümern nicht mehr.

Der junge Theologe und Philosoph Ernst August Wilhelm Hoerschelmann kam 1768 allerdings nicht irgendwo aufs Land, sondern in die alte Stadt Reval, die einst mächtige und immer noch reiche Hansestadt, die nun – immerhin – die Hauptstadt einer Provinz des Zarenreiches war. Die Bürger dieser Stadt, Angehörige reicher Kaufmannsdynastien und seit Generationen eingesessener Handwerkerfamilien, hatten ein eigenes Bewusstsein von ihrer Bedeutung, das dem des Adels keineswegs nachstand, der in den Palais in der sogenannten Oberstadt wohnte, dort, wo auch der russische Statthalter residierte.

Hier traf im Juni 1768 der junge Wissenschaftler aus Thüringen ein. In Jena hatte er von einem Revaler Freund erfahren, dass das Revaler »Academische Gymnasium«, die höhere Schule für die Söhne der Stadtbürger, einen neuen Direktor suche. Auch war ihm gewiss das Manifest der Zarin Katharina II. bekannt, mit dem diese 1763 Ausländer – wobei sie vor allem an Deutsche dachte – einlud, sich in ihrem Reich niederzulassen, und ihnen Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und andere Privilegien verhieß. Der junge Hoerschelmann, der wie sein Vater Theologie studiert hatte, sich aber noch mehr für Philosophie und Geschichte interessierte, ließ seine theologisch-philosophische Karriere fahren und beschloss, sich der Erziehung der Revaler Jugend zu widmen. Mit einigem Erfolg: Katharina II. verlieh ihrem deutschen Untertanen Hoerschelmann einen Adelstitel für seine Verdienste um die Bildung der Revaler Knaben. Fortan durfte er sich »von Hoerschelmann« und »Hofrat« nennen. Der adlige Vater von sechzehn Kindern ist der Stammvater der deutschbaltischen Hoerschelmanns. Im Bewusstsein der Familie beginnt erst mit ihm die eigentliche Familiengeschichte. Ernst Augusts Vater, Superintendent in Thüringen und damit schon aufgestiegen in der kirchlichen Hierarchie, spielt in der familiären Überlieferung keine sehr bedeutsame Rolle. Alles beginnt mit dem »Einwanderer«, von dessen sechs Söhnen vier Pastoren wurden, einer ein hoher Beamter – kaiserlicher russischer Staatsrat –, einer Jurist. In der Familiengeschichte bilden ihre Familien die »Häuser«, benannt nach den Wohnorten oder dem Ort der Pastorate.

Paul-Gerhard von Hoerschelmann entstammt dem St. Matthäischen Zweig der Familie, benannt nach der südöstlich von Reval gelegenen Gemeinde seines Urururgroßvaters Ferdinand Ludwig Hoerschelmann. Dieser war der älteste Sohn des Einwanderers, Landpastor wie sein thüringischer Großvater und sein Leben lang in derselben Gemeinde. Er und seine Nachfahren führten das »von« im Namen nicht, sie hielten es für überflüssig. Erst Paul-Gerhard von Hoerschelmann und seine Brüder legten sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts den Titel aus familienhistorischen Erwägungen wieder zu – er war ja nun einmal da. Sie machen jedoch sparsam Gebrauch davon.

Paul-Gerhard von Hoerschelmann hütet in seiner Sönnebüller Kate den Silberpokal, den die Gemeinde dem Vorfahren Ferdinand Ludwig 1847 zum vierzigsten Dienstjubiläum verehrte. Ferdinand Ludwigs Kinder, Enkel und Urenkel bewohnten im 19. und über den Beginn des 20. Jahrhunderts hinaus die Pfarrhäuser Estlands, oftmals heirateten sie Pastorentöchter, sodass verwandtschaftliche Beziehungen zu nicht wenigen Pastorenfamilien des kleinen Landes entstanden. In den überwiegend ländlichen Gemeinden waren die meisten Gemeindeglieder Esten. Deutsche waren nur der Patronatsherr, der Arzt, der Gutsverwalter, vielleicht noch ein paar weitere Grundbesitzer im Kirchspiel. Die Pastoren mussten also Estnisch sprechen, wenn sie ihre Gemeinden erreichen und vor allem deren Vertrauen gewinnen wollten, denn längst nicht alle Esten sprachen Deutsch. Auch für einen Landpfarrer in Deutschland war es schließlich von Vorteil, wenn er die örtliche Mundart beherrschte, denn nur so erfuhr er, was seine Schäflein bewegte.

Bis in die späten 1930er Jahre gab es Pastoren mit dem Namen Hoerschelmann in Estland. Das Zarenreich hatte 1917 aufgehört zu existieren, und damit verloren die Deutschen ihre Privilegien. Aus der Provinz wurde ein selbstständiger Staat. Die deutschen Grundbesitzer, die »baltischen Barone«, wurden enteignet und kehrten dem Land den Rücken. Die meisten Deutschen blieben jedoch in Estland, das sie ebenso als ihre Heimat betrachteten wie die Esten. Erleichtert wurde ihnen dies durch die 1925 per Gesetz eingeführte Kulturautonomie für die Minderheiten im Lande, das die Rechte der nichtestnischen einheimischen Bevölkerung – Deutsche, Russen, Schweden – festschrieb.

Das Wappen der Familie Hoerschelmann. Der Adelstitel wurde dem »Einwanderer« von der Zarin Katharina II. für seine Verdienste um die Erziehung der Revaler Knaben verliehen.

Gotthard Hoerschelmann wurde estnischer Staatsbürger. Als er und seine Familie Nõmme und Estland 1939 verlassen mussten, ging für die Familie eine bald zweihundertjährige Geschichte zu Ende, für die Deutschen in Estland eine noch viel längere. Die deutschen Pfarrhäuser und die deutschen Professoren an der Theologischen Fakultät der Universität Dorpat – oder Tartu –, unter denen sich auch Hoerschelmanns fanden, waren nur noch Geschichte. Ganz gegen jede Erwartung lebte die Erinnerung an sie 1994 wieder auf, als Gotthard Hoerschelmanns Sohn Paul-Gerhard nach der Pensionierung gemeinsam mit seiner Frau Sieghilde für einige Jahre nach Tallinn ging, wo er am Theologischen Institut der Estnischen Evangelischen-Lutherischen Kirche ein Pastoralseminar aufbaute und damit das fortsetzte, was er in den Jahren zuvor in Breklum getan hatte: angehende Pastorinnen und Pastoren auszubilden. Hoerschelmann kam als theologischer Entwicklungshelfer in ein Land mit langer lutherischer Tradition, dessen Bewohnern während der Sowjetzeit der Glaube an einen Gott aber überwiegend abhandengekommen war, und damit hatten auch viele der evangelischen Pfarrhäuser und Kirchen ihren Zweck verloren. Manchmal dienten sie als Lagerhäuser, Ställe oder Museen. Vier Jahre lang war Hoerschelmann Rektor des Theologischen Instituts der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Bis heute hält er Verbindung dorthin und zur estnischen Kirche, die ihn zum Propst ernannt hat.

Estland, das Paul-Gerhard als kleiner Junge verlassen hatte, war das Land der Hoerschelmann’schen Pastorendynastie. Nach der unfreiwilligen Rückkehr nach Deutschland sind die Söhne weiterhin Pastoren geworden, sodass die Familie inzwischen merkbar stolz, aber nicht auftrumpfend auf neun Generationen im Pfarramt zurückblickt. Ob noch viele Generationen folgen werden, ist die Frage. Denn das Pfarrhaus als sozusagen natürlichen Mittelpunkt eines Ortes gleich neben der Kirche wird es so vielleicht nicht mehr lange geben. So lässt sich die Geschichte dieser Pfarrerdynastie auch als Abgesang verstehen, denn sie ist vorwiegend ein Blick zurück auf einen fast mythischen Ort des deutschen Protestantismus. Weit über diesen hinaus wurde das Pfarrhaus als Institution begriffen und im 19. bis tief ins 20. Jahrhundert hinein als Verkörperung, ja als Höhepunkt bürgerlichen Lebens wahrgenommen.

Wir verbinden damit ein Haus, das eher groß ist als klein und jedem offen steht, eine große Kinderschar, einen üppigen Pfarrgarten, Hausmusik, Bücher, Tischgebet und Tischgespräch, eine resolute Pfarrfrau und einen selbstgewissen Pfarrherrn mit einer anspruchsvollen Nebenbeschäftigung – etwa konzertreifes Klavierspiel, Bienenzucht, italienische Kunstgeschichte oder Pomologie, also Obstbaukunde, um nur weniges zu nennen von dem, mit dem Pfarrer sich über ihre Amtstätigkeiten hinaus beschäftigt haben. Dieses in jeder Weise ideal scheinende Haus, aus dem so unterschiedliche Persönlichkeiten hervorgingen wie der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse, die Germanistin und spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Pfarrer, Arzt und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, der Dichter und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg, der Schauspieler Ulrich Noethen, der Schriftsteller Friedrich Christian Delius, der Publizist Klaus Harpprecht und Bundeskanzlerin Angela Merkel, das sogar manchmal ganze Pastorensippen wie die der Hoerschelmanns hervorbrachte, gibt es nur noch vereinzelt.

Manches mag eher Selbstbild als Realität gewesen sein, doch sicher ist: Das evangelische Pfarrhaus ist nicht mehr, was es einst war. Die Zeiten haben sich eben geändert. Es gibt inzwischen Pfarrerinnen, an deren Seite nicht immer ein Mann steht, der die Rolle der Pfarrfrau für sich entdeckt hat. Es gibt Pfarrämter, in denen sich das Pastorenehepaar die Pfarrstelle teilt. Es gibt Pfarrer, die mit einer Frau verheiratet sind, die einen ganz anderen Beruf ausübt. Und es gibt Pfarrer, die mit einem Mann zusammenleben. Die Bewohner des Pfarrhauses haben sich verändert, das Haus indes nicht. Manche liegen in fast verwaisten Innenstädten. Sie sind oft alt, zugig und groß. Gerade ein unverheirateter Geistlicher, auch solche gibt es ja, wird sich in den hallenden Fluren eines dreistöckigen alten Kastens, in dem früher vielleicht eine achtköpfige Familie lebte, eher unwohl fühlen. Viele junge Leute finden zudem, dass das Wohnen im Pfarrhaus ein Leben »auf dem Präsentierteller« ist. Während die Generation ihrer Väter sich noch in die Tradition gefügt hat, versuchen die jüngeren Pfarrer, Arbeit und Privatleben stärker zu trennen.

Seit den 1970er Jahren entstanden viele Untersuchungen, Bücher und Filme zum evangelischen Pfarrhaus und seinem Wandel, der nicht so sehr als Wandel der Institution, sondern vielmehr als Teil eines Veränderungsprozesses dessen gedeutet wurde, wofür das Pfarrhaus steht: für die evangelische Kirche oder für den Glauben schlechthin. Mittlerweile sind dem Pfarrhaus sogar Ausstellungen gewidmet, was ein Anzeichen dafür sein mag, dass hier eine Einrichtung in Gefahr ist, zu verschwinden.

Zum Pastor muss man berufen sein. Wie anders, wenn nicht Berufung, soll man es nennen, wenn sich der Beruf des Pastors von Generation zu Generation und dabei über Jahrhunderte vererbt bis in die Gegenwart hinein? An den Hoerschelmanns lässt sich studieren, was diese Berufung mit einer Familie »macht«, um es modisch zu formulieren, also die direkte Wirkungs- beziehungsweise Auswirkungsgeschichte des Pastorenamtes, und zwar nicht nur auf den Amtsträger, sondern auch auf seine Familie, auf Frau und Kinder. Der Blick des Verfassers ist dabei von historischer Neugier bestimmt: Wie sah das Leben einer Familie aus, die vorbildlich im Lebenswandel zu sein hatte und die zusammen mit allen anderen ihres Schlages lange Zeit tatsächlich auch als Vorbild der bürgerlichen Familie schlechthin galt? Ob nun im evangelisch geprägten Teil des Baltikums oder in den evangelischen Teilen Deutschlands und Skandinaviens: Die Familie des Pfarrers, aber auch sein Beruf wurden bisweilen stark idealisiert.

Zum Mythos vom evangelischen Pfarrhaus gehört, dass es eine unübersehbare Zahl von Talenten hervorbrachte. Tatsächlich entstammen nicht wenige, die im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland als Schriftsteller, Musiker, als Naturwissenschaftler, Arzt oder Politiker Karriere machten und berühmt wurden, einem Pastorenhaushalt. Das Pfarrhaus war ein Haus der Gebildeten, in dem schon deswegen mehr Bücher und Musikinstrumente zu finden waren als beim Apotheker oder beim Notar, weil sie nun einmal zum Beruf des Pastors gehörten, der die Seelen seiner Gemeinde mit Geschichten und Liedern zu erreichen versuchte. Immer wurde daher gerade bei den Söhnen Wert darauf gelegt, dass sie sich lesend und musizierend der Welt annäherten.

Pastorendynastien sind im Gegensatz zu Bauernfamilien oder Fürstenhäusern an keinen Ort gebunden. Für die Hoerschelmanns heißt das: Die Kanzeln, die Kirchspiele, die Dörfer und Pfarrhäuser, die Heimaten und Staaten wechselten im Laufe der Jahrhunderte, der Geist des Pfarrhauses aber, ein wandelbarer Geselle mit Anteilen von Spiritualität, Hilfsbereitschaft, professioneller Freundlichkeit, Belastbarkeit, Güte, Autorität, Glaube und wohl noch einigem mehr, folgte ihnen überallhin. Von alldem soll hier erzählt werden.

Der Einwanderer aus Thüringen

Das Gut Epichnellen · Aufstieg zweier Brüder · Ein Gedicht auf Französisch · Großrudestedt · Theologe, Philosoph und Journalist in Reval · Die Literaten · Der Aufklärer und seine Zeitgenossen · »Damit kommt Ihr im Tode nicht durch!«

In Thüringen fing alles an. Im »Kernland der Reformation«, wie es manchmal heißt, in der Stadt Eisenach, wo mehr als zwei Jahrhunderte zuvor Martin Luther zur Schule gegangen war, kam Johann Heinrich Hoerschelmann 1704 zur Welt. Er entstammte einer Familie von Handwerkern, Gastwirten, Soldaten, Tagelöhnern, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert in der Gegend der Hörselberge, wo auch das Flüsschen Hörsel entspringt, nachweisen lässt. Über die Entstehung des Namens Hoerschelmann gibt es eine Familiensage, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Thüringen erzählt worden sein soll: »Am Ufer der Hörsel beim Dorfe Stedtfeld oder Hörschel fand man einst ein Kästchen, welches in seinem Inneren ein noch lebendes Knäblein barg. Leute aus Stedtfeld haben dasselbe aufgezogen und nach seinem feuchten Fundort ›Hörselmann‹ genannt.« So steht es in der 1903 vor allem für den familiären Gebrauch gedruckten »Chronik der Familie Hörschelmann«, die August Constantin Hoerschelmann verfasst hat, Pastor und Direktor einer Taubstummenanstalt in dem estnischen Landstädtchen Fennern und in der Familie kurz »Costi« genannt. Dass diese Sage der biblischen Geschichte vom kleinen Moses in seinem Schilfkörbchen ähnelt, hielt der Chronist offenbar nicht für erwähnenswert.

Aus den Hörselbergen mit ihren bewaldeten Tälern zogen die Hörselmanns, deren Name im Laufe des 17. Jahrhunderts zu Hoerschelmann wurde, in die Gegend von Eisenach. Achtzehn Hörselmanns verzeichneten die Kirchenbücher im 16. Jahrhundert in und um Eisenach. Südwestlich der Stadt, nicht weit von der Wartburg, lebte Claus Hörselmann von Epichnellen, wie er in den Kirchenbüchern geführt wurde. Das Gut bestand damals aus einer überschaubaren Ansammlung von Höfen. Heute ist Epichnellen ein Ortsteil von Förtha, das wiederum zu der kleinen Gemeinde Marksuhl gehört. In oder auf Epichnellen ließ sich also der Stammvater der Familie – vielleicht als Gutsbesitzer, vielleicht als Verwalter des durch den Dreißigjährigen Krieg schwer mitgenommenen Gutes – nieder, Genaues gaben die Kirchenbücher nicht her. Er starb am 3. Februar 1670 mit sechzig Jahren. Der Sohn dieses Hörselmann, ebenfalls ein Claus, hatte einen Sohn Hermann, der sich bereits Hoerschelmann schrieb. Der Familienhistoriker Costi dagegen schrieb sich mit »ö«, und auch andere Hoerschelmanns haben das so gehalten. Im Folgenden werden alle Hoerschelmanns einheitlich mit oe geschrieben.

Über Hermann Hoerschelmann weiß man, dass er 1690 Anna Catharina Hötzel heiratete und mit ihr sieben Kinder hatte. Über eine gewisse Bildung muss er auch verfügt haben, sonst wäre er kaum »teutscher Schulhalter« in Eisenach geworden. Hermann Hoerschelmann sorgte dafür, dass die Söhne der ärmeren Eisenacher Bürger eine – wenn auch knappe – Schulbildung erhielten. Daneben gab es in Eisenach die anfangs mit der Georgenkirche verbundene Lateinschule für die Söhne Bessergestellter. Hier war Martin Luther bald zwei Jahrhunderte zuvor Schüler gewesen.

Vier der sieben Kinder Hermann Hoerschelmanns waren Mädchen, für die der Vater, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, eine schulische Bildung kaum für notwendig gehalten haben wird. Von den drei Söhnen starb der mittlere mit sechzehn Jahren; der älteste, Johann Justinus, wurde Pfarrer. Vermutlich wird er nach der Schule des Vaters einige Jahre später als der 1685 ebenfalls in Eisenach geborene Johann Sebastian Bach die Lateinschule der Stadt besucht haben, bevor er in Erfurt mit dem Theologiestudium begann. Auch der jüngste Sohn, Johann Heinrich, studierte Theologie, allerdings in Jena, wo ermit zwanzig Jahren – und damit ungewöhnlich spät – im April 1724 immatrikuliert wurde. Im selben Jahr trat der ältere Bruder seine erste Stelle in Brüssow im Brandenburgischen an. Er blieb dort, bis er im Januar 1757 mit 64 Jahren »nach gehaltenen zwei Predigten von einem Schlagfluss an der linken Seite befallen, dadurch Mittags um elf Uhr in die ewige Seeligkeit versetzt« wurde, wie es lapidar im Brüssower Sterberegister hieß.

Das Theologiestudium verhieß zu allen Zeiten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Nicht selten fanden sich unter den Bürgersöhnen, die »Gottesgelahrtheit«, wie das griechische Wort Theologie landläufig übersetzt wurde, studierten, junge Männer, deren Väter Fuhrleute, Handwerker oder Bauern waren, und hin und wieder verirrte sich auch der jüngste Spross eines Adelsgeschlechts in ein Theologisches Seminar – wenn schon nicht in Deutschland, dann vielleicht in einem der protestantischen Nachbarländer. Das geschah allerdings selten, weil dies für Adlige einen sozialen Abstieg bedeutete: Offizier oder Staatsbeamter konnte ein Herr durchaus werden, Pfarrer nicht.

Der zwanzigjährige Johann Heinrich wird nur wenig Geld gehabt haben, möglicherweise hat ihm die Universität sogar die Collegienhonorare, die damals üblichen Vorlesungsgelder, erlassen, vermutet Costi Hoerschelmann in der Familienchronik. Wie Johann Heinrich lebten wohl viele Jenenser Studenten in äußerst bescheidenen Verhältnissen, denn Anfang Januar 1725 brach infolge sprunghaft angestiegener Lebensmittelpreise ein Tumult unter der Studentenschaft aus. Solche Unruhen gab es immer wieder und aus den verschiedensten Gründen, etwa wenn Studenten sich zu Unrecht gemaßregelt fühlten – wegen Lärmens, wegen anderen Unsinns oder allgemeiner Grobheit in ihrem Verhalten den Bürgern des Universitätsstädtchens Jena gegenüber. Kurz nach Johann Heinrich Hoerschelmanns Immatrikulierung soll es beispielsweise einen Aufstand gegen den Universitätsrektor Rus gegeben haben, weil dieser gegen einige Kommilitonen wegen lauten Lärmens nach einem Besäufnis Disziplinarmaßnahmen ergriffen hatte. Der Rektor musste schließlich Soldaten zu Hilfe rufen, um der tobenden Studentenschaft Herr zu werden. Die Universitätsverfassungen waren streng, schon kleinere Vergehen zogen harte Strafen nach sich, und so dürften derartige Ausschreitungen nicht selten vorgekommen sein.

Im Jahr 1734, und damit wieder ungewöhnlich spät, trat Johann Heinrich seine erste Pfarrstelle an, und zwar in dem Ort Winkel, der damals zu Sachsen-Weimar gehörte und heute ein Ortsteil der Stadt Allstedt im Bundesland Sachsen-Anhalt ist. Er war dort bis 1742 Pfarrer und wäre es vielleicht bis zu seinem Tod geblieben, hätte sich nicht eine seiner bei ihm lebenden Schwestern einen Fehltritt geleistet, wie es dürr in der Familienchronik heißt. Als dem Landesherrn Ernst August von Sachsen-Weimar die Geschichte von der gestrauchelten Schwester zu Ohren kam, enthob er in seiner weltlichen und geistlichen Allgewalt als Summus Episcopus den Bruder nämlich unverzüglich seines Amtes. Wie sich bald herausstellte, sollte das für den Pfarrer Hoerschelmann, der sich nun nach Weimar zum Herzog aufmachte, um ein neues Amt zu erbitten, nicht von Nachteil sein. Sein Stellengesuch verfasste er auf Französisch, was Ernst August nicht wenig erstaunte, schließlich war Französisch die Sprache bei Hofe und die der weltlich Gebildeten. Dass ein Landpfarrer sie beherrschte, war ungewöhnlich. Um zu prüfen, ob der geistliche Herr sein Schreiben tatsächlich selbst verfasst hatte, ließ der Herzog den im Vorzimmer auf Antwort Wartenden in ein Zimmer sperren, wo er ein Gedicht auf Französisch verfassen sollte. Das Ergebnis scheint ihn zufriedengestellt zu haben, denn Johann Heinrich erhielt die Superintendentur in Großrudestedt. Nach der kärglichen Pfarre in Winkel war die mit Großrudestedt verbundene Aufsicht über einen Sprengel mit fünf Dörfern ein Aufstieg unverhofften Ausmaßes für den kleinen Landpfarrer. Es gab dort reichlich Ackerland, dazu Fischteiche, die dem Pastor einen Teil seines Gehalts in Naturalien lieferten, nämlich »current Fest-Fische«. Dazu kamen noch Zinseinkünfte.

Die Superintendentur in Großrudestedt um 1914. Hier waltete Johann Heinrich Hoerschelmann 160 Jahre zuvor seines Amtes als Pfarrer und Superintendent. Von Großrudestedt zogen Mitte des 18. Jahrhunderts zwei Hoerschelmanns nach Reval.

Bereits in Winkel hatte Johann Heinrich geheiratet. Christiane Elisabeth Waitz, der Familienlegende zufolge aus ungarischem Adel, hatte ihrem Mann in Winkel vier Söhne geboren. Der erste war mit vier Jahren an den Blattern gestorben, und auch die anderen drei waren nicht alt geworden. In Großrudestedt kamen zwei weitere Jungen auf die Welt, die überlebten. Johann Heinrich wird sich darüber gefreut haben, ebenso über ihren Werdegang: Beide absolvierten das Gymnasium in Weimar, studierten Theologie in Jena, beide verließen ihre Heimat als junge Männer und avancierten in der Welt, wie man das im Großrudestedter Pfarrhaus genannt haben mag, wo der Pfarrer des Französischen mächtig war.

Mit dem Aufbruch der in Großrudestedt geborenen Söhne Johann Heinrichs in die weite Welt endet die Familiengeschichte in Thüringen, und es beginnt die große Hoerschelmann’sche Familienerzählung. Erst mit diesen Hoerschelmanns setzt im Bewusstsein der Nachkommen die Familientradition tatsächlich ein.

Ernst August Wilhelm, der fünfte Sohn, der dem Ehepaar Hoerschelmann am 29. April 1743 geboren wurde, verließ Thüringen 1768, um in Reval am dortigen kaiserlich-akademischen Gymnasium Lehrer zu werden. Sein Bruder Johann Heinrich folgte ihm vierzehn Jahre später nach Estland und wurde dort zunächst Hauslehrer auf einem Gut – eigentlich ein Posten für junge Theologen, die noch keine Pfarrstelle hatten –, dann Pastor in einer Landgemeinde.

Es gab gute Gründe für die Hoerschelmann-Söhne, Thüringen den Rücken zu kehren. Der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763, den der preußische König Friedrich II. vor allem um Schlesien führte, hatte in ihrer Heimat schwere Verwüstungen hinterlassen. Der Familienchronist Costi fand in der Agende, der Gottesdienstordnung des Großrudestedter Superintendenten, ein Gebet, das dieser nach dem Hubertusburger Frieden, der den Krieg zwischen Preußen und Österreich beendete, verfasst hatte. Es beginnt mit den Worten des 32. Psalms: »Lobe den Herrn, meine Seele!« Und weiter: »Lasst uns beten! Ewiger Gott und Vater aller Barmherzigkeit, der du mit deiner Zorn Ruthen des verderblichen Kriegs Wesens und andrer Landplagen von uns gnädiglich abgelassen hast und als ein Gott des Friedens mit dem edlen Schatz des Friedens uns Väterlich gesegnet und erfreuet auch davon zu predigen befohlen hast; Verleihe uns, dass wir denselben mit dankbaren Herzen erkennen und annehmen, auf dass wir mit dem innerlichen Herzens- und Gewissensfrieden uns treulich befleissigen mögen um Jesu Christi unsres Herrn willen!«

Das Gemälde von Petr Vereschagin zeigt die Olaikirche in Reval, protestantisches Wahrzeichen der Stadt und auch von See aus nicht zu verfehlen. Ganz in der Nähe lag das Academische Gymnasium, Wirkungsstätte von Ernst August Wilhelm, dem ersten Hoerschelmann in Estland.

Doch der Herr erhörte ihn nicht. Denn kaum hatte sich das Land vom Krieg ein wenig erholt, folgte die nächste Heimsuchung: eine Hungersnot. Diese Plage überzog Mitteleuropa bis ins 19. Jahrhundert immer wieder. In der Familienchronik ist ein Aktenstück aus der Großrudestedter Kirche erwähnt, das die elenden Jahre des Hungers in Thüringen von 1769 bis 1773 beschreibt, vermutlich verfasst vom Superintendenten selbst, denn außer ihm und seiner Frau konnte im Pfarrhaus wohl niemand schreiben. Für das Jahr 1769 ist von schlechten Preisen für Roggen und Gerste die Rede, die im folgenden Jahr, nach einem ungewöhnlich harten und langen Winter, noch einmal erheblich anzogen. »Grosse Theurung«, heißt es, »Korn zu Michaelis (dem Sommerende und Ernteschluss, C.A.) 22 Thlr; Gerste 11–12 Thlr.« Der Roggenpreis hatte sich mehr als verdreifacht, der für Gerste war doppelt so hoch. Im Jahr 1771 wurde es noch schlimmer: Ende Mai kostete ein Malter Roggen, das entsprach in Thüringen etwa 160 Litern, 40 Taler, und der Preis stieg weiter auf 60 Taler, »und ist keines zu bekommen gewesen, die armen Leute vom Walde haben Gras und Nesseln gekocht, ihren Hunger zu stillen … und haben Hafermehl und Kleie untereinander gebacken«, die von der Stadt Erfurt ausgegeben worden waren. Etliche Erfurter wurden krank, allerdings nicht so schlimm, dass sie den Bürgermeister nicht als den Schuldigen ausmachen und ihm Vergeltung androhen konnten. Der Unglückliche floh daraufhin, auf einem Karren unter einer Ladung Stroh verborgen, nach Großrudestedt. Im Jahr darauf kletterte der Roggenpreis auf 100 Taler, erst 1773 gab es eine bessere Ernte, und die Preise fielen wieder. »Gott lasse uns und unsere Nachkommen die grosse Theurung und Hungersnot nicht wieder erleben«, schrieb Hoerschelmann. Im Jahr darauf starb er im Alter von siebzig Jahren. Seinen Sohn Ernst August Wilhelm hat er, so viel scheint gewiss, nicht wieder gesehen.

Ernst August Wilhelm war zu dieser Zeit das, was man damals einen »gemachten Mann« nannte. Der junge Doktor der Philosophie zählte nach wenigen Jahren in Reval zu den Honoratioren der Provinzhauptstadt. Im Sommer 1769, ein Jahr nach seiner Ankunft in Estland, hatte er Charlotte Salomon, die erst vierzehnjährige Tochter seines verstorbenen Amtsvorgängers geheiratet. Der Theologe und Philosoph war »Professor der Weltweisheit und Geschichte« am Kaiserlich-Academischen Gymnasium der alten Hansestadt, ein Titel, für den allein der Umzug aus dem provinziell-behäbigen Jena – die große Zeit der Stadt sollte erst noch kommen – in die stolze Kaufmannsstadt Reval sich gelohnt hatte. Aus Liebhaberei gründete der junge Professor 1772 schließlich die »Revalischen Wöchentlichen Nachrichten«.

Als Ernst August Wilhelm seinen Dienst antrat, tat er dies in schwarzem Tuchrock und Kniehosen. Einige Jahre später verlieh die Zarin Katharina II. ihrem Untertanen Hoerschelmann wegen seiner Verdienste um die Bildung der Revaler Knaben den Titel eines Hofrats, womit der erbliche Adel verbunden war – Ernst August Wilhelm von Hoerschelmann hieß er also nun. Zu dieser Zeit trugen die Professoren noch nicht die Uniform der russischen Kronbeamten, die sie im 19. Jahrhundert anlegen mussten: dunkelgrünes Tuch, violetter Stehkragen und silberne Knöpfe mit dem Gouvernementswappen.

An der 1631 von König Gustav Adolf von Schweden gegründeten Schule – Estland war zu jener Zeit Teil des schwedischen Reiches, das die Ostsee und ihre Anrainer beherrschte – gab es neben Hoerschelmann einen Professor für Theologie und Hebräisch, einen für Poesie und Griechisch und einen weiteren für Mathematik und Recht. Das Rektorenamt wechselte reihum, Hoerschelmann hatte es achtmal inne, wobei jede Amtszeit mit einer feierlichen Einführung begann.

Ernst August Wilhelm Hoerschelmann, Theologe, Philosoph und Professor der Weltweisheit und Geschichte, war achtmal Rektor des Revaler Gymnasiums und Vater von sechzehn Kindern. Scherenschnitt von ca. 1770.

Seine neue Heimat Estland wuchs Hoerschelmann so sehr ans Herz, dass er Thüringen nie wieder besuchte. Allerdings dürfte ihm neben seinem Amt, der Zeitung und der Erziehung der eigenen Kinder auch kaum Zeit für eine Reise dorthin geblieben sein. Sechzehn Mal wurde Hoerschelmann Vater, immerhin acht der Kinder überlebten und erreichten das Erwachsenenalter.

Es muss oft lebhaft zugegangen sein im Hause Hoerschelmann; wie der Nachfahr Costi Hoerschelmann vermutet, war wohl »alles gewohnt auf das leiseste Wort, ja auf die bloße Mine hin zu parieren«. Zu den vielen Kindern kamen noch die Pensionäre: Jungen, die das Gymnasium besuchten und gegen Bezahlung bei der Familie zu Mittag aßen oder sogar im Hause wohnten. Das Gehalt der Gymnasialprofessoren war nicht allzu üppig, was man daran sieht, dass Hoerschelmann am 20. Juni 1768, nur einen Tag nach seiner Amtseinführung, bereits eine Eingabe bezüglich der Verbesserung des Lehrergehalts um eine Last Roggen unterschrieb – vergeblich allerdings. Erst 15 Jahre später erfolgte nach einer ausführlich begründeten Bittschrift Hoerschelmanns eine Zulage von 50 Rubel. Am Ende des Jahrhunderts betrug das Gehalt der Lehrer 120 Rubel von der Krone, 190 Rubel von der Stadt sowie 16TonnenRoggen. Der Rektor erhielt 100 Rubel extra. Die konnte Hoerschelmann mit seiner großen Kinderschar gut gebrauchen. Diese Zulage dürfte für ihn ein Grund gewesen sein, das Amt des Rektors immer wieder auszuüben.

Vier der sechs Söhne des Philosophen-Theologen Hoerschelmann wurden Pastoren, was der Vater vermutlich angestrebt hat, um ihre soziale Stellung als Angehörige der Bildungsschicht in der kleinen Provinz zu sichern. Die Töchter wurden gut verheiratet, wie es dem Stand der Eltern entsprach. Die jüngste, Caroline, nahm ein Pastor zur Frau.

Der dritte Sohn, der 1779 geborene Johann Wilhelm (ein 1776 geborener Sohn, der ebenfalls diesen Namen erhalten hatte, war anderthalbjährig gestorben), kam mit nicht einmal zehn Jahren nach Sankt Petersburg. Als geadelter Hofrat unterlag sein Vater dem »Dienstzwang«, was bedeutete, dass er einen seiner Söhne in den Staatsdienst geben musste. So wurde Johann Wilhelm 1787 als Korporal in das Preobrashinski-Garderegiment aufgenommen. Aus Johann wurde Iwan, allerdings schlug er nicht die Laufbahn in der kaiserlichen Leibgarde ein, sondern machte Karriere als Jurist in Sankt Petersburg und wurde schließlich wie sein Vater zum Hofrat ernannt. Iwan begründete den russischen Zweig der Familie Hoerschelmann.

Ausschnitt aus dem Familienstammbaum der Hoerschelmanns von 1769 bis etwa 1850. Otto August Leopold heiratet eine entfernte Nachfahrin des Reformators Martin Luther. Beide Eheleute sind Enkel des »Einwanderers« und seiner Frau Charlotte Salomon.

Wie es in einem echten Pfarrhaus zuging – wobei sich der Zuschnitt des Familienlebens, die Gespräche mit einem gebildeten und vielseitig interessierten Vater sowie das Vorhandensein einer Bibliothek in einem Professorenhaushalt nicht von den Pfarrhaushalten der Aufklärungszeit unterschieden –, konnten die Revaler Hoerschelmann-Kinder in dem estländischen Landstädtchen Fennern beobachten. Nicht weit von dort lebte als Inhaber einer Patronatspfarre und von einem Gutsherrn berufen seit 1784 Ernst August Wilhelms Bruder Johann Heinrich. Der sechs Jahre Jüngere, dessen heiteres Wesen in der Verwandtschaft geschätzt wurde, war nach dem Studium in Jena Pfarrer geworden und seinem Bruder nach Estland gefolgt – vermutlich wird der Ältere ihn durch seine Schilderungen des angenehmen Lebens in der fernen Provinz aus Deutschland fortgelockt haben: »Gastfreyheit, Höflichkeit, Mildthätigkeit, Leutseligkeit, Dienstfertigkeit, anständige Freyheit und Munterkeit im Umgange und noch mehrere schöne Züge dieser Art muss man miteinander vereinen, wenn man sich von dem herrschenden Charakter der hiesigen Einwohner ein richtiges Bild zu machen gedenket«, schrieb Ernst August Wilhelm in seiner Zeitung, und so wird er es auch dem Bruder geschildert haben. Jedenfalls machte dieser sich wenige Jahre nach dem Älteren in das so gelobte Land auf. Dort heiratete er nach dem Tod seiner ersten Frau ein weiteres Mal.

Johann Heinrich war zwar nicht der erste Theologe, wohl aber der erste Gemeindepastor namens Hoerschelmann in Estland. So wie Costi Hoerschelmann ihn beschreibt, werden die Revaler Neffen und Nichten ihn gemocht haben: »Der Onkel war ein wohlbeleibter, sehr freundlicher und heiterer Mann.« Der Herr Pastor hatte Pferde, ritt gerne und trieb dabei seine Scherze; »sein unerschöpflicher Humor gewährte den Neffen ein gern gesehenes, ausserordentliches Vergnügen. Kehrten sie von solch einem Ritt heim, so pflegte der Onkel seine kleine Frau zu umarmen und herumzutragen, bis er sie trotz ihres Sträubens auf seine hohe Kommode setzte, von welcher sie ohne Hilfe nicht herab kommen konnte. Dann neckte und foppte er sie, bis ihr Bitten und Flehen ihn endlich erweichten, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.« Die fast sprichwörtliche Strenge und Ernsthaftigkeit mancher Pfarrhäuser, deren Bewohner in haltlosem Gelächter nichts Gottgefälliges entdecken konnten – bei dem kinderlos gebliebenen Johann Heinrich und seiner Frau herrschte sie jedenfalls nicht.

Während der ehrgeizige und viel beschäftigte Gymnasialprofessor und Zeitungsherausgeber Ernst August Wilhelm den Umgang mit dem Bruder in Fennern geschätzt zu haben scheint – da kam es ganz gelegen, dass Johann Heinrich in der Nähe wohnte –, suchte er die in Deutschland zurückgebliebenen Verwandten zu meiden. Als seine beiden ältesten Söhne Ferdinand Ludwig und Friedrich August 1790 zum Theologiestudium nach Jena aufbrachen, nahm er ihnen das Versprechen ab, sich nicht mit der thüringischen Verwandtschaft einzulassen. Aber nicht nur mit diesen bäuerlichen Hoerschelmanns sollten die Söhne nicht verkehren; vom Vater offenbar auch nicht gewünscht war der Kontakt zum Bruder Friedrich Ludwig Anton, einem Juristen, der eine fünfbändige »Staats- und Lebensgeschichte Theresiens der Großen« verfasst hatte, und zum Vetter Theodor Christoph Renatus, der Pastor in Lichterfelde bei Eberswalde war. »Ob Zerwürfnisse in der Familie, oder ein schlechter Ruf der in Deutschland zurückgebliebenen Angehörigen die Ursache davon waren, weiss ich nicht zu sagen«, schrieb ein paar Jahrzehnte später Ferdinand, ein Enkel des »Einwanderers«, in seinen Lebenserinnerungen. »Näheres darüber habe ich nie gehört, nur die Thatsache steht fest, dass die beiden Brüder während ihres Aufenthalts in Deutschland nie mit Verwandten in Berührung gekommen sind und zwar auf ausdrücklichen Wunsch meines Grossvaters.«

Vielleicht wollte der alte Hoerschelmann nur verhindern, dass seine Söhne sich zu den Verwandten hingezogen fühlten und auf den Gedanken kamen, in der Heimat der Familie zu bleiben. In seinen Augen fiel Thüringen im Vergleich zu Estland zu sehr ab, wie er in seiner Zeitung an einigen Beispielen erläuterte: »Ich kann mich erinnern, dass mein seliger Vater in Gross-Rudestett für eine Leichenpredigt 16 gute Groschen, manchmal auch einen Thaler, bekam. Soviel bekommt hier zu Lande ein Prediger, wenn der Wirth (das Familienoberhaupt, C.A.) von einer Bauerfamilie stirbt und hat dafür nichts zu tun, als etwa den Segen zu sprechen.«

In Estland gehörten die Hoerschelmanns zum Stand der »Literaten«,und sie waren stolz darauf. Zu diesem besonderen deutschbaltischen Stand zählten sich all jene, die geistige und weniger materielle Güter besaßen, zumindest aber ein Studium absolviert hatten, also Ärzte, Lehrer an höheren Schulen, Theologen und Juristen. Im 19. Jahrhundert kamen Angehörige anderer Professionen mit akademischer Bildung hinzu: Apotheker, Architekten und sogar Oberförster. Etwas Vergleichbares gab es weder in Thüringen noch in anderen Teilen Deutschlands; am ehesten ähnelte den Literaten die schwäbische »Ehrbarkeit«, jener aus Geistlichkeit und Bürgertum gebildete Stand in Württemberg von ein paar Hundert Familien, die die Geschicke des Landes bestimmten. Die Literaten erhielten immer wieder Zuwachs und Anregung durch neu Hinzukommende aus Deutschland wie etwa den Einwanderer Ernst August Wilhelm. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nach dem Nordischen Krieg und einer in seinem Gefolge auftretenden Pestepidemie, ergoss sich geradezu ein Strom von Einwanderern aus dem Deutschen Reich ins nur noch dünn besiedelte Baltikum. In diesem Randgebiet, das nur durch die Ostsee und nicht durch einen Ozean von Mitteleuropa getrennt war, taten sich für Gebildete zu jener Zeit ungeahnte Möglichkeiten auf: Bis auf drei Pastoren waren in Reval alle Geistlichen gestorben, alle Ärzte, alle Lehrer waren tot; ähnlich sah es in Riga aus. Auf dem Land waren Pastoren plötzlich für bis zu fünf Kirchspiele zuständig, denen die Hirten abhandengekommen waren. Unternehmungslustigen Naturen schien sich hier vieles zu bieten, auch wenn das Land in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg buchstäblich wüst und leer gewesen sein muss. »Nachdem sich das Land einigermaßen von den Folgen des Krieges erholt hatte, war die wirtschaftliche Lage der Pastoren recht günstig«, urteilte ein Historiker.

Die Pastoren im Baltikum waren zugleich Inhaber mittelgroßer Landgüter, was auch die Herrschaft über einige Dutzend Bauern bedeutete. Da Estland klein war und das kulturelle Leben sich fast nur in der Hauptstadt Reval abspielte, kannten sich die Standesgenossen untereinander, hatten vielleicht dieselbe Schule besucht oder wie die Hoerschelmanns in Jena oder Erfurt studiert; viele der im 18. Jahrhundert in Estland und Livland eingewanderten Theologen kamen jedenfalls aus Thüringen oder hatten dort die Universität besucht. Erst nachdem die 1632 vom schwedischen König Gustav Adolf gegründete Universität Dorpat ihre Lehrtätigkeit nach vielen Unterbrechungen 1802 wieder aufgenommen hatte, gingen die Studenten zunächst an die landeseigene Universität und erst später für ein paar Semester an eine deutsche Hochschule.

Man muss sich den Stand der Literaten wie einen Club vorstellen, in dem jeder jeden kannte. Das war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Angehörigen der akademischen Berufe zumeist aus den wohlhabenden und durch Generationen im Rat der Stadt Reval – oder Riga – vertretenen Familien stammten, die vielfach untereinander verbunden waren – durch Heirat, Freundschaft, Gefühle, Geschichte. Die Grenzen zum gehobenen Bürgertum wie auch zum Adel waren fließend, und überhaupt war das Literatentum in Estland »mehr ein Zustand als ein Stand«, wie einer seiner späten Vertreter einmal schrieb. Man fühlte sich als Literat, benahm sich so und wurde als solcher betrachtet, nämlich gewissermaßen als Angehöriger einer baltischen Boheme.

Ganz anders war das Ansehen der Pastoren in Thüringen oder anderen deutschen Ländern wie Preußen oder Württemberg. In Preußen etwa war das der »niederen Geistlichkeit« oft sehr gering. Ende des 18. Jahrhunderts häuften sich die Klagen über die »Herabwürdigung des Predigerstandes«, womit vor allem die Landpfarrer gemeint waren: »Er hat keinen Rang in den zu unsern Zeiten überall bis auf die feinste Schattirung nach Rang bestimmten Ständen und Posten.« In Württemberg wurde zwischen Stadt- und Landgeistlichen unterschieden, ebenso im armen Thüringen. Für den Sohn des Großrudestedter Superintendenten war Reval also ein Aufstieg, sowohl materiell als auch durch die Bedeutung, die seine Umgebung ihm als Mitglied des Literatenstandes zubilligte. »Ein livländischer Pastor wird mit einem sächsischen oder preußischen Superintendenten nur tauschen, wenn er noch mehr Ruhe zu finden, sparsamere Mahlzeiten zu halten und seine bequeme Kutsche ungenutzt stehen zu lassen wünscht«, schrieb der Pastor und Aufklärer August Wilhelm Hupel im 18. Jahrhundert.

Jahrhundertelang wurden Pastorensöhne von ihren Vätern unterrichtet, ob nun über den Schulunterricht hinaus oder zur Vorbereitung auf die Universität. Alte Sprachen, die Literatur der Antike, Religionsunterricht – wer, wenn nicht die humanistisch-christlich erzogenen und gebildeten Väter hätte die Söhne so umfassend und gleichzeitig fast en passant mit dem geistigen Fundus des Abendlandes, dessen steinerner Vorposten das Pfarrhaus zu sein beanspruchte, vertraut machen sollen? Mehr oder weniger zwangsläufig geschah dies im Umgang mit dem geschriebenen Wort, und das war in erster Linie das Bibelwort, aber keineswegs nur dieses. Der frühe Umgang mit Büchern war geradezu konstitutiv für das Pfarrhaus, die Pfarrerskinder wuchsen mit ihnen auf und verfügten damit – anders als die meisten ihrer Altersgenossen – über einen unerschöpflichen Schatz, eine enzyklopädische Menge an sprachlichen Formen, Bildern, Darstellungen, Redewendungen und anderem mehr.

Das war auch im Hause Hoerschelmann nicht anders, ganz im Gegenteil: Der Mann war Theologe und Lehrer, zudem Zeitungsherausgeber und Journalist, außerdem war er Theaterliebhaber, musikalisch noch dazu, kurz und gut, er übertraf die Pastoren seiner Zeit, was seine Interessen anging, noch um einiges. Seine »Revalischen Wöchentlichen Nachrichten« waren zwar in erster Linie ein Anzeigen- und Verlautbarungsblatt, aber sie enthielten auch die sogenannten Intelligenzartikel, deren Themenvielfalt man sich gar nicht groß genug vorstellen kann. Es ging um alles und jedes: »Ueber Geschütze«; »Verschiedene Arten, die Ameisenarten zu sammeln«; »Freimütige Gedanken ueber unser Landvolk«; »Englische Verfahrensart, die Schafe zu mästen«; »Ueber Versicherungsgesellschaften« und so weiter bis hin zu den Witterungsverhältnissen in Estland und Berichten aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Sehr wahrscheinlich wird Hoerschelmann den »Teutschen Merkur« von Christoph Martin Wieland gekannt haben, die erste deutsche Kulturzeitschrift. Der aus einem schwäbischen Pfarrhaus stammende Schriftsteller und Gelehrte Wieland hatte sie 1773 gegründet, und schon bald hatte sie sich zu einer Art gedrucktem Salon entwickelt, einem Ersatz für die gelehrten Salons in London oder Paris, die es in Deutschland nicht gab. Der »Teutsche Merkur«, aus dem später der »Neue Teutsche Merkur« wurde, war an allem interessiert, was die Welt zu bieten hatte, und schon wegen dieses zwanglosen Interesses an allem und jedem kann man annehmen, dass Ernst August Wilhelm sich hier inspirieren ließ. Hinter diesen Blättern stand die Idee einer »Gelehrtenrepublik«, einer Republik, die auf dem Postweg betreten werden konnte und fern den Bildungszentren und Universitätsstädtenpraktischerweise im Abonnement zu beziehen war. Das war typisch für die Zeit der Aufklärung, und gerade in der nüchternen Handelsstadt Reval, weit entfernt von der nächsten Universität, war ein solches Blatt, so wird es Ernst August Wilhelm empfunden haben, dringend notwendig.

Der Pfarrerssohn aus Thüringen praktizierte in Reval wie Wieland in Weimar das, was typisch war für das Pfarrhaus dieser Jahrzehnte: Die Pfarrer fühlten sich für weit mehr zuständig als nur für die Predigt am Sonntag und die Seelsorge in der Gemeinde. Nicht immer, aber oft kamen diese Aufgaben sogar erst an zweiter Stelle. Ein gutes Jahrhundert später sollte Ernst August Wilhelms Ururenkel Paul als Pfarramtskandidat diese Haltung milde kritisieren. Seiner Verlobten schrieb er, er wolle als Pastor keine Landwirtschaft betreiben. Es sei das Ideal der Aufklärungszeit gewesen, dass der Pastor nicht nur für das Seelenheil der Gemeinde zu sorgen habe, sondern fast noch mehr für die irdische Wohlfahrt seiner Pfarrkinder. Die himmlische sei dafür nicht mehr so wichtig genommen worden.

Der Nachfahr Paul hatte recht. Für den typischen Pfarrer der Aufklärungszeit war die Sorge um die Lebensumstände der Menschen, die ihm anvertraut waren, ebenso wichtig wie ihr Seelenheil. Er wollte das Leben seiner Pfarrkinder verbessern, sie in jeder Hinsicht erziehen, sie aus ihrer selbst- oder von den Umständen verschuldeten Unmündigkeit befreien, damit ihr Dasein sich zum Guten wende. Die Aufklärung, das war für den Pfarrer mehr als Kants Philosophie, sie war auch praktische Lebenshilfe. So wirkte er als Pionier des Fortschritts und verstand sich selbst als Volksaufklärer. Dass viele Landpfarrer sich mit allerlei Wissenschaften beschäftigten, diente kaum jemals der zweckfreien Erbauung eines wissbegierigen Gemüts, sondern war fast immer irgendeiner Notwendigkeit geschuldet. Höheren Orts wurde dies durchaus nicht ungern gesehen. Beurteilungen von Bewerbern oder Protokolle von Visitationen hoben nicht nur die theologische, sondern auch die »gründliche wissenschaftliche Bildung« der Männer Gottes hervor, ebenso ihre »Belesenheit« oder eine gut ausgestattete Bibliothek.

Das Ideal des gelehrten Landpfarrers, der nicht nur die alte »Gottesgelahrtheit« verkörpern sollte, sondern darüber hinaus »wahre Gelehrsamkeit«, fand sogar Eingang in Lexika wie die »Oeconomische Enzyklopädie« von Johann Georg Krünitz, der 1793 im Beitrag über den Landpfarrer schrieb, dieser solle sich auch medizinische, pharmazeutische und veterinärmedizinische Kenntnisse aneignen. Damit griff er auf, was vielerorts – ob in Skandinavien, Deutschland oder dem Baltikum – bereits gang und gäbe war.

Da die Interessen der Pfarrer – aber auch die Bedürfnisse der Gemeinden – ganz unterschiedlich lagen, war es ein weites Feld, auf dem die Pfarrer sich betätigten: als Landwirtschafts- und Schulreformer, als Erfinder, Astronomen oder Uhrmacher. Sie entwickelten Waschmaschinen, machten archäologische Ausgrabungen (wie der Pastor Seidentopf in dem Roman »Vor dem Sturm«, dem Theodor Fontane Züge von tatsächlich lebenden Pastoren verlieh) oder beschäftigten sich mit Bevölkerungsstatistik. Das lässt zum einen darauf schließen, dass die eigentlichen Aufgaben des Pfarrers nicht allzu viel Zeit beanspruchten, und zum anderen, dass so mancher Pastor seine selbst gestellte wissenschaftliche oder praktische Aufgabe sehr ernst nahm. So war es auch bei Johann Ludwig Christ (1739–1813), einem hessischen Landpfarrer, der einen Großteil seines Lebens am Südosthang des Taunus in dem Landstädtchen Kronberg vor den Toren Frankfurts verbrachte. Wenn er auf seinem Esel über die Wiesen bei Kronberg ritt, war er von den Bauern nicht zu unterscheiden. Seine Pfarrkinder nannten ihn den »Apfelpfarrer«, tatsächlich war er ein bedeutender Naturwissenschaftler, dessen Hauptwerk, die »Vollständige Pomologie«, wie auch das »Handbuch der Obstbauzucht und Obstlehre« lange Zeit Standardwerke waren. Daneben verfasste er landwirtschaftliche und naturwissenschaftliche Abhandlungen, wohl auch um sein unzureichendes Einkommen aufzubessern. Mit der Bienenzucht kannte er sich ebenfalls aus, was sich in einem »Bienenkatechismus für das Landvolk« niederschlug – der Pfarrer Christ konnte seine Profession nicht verleugnen. Dass er seine Kenntnisse über Pflanzenzucht und Bodenmelioration an die Bauern im Taunus weitergab, war der größte Dienst, den er ihnen erweisen konnte. Wie viele seiner Standesgenossen sah er sich als Lehrer der Landbevölkerung. Er war Mitglied der Livländischen Gelehrten Gesellschaft in Riga und in einem halben Dutzend weiterer wissenschaftlicher Vereine.