Das Evangelium - Leo N. Tolstoi - E-Book

Das Evangelium E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Dieser Band vermittelt Leo N. Tolstois Bibelarbeit (ab 1879) vornehmlich über die Übersetzungen von Nachman Syrkin. Erschlossen wird die Evangelien-Interpretation des russischen Dichters durch eine umfangreiche Darstellung der Theologin Käte Gaede (1980). Zwei weitere Begleittexte stammen von Nikolay Milkov und Eugen Drewermann. Tolstoi rückt die Bergpredigt ins Zentrum und verwahrt sich gegen eine staatskirchliche Zensur der Lehre Jesu. Das Gebot der Feindesliebe stellt er unter die Überschrift "Du sollst nicht Krieg führen!" Der entsprechende Abschnitt in seiner Evangelienharmonie lautet: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Sorge für das Wohl des Nächsten und sieh den Feind als ein Nichts an. Ich aber sage euch: Sorgt für das Wohl eurer Feinde; sorgt für das Wohl derer, die euch als ein Nichts ansehen; sorgt für das Wohl derer, die euch bedrohen, und bittet für jene, die euch überfallen. Damit ihr zu gleichen Söhnen eures Vaters im Himmel werdet. Er befiehlt der Sonne, über Bösen und Guten aufzugehen, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Und wenn ihr für das Wohl dessen sorgt, der euch Wohl tut, welcher Verdienst ist hier? Denn alle Völker tun dasselbe. Denn wenn ihr nur euren Brüdern Wohl tut, was tut ihr da übriges gegenüber anderen Völkern? Jedes Volk tut dasselbe. - Seid gut zu allen Menschen, wie euer Vater im Himmel zu allen gut ist." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 5 (Signatur TFb_A005) Herausgegeben von Peter Bürger

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Inhalt

Vorbemerkungen des Herausgebers

_____

Drei Übersetzungen zu Tolstois Bibelarbeit von Nachman Syrkin

Leo N. Tolstoi

L

EBEN UND

L

EHRE

J

ESU

(

Aus: Kratkoe izloženie Evangelija | 1881-1883)

Deutsch von Dr. N. Syrkin

Leo N. Tolstoi

D

AS

E

VANGELIUM

Kurze Auslegung, mit Anmerkungen aus dem Werke „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“ (Haupttext aus: Kratkoe izloženie Evangelija | 1881-1883)

Deutsch von Dr. N. Syrkin

Von den Herausgebern

Vorrede zur kurzen Auslegung des Evangeliums

Einleitung. Vernunft des Lebens

Erstes Kapitel. Sohn Gottes

Zweites Kapitel. Und darum soll der Mensch nicht dem Fleische, sondern dem Geiste dienen

Drittes Kapitel. Vom Geist-Vater hat das Leben aller Menschen seinen Ursprung

Viertes Kapitel. Das Reich Gottes

Fünftes Kapitel. Das wahre Leben

Sechstes Kapitel. Das falsche Leben

Siebentes Kapitel. Ich und der Vater sind Eins

Achtes Kapitel. Das Leben ausser der Zeit

Neuntes Kapitel. Die Verführung

Zehntes Kapitel. Der Kampf mit der Verführung

Elftes Kapitel. Abschiedsworte

Zwölftes Kapitel. Der Sieg des Geistes über das Fleisch

Anmerkungen aus dem Werke „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien | 1879-1881“

Anmerkung 1: Vorrede zum Werke: ‚Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien‘

Anmerkungen 2 – 38

Citatenregister (Citate aus den vier Evangelien)

Leo N. Tolstoi

W

IE IST DAS

E

VANGELIUM ZU LESEN UND WORIN BESTEHT SEIN

W

ESEN

?

(

Kak čitatʼ Evangelie i v čem ego suščnostʼ? | 1896)

Deutsch von Dr. N. Syrkin

_____

Weitere Texte Tolstois zur biblischen Botschaft und zum ‚Gottesbild‘

Leo N. Tolstoi

Ü

BER

E

RNEST

R

ENAN

Aus einem Brief an N. N. Strachow | April 1878

Leo N. Tolstoi

Ü

BER DAS

W

UNDER DER

A

UFERSTEHUNG

C

HRISTI

Schlussbetrachtung aus dem Werk „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“ (Soedinenie i perevod četyrech Evangelij | 1879-1881)

Leo N. Tolstoi

D

IE

L

EIDENSGESCHICHTE UNSERES

H

ERRN

J

ESUS

C

HRISTUS

(Stradanija gospoda našego Iisusa Christa | 1885)

Leo N. Tolstoi

D

IE

L

EHRE DER ZWÖLF

A

POSTEL

(

Učenie dvenadcati apostolov | 1885)

Leo N. Tolstoi

G

EDANKEN ÜBER

G

OTT

(

Mysli o boge | Zusammenstellung 1898)

Deutsch von Dr. N. Syrkin

_____

Beiträge zu Tolstois Bibelauslegung und über die Bergpredigt

Käte Gaede

D

AS

Z

ENTRUM DER

B

IBEL BEI

T

OLSTOI

(

Evangelische Verlagsanstalt, 1980)

1. Aufbau und Methode der „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“

2. „Einleitung“ des Evangeliums

3. Zur Verkündigung des Reiches Gottes

4. Tolstois Verständnis der Bergpredigt

5. Inhalt der Glaubenslehre Jesu

6. Jesus als Erfüller der Glaubenslehre

7. Zusammenfassung

Käte Gaede

Z

UR

B

EDEUTUNG DER

B

IBELINTERPRETATION

T

OLSTOIS

(

Evangelische Verlagsanstalt, 1980)

Nikolay Milkov

L

EO

T

OLSTOIS

D

ARLEGUNG DES

E

VANGELIUM UND SEINE THEOLOGISCH

-

PHILOSOPHISCHE

E

THIK

(

Vortrag, Fassung 2004)

Eugen Drewermann

D

IE

S

ELIGPREISUNGEN DER

B

ERGPREDIGT

(

Buchauszug, 2008)

_____

Anhang

Kommentierte Bibliographie zu Leo N. Tolstois Werken über die Evangelien

Ausgewählte Sekundärliteratur zu Tolstois Bibelarbeit

Übersicht zu den Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek, Reihe A

Übersicht zu vorliegenden Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek, Reihe B

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

Im Zuge seines theologischen Selbststudiums wandte sich Leo N. Tolstoi nach Untersuchungen der kirchlichen Dogmatik der Bibel zu. In den Jahren 1879 bis 1881 entstand sein umfangreiches Werk „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“ (Soedinenie i pere-vod četyrech Evangelij), von dem bis heute keine Ganzübersetzung ins Deutsche vorliegt. Ein eher zufällig zustande gekommener ‚Auszug‘ aus diesem großen Opus – „Kurze Darlegung des Evangeliums“ (Kratkoe izloženie Evangelija | 1881-1883) – war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, wurde dann aber die maßgebliche Schrift zur breiten Vermittlung von Tolstois Bibelarbeit. Als eine im Aufbau getreue Ausgabe dieser „Kurzen Darlegung“ kann die in unserer Reihe bereits neu edierte Übersetzung von Paul Lauterbach herangezogen werden.1

Der vorliegende Band enthält Übertragungen von Dr. Nachman Syrkin (1868-1924), der als Begründer des „sozialistischen Zionismus“ gilt. Diese folgen einer anderen Anlage: Die den Kapiteln der „Kurzen Darlegung“ ursprünglich jeweils beigegebenen – einleitenden – Inhaltsangaben sind als eigenständige Schrift „Leben und Lehre Jesu“ (→S. 13-41) zusammengefasst. Der Hauptteil erscheint – auf der Grundlage einer von Vladimir G. und Anna K. Čertkov herausgegebenen Fassung – ohne diese Anteile unter dem Titel „Das Evangelium – Kurze Auslegung …“ (→S. 43-207). Es fehlt darin die Übertragung des 1. Johannesbriefes am Schluss; die Verweise zu Bibelstellen sind umständlich in ein separates Register verbannt. Als Beigaben werden im Anhang die Vorrede und z. T. ausführliche „Anmerkungen“ aus dem sonst für die deutschsprachige Leserschaft nicht zugänglichen großen Werk „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“ dargeboten (→S. 157-192). Zu den Eigentümlichkeiten der Übersetzung Syrkins gehört es, dass Tolstois Interpretation des „Logos“ (‚Im Ursprung war das Wort‘: Prolog des Johannes-Evangeliums) nicht als „Verstehen (bzw. Verständnis) des Lebens“, sondern als „Vernunft des Lebens“ wiedergegeben wird.

Von Nathan Syrkin stammen noch zwei weitere Übersetzungstexte in diesem Band: Zunächst der kurze Aufsatz „Wie ist das Evangelium zu lesen und worin besteht sein Wesen?“ (Kak čitatʼ Evangelie i v čem ego suščnostʼ? | 1896; →S. 209-212); sodann die von V. Čertkov besorgte Kompilation „Gedanken über Gott“ (Mysli o boge | 1898), die vielleicht eine Ahnung davon vermitteln kann, wie sehr Tolstoi in den zwei Jahrzehnten nach seiner Bibelarbeit um ein angemessenes ‚Reden von Gott‘ gerungen hat (→S. 239-260). – In eigenen Arbeitsübersetzungen für die Tolstoi-Friedensbibliothek werden schließlich noch dargeboten die Schlussbetrachtungen Tolstois zur Auferstehung Christi (→S. 217-227) aus dem Grundwerk „Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien“ sowie eine ‚Bildmeditation‘ zur Passion Christi aus dem Jahr 1885 (→S. 228-230). Nicht auf den biblischen Kanon, aber auf eine schon um 100 nach Christus entstandene frühkirchliche Schrift bezieht sich der Text „Die Lehre der zwölf Apostel“ (Učenie dvenadcati apostolov | 1885; →S. 231-238).

Auf der Grundlage ihrer Dissertation von 1974 hat die Theologin Käte Gaede die Bibelarbeit Tolstois in einem 1980 erschienenen Buch der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin für ein größeres Publikum erschlossen. Es ist ein wirklicher Glücksfall, dass wir den Hauptteil dieser gründlichen Arbeit gleichsam als ‚Gesamtkommentar‘ zur Neuedition in den vorliegenden Band aufnehmen durften (→S. 263339; 340-360). – Ein weiterer Begleittext von Nikolay Milkov beleuchtet Tolstois Evangelien-Interpretation aus philosophischer Perspektive (→S. 361-382). – Wer die Auslegung der Bergpredigt durch Leo N. Tolstoi unter dem Vorzeichen einer ‚Vernunft-Ethik‘ studiert, ist nach Ansicht des Herausgebers gut beraten, wenn er ergänzend jenen anderen theologischen Zugang mitbedenkt, der in den Arbeiten Eugen Drewermanns entfaltet wird.2 Auszüge aus dem Werk „Die Seligpreisungen“ (2008), die den vorliegenden Band der Tolstoi-Friedensbibliothek beschließen, mögen als erste Anregung zu einer entsprechenden Lektüre dienen (→S. 383-402).

Das Christentum, wie Tolstoi es versteht, zielt nicht auf eine Aufklärung über uns verschlossene Welten des ‚Übernatürlichen‘ oder das Fürwahrhalten von ansonsten ganz unverständlichen religiösen ‚Satzwahrheiten‘, sondern es besteht in einem wahren Verständnis des Lebens bzw. einem neuen Selbstverstehen des Menschen. ‚Offenbarung‘ hat mit jener inneren Erfahrung zu tun, die uns das neue Selbstverstehen (als Sohn bzw. Tochter Gottes3) ermöglicht. Das ‚Ich‘-Sagen der getriebenen Selbstsicherung des ‚fleischlichen Menschen‘ (Bewusstsein der Sterblichkeit) weicht der inneren Verbindung mit dem – unzerstörbaren – göttlichen Leben, die jedem Menschen bestimmt ist und in welcher auch die Einheit aller Menschen wurzelt. Im Hintergrund, so meint Käte Gaede, ist hier das für die ostkirchlichen Väter so bedeutsame Konzept der ‚Vergöttlichung‘ des Menschen (Θεωσις, Theosis) wirksam. Der russische Denker ist kein ‚liberaler Protestant‘. Die Theologie wird schon ‚anthropologisch gewendet‘, aber am Ende keineswegs in ‚Ethik‘ aufgelöst.

Tolstois Bibelarbeit ab 1879 erschließt bereits die maßgebliche Grundlage zur Entfaltung einer ‚(Lebens-)Philosophie des Christentums‘. Tolstois große – kanonische – ‚Evangelien-Harmonie‘ ist mehr Interpretation als Übersetzung und vereinigt ohne Bedenken auf gleicher Ebene das ‚philosophische‘ Johannes-Evangelium, dessen deutender Prolog in Geltung bleibt, mit den Synoptikern (Markus, Matthäus, Lukas). Ziel ist die Freilegung der ‚Lehre Jesu‘, – und wenn wir nur auf die Wiederentdeckung der Bergpredigt schauen, so erweist sich der Anspruch nicht als zu hoch gesteckt. Wer hat denn sonst vor 140 Jahren Vergleichbares vorgelegt? Wenn Tolstoi die ‚Feindesliebe‘ unter die Überschrift „Du sollst nicht Krieg führen!“ (→S. 303) stellt, so trifft er durchaus den historischen Kontext der Botschaft in einem besetzten Land. Wie anders jene KatechismusSchreiber, die Jesus Rechtfertigungen für Menschentötungen im Dienste einer ‚öffentlichen Ordnung‘ unterschieben. Im Gegensatz zu den Staatstheologen aller Zeiten durchschaute Tolstoi als Exeget, dass die Kontroverse um den Zinsgroschen (Steuerfrage) keineswegs auf ein Gebot des Gehorsams gegen Kaiser oder Staat hinausläuft. Es geht – um nur ein gängiges Missverständnis noch anzusprechen – mitnichten um eine übermenschliche asketische ‚Vollkommenheit‘. Unter dem leichten Joch Jesu wartet ein glücklicheres Dasein. Doch: „ ‚Man kann nicht Gott [dem Leben] und dem Mammon [dem Tod] dienen‘, das ist nicht eine Regel [ethische Forderung], sondern so ist es in der Wirklichkeit“ (→S. 188). Anklage, Bestrafung, Sühnetod oder gar Höllenqualen sind keine annehmbaren Antworten auf die menschliche Verirrung (zur Sprache vgl. →S. 273).

Die Schwächen und Holzwege in Tolstois Bibelarbeit liegen offen zutage. Da es dem Dichter um eine innere ‚Gottesbeziehung‘ ohne Fremdbestimmung und Außenlenkung geht, will er – ähnlich wie lange vor ihm ein Marcion oder nur wenig später als er der deutsche Protestant Adolf von Harnack – die hebräische Bibel erklärtermaßen ignorieren. Bezogen auf die Tiefen im ‚Buch der Bücher‘, das Selbstverständnis des Juden Jesus und die Wirklichkeit der frühen (‚nachösterlichen‘), noch nicht von der Synagoge getrennten Gemeinde Jesu irrt Tolstoi um 1880 auf ganzer Linie.

Die großen Urbilder von Weihnacht, Taufgeburt und Ostermorgen – nebst den Wundererzählungen – werden in der kirchlichen Auslegung zu übernatürlichen ‚Beweisen‘ für übernatürliche dogmatische Aussagen. Weil sie so einer Verfälschung des Evangeliums und zur Irreführung der Kirchenmitglieder dienen, „muss“ Tolstoi in seiner Evangelien-Harmonie eine radikale entmythologisierende ‚Zensur‘ vornehmen. Am Jordan erfolgt z. B. nur eine ‚geistige Reinigung‘. In der Wüste erweist sich Jesus entsprechend nicht als seelisch immun gegenüber den Verheißungen von Macht, Besitz und Gewalt, sondern überwindet die inneren Versuchungen gewissermaßen durch lebensphilosophische Reflektionen. Vorläufer einer tiefenpsychologischen Erschließung von Archetypen, Traumbildern und Legenden (z. B. in der patristischen Literatur) sind Tolstoi offenbar ganz unbekannt. Der Rationalismus in den Betrachtungen zur ‚Auferstehung‘ (→S. 217 ff) wirft die Frage auf, ob der sensible Dichter denn nicht wenigstens mit Traumfolgen eines Trauerprozesses vertraut war. – Bei den Heilungsberichten hat Tolstoi sein Programm gottlob nicht konsequent durchgezogen, sondern uns in zwei Fällen wirklich überzeugende Auslegungen dargeboten (→S. 65, 88, 113 f, 187 f, 271, 327). Wo konnten Suchende auch diesbezüglich um 1880 etwas Vergleichbares finden? | pb

1 Leo N. TOLSTOI: Kurze Darlegung des Evangelium. Aus dem Russischen von Paul Lauterbach, 1892. (= TFb_A004). Norderstedt: BoD 2023.

2 Eugen DREWERMANN: Das Matthäusevangelium. Erster Teil: Mt. 1,1–7,29. Olten/Freiburg 1992, S. 367-667; E. DREWERMANN: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Düsseldorf/Zürich 62001, bes. S. 299-531; E. DREWERMANN: Das Lukas-Evangelium. Band 1: Lukas 1,1–12,1. Düsseldorf 2009, S. 351-463.

3 Vgl. Michel HENRY: „Ich bin die Wahrheit.“ Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen übersetzt von Rolf Kühn. Freiburg/München 1997, S. 133 und 366: „Die zentrale Behauptung des Christentums hinsichtlich des Menschen ist …, daß er der Sohn Gottes ist. Diese Definition bricht auf entscheidende Weise mit den gewöhnlichen Vorstellungen vom Menschen …“. „Allein das Christentum kann uns heute … sagen, was der Mensch ist.“

Leo N. Tolstoi

LEBEN UND LEHRE JESU

(Aus: Kratkoe izloženie Evangelija, 1881-1883)

Deutsch von Dr. N. Syrkin4

I.

Jesu nannte in seiner Kindheit seinen Vater Gott. Zu jener Zeit predigte der Prophet Johannes in Judäa das Herabsteigen Gottes auf Erden. Er sagte, Gott werde auf die Erde herabsteigen und sein Reich werde begründet werden, wenn die Menschen ihr Leben ändern und sich gegenseitig lieben und helfen werden.

Als Jesus diese Predigt hörte, entfernte er sich nach der Wüste, um den Sinn des Lebens und das Verhältnis des Menschen zu seinem unendlichen Anfang zu Gott zu verstehen. Den unendlichen Anfang von allem nannte Jesus Vater, was Johannes Gott nannte.

Nachdem Jesus einige Tage in der Wüste ohne Nahrung gewesen war, begann er vom Hunger gequält zu werden und er dachte:

Ich bin der Sohn des allmächtigen Gottes und muß darum, ebenso wie Er, allmächtig sein; nun will ich essen, das Brot kommt aber nicht nach meinem Willen. Darauf sagte er sich: ich kann nicht aus Steinen Brot machen, aber ich kann mich vom Brot enthalten, und so bin ich allmächtig im Geist, wenn auch nicht im Fleisch; ich bin darum der Sohn Gottes, nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist.

Wenn ich aber der Sohn des Geistes bin, – sagte er sich weiter, so kann ich doch das Fleisch vernichten, darauf aber antwortete er: ich bin als Geist im Fleisch geboren. So war der Wille meines Vaters, und ich kann mich seinem Willen nicht widersetzen.

Wenn ich aber die Gelüste des Fleisches nicht befriedigen und das Fleisch nicht aufheben kann, – sagte er sich weiter, – so dürfte ich vielleicht nur die Freuden des Fleisches genießen. Und darauf antwortete er: ich kann viel Gelüste des Fleisches nicht befriedigen und kann mich vom Fleisch nicht abwenden, mein Leben aber ist im Geiste meines Vaters allmächtig und muß darum dem Geist – Vater dienen.

Überzeugt davon, daß das Leben nur im Geiste des Vaters besteht, verließ Jesus die Wüste und begann seine Lehre zu predigen. Er sprach, daß in ihm der Geist lebendig, daß der Himmel geöffnet ist, daß die himmlischen Kräfte sich mit dem Menschen vereinigt haben, daß für die Menschen das unendliche freie Leben gekommen ist; daß alle im Fleisch noch so unglücklichen Menschen selig sind.

II.

Die rechtgläubigen Judäer beteten den äußeren Gott, den Schöpfer und Herrn der Welt, an. Nach ihrer Lehre habe Gott mit ihnen einen Vertrag geschlossen, wonach Er ihnen helfen, während sie Ihn anbeten und den Sabbat halten müssen.

Jesus sagte: der Sabbat ist eine menschliche Bestimmung. Der lebendige Mensch mit seinem Geiste ist wichtiger, als alle äußeren Gebräuche. Die Wahrung des Sabbats, sowie jede äußere Gottesanbetung enthält in sich einen Betrug. Man darf am Sabbat nichts thun; wenn man aber kein gutes Werk am Sabbat thun darf, so ist der Sabbat ein Betrug.

Als eine andere Bedingung des Vertrags betrachten die rechtgläubigen Judäer die Feindschaft gegen die Ungläubigen.

Darauf sagte Jesus, daß Gott von den Menschen nicht Opfer, sondern Liebe verlange.

Als eine weitere Bedingung des Vertrags hielten sie die Regeln über die Abwaschung und Reinigung.

Und auch darauf sagte Jesus, daß Gott keine äußere Reinheit verlange, sondern nur Milde und Liebe zu Menschen. Dabei erklärte er die äußerlichen Gebräuche als schädlich und die kirchliche Tradition selbst als ein Übel. Die kirchliche Tradition mache es, daß die Menschen die bedeutendsten Liebeswerke, wie die Liebe zu Vater und Mutter wegwerfen, und dies durch die kirchliche Tradition rechtfertigen.

Über alles äußerliche, über die Reinheitsbestimmungen des alten Gesetzes sagte Jesus: wisset alle, daß nichts von außen den Menschen beflecken kann, sondern nur das, was er denkt und thut.

Darauf kam Jesus nach Jerusalem, betrat den Tempel und sprach gegen die Opferbringung, dass der Mensch wichtiger ist, als der Tempel, und dass man nur den Nächsten lieben und ihm helfen muß.

Alsdann sagte Jesus, daß man Gott an keinem Orte anbeten darf, sondern daß man dem Vater mit den Werken und im Geist dienen muß. Den Geist kann man nicht wahrnehmen und zeigen; er ist die Erkenntnis, daß der Mensch ein Sohn des unendlichen Geistes ist. Der Tempel ist nicht nötig. Der wahre Tempel ist die Welt der durch Liebe vereinigten Menschen. Er erklärte alle äußere Gottesanbetung nicht nur darum für falsch und schädlich, weil sie das Böse fördert, – wie die jüdische Gottesverehrung, welche die Todesstrafe vorschreibt und die Geringschätzung der Eltern erlaubt, – sondern auch deswegen, weil der Mensch sich dabei für gerecht und der Pflicht der Liebe enthoben fühlt. Nur jener Mensch strebt nach dem Guten und schafft Liebeswerke, wer sich für unvollkommen hält. Die äußerliche Gottesanbetung verwickelt die Menschen in den Betrug der Selbstzufriedenheit. Alle äußere Gottesanbetung muß wegfallen. Man kann nicht das Liebeswerk mit der Erfüllung der Gebräuche vereinigen und man kann nicht in der Form äußerer Gottesverehrung Liebeswerke schaffen. Der Mensch ist ein Gottessohn im Geist und muß darum dem Vater im Geist dienen.

III.

Die Schüler Johannes’ fragten Jesum, welches sein Gottesreich ist. Er sagte: das Gottesreich, welches ich predige, ist dasselbe, welches Johannes gepredigt hatte. Es besteht darin, daß alle Menschen, mögen sie noch so arm sein, selig sein können.

Und Jesus spricht zum Volke: Johannes predigte dem Volke das Gottesreich nicht in der Außenwelt, sondern in der Seele der Menschen. Die Rechtgläubigen verstanden ihn nicht, denn sie verstehen nur das unter Gott, was sie sich von dem äußeren Gott einbilden, und predigen diese Einbildungen und wundern sich, daß niemand sie hört. Johannes aber predigte die Wahrheit des Gottesreiches unter den Menschen und that darum mehr, als alle. Seit seiner Zeit sind das Gesetz, die Propheten und die ganze äußere Gottesverehrung überflüssig geworden. Seit seiner Lehre ist es offenkundig geworden, daß das Gottesreich in der Menschenseele ist.

Der Anfang und das Ende von allem sind in der Menschenseele. Jeder Mensch erkennt außer dem Fleisch auch den freien, vernünftigen und unabhängigen Geist in sich.

Dieser unendliche, aus dem Unendlichen hervorgegangene Geist ist eben das Urprinzip und das, was wir Gott nennen. Wir kennen ihn darum, weil wir ihn in uns kennen. Dieser Geist ist das Prinzip unseres Lebens und man muß ihn über alles setzen, man muß in ihm leben. Dadurch erlangen wir das wahre, unendliche Leben. Jener Vater – Geist, welcher diesen Geist in die Menschen hineingethan hatte, konnte doch die Menschen nicht betrogen haben, daß die Menschen trotz der Erkenntnis des unendlichen Lebens es verlieren könnten. Der unendliche Geist mußte nur darum gegeben worden sein, damit die Menschen in ihm das unendliche Leben haben. Der Mensch, welcher sein Leben in diesen Geist setzt, hat das unendliche Leben. Der Mensch, welcher nicht in diesen Geist sein Leben setzt, hat kein Leben. Die Menschen können selbst zwischen Leben und Tod wählen. Das Leben ist im Geist, der Tod im Fleisch. Das Leben des Geistes ist das Gute und das Licht, das Leben des Fleisches das Böse und die Finsternis. An den Geist glauben heißt gute Werke schaffen, nicht glauben – heißt böse Werke schaffen. Das Gute ist das Leben, das Böse der Tod. Gott als äußeren Schöpfer, als Uranfang, kennen wir nicht. Alles, was wir von Ihm wissen, ist, daß Er seinen Geist in die Menschen gesäet hat; auf gutem Boden giebt der Same Frucht, auf schlechtem geht er zu Grunde. Nur der Geist giebt dem Menschen Leben, und von den Menschen hängt es ab, ob sie es behalten oder verlieren. Für den Geist giebt es kein Böses. Das Böse ist das Abbild des Lebens. Es giebt nur Lebendiges und Nichtlebendiges.

Dies ist die Vorstellung der Menschen über die ganze Welt, jeder Mensch hat aber das Bewußtsein des Himmelreichs in seiner Seele. Jeder kann in dasselbe hineinkommen oder nicht. Um in dasselbe hineinzukommen, muß man an das Leben des Geistes glauben. Wer daran glaubt, hat ein unendliches Leben.

IV.

Jesus bedauerte die Menschen, daß sie den wahren Segen nicht kennen, und er lehrte sie. Er sagte:

Selig sind diejenigen, welche kein Eigentum, keinen Ruhm und keine Sorge haben; unglücklich sind diejenigen, welche Reichtum und Ruhm suchen, denn die Armen und Unterdrückten befinden sich im Willen des Vaters, während die Reichen und Ruhmsüchtigen von den Menschen in diesem zeitlichen Leben einen Lohn suchen. Um den Willen des Vaters zu erfüllen, darf man es nicht fürchten, arm und verachtet zu sein, sondern sich darüber freuen, den Menschen zeigen zu können, worin der wahre Segen besteht.

Um den Willen des Vaters zu erfüllen, muß man die fünf Gebote erfüllen.

Erstes Gebot. – Du sollst niemand beleidigen und bei niemand Böses erregen, denn Böses erzeugt Böses.

Zweites Gebot. – Du sollst mit den Frauen keine Liebschaften führen und deine Frau nicht verlassen, denn der Wechsel der Frauen bringt alle Ausschweifungen in der Welt hervor.

Drittes Gebot. – Du sollst keinen Eid leisten, denn man kann nichts versprechen, weil der Mensch ganz in der Macht des Vaters ist, und Eide für böse Thaten geleistet werden.

Viertes Gebot. – Widersetze dich nicht gegen das Übel, erdulde Beleidigungen und thue mehr, als von dir verlangt wird; richte nicht und werde nicht gerichtet, denn der Mensch ist selbst voll Fehler und kann die anderen nicht belehren. Durch die Rache lehrt der Mensch nur die anderen dasselbe thun.

Fünftes Gebot. – Mache keinen Unterschied zwischen deinem Landsmann und den Fremden. denn alle Menschen sind Kinder eines Vaters.

Diese fünf Gebote soll man nicht darum erfüllen, um das Lob der Menschen zu verdienen, sondern für seinen eigenen Segen, und man soll darum in Gegenwart von Menschen weder beten noch fasten.

Der Vater weiß alles, was den Menschen not thut. Und man darf Ihn um nichts bitten, sondern nur danach streben, um im Willen des Vaters zu sein. Der Wille des Vaters aber besteht darin, daß man niemand Böses nachträgt. Man darf nicht fasten, sondern nur im Willen des Vaters sein. Wer um das Fleisch besorgt ist, der kann schon für das Himmelreich keine Sorge tragen. Auch ohne die Sorge um Nahrung und Kleidung wird der Mensch leben. Der Vater wird das Leben geben. Man muß nur jeden Augenblick den Willen des Vaters thun. Der Vater giebt den Kindern das, was ihnen Not thut. Man kann nur die Kraft des Geistes wünschen, welche der Vater giebt. Die fünf Gebote bestimmen den Weg zum Himmelreich. Nur dieser enge Weg führt zum ewigen Leben.

Die falschen Lehrer, die Wölfe in Schafspelzen, suchen die Menschen von diesem Wege abzuwenden. Man muß sich vor ihnen in Acht nehmen. Die falschen Lehrer kann man danach erkennen, daß sie das Böse im Namen des Guten lehren. Wenn sie Gewalt, Hinrichtungen predigen, so sind sie falsche Lehrer. An den Werken, welche sie lehren, kann man sie erkennen.

Nicht derjenige erfüllt den Willen des Vaters, welcher im Namen Gottes ruft, sondern derjenige, welcher gute Werke thut. Sodaß derjenige, welcher diese fünf Gebote erfüllt, ein festes und unzweifelhaftes Leben haben wird, das ihm niemand wird wegnehmen können; wer sie aber nicht erfüllt, wird kein festes Leben haben, das ihm bald weggenommen werden wird. Die Lehre Jesu setzte das ganze Volk in Staunen und Entzücken, weil sie alle Menschen für frei erklärte. Sie war die Erfüllung der Prophezeiung Jesaias’, daß der Auserwählte Gottes den Menschen Licht bringen, das Böse überwinden und die Wahrheit durch Milde, Demut und Wohlthat, nicht durch Gewalt, herstellen werde.

V.

Die Weisheit des Lebens besteht darin, daß man sein Leben als die Gnade des Geist – Vaters erkenne. Durch das Leben des Fleisches quälen die Menschen sich und andere, durch das Leben des Geistes werden sie die volle Befriedigung des Lebens erreichen, die ihnen auch vorbestimmt ist.

Einst bat Jesus eine andersgläubige Frau um Wasser zu trinken. Die Frau verweigerte es ihm, unter dem Vorwand, daß sie eines anderen Glaubens ist, als er. Darauf sagte ihr Jesus: wenn du es verstanden hättest, daß dich ein Mensch bittet, in welchem der Geist des Vaters ist, so würdest du nicht absagen, sondern vielmehr suchen, dich durch das gute Werk im Geiste mit dem Vater zu vereinigen. Und der Geist des Vaters würde dir Wasser geben, das ewiges Leben spendet. Man kann nicht zu Gott an einem bestimmten Orte beten, sondern Ihm durch Liebeswerke dienen.

Und Jesus sagte zu seinen Jüngern: Die wahre Nahrung des Menschen besteht in der Erfüllung des Willens des Vaters. Diese Erfüllung des Willens ist überall möglich. Unser ganzes Leben ist die Sammlung der Früchte des Lebens, welches der Vater in uns gepflanzt hatte. Die Früchte sind Wohlthaten, welche wir den Menschen thun. Man darf nichts erwarten, nur unaufhörlich leben, indem man den Menschen Gutes thut.

Einst war Jesus in Jerusalem, wo er einen Kranken neben einem Bad liegen sah, der seine Genesung von einem Wunder erhoffte. Jesus trat an ihn heran und sagte: erwarte nicht eine Genesung von einem Wunder, sondern lebe selbst, soviel du vermagst, und irre dich nicht über den Sinn des Lebens. Der Kranke gehorchte. Jesus stand auf und ging davon. Als die Nichtgläubigen es sahen, machten sie Jesu Vorwürfe, daß er es sagte und daß er am Sabbath den Kranken erhob. Jesus sagte zu ihnen: Ich habe nichts neues gethan, sondern nur das, was unser gemeinsamer Vater – Geist thut. Er lebt und belebt die Menschen, und ich that dasselbe. Und das ist der Beruf jedes Menschen. Jeder Mensch hat die Freiheit und kann leben oder nicht leben. Leben heißt den Willen des Vaters erfüllen, d. h. anderen Gutes thun; nicht leben heißt seinen eigenen Willen erfüllen und den anderen kein Gutes thun. Jeder kann das eine oder das andere thun und das Leben empfangen oder es vernichten.

Das wahre Leben der Menschen besteht in folgendem: ein Herr giebt seinen Sklaven einen Teil seines kostbaren Guts und befiehlt jedem das zu bearbeiten, was er bekommen hatte. Die einen arbeiteten, die andern nicht. Der Herr giebt nun denjenigen, die gearbeitet hatten, noch mehr, als sie hatten, während er denjenigen, welche nicht arbeiteten, das Letzte wegnimmt.

Der kostbare Teil des Guts des Herrn ist der Geist des Lebens im Menschen, welcher der Sohn des Vater – Geistes ist. Wer für den Geist des Lebens arbeitet, wird ein unendliches Leben erreichen; wer nicht arbeitet, wird auch dasjenige verlieren, das ihm gegeben wird.

Das wahre Leben ist das allen gemeinsame Leben, nicht das Leben der Einzelnen. Alle müssen für das Leben der anderen leben.

Alsdann ging Jesus nach der Wüste und viel Volk ging ihm nach. Abends fragten ihn die Jünger, wie man dieses ganze Volk ernähren sollte. Es waren unter dem Volke solche, welche nichts hatten, und solche, welchen man Brod und Fische nahm. Alsdann sagte Jesus zu seinen Jüngern: Gebet das ganze Brod, das ihr habt. Er nahm die Brode, gab sie den Jüngern, welche es anderen gaben, die nun wiederum so thaten. Und alle aßen vom Fremden und verzehrten nicht alles, was war, und waren zufrieden. Und Jesus sagte: thuet so. Es braucht nicht jeder für sich Nahrung zu gewinnen, sondern anderen abzugeben, was da ist.

Die wahre Nahrung des Menschen ist der Geist des Vaters. Die Menschen leben nur im Geiste.

Allem, was Leben ist, soll man dienen. Denn der Wille des Vaters ist, daß das Leben des Geistes, welcher in jedem ist, in ihm bleibe, und daß alle das Leben des Geistes in sich bis zum Tode erhalten.

Der Vater, der Geist, ist die Quelle allen Lebens. Zur Erfüllung des Willens des Geistes muß man das Fleisch opfern. Das Fleisch ist die Nahrung für das Leben des Geistes. Nur durch die Opferung des Fleisches lebt der Geist.

Alsdann schickte Jesus einige von seinen Jüngern aus, damit sie seine Lehre vom Leben des Geistes allüberall predigen. Als er sie hinausschickte, sagte er zu ihnen: ihr prediget das Leben des Geistes und müsset euch zuerst von allen Gelüsten des Fleisches frei machen, nichts euer eigen haben. Seid bereit für Verfolgungen, Entbehrungen, Leiden. Diejenigen, welche das Leben des Fleisches lieben, werden euch hassen, quälen und töten; fürchtet euch aber nicht. Wenn ihr den Willen des Vaters erfüllet, so habt ihr das Leben des Geistes und niemand kann es euch wegnehmen.

Die Jünger gingen und als sie zurückkehrten, verkündeten sie, daß die Lehre des Bösen überall von ihnen besiegt wurde.

Alsdann sagten die Rechtgläubigen zu Jesu, daß seine Lehre doch selbst das Böse sei, wenn sie auch das Böse besiege, indem doch die Bekenner dieser Lehre Leiden ausgesetzt sind. Darauf sagte Jesus: Das Böse kann das Böse nicht besiegen. Wenn das Böse besiegt wird, so nur durch das Gute. Das Gute ist der Wille des Vater – Geistes, welcher allen Menschen gemeinsam ist. Jeder Mensch weiß, was für ihn das Gute ist. Wenn er es für andere Menschen thut, wenn er den Willen des Vaters erfüllt, so thut er Gutes. Die Erfüllung des Willens des Vater – Geistes ist darum das Gute, wenn es auch mit Leiden und Tod für die Betreffenden verbunden ist.

VI.

Für das Leben des Geistes kann es keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden geben.

Jesus sagte, daß Vater und Mutter für ihn nichts bedeuten; wie die Mutter und die Brüder sind ihm nur diejenigen nahe, welche den Willen des gemeinsamen Vaters erfüllen.

Die Seligkeit und das Leben des Menschen hängen nicht von seinen Familienbeziehungen ab, sondern vom Leben des Geistes. Selig sind nur diejenigen, welche die Belehrung des Vaters erfüllen. Der Mensch lebt im Geist und kann darum kein Haus haben. Jesus sagte, daß er keinen für ihn bestimmten Ort braucht. Für die Erfüllung des Willens des Vaters braucht man keinen bestimmten Ort, sie ist überall und immer möglich.

Der Tod des Fleisches kann für den Menschen nicht schrecklich sein, welcher sich dem Willen des Vaters hingegeben hat, denn das Leben des Geistes ist vom Tode des Fleisches unabhängig. Wer an das Leben des Geistes glaubt, kann nichts fürchten.

Keine Sorgen können den Menschen stören, im Geiste zu leben. Auf die Worte des Mannes, welcher zuerst den Vater beerdigen und nachher die Lehre Jesu befolgen wollte, antwortete Jesus: Lasset die Toten die Toten begraben; die Lebenden leben immer durch die Erfüllung des Willens Gottes.

Die Sorgen um die Familien – und Haus – Angelegenheiten können das Leben des Geistes nicht stören. Wer darum besorgt ist, was für sein fleischliches Leben aus der Erfüllung des Willens des Vaters werden wird, der gleicht einem Bauer, welcher ackert und nicht nach vorwärts, sondern nach rückwärts sieht. Die Sorgen und die Freuden des Fleisches, welche dem Menschen so wichtig erscheinen, sind Einbildung. Als Martha den Vorwurf machte, daß sie allein das Abendbrod vorbereitete, während ihre Schwester Maria der Lehre lauschte, ohne ihr zu helfen, antwortete Jesus: Mache ihr keine Vorwürfe. Sei besorgt, wenn du das brauchst, was Sorgen schafft, lasse aber jene, welche die Vergnügen des Fleisches nicht brauchen, jenes einzige Werk thun, was für das Leben nötig ist.

Jesus sagt: Wer das wahre Leben empfangen will, der muß auf seine persönlichen Wünsche verzichten. Er muß jede Stunde bereit sein, allerlei Leiden und Entbehrungen zu ertragen.

Wer sein fleischliches Leben nach seinem Willen einrichten will, wird das wahre Leben der Erfüllung des Willens des Vaters zu Grunde richten.

Und es ist kein Nutzen, etwas für das fleischliche Leben zu erlangen, wenn es das Leben des Geistes zu Grunde richtet.

Am meisten richtet das Leben des Geistes zu Grunde die Habsucht, der Erwerb des Reichtums. Die Menschen vergessen, daß sie trotz allen Reichtums und Eigentums jede Stunde sterben können, sodaß ihr Gut für ihr Leben unnütz ist. Der Tod hängt über jedem von uns. Krankheit, Ermordung, Unfälle können jede Sekunde unserem Leben ein Ende bereiten. Der Mensch muß jede Stunde seines Lebens als eine Verschiebung des Todes betrachten, welche ihm durch irgend eine Gnade gewährt wird. Und man muß dessen immer eingedenk sein. Wir wissen und sehen alles voraus, was auf Himmel und Erden geschieht, den Tod aber, welcher uns jeden Augenblick erwartet, vergessen wir. Wenn wir aber das nicht vergessen werden, werden wir uns dem Leben des Fleisches nicht hingeben. Um meiner Lehre zu folgen, muß man die Vorteile des fleischlichen Lebens und die der Erfüllung des Willens des Vaters berechnen. Nur derjenige, welcher das richtig abgemessen hat, kann mein Jünger sein. Wer es aber berechnen wird, wird nicht das vermeintliche Wohl und Leben dem wahren Wohl und Leben vorziehen. Das wahre Leben ist dem Menschen gegeben. Die Menschen kennen es und hören seinen Ruf, verlieren es aber, indem sie sich den Sorgen des Augenblicks hingeben. Das wahre Leben ist gleich einem Gastmahl, welches ein Reicher gemacht und zu welchem er Gäste eingeladen hat. Er ladet die Gäste ein ebenso, wie die Stimme des Geist – Vaters zu sich alle Menschen ruft. Die Gäste aber, ihren persönlichen Geschäften obliegend, kamen nicht zum Gastmahl. Nur die Armen, die keine Sorgen um das Fleisch haben, sind zum Gastmahl gekommen und haben das Glück empfangen. So verlieren auch die Menschen das wahre Leben, indem sie sich den Sorgen um das Fleisch hingeben. Wer nicht ganz auf die Sorgen und Vorteile des fleischlichen Lebens verzichtet, der kann nicht den Willen des Vaters erfüllen, denn man kann nicht ein wenig sich und ein wenig dem Vater dienen. Man muß berechnen, ob es vorteilhaft ist, seinem Fleisch zu zu dienen. Man muß dasselbe thun, was ein Mensch macht, wenn er ein Haus baut, oder sich zum Krieg rüstet. Er berechnet, ob er sein Vorhaben ausführen kann oder nicht. Sieht er aber, daß er es nicht kann, so wird er nicht vergebens arbeiten und das Heer vergeuden. Würde man das fleischliche Leben so, wie man es will, einrichten können, so dürfte man dem Fleische dienen. Da man es aber nicht kann, so ist es schon besser, auf das Fleisch zu verzichten und dem Geiste zu dienen, sonst würde man weder das eine, noch das andere Leben erlangen. Um den Willen des Vaters zu erfüllen, muß man darum ganz auf das Leben des Fleisches verzichten. Das Leben des Fleisches ist eben jener uns anvertraute fremde vermeintliche Reichtum, welchen wir so verwenden müssen, daß wir einen wahren Reichtum bekommen.

Wenn der Diener eines Mannes weiß, daß sein Herr ihn schließlich mit nichts entlassen wird, so wird er vernünftig handeln, wenn er, so lange er den fremden Reichtum verwaltet, den Menschen Gutes thun wird. Wenn ihn sein Herr entlassen wird, so werden ihn die anderen Menschen aufnehmen und ernähren. Dasselbe müssen auch die Menschen mit ihrem fleischlichen Leben thun. Das fleischliche Leben ist jener fremde Reichtum, welchen sie zeitweise verwalten. Werden sie diesen fremden Reichtum gut verwalten, so werden sie den wahren Reichtum erlangen.

Wenn wir unser falsches Eigentum nicht weggeben werden, so werden wir das wahre nicht erlangen. Denn man kann nicht dem falschen Leben des Fleisches und dem Geist, dem Reichtum und Gott, zu gleicher Zeit dienen. Was bei den Menschen groß ist, ist vor Gott ein Ekel. In den Augen Gottes ist der Reichtum ein Übel. Der Reiche ist schon deswegen schuldig, daß er schwelgt, während die Armen vor seiner Thür hungern. Daß wir unser Eigentum nicht den anderen weggeben, ist die Nichterfüllung des Willens Gottes.

Einst kam zu Jesus ein rechtgläubiger reicher Oberer und prahlte, daß er alle Gebote des Gesetzes erfüllte. Jesus erinnerte ihn an das Gebot, wonach man die anderen, wie sich selbst lieben muß, und daß darin der Wille des Vaters besteht. Der Obere sagte, daß er auch dies erfüllte. Darauf sagte Jesus: Das ist unwahr. Würdest du den Willen des Vaters erfüllen wollen, so würdest du kein Eigentum haben. Du kannst nicht den Willen des Vaters erfüllen, wenn du dein Eigentum hast, welches du den anderen vorenthältst. Und Jesus sprach zu den Jüngern: Den Menschen scheint es, daß man ohne Eigentum nicht leben kann, ich sage aber euch, daß das wahre Leben darin besteht, dass man das eigene den anderen weggiebt.

Ein Mann, Zachäus, hörte die Lehre Jesu und glaubte ihm; er lud Jesum in sein Haus ein und sagte zu ihm: ich gebe die Hälfte meines Guts den Armen ab und das vierfache denen, welche ich beleidigt hatte. Jesus sagte: Da ist ein Mensch, welcher den Willen des Vaters erfüllt, denn es giebt keine Lage, in welcher der Wille Gottes erfüllt wird, sondern unser ganzes Leben ist die Erfüllung desselben.

Das Vorbild dessen, wie das Gute gethan werden muß, möge jene Frau sein, welche Jesus bemitleidete und ihm teures Öl auf die Füße goß. Judas sagte, sie hätte dumm gethan, denn man hätte dafür viele ernähren können. Judas war aber ein Dieb, er log, denn er dachte nicht an den Nutzen der Armen, als er vom Nutzen des Fleisches sprach. Nicht der Nutzen, die Menge sind nötig, sondern man muß immer die andern lieben und ihnen das eigene weggeben.

VII.

Auf die Forderung der Judäer, er möge Beweise für die Wahrheit seiner Lehre bringen, sagte Jesus: Die Wahrheit meiner Lehre wird dadurch bewiesen, daß ich nicht von mir, sondern von dem allen gemeinsamen Vater lehre. Ich lehre das, was dem Vater aller Menschen wohlgefällig ist, und darum für alle Menschen gut ist.

Thuet das, was ich sage, erfüllet die fünf Gebote, und ihr werdet sehen, daß das, was ich sage, wahr ist. Die Erfüllung der fünf Gebote wird alles Böse aus der Welt vertreiben, und darum sind sie wahr. Es ist klar, daß derjenige. Welcher den Willen des Vaters lehrt, die Wahrheit lehrt. Das Gesetz Moses lehrt die Erfüllung des Willens der Menschen und ist darum voll Widersprüche; meine Lehre lehrt aber die Erfüllung des Willens des Vaters und ist darum einheitlich.

Die Judäer verstanden ihn nicht und suchten noch äußere Beweise, ob er wirklich Christus sei, von welchem bei den Propheten geschrieben steht. Darauf sagte er ihnen: untersuchet nicht, wer ich bin, ob von mir in eueren Prophezeiungen geschrieben steht, sondern dringet in meine Lehre ein, was ich von dem uns gemeinsamen Vater sage.

Mir als Menschen habt ihr nicht zu glauben, sondern dem, was ich im Namen des allen Menschen gemeinsamen Vaters sage. Nicht nach dem Äußerlichen darf man untersuchen, woher ich bin, sondern meiner Lehre folgen. Wer meiner Lehre folgen wird, wird das wahre Leben erlangen. Es giebt keine Beweise für meine Lehre. Sie ist das Licht, und ebenso wenig wie man das Licht beleuchten kann, kann man die Wahrheit der Wahrheit beweisen. Meine Lehre ist das Licht, und wer es sieht, der hat das Licht und das Leben und bedarf keines Beweises. Wer aber in Finsternis ist, muß nach dem Lichte gehen.

Die Judäer fragten ihn aber weiter, wer er nach seinem Fleisch ist? Er sagte ihnen: ich bin das, was ich euch früher sagte: ich bin der Mensch, der Sohn des Vaters des Lebens. Nur wer sich als Sohn des Vaters des Lebens begreifen wird, wird den Willen des gemeinsamen Vaters erfüllen, – frei werden. Denn nur der Irrtum, welcher das fleischliche Leben für das wahre Leben annimmt, macht uns unfrei. Wer die Wahrheit begreifen wird: daß das Leben nur in der Erfüllung des Willens des Vaters besteht, – nur dieser wird frei und unsterblich werden. Wie der Sklave im Haus des Herrn nicht für immer bleibt, der Sohn aber für immer, ebenso bleibt der Mensch, welcher der Sklave des Fleisches ist, nicht für immer im Leben, während der Mensch, welcher den Willen des Vaters erfüllt, für immer im Leben bleibt. Um mich zu verstehen, müsset ihr verstehen, daß mein Vater nicht Euer Vater ist, welchen Ihr Gott nennt. Euer Vater ist der Gott des Fleisches, mein Vater ist aber der Geist des Lebens. Euer Vater, Gott, ist ein Gott der Rache, ein Menschenmörder, welcher Menschen straft, mein Vater aber spendet Leben. Darum sind wir Kinder eines verschiedenen Vaters. Ich suche die Wahrheit, ihr wollt mich aber dafür töten, eurem Gott zum Gefallen. Euer Gott ist der Teufel, das Prinzip des Bösen, und wenn ihr Ihm dienet, so dienet ihr dem Teufel. Meine Lehre ist aber, daß wir die Söhne des Vaters des Lebens sind, und wer an meine Lehre glauben wird, wird den Tod nicht erblicken. Die Judäer sagten: wie kann der Mensch nicht sterben, wenn alle, sogar Abraham, gestorben sind? Wie kannst du denn sagen, daß du und diejenigen, welche an deine Lehre glauben werden, nicht sterben werden? Darauf antwortete Jesus: Ich sage nicht von mir. Ich spreche von jenem Prinzip des Lebens, welches ihr Gott nennt, und welches in dem Menschen lebt. Dieses Prinzip kenne ich und kenne seinen Willen und erfülle ihn, von diesem Prinzip des Lebens sage ich eben, daß es war, ist und sein wird und daß es den Tod nicht kennt.

Das Verlangen nach Beweisen für die Wahrheit meiner Lehre ist gleich dem, als ob die Menschen von einem gewesenen Blinden Beweise fordern würden, warum und wie er das Licht erblickt hat.

Der geheilte Blinde würde nur sagen können, daß er früher blind war und jetzt sieht. Dasselbe und nichts weiter kann der Mensch sagen, welcher früher den Sinn seines Lebens nicht verstanden hatte und jetzt ihn versteht.

Ein solcher Mensch würde nur sagen, daß er früher den wahren Segen des Lebens nicht kannte, jetzt ihn aber kennt.

Und so wie der geheilte Blinde über die Richtigkeit seiner Heilung nichts aussagen könnte, so kann auch derjenige, welcher den Sinn der Lehre von dem wahren Segen, von der Willenserfüllung des Vaters, erfaßt hatte, nichts darüber aussagen, ob diese Lehre richtig sei, ob der Entdecker derselben ein Sünder sei und ob man einen höheren Segen erkennen könne. Er wird nur sagen: früher sah ich nicht den Sinn des Lebens, jetzt sehe ich ihn, und weiter weiß ich nichts.

Und Jesus sagte: Meine Lehre ist die Erwachung des bis dahin geschlummerten Lebens; wer an meine Lehre glauben wird, erwacht zum ewigen Leben und lebt nach dem Tode.

Meine Lehre wird durch nichts bewiesen, die Menschen geben sich aber meiner Lehre darum hin, weil sie allen Menschen Leben verspricht.

Wie die Schafe nach dem·Hirten gehen, welcher ihnen Futter und Leben verspricht, so empfangen die Menschen meine Lehre darum, weil sie allen Leben spendet. Und so wie die Schafe nicht nach dem Dieb gehen, welcher zu ihnen eindringt, so können auch die Menschen nicht an jene Lehrer glauben, welche Gewaltakte und Hinrichtungen predigen. Meine Lehre ist die Thür für die Schafe, und alle, welche mir folgen werden, werden das wahre Leben finden. Sowie nun jene Hirten gut sind, welche selbst die Herren sind und die Schafe lieben, während die Lohnhirten, welche die Schafe nicht lieben, schlecht sind, ist auch nur jener der wahre Lehrer, der sich nicht schont, während jener Lehrer schlecht ist, der nur um sich besorgt ist. Meine Lehre besteht darin, daß man sich nicht schonen und das Fleisch dem Geist opfern soll. Und dies erfülle ich.

Die Judäer verstanden ihn immer nicht und suchten nur nach Beweisen, ob er Christus sei oder nicht. Sie sagten: quäle uns nicht, sondern sage einfach: bist du Christus oder nicht? – Und auch darauf antwortete ihnen Jesus: Man solle nicht den Worten glauben, sondern den Thaten. Aus den Thaten, welche ich lehre, werdet ihr verstehen, ob ich wahres lehre oder nicht. Thuet, was ich thue, erfüllet den Willen des Vaters und ihr werdet euch alsdann alle mit dem Vater vereinigen, denn ich, der Menschensohn, bin dasselbe, was der Vater, den ihr Gott nennt. Ich und der Vater sind eins. Auch in eurer Schrift heißt es, Gott sagte den Menschen: ihr seid Götter. Jeder Mensch ist dem Geiste nach der Sohn des Vaters. Und wenn er den Willen des Vaters erfüllt, so vereinigt er sich mit dem Vater. Wenn ich Seinen Willen erfülle, so ist der Vater in mir und ich bin im Vater.

Darauf fragte Jesus die Jünger, wie sie seine Lehre vom Menschensohn verstehen. Simon Petrus antwortete ihm: Deine Lehre besteht darin, daß du der Sohn des Gottes des Lebens bist, daß Gott das Leben des Geistes im Menschen ist. Und Jesus sagte ihm: Selig bist du, Simon, daß du es verstanden hast. Ein Mensch konnte es dir nicht entdeckt haben; du hast es aber verstanden, weil Gott es dir entdeckt hatte. Auf dieser Einsicht beruht das wahre Leben der Menschen. Für dieses Leben giebt es keinen Tod.

VIII.

Auf die Zweifel der Jünger, welcher Lohn ihrer für die Entsagung vom Fleische harre, antwortete Jesus: Für einen Menschen, welcher den Sinn der Lehre begriffen hat, giebt es keinen Lohn. Erstens, weil der Mensch, der auf die Seinigen und auf sein Eigentum im Namen meiner Lehre verzichtet, das Hundertfache gewinnt, und zweitens, weil derjenige, welcher eine Belohnung sucht, mehr haben will, als der andere, was der Lehre der Willenserfüllung des Vaters am meisten zuwider ist. Für das Himmelreich giebt es nicht mehr und weniger, alle sind gleich. Diejenigen, welche für das Gute einen Lohn verlangen, sind gleich den Arbeitern, welche einen größeren Lohn, als den gedungenen verlangen würden, nur weil sie sich für würdiger halten, als die anderen. Für denjenigen, der die Lehre begreift, giebt es nicht Lohn und Strafe, Erniedrigung und Erhöhung.

Jeder kann den Willen des Vaters erfüllen, darum wird aber niemand höher, wichtiger, oder besser, als der andere. Das ist nur bei den Königen und ihren Dienern üblich. Nach meiner Lehre kann es keine Oberen geben, denn der Höhere muß allen ein Diener sein. Denn meine Lehre besteht darin, daß dem Menschen das Leben nicht dazu gegeben ist, daß man ihm diene, sondern daß er anderen diene. Wer sich aber erheben wird, wird noch tiefer sinken, als wo er gewesen war.

Damit man nicht an die Belohnung und Selbsterhöhung denke, muß man den Sinn des Lebens verstehen. Derselbe besteht in der Erfüllung des Willens des Vaters; des Vaters Wille aber ist, daß das, was er uns gegeben, zu ihm zurückkehre. Wie der Hirt die ganze Herde verläßt, um das verlorene Schaf zu suchen, und wie die Frau alles umwühlt, um den verlorenen Groschen zu finden, so erscheint uns die Thätigkeit des Vaters darin, daß er dasjenige an sich heran zieht, was sein war. Man muß verstehen, was das wahre Leben ist. Es äußert sich darin, daß das Verlorene zu sich zurückkehrt, daß das Schlafende erwacht. Die Menschen, welche das wahre Leben erlangt haben, können nicht nach Menschenart darüber rechnen, wer besser und wer schlechter ist, sondern als Teilnehmer des Lebens des Vaters sich darüber freuen, daß der Verlorene zum Vater zurückkehrt. Wenn der verlorene Sohn zum Vater zurückkehrt, könnten dann die übrigen Söhne den Vater um seine Freude beneiden und sich nicht vielmehr ob der Rückkehr des Bruders freuen?

Um an die Lehre zu glauben, sind nicht äußere Beweise, nicht Lohnversprechungen nötig, sondern das klare Verständnis dessen, was das wahre Leben ist. Glauben die Menschen, daß das Leben ihnen für die Vergnügungen des Fleisches gegeben ist, so wird augenscheinlich jedes Opfer für den andern ihnen als eine Handlung erscheinen, welche einer Belohnung bedarf, und sie werden ohne Belohnung nichts thun. Würde man von den Pächtern, welche vergessen haben, daß der Garten ihnen nur unter der Bedingung gegeben worden ist, daß sie dem Herrn die Früchte zurückgeben, den Zins ohne Belohnung fordern, und unablässig darum mahnen, so würden sie den Betreffenden töten. So denken auch die Menschen, welche sich als die Herren des Lebens dünken und nicht verstehen, daß das Leben ein Geschenk der Vernunft ist, welche die Erfüllung ihres Willens verlangt. Man muß verstehen, daß wenn der Mensch Gutes thut, er nur das thut, wozu er verpflichtet ist, er nicht umhin kann, es zu thun. Nur wenn der Mensch so sein Leben auffaßt, kann er auch so glauben, daß er wahre Liebeswerke schafft.

In diesem Verständnis des Lebens besteht auch das himmlische Reich, nicht das sichtbare, auf welches man hinweisen könnte. Das himmlische Reich besteht in der Vernunft der Menschen. Die ganze Welt lebte und lebt nach alter Art. Man ißt, trinkt, heiratet, handelt und daneben lebt in den Seelen der Menschen das himmlische Reich. Das himmlische Reich ist das Verstehen des Lebens, wie der Baum, welcher im Frühling von selbst wächst.

Das wahre Leben der Willenserfüllung ist nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart (was jeder in jedem Augenblick zu thun hat). Darum soll man niemals für das wahre Leben schwach werden. Verlieren die Menschen das gegenwärtige Leben, indem sie den Willen des Vaters nicht erfüllen, so werden sie es nicht zurückgewinnen, wie der Nachtwächter sein Werk nicht erfüllen wird, wenn er nur für einen Augenblick einschläft, weil in diesem Augenblick der Dieb kommen kann. Darum muß der Mensch seine ganze Kraft in die augenblickliche Stunde versetzen, in dieser nur besteht die Erfüllung des Willens des Vaters. Der Wille des Vaters aber ist das Leben und der Segen aller Menschen und darum ist die Willenserfüllung des Vaters das Wohl aller Menschen. Das Wohl der Menschen (in dieser Stunde, jetzt) ist das Leben, welches uns mit dem gemeinsamen Vater vereinigt.

IX.

Der Mensch wird mit der Kenntnis des wahren Lebens, der Willenserklärung des Vaters geboren. Die Kinder leben durch dieselbe, an den Kindern ist zu ersehen, worin der Wille des Vaters besteht.

Um die Lehre Jesu zu verstehen, muß man das Leben der Kinder verstehen und so sein, wie sie.

Die Kinder leben immer im Willen des Vaters, ohne die fünf Gebote zu verletzen. Sie würden sie niemals verletzen, wenn die älteren sie nicht in Versuchung bringen würden. Indem die Menschen die Kinder in Versuchung bringen, thun sie mit ihnen dasselbe, was derjenige thut, der dem anderen einen Stein um den Hals bindet und ihn in den Fluß wirft. Ohne Versuchungen wäre die Welt glücklich. Die Welt ist nur wegen den Versuchungen unglücklich. Die Versuchungen sind das Übel, welches die Menschen für das vermeintliche Wohl des zeitlichen Lebens thun. Die Versuchungen richten die Menschen zu Grunde, und so muß man alles opfern, und der Versuchung zu entgehen.

Die Versuchung gegen das erste Gebot besteht darin, daß die Menschen sich vor den andern für rein halten, während die andern ihnen schuldig sind. Um in diese Versuchung nicht zu verfallen, müssen die Menschen immer eingedenk sein, daß alle Menschen dem Vater unendlich verpflichtet sind und daß sie sich nur durch die gegenseitige Vergebung reinigen können.

Darum müssen die Menschen die Beleidigungen vergeben, wenn auch der Beleidiger die Beleidigung wiederholen wird. So oft auch der Mensch beleidigt wurde, muß er unaufhörlich vergeben, denn das himmlische Reich ist nur bei der Vergebung möglich. Wenn wir nicht vergeben, thun wir dasselbe, was der Schuldner gethan hatte. Er kam zum Herrn und bat um einen Almosen. Der Herr schenkte ihm alles. Der Schuldner ging aber und begann seinen Schuldner zu drücken, welcher ihm nur wenig schuldete. Um zu leben, müssen wir doch den Willen des Vaters erfüllen; vom Vater bitten wir aber um Vergebung, daß wir seinen Willen nicht ganz erfüllt haben, und hoffen diese Vergebung zu bekommen. Was machen wir aber, wenn wir selbst nicht vergeben? Wir thun das, was wir für uns selbst befürchten.

Der Wille des Vaters ist der Segen, das Böse aber ist das, was uns vom Vater entfernt; wie sollen wir denn nicht bestrebt sein, das Böse so schnell als möglich auszutilgen? Das Böse verwickelt uns in das fleischliche Verderben. In dem Maße, als wir das Böse aufheben werden, werden wir das Leben gewinnen.

Die Versuchung gegen das zweite Gebot besteht darin, daß wir glauben, daß das Weib für die Gelüste des Fleisches geschaffen ist, und daß bei dem Wechsel der Frauen wir mehr Lust genießen werden. Um in diese Versuchung nicht zu verfallen, muß man eingedenk sein, daß der Wille des Vaters nicht darin besteht, daß der Mensch sich an den Reizen des Weibes freue, sondern darin, daß jeder sich mit seiner Frau zu einem Körper vereinige. Der Wille des Vaters besteht darin, dass jeder Mann eine Frau, und jede Frau einen Mann habe. Dadurch werden alle Männer Frauen und alle Frauen Männer haben. Wer darum seine Frau wechselt, nimmt der Frau den Mann weg und veranlaßt den anderen Mann, seine Frau zu verlassen und die Verlassene an sich zu nehmen. Man kann gar keine Frau haben, aber mehr als eine Frau darf man nicht haben, weil man bei mehr als einer Frau den Willen des Vaters verletzt.

Die Versuchung gegen das dritte Gebot besteht darin, daß die Menschen für ihr zeitliches Leben Behörden geschaffen haben und von den Menschen den Eid zur Erfüllung der Forderungen der Behörden verlangen. Um in diese Versuchung nicht zu verfallen, müssen die Menschen eingedenk sein, daß sie ihr Leben niemand außer Gott schulden. Die Forderungen der Behörden müssen die Menschen als Gewaltthätigkeit betrachten und nach dem Gebot des Nichtwiderstehens gegen das Übel das thun und geben, was die Behörden verlangen: das Gut und die Arbeit. Sie dürfen sich aber nicht durch Versprechungen und Eide in ihren Handlungen binden. Die Eide machen die Menschen schlecht. Für den Menschen, welcher das Leben im Willen des Vaters ersieht, giebt es nichts heiligeres als sein Leben.

Die Versuchung gegen das vierte Gebot besteht darin, daß die Menschen sich Haß und Rache hingeben und dadurch die Menschen besser zu machen glauben. Die Menschen glauben, daß man den Beleidiger bestrafen muß und daß die Wahrheit darin besteht, was die Menschen setzen.

Um dieser Versuchung zu entgehen, müssen die Menschen eingedenk sein, daß die Menschen nicht zu strafen, sondern sich gegenseitig zu helfen berufen sind. Sie können nicht über die Unwahrheit der anderen richten, denn sie sind selbst voll Unwahrheit. Sie können nur die anderen durch das Beispiel der Reinheit, Vergebung und Liebe lehren.

Die Versuchung gegen das fünfte Gebot besteht darin, daß die Menschen zwischen dem Volke und den fremden Völkern unterscheiden und gegen dieselben sich verteidigen und ihnen schaden zu müssen glauben. Um in diese Versuchung nicht zu verfallen, muß man eingedenk sein, daß alle Gebote in dem einen zusammenlaufen, in der Erfüllung des Willens des Vaters, der allen Menschen Leben und Segen gegeben, und der Liebe zu allen Menschen ohne Unterschied. Wenn auch andere diesen Unterschied machen und die Völker sich gegenseitig bekämpfen, so muß doch jeder jedem Menschen, wenn er auch zu einem anderen Volke gehört, Gutes thun.

Um allen diesen Versuchungen zu entgehen, muß der Mensch nicht an das Fleisch, sondern an den Geist denken.

Damit alle verstehen, daß das wahre Leben einen keinen Tod hat, sagte Jesus: Das wahre Leben darf man nicht so verstehen, daß es dem jetzigen gleich sein wird. Für das wahre Leben im Willen des Vaters giebt es weder Raum noch Zeit.

Diejenigen, welche im Willen des Vaters leben, sterben für uns, leben aber für den Vater. Das eine Gebot enthält darum in sich alle: das Prinzip des Lebens mit allen Kräften lieben und demnach jeden Menschen, welcher dieses Prinzip in sich trägt.

Und Jesus sagte: Dieses Prinzip des Lebens ist eben jener Christus, welchen ihr erwartet. Das Verstehen dieses Prinzips, welches keine verschiedenen Menschen, keinen Raum und keine Zeit kennt, ist eben jener Menschensohn, welchen ich predige. Alles, was von den Menschen dieses Prinzip des Lebens verbirgt, ist Versuchung. Es giebt eine Versuchung der Buchgelehrten, Altgläubigen, es giebt Versuchung der Behörden, – widerstehet ihnen. Die böseste Versuchung ist aber die der Lehrer des Glaubens, der Rechtgläubigen. Hütet euch vor dieser Versuchung am allermeisten, denn diese falschen Lehrer wenden euch vom wahren Gott durch ihre falsche Gottesverehrung ab. Anstatt dem Vater durch Werke zu dienen, setzten sie Worte, sie thuen aber selbst nichts, und so könnt ihr von ihnen weiter nichts lernen, als Worte. Dem Vater sind aber nicht Worte, sondern Thaten nötig. Diese treten ihres Vorteils wegen als Lehrer auf. Ihr wisset aber, daß niemand der Lehrer der anderen sein kann. Alle haben nur einen Lehrer; die Vernunft ist die Herrin des Lebens. Diese falschen Lehrer aber verlieren für sich das wahre Leben und stören die anderen, dasselbe zu erkennen. Sie lehren, daß man Gott durch äußere Gebräuche diene, und glauben, daß man durch einen Eid zum Glauben gelangen könne. Sie sind nur noch mit dem Äußeren beschäftigt. Sie kümmern sich darum nicht, was im Herzen der Menschen ist. Sie sind darum, wie die geschmückten Gräber: von außen sind sie schön, im Inneren sind sie aber Moder. Mit den Worten verehren sie die Heiligen und Märtyrer, während sie selbst sie töteten und quälten und auch jetzt noch die Heiligen töten und quälen. Von ihnen rühren alle Versuchungen in der Welt her, denn sie lehren unter dem Schein des Guten das Böse. Ihre Versuchung ist die Wurzel aller Versuchungen, denn sie verhöhnen alles Heilige in der Welt. Sie werden sich noch lange nicht bekehren und ihren Betrug fortsetzen und das Übel in der Welt vergrößern; die Zeit wird aber kommen und alle äußere Gottesverehrung wird fallen und die Menschen werden sich verstehen und sich in Liebe vereinigen, um dem einen Vater zu dienen und seinen Willen zu erfüllen.

X.

Die Judäer sahen, daß die Lehre Jesu den Staat, den Glauben und das Volk zerstörte und sahen anderseits, daß man seine Lehre nicht widerlegen kann, und so faßten sie den Beschluß, ihn zu töten. Die Unschuld und die Gerechtigkeit Jesu hielten sie aber zurück, doch der Oberpriester Kaiphas bestand darauf, daß er getötet werde, weil seine Lehre das jüdische Volk als Einzelvolk aufhebe. Die Rechtgläubigen verurteilten Jesum zum Tode und verkündeten dem Volke, daß man ihn ergreife, sobald er in Jerusalem auftrete. Jesus wußte zwar davon, kam aber zum Osterfest nach Jerusalem. Die Jünger überredeten ihn, nicht zu gehen, doch Jesus sprach: Dasjenige, was die Rechtgläubigen und alle anderen Menschen mit mir machen wollen, kann für mich die Wahrheit nicht ändern. Wenn ich Licht sehe, so weiß ich, wo ich bin und wohin ich gehe. Nur derjenige, der nicht sieht, strauchelt. Und er ging nach Jerusalem. Auf dem Wege hielt er in Bethanien. Hier goß auf ihn Maria einen Krug teueres Öl. Jesus sagte, daß dieses Öl die Vorbereitung des Körpers zum Tode war. Auf dem Wege nach Jerusalem folgten ihm große Menschenscharen und dies überzeugte noch mehr die Rechtgläubigen, daß man ihn töten müsse. Sie suchten ihn jetzt zu ergreifen. Er wußte auch, daß ein einziges unvorsichtiges Wort von ihm die Veranlassung zur Hinrichtung sein werde, ging aber trotzdem in den Tempel, predigte dort seine Lehre und erklärte die frühere Lehre der Judäer für falsch. Die Rechtgläubigen konnten aber keine offenbare Verletzung des Gesetzes in seinen Worten finden, da er sich auf die Propheten stützte. Auch war die Menge auf seiner Seite. Beim Feste waren aber auch Heiden, welche mit Jesu über seine Lehre sprechen wollten. Als Jesus dies hörte, erschrak er. Er sah ein, daß seine Predigt vor den Heiden seine Verneinung des jüdischen Gesetzes vor aller Welt beweisen, ihm die Gunst des Pöbels entziehen und den Rechtgläubigen die Veranlassung geben wird, ihn des Verkehrs mit den gehaßten Heiden zu beschuldigen. Jesus wußte aber, daß sein Beruf darin besteht, den Menschen, den Söhnen des Vaters, ihre Einheit, ohne Unterschied des Glaubens, zu predigen. Er wußte, daß dieser Schritt sein Fleisch verderben, daß aber dieses Verderben den Menschen das wahre Lebensverständnis geben wird, und er sagte darum: wie der Weizensamen verloren gehen muß, um die Frucht hervorzubringen, so muß auch der Mensch sein Fleisch hingeben, um die geistige Frucht zu gebären. Ich bin darüber erschrocken, was mir bevorsteht, aber ich lebte doch bis jetzt nur dazu, um diese Stunde zu erleben, wie soll ich also jetzt nicht das thun, was ich thun muß? In dieser Stunde soll darum in mir der Wille Gottes zum Ausdruck kommen.

Und Jesus wandte sich zu den Judäern und den Heiden und sagte ihnen offen, was er zu Nikodemos nur verborgen sagte. Er predigte die Einheit der Menschen und die Aufhebung der Gewalt. Die Judäer sagten: Du zerstörst unseren ganzen Glauben. Nach unserem Gesetze giebt es einen Christus, du sagst aber, daß es nur einen Menschensohn giebt, den man erhöhen muß. Was bedeutet es? Jesus antwortete ihnen: Den Menschensohn erhöhen, heißt durch jenes Licht der Vernunft leben, welche in dem Menschen lebt. Ich lehre keine neue Lehre, sondern nur das, was jeder in sich selbst kennt. Jeder kennt in sich das Leben. Meine Lehre besteht nur darin, das vom Vater allen Menschen gegebene Leben zu lieben.