Gedanken weiser Männer - Leo N. Tolstoi - E-Book

Gedanken weiser Männer E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Die vor 120 Jahren erschienene, längst vergriffene deutsche Ausgabe von Tolstois Kalenderbuch "Gedanken weiser Männer" wird hier von Ingrid von Heiseler als ungekürzte Neuedition vorgelegt. Der Übersetzer Adolf Heß erläutert zur Entstehung dieser Sammlung: "Während der schweren Krankheit Leo N. Tolstois im Januar 1903, als sein Leben an einem seidenen Faden hing und er der gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, fand er doch die Kraft, täglich im Neuen Testament und auf einem Kalender im Schlafzimmer die Aussprüche verschiedener großer Männer zu lesen. Aber das Jahr und mit ihm der Kalender ging zu Ende und nun entstand in Tolstoi der Wunsch, sich selbst Auszüge aus verschiedenen Denkern für jeden Tag zusammenzustellen. Täglich vom Bette aus, soweit es seine Kräfte erlaubten, machte er diese Auszüge - fügte auch eigenes hinzu ..." Das so entstandene Buch war Auftakt zu insgesamt drei weisheitlichen Lesewerken Tolstois (es folgten der Lektürezyklus "Für alle Tage", 1904-1908, und die Anthologie "Der Weg des Lebens", 1910). Dokumentiert wird in der vorliegenden Ausgabe eine Rezension der "Illustrierten Zeitung für das gesamte Judentum" von 1905: "Es ist sehr bemerkenswert, dass unter den sechsundfünfzig Autoren, die Tolstoi exzerpiert hat, der Talmud am stärksten vertreten ist. Von den Sprüchen für die 365 Tage des Jahres sind nämlich nicht weniger als hundert und sieben dem Talmud entnommen. Diese enorme Ziffer wird noch dadurch erhöht, dass die Zitate aus dem Talmud meist von größerem Umfang sind und jedes von ihnen füglich in mehrere Sprüche zerlegt werden kann. Der Talmud hat offenbar auf den Weisen von Jasnaja Poljana einen starken Eindruck gemacht und seinem Geist Nahrung geboten." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 17 (Signatur TFb_B017) Herausgegeben von Peter Bürger, Editionsmitarbeit: Ingrid von Heiseler

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Inhalt

Vorwort des Übersetzers

Adolf Heß 000000

GEDANKEN WEISER MÄNNER

Ausgewählt von Leo N. Tolstoi

(

Mysli mudrych ljudej na každyj den

'

, 1903)

Für alle Tage des Kalenders

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* * *

Anhang

TOLSTOI UND DER TALMUD

(

Illustrierte Zeitung für das gesamte Judentum | 1905)

Eine Rezension von Ed. Weiss

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Bibliographische Übersicht zu den drei weisheitlichen Lesewerken von Leo N. Tolstoi 0000

Übersicht zu den Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek 0000

Erstausgabe der deutschen Übersetzung, 1904 (Exemplar der Tolstoi-Friedensbibliothek)

VORWORT DES ÜBERSETZERS

Der russischen Ausgabe dieses neuesten Werkes von Tolstoi, das mit Genehmigung des Verfassers hier zum ersten mal in deutscher Sprache erscheint, ist folgende Vorbemerkung über die Entstehung beigegeben.

Während der schweren Krankheit L. N. Tolstois im Januar 1903, als sein Leben an einem seidenen Faden hing und er der gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, fand er doch die Kraft, täglich im Neuen Testament und auf einem Kalender im Schlafzimmer die Aussprüche verschiedener großer Männer zu lesen. Aber das Jahr und mit ihm der Kalender ging zu Ende und nun entstand in Tolstoi der Wunsch, sich selbst Auszüge aus verschiedenen Denkern für jeden Tag zusammenzustellen. Täglich vom Bette aus, soweit es seine Kräfte erlaubten, machte er diese Auszüge (fügte auch eigenes hinzu), und als Resultat dieser Arbeit erscheint nun vorliegendes Buch. –

Selten ist ein Werk bescheidener, anspruchsloser an die Öffentlichkeit getreten; selten erschien eins mehr geeignet, sich Gebildete wie Ungebildete zu Freunden zu machen.

Zu Tolstois „Gedanken weiser Männer“ haben die größten Denker aller Völker und Zeiten eine Fülle von Lebensweisheit beigesteuert, und einer der führenden Geister unserer Zeit hat sie geformt, gesichtet, geordnet und um eigene Beiträge vermehrt. Dazu der glückliche Gedanke, für jeden Tag einen oder mehrere Aussprüche, Reflexionen und kleine Erzählungen als Leitstern, als geistiges Programm aufzustellen, nach dem wir unser Verhalten gegen uns und andere richten, durch dessen Befolgung wir unserem Dasein Zweck und Ziel verleihen und zugleich einen Prüfstein und Wertmesser für unsere Handlungen finden – ich denke, diesem Werke mit der einzigen Tendenz hingebender Nächstenliebe, die doch schließlich das A und O aller Weltweisheit bildet, müßte jeder von Herzen zugetan sein!

Es gibt andere ähnliche Sammlungen: Blütenlesen, Lichtstrahlen, Weisheitsperlen, Gedankensplitter, und wie sie alle heißen – oft recht geistreiche Sachen, die namentlich den Verstand beschäftigen und der Unterhaltung dienen – von Tolstois „Gedanken weiser Männer“ unterscheiden sie sich schon dadurch, daß in diesem Werk nichts ohne sittlichen Kern Aufnahme gefunden hat, und daß sein Zweck der der Läuterung nicht bloßer Unterhaltung ist. Dann aber steht Tolstois Werk in bezug auf Auswahl, Anlage und Inhalt einzig da.

Tolstoi hat aus dem, was die Menschheit in religiöser, moralischer, philosophischer Arbeit bisher geleistet hat, das Beste und Einfachste, was den Sinn des Lebens am klarsten und deutlichsten ausdrückt, herausgesucht, hat es unserer Zeit verständlich gemacht und dadurch von selbst zur Nachahmung empfohlen. Kein Zufall, daß die bedeutendsten Religionsstifter und Moralverkünder: Lao-Tse, Confucius, Buddha und Christus so sehr häufig vertreten sind; daß auch sonst der Orient, dessen Weisheit Tolstoi hoch schätzt, mit chinesischen, indischen und arabischen Sprichwörtern – Rechenpfennigen der Weltweisheit, die ihren Brüdern in Gold an Wert nicht nachstehen, recht häufig zu Worte kommt.

Neben dem Orient sind die griechische Philosophie mit Plato und seinem Schüler Aristoteles spärlich, die römischen Stoiker Seneca, Epiktet und Marc Aurel dagegen reichlich vertreten; namentlich zu Epiktet, dem Vater des „Ertrage und entbehre“, scheint Tolstoi eine Art Seelenverwandtschaft hinzuziehen.

Unter neueren Autoren sind acht Engländer erwähnenswert, darunter der Begründer des Utilitarismus: Bentham, John Lubbock, der Goethe- und Schillerbiograph und eifrige Apostel der Arbeit: Carlyle, sowie namentlich der viel zu wenig gelesene Lieblingsschriftsteller Tolstois: John Ruskin, der manche Berührungspunkte mit Tolstoi hat. Unter den Franzosen nimmt Pascal neben Voltaire, Rousseau, Vauvenargues und Ed. Rod bei weitem den bedeutendsten Raum ein, während wir Deutschen trotz der Namen Luther, (Spinoza) Kant und Schopenhauer, Goethe, Schiller, Klinger, Humboldt, Rückert, Jean Paul u. a. im ganzen nur fünfzehn mal zu Worte kommen. Außer Tolstois zahlreichen eigenen für diesen Zweck verfaßten Beiträgen sind von russischen Autoren Dostojewski und Gontscharow zu nennen, und den letzten Beitrag am 31. Dezember hat der soeben verstorbene Herbert Spencer geliefert. Im ganzen umfaßt die Sammlung 56 Autoren und 659 einzelne Abschnitte von sehr verschiedener Länge.

Was die Zusammenstellung betrifft, so beruht der Hauptreiz neben dem Inhalt auf der Zusammengehörigkeit, dem geistigen Band, das mehrere Sprüche desselben Tages umschlingt und sie als Teile eines Ganzen erscheinen läßt, die sich gegenseitig erläutern und ergänzen. So entsteht bisweilen ein innerer Zusammenhang zwischen Autoren, deren Anschauungen durch Welten von einander getrennt sind. Diese Zusammenstellung, die ungeahnte Ausblicke auf die Einheit menschlichen Denkens eröffnet, konnte nur ein universeller Geist wie Tolstoi vornehmen.

Marc Aurel, der römische Kaiser, erläutert auf diese Weise die Worte des Erlösers am Kreuze: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“; der Heide schreibt: „Die Seele des Menschen wendet sich nicht freiwillig, sondern durch Gewalt von der Wahrheit, Gerechtigkeit und dem Guten ab; je mehr du das begreifst, um so sanftmütiger wird dein Verhalten gegen die Menschen sein.“ (25. Januar.) „Kleine Leiden bringen uns außer uns, große bringen uns wieder zu uns“ – schreibt Jean Paul. „Leiden ist das wahre Leben; was wäre ohne Leiden in ihm für Vergnügen?“ (Dostojewski) „Jeder neue Wunsch ist der Anfang neuer Not, der Keim neuen Leidens“ (Voltaire), wozu man, um den Kreis zu schließen, noch anführen könnte Meister Eckhards: „Das schnellste Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, das ist Leiden.“ Neben Ruskins treffenden Worten: „Mancher Reichtum ist von Tränen schwer, wie eine schlechte Ernte von unzeitigen Regen“, steht die chinesische Weisheit: „Arm sein und keine bösen Empfindungen haben, ist schwer. Dagegen ist es sehr leicht, reich zu sein und sich nicht damit zu brüsten.“ (8. Juli) – Die strengen Talmudsprüche: „Wenn die Güte eines Weibes unendlich ist, so kennt auch ihre Bosheit bisweilen keine Grenzen“ und „Ein gutes Weib ist für den Mann eine kostbare Gabe, ein böses aber eine Eiterbeule“ mildert und ergänzt Ruskins tiefsinniges: „Der Weg eines guten Weibes ist wirklich mit Blumen bestreut, aber sie liegen hinter ihren Schritten, nicht vor ihnen.“ (23. Februar)

Wundervolle Blüten uralter, indischer Poesie wechseln mit volltönender Weisheit der Brahmanen und chinesischen, von Formelkram wunderlich umrankten Sentenzen, vertraute Apostelworte werden von römischen Stoikern erläutert; auf französischen Scharfsinn folgt deutsche Gründlichkeit; englischer Gemessenheit russische Entsagung und Nächstenliebe aus dem Munde ihres konsequentesten Vertreters: Tolstoi.

Daß die Auswahl nicht einseitig getroffen ist, sondern daß alle Gebiete des Lebens berücksichtigt sind, braucht kaum noch besonders betont zu werden. Gerade wir Deutschen, die dem großen Gewissensrat und Beichtvater der Russen stets, wenn auch nicht immer das richtige, so doch ein sehr reges Interesse entgegengebracht haben, finden in diesem Werk besonders viel Neues und Beherzigenswertes. Und wer Tolstoi selbst sucht, der findet ihn hier so gut, wie nur in irgend einer seiner Schriften.

Nicht nur der starke soziale Zug, der alle neueren, wegen ihres radikalen Charakters vielfach auf Widerspruch stoßenden Prosaschriften wie ein roter Faden durchzieht, und der in Ruskins schlichten Worten gipfelt, daß den Armen nicht mit Almosen, sondern mit Gerechtigkeit geholfen wird – auch Tolstois eigenartige, den Bedürfnissen des vierten Standes gerecht werdende Kunstauffassung, die in der Schrift „Was ist Kunst“ begründet ist, findet sich hier klipp und klar in Ruskins: „Die Kunst ist nur dann am Platze, wenn sie dem Nutzen untergeordnet ist. Sie erweist sich als schädlich, wenn sie nur angenehm ist, den Menschen aber nicht hilft, die Wahrheit zu finden.“ Dagegen ist Tolstois wie eine Offenbarung wirkende Definition, daß es sich bei der Kunst stets um die Übermittelung von Gefühlen handelt, ausschließlich sein Eigentum.

Die Wertschätzung der körperlichen Arbeit, des Handwerks, der Landwirtschaft gegenüber einseitiger Verstandestätigkeit im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität, Anklagen gegen die Reichen, gegen vermeintliche Volksbeglücker, gegen das zeitgenössische Christentum, falsche Bildung, Könige, Orden und Ehrenzeichen – alles das findet sich auch hier. Aber in erster Linie klingt aus den von Todesahnungen durchzitterten „Gedanken“ der Ton des Friedens, der Barmherzigkeit, der Hingebung an andere und namentlich tiefsinnige Weisheit, die in allem Irdischen, Vergänglichen nur ein Gleichnis sieht und immer wieder zum Aufgehen in dem großen allgemeinen Welten-Ich mahnt.

Im übrigen bedarf ein Werk von Tolstoi keiner besonderen Empfehlung: es spricht für sich, durch sich; dieses Buch der Weltweisheit so gut wie manche andere z. T. noch wenig bekannte Schriften, die man oft suchen muss, wie Bilder alter Meister.

Die „Gedanken“ mit gelehrten Noten im Text beschweren schien mir dem Charakter des Buches zu widersprechen; dagegen habe ich einige Erläuterungen und Parallelstellen am Schlusse anzufügen mir erlaubt.1 Die Übersetzung sucht dem russischen Original und dem Sinn der Gedanken zu entsprechen; Bibelstellen sind im Deutsch der Gegenwart wiedergegeben. Ein Vergleich sämtlicher „Gedanken“ mit den Urtexten hat, abgesehen von der großen Arbeit, schon deswegen wenig Sinn, weil Tolstoi selbst nicht auf die Urtexte zurückgegangen ist, sondern meistens russische Übersetzungen benutzt hat. Bei Pascal, Epiktet, Marc Aurel u. a. m. sind wesentliche Abweichungen vom Wortlaut, nicht vom Sinne des Originals nachweisbar. Tolstoi hat die Auszüge nicht einfach übernommen, sondern auch zusammengestellt und dem Rahmen des Ganzen angepaßt; er schreibt nicht für Gelehrte, sondern für die Welt, sein Buch ist kein wissenschaftliches, sondern ein Buch für jedermann. Möchte es jedermann lesen.

Oldenburg, 31. Dezember 1903

Dr. Adolf Heß

„Wer ist ein Held? Der seinen Feind in einen Freund verwandelt.“ (Talmud)

1 [In der hier vorgelegten Neuedition der deutschen Ausgabe werden diese Anmerkungen des Übersetzers jedoch als Fußnoten dargeboten.]

Gedanken weiser Männer

(Mysli mudrych ljudej na každyj den', 1903)

Ausgewählt von Leo N. Tolstoi

Mit Genehmigung des Verfassers deutsch herausgegeben von Adolf Heß2

1. Januar

Eines Wintermorgens ging Franziskus mit seinem Bruder Leo von Perugia nach Portiuncula; es war so kalt, daß sie vor Frost zitterten. Franziskus rief seinen Bruder Leo, der voraufging, und sprach zu ihn: „O, Bruder Leo, gebe Gott, daß unsereins in der ganzen Welt einen heiligen Lebenswandel führe; schreib aber, daß nicht darin das Heil beruhe.“

Nachdem sie etwas weiter gegangen, rief Franziskus wieder seinen Bruder Leo.

„Und schreib weiter, Bruder Leo, daß, wenn unsereins Kranke heilt, Teufel austreibt, Blinde sehend macht oder Tote nach vier Tagen auferweckt – schreib, daß auch dann nicht das Heil vollendet sei!“

Und als sie noch weiter gegangen waren, sprach Franziskus zu Leo: „Schreib ferner, Bruder Leo, daß, wenn unsereins alle Sprachen, alle Wissenschaften und alle Schriften kennte, wenn er nicht nur Zukünftiges voraussagte, sondern alle Geheimisse des Herzens und der Seele kennte, – schreib, daß auch darin nicht das Heil beruhe.“

Und als sie noch weiter gegangen waren, rief Franziskus wieder Leo und sprach: „Und schreib weiter, Bruder Leo, Lamm Gottes, daß, wenn wir gelernt hätten, in Engelszungen zu reden, wenn wir den Gang der Gestirne kennten, und wenn uns alle Geheimisse der Erde offenbar wären und wir alles Verborgene im Leben der Vögel, Fische, aller Tiere, Menschen, Bäume, Steine und Gewässer wüßten – schreib, daß auch das nicht die ganze Seligkeit sei.“

Und nachdem sie noch ein wenig gegangen, rief Franziskus wieder seinen Bruder Leo und sprach zu ihm: „Schreib ferner, daß, wenn wir solche Propheten wären, daß wir alle Heiden zum christlichen Glauben bekehrten, – schreib, daß auch dann nicht das Heil erfüllt sei.“

Da sprach Bruder Leo zu Franziskus: „Wann ist dann das Heil erfüllt, Bruder Franziskus?“

Und Franziskus antwortetet: „Dann ist es erfüllt. Es ist erfüllt, wenn, nachdem wir schmutzig, naß, erstarrt vor Kälte und Hunger in Portiuncula angelangt sind und um Einlaß bitten, der Pförtner uns aber sagt: „Ihr Strolche treibt euch in der Welt umher, stehlt armen Leuten das Almosen: schert euch fort von hier!“ – und uns nicht öffnet. Wenn wir dann uns nicht gekränkt fühlen, sondern mit Demut im Herzen und Liebe denken, daß der Pförtner recht hat, daß Gott selbst ihm eingegeben, so mit uns umzugehen – und wir naß, kalt und hungrig, ohne Murren gegen den Pförtner, bis zum Morgen im Schnee und im Wasser bleiben – dann, Bruder Leo, erst dann ist das Heil erfüllt.“3

2. Januar

Die Menschen bemühen, beunruhigen und erregen sich nur dann, wenn sie mit äußeren Dingen beschäftigt sind, die nicht von ihnen abhängen. In solchen Fällen fragen sie sich ängstlich: „Was soll ich tun, was wird, was folgt daraus; wie könnte dies oder das geschehen?“ So geht es bei denen, die sich stets um ihnen nicht zukommende Dinge kümmern.

Umgekehrt wird jemand, der sich mit dem beschäftigt, was von ihm abhängt und sein Leben an Vervollkommnung seines Ich setzt, sich nicht in dieser Weise ängstigen. Selbst wenn er sich darüber beunruhigt, ob es ihm an der Wahrheit festzuhalten und Lügen zu vermeiden gelinge, würde ich ihm sagen: beruhige dich – was dich beunruhigt, liegt in deiner Hand; gib nur acht auf deine Gedanken und deine Handlungen und bemühe dich auf jede Art und Weise um deine Besserung. So sprich auch nicht: „Was wird wohl geschehen?“ Du machst dir eben alles, was geschieht, zur Lehre und zum Nutzen.

„Wenn ich aber im Kampf mit den Widerwärtigkeiten sterbe?“ – „Was tut das? In solchem Falle stirbst du den Tod eines ehrlichen Mannes in Vollbringung dessen, was deine Pflicht war. Sterben mußt du so wie so, und bei irgend etwas wird der Tod dich stets überraschen. Ich wäre zufrieden, wenn der Tod mich bei einer menschenwürdigen Tätigkeit ereilte, einer guten, allen Menschen nützlichen Beschäftigung; oder möchte er mich in einem Augenblick erreichen, wo ich mich um meine Besserung bemühe. Dann könnte ich die Hände zu Gott aufheben und zu ihm beten: „O Herrgott! Du weißt selbst, wie weit ich die Gaben benutzt, die du mir zum Verständnis deiner Gebote verliehen hast. Habe ich dir Vorwürfe gemacht? Mich gegen mein Geschick aufgelehnt? Bin ich der Pflichterfüllung ausgewichen? Ich danke dir dafür, dass ich geboren bin, und für alle deine Gaben. Ich habe hinreichend von ihnen Gebrauch gemacht: nimm sie zurück und schalte damit nach deinem Belieben – sie sind dein.“

Kann es einen schöneren Tod geben? Und um zu solchem Lebensende zu gelangen, brauchst du nicht viel zu verlieren, obgleich du viel dadurch gewinnst. Wenn du aber festhalten willst, was dir nicht gehört, verlierst du sicher auch, was dir gehört.

Wer in weltlichen Dingen Erfolg haben will, schläft ganze Nächte lang nicht, müht sich ab und macht sich stets Sorgen, lebt den Großen zu Gefallen und handelt überhaupt wie ein gewöhnlicher Mensch. Und was erreicht er schließlich mit alledem? Er erreicht, daß man ihm gewisse Ehrenbezeugungen erweist, ihn fürchtet, und daß er als Vorgesetzter gewisse Anordnungen trifft. Willst du dich wirklich nicht wenigstens etwas von diesen Sorgen freizumachen suchen und ruhig schlafen, ohne Furcht und ohne Qualen? Wisse aber, daß eine derartige Ruhe im Innern nicht ohne Opfer zu erreichen ist.

(Epiktet)4

3. Januar

Hört unser Leben mit dem leiblichen Tode auf? Das ist eine Frage von allergrößter Wichtigkeit, über die selten jemand nicht nachdenkt. Je nachdem wir an ein ewiges Leben glauben oder nicht glauben, fallen unsere Handlungen vernünftig oder unvernünftig aus. Jede vernünftige Handlung hat den festen Glauben an die Unvergänglichkeit des weltlichen Lebens zur Voraussetzung.

Unser Hauptbemühen muß deswegen dahin gehen, daß wir zu begreifen und verstehen suchen, was eigentlich im Leben unvergänglich ist. Einige Menschen bemühen sich mit aller Kraft, sich das klar zu machen. Sie geben zu, daß hiervon ihr ganzes Leben abhängen muß.

Andere, die an der Unsterblichkeit zweifeln, quälen sich dennoch redlich mit ihren Zweifeln und halten sie für ihr allergrößtes Unglück. Sie lassen sich nichts leid tun; um nur die Wahrheit zu erforschen, suchen sie unablässig und halten dieses für die Hauptarbeit ihres Lebens.

Es gibt aber auch Leute, die ganz und gar nicht darüber nachdenken. Ihre Sorglosigkeit da, wo es sich um ihr eigenes Geschick handelt, wundert, empört und erschreckt mich zugleich.

(Blaise Pascal)5

4. Januar

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr meßt, wird euch gemessen werden. Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, bemerkst aber nicht den Balken in deinem Auge! Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehe, während in deinem Auge ein Balken steckt! Heuchler, zieh erst den Balken aus deinem Auge, und dann sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

(Matthäus-Evangelium VII, 1-5)

Es ist leicht, die Fehler anderer, aber schwer, die eigenen Fehler wahrzunehmen; die Fehler des Nächsten werden genau untersucht, die eigenen dagegen verborgen, wie der Schelm seinen falschen Würfel zu verbergen sucht.

Der Mensch ist stets geneigt, andere zu tadeln; er blickt nur auf ihre Schwächen; dabei nehmen seine eigenen Leidenschaften stets an Heftigkeit zu und schließen jede Besserung aus.

(Dhammapada)6

Verurteile deinen Nächsten nicht, bevor du in seiner Lage warst.

(Talmud)7

5. Januar

Eins wissen wir oder können wir wissen, wenn wir wollen, nämlich daß Herz und Gewissen des Menschen göttlich sind, daß in der Verneinung des Bösen und der Bejahung des Guten der Mensch selbst als verkörperte Gottheit erscheint; daß seine Freude an der Liebe, sein Leiden unter Zorn, seine Entrüstung beim Anblick von Ungerechtigkeit, sein Lob der Selbstaufopferung als immerwährende unwiderlegliche Beweise seiner Einheit mit der höchsten Macht gelten; daß hierin und nicht in körperlichen Vorzügen oder der großen Verschiedenheit der Instinkte seine herrschende Stellung über der niederen belebten Welt liegt. In welchem Maße er aber die Gebote des Herzens und Gewissens übertritt, schändet er den Namen des Vaters im Himmel und entheiligt seinen Namen auf Erden; soweit er ihnen aber gehorcht, heiligt er seinen Namen und empfängt von der Fülle seiner Macht.

(John Ruskin)8

6. Januar

Wessen Glaube schwach ist, der kann auch in anderen Glauben nicht erwecken.

(Lao-Tse)9

Der ganzen Welt Sünde ist im wesentlichen Judas‘ Sünde. Die Menschen glauben nicht nur nicht an ihren Christus, sondern sie verraten ihn.

(John Ruskin)10

Wer sein Leben in das Licht des Verstandes gerückt hat und diesem dient, für den kann es keine verzweifelte Lebenslage geben, der kennt keine Gewissensqualen, fürchtet nicht die Einsamkeit und sucht keine lärmende Gesellschaft – ein solcher Mensch besitzt das höchste Leben, er läuft nicht vor den Menschen fort und rennt ihnen nicht nach. Ihn beunruhigen nicht Gedanken darüber, ob seine Seele auf lange Zeit in die Hülle des Leibes eingeschlossen ist; die Handlungen eines solchen Mannes werden immer gleich sein, sogar angesichts des nahen Endes. Sein einziges Trachten geht dahin, vernünftig, in friedlicher Gemeinschaft mit den Menschen zu leben.

(Marc Aurel)11

8. Januar

Die Gottesfürchtigen, Männer der Tat, sprechen: Heil unserer Jugend, die unser Alter nicht schändet.

Die Reumütigen sprechen: Heil unserm Alter, das unsre Jugend entsühnt.

Aber die einen und die anderen sprechen: Wohl dem, der ohne Sünde ist; wer aber gesündigt hat, tue Buße, bessere sich, und ihm wird vergeben.

(Talmud)

9. Januar

Wer auf den Zehen steht, kann nicht lange stehen. Wer sich selbst vordrängt, kann nicht glänzen. Wer mit sich selbst zufrieden ist, kann nicht berühmt werden. Wer sich rühmt, kann keine Verdienste haben. Wer stolz ist, kann nicht emporsteigen. Vor dem Urteil der Vernunft sind solche Leute ähnlich dem Speiseauswurf und erregen den Abscheu aller. Deswegen verläßt sich, wer Vernunft besitzt, nicht auf sich selbst.

(Lao-Tse)

10. Januar

Wer seinen Nächsten haßt, der vergießt Menschenblut.

(Talmud)

Wessen Bosheit keine Grenzen hat, – und wer von ihr umstrickt ist, wie von Teufelszwirn12, der bringt sich selbst bald dahin, wohin ihn sein schlimmster Feind haben möchte.

Frisch gemolkene Milch wird nicht gleich sauer; eine böse Tat trägt nicht sofort Früchte, sondern, wie das zugedeckte Feuer in der Grube, brennt sie unter der Oberfläche weiter und martert den Toren.

(Dhammapada)

11. Januar

Und siehe, einer trat zu ihm und sagte: Guter Meister, was soll ich Gutes tun, um das ewige Leben zu erlangen? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe dein Besitztum und gib den Erlös den Armen; dann wirst du einen Schatz im Himmel haben; darauf komm und folge mir nach.

(Matthäus-Evangelium XIX, 16, 21)

Wie gefühllos und gleichgültig gegen fremdes Leid ist doch ein reicher Mann.

(Talmud)

12. Januar

Hast du deinem Nächsten Böses getan, und sei es auch nur ein geringes, so halte ein solches für ein großes; hast du ihm aber eine große Wohltat erwiesen, so erachte sie als unbedeutend; eine kleine Wohltat dagegen, die dir von anderen erwiesen ist, halte für groß.

Gottes Segen geht auf den herab, der den Armen gibt; doppelter Segen ruht auf dem, der ihnen hierbei freundlich begegnet.

(Talmud)

13. Januar

Der gerade Weg oder die Richtschnur des sittlichen Verhaltens, der man folgen muß, ist den Menschen nicht fern. Wenn sie sich als Richtschnur das wählen, was ihnen fern liegt, d. h. mit ihrer Natur nicht übereinstimmt, so muß man darauf hinweisen, daß jenes nicht als Richtschnur zu wählen ist. Der Zimmermann, der einen Stiel für eine Axt zuhaut, hat vor sich ein Modell dessen, was er macht. Er nimmt den Stiel der Axt, mit der er haut, in die Hand, betrachtet ihn von allen Seiten, und nachdem er den neuen Stiel angefertigt,13 betrachtet er beide, um zu sehen, wie weit sie einander ähnlich sind; auf diese Weise findet auch ein Weiser, der gegen andere dieselben Gefühle hegt, wie gegen sich, die wahre Richtschnur des Betragens. Er tut anderen nicht, was er nicht wünscht, daß man ihm tue.

(Confucius)14

14. Januar

Jedem Geschöpf ist nicht nur nützlich, was ihm von der Vorsehung gesandt wird, sondern es ist ihm auch eben zu der Zeit nützlich, wo es gesandt wird.

(Marc Aurel)

O, wie glücklich sind wir, zu leben, ohne Haß gegen die, die uns hassen! Wie glücklich, inmitten solcher zu leben, die uns hassen! …

O, wie glücklich sind wir, frei von Gier unter Gierigen! Mitten unter denen, die von Gier verzehrt werden, leben wir frei von ihr! …

O, wie glücklich sind wir, nichts das unsrige nennend! Den lichten Göttern15 gleich, getränkt mit Heiligkeit.16

(Dhammapada)

15. Januar

Einfachheit des Lebens, der Sprache, der Sitten verleihen einer Nation Kraft; Luxus, Künstelei der Sprache und Verzärtelung führen dagegen zur Schwäche und zum Untergang.

(John Ruskin)

Die richtige Nationalökonomie ist die, die die Völker nicht wünschen, sondern verachten und sie alles beseitigen lehrt, was zum Untergang führt.

(John Ruskin)

16. Januar

Das Pferd rettet sich vor einem Feinde durch seinen schnellen Lauf, und es ist unglücklich nicht dann, wenn es nicht wie ein Hahn zu krähen vermag, sondern wenn es verloren hat, was ihm eigen: seinen schnellen Lauf.

Der Hund hat Witterung; wenn er dessen beraubt wird, was ihm eigen, nämlich seiner Witterung, so ist er unglücklich; nicht aber, wenn er nicht fliegen kann.

Genau ebenso wird auch ein Mensch nicht dann unglücklich, wenn er einen Bären, oder Löwen oder böse Menschen nicht bezwingen kann, sondern wenn er verliert, was ihm eigen – Güte und Besonnenheit. Ein derartiger Mensch ist wahrhaftig unglücklich und bedauernswert.

Nicht das ist traurig, daß jemand geboren wird, oder stirbt, daß er sein Geld verliert, sein Haus, seine Habe; alles das gehört nicht zum Menschen. Traurig ist aber, wenn jemand sein wirkliches Besitztum verliert – seine Menschenwürde.

(Epiktet)

17. Januar

Die ganze Welt ist einem einzigen Gesetz unterworfen und allen vernünftigen Wesen wohnt eine Vernunft inne. Die Wahrheit ist einzig, und für vernünftige Menschen ist der Begriff der Vollkommenheit auch einzig.

(Marc Aurel)

Alle Güter sind nichts vor dem Gut der Wahrheit; alle Wonnen sind nichts vor der Wonne der Wahrheit; die Seligkeit der Wahrheit übertrifft alle Freuden unermeßlich.17

(Dhammapada)

18. Januar

Darum sage ich euch; sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen sollt und was trinken, auch nicht um euern Körper, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung, und der Körper mehr als die Kleidung?

(Matthäus-Evangelium VI, 25)

Gräm dich nicht um den morgigen Tag, denn du weißt nicht, was heute noch geschieht.

Wer Brot im Korb hat und spricht: was werde ich morgen essen, der gehört zu den Kleingläubigen.

Wer den Tag geschaffen, schafft auch Speise für ihn.

(Talmud)

19. Januar

Wenn ein Weiser die Gebote der Tugend befolgt, verbirgt er es vor den Blicken der Menschen und ist nicht traurig darüber, daß niemand davon weiß.

(Confucius)

Falsche Scham ist ein beliebtes Rüstzeug des Teufels. Er erreicht damit mehr, als selbst mit falschem Stolz. Durch falschen Stolz arbeitet er nur dem Bösen in die Hände, aber durch falsche Scham wirkt er dem Guten entgegen.18

(John Ruskin)

20. Januar

Unser Leben ist die Folge unserer Gedanken: es wird in unserem Herzen geboren und geht hervor aus unseren Gedanken. Wenn jemand mit bösen Gedanken spricht oder handelt, folgt ihm unablässiges Leiden, wie das Rad der Ferse des Stieres, der den Wagen zieht.

Unser Leben ist die Folge unserer Gedanken: es wird in unserem Herzen geboren und wird geschaffen durch unsere Gedanken. Wenn jemand mit guten Gedanken spricht oder handelt, folgt ihm Freude, wie ein Schatten, der ihn nie verläßt.

„Er hat mich gekränkt, hat über mich triumphiert, mich unterjocht und mich gedemütigt“ – in welchem Herzen solche Gedanken Unruhe stiften, darin erlischt der Haß niemals.

„Er hat mich gekränkt, hat über mich triumphiert, mich unterjocht“ – wer solchen Gedanken keine Zuflucht gewährt, erstickt den Haß in sich für immer.

Denn nicht durch Haß wird Haßgeborenes bezwungen; es wird durch Liebe ausgelöscht – so ist das ewige Gesetz.19

(Dhammapada)

21. Januar

Wer sich dessen schämt, was nicht schamhaft ist, und sich des Schamhaften nicht schämt, der ist auf dem Irrwege und gerät ins Verderben.20

(Dhammapada)

Ein lobenswerter Zug am Menschen ist seine Schamhaftigkeit; denn wer sich schämt, sündigt nicht leicht.

(Talmud)

22. Januar

Welche Kraft wohnt dem Menschen inne, der stets nach Gottes Willen handelt und Ihm in allen Dingen ergeben ist!

(Marc Aurel)

Das Wesen der Liebe zu Gott besteht im Hinstreben und Hindrängen der Seele zum Schöpfer, um mit ihm in einer höheren Welt sich zu vereinen.

(Talmud)

23. Januar

Alles das, worüber die Menschen so entzückt sind, um dessen Erwerbung sie sich so bemühen und aufregen, bringt ihnen nicht das geringste Glück. Solange die Menschen sich abmühen, glauben sie, ihr Heil sei in dem, wonach sie trachten. Kaum haben sie aber das Gewünschte erreicht, so beginnen sie wieder, sich aufzuregen, sich zu bekümmern und neidisch auf das zu sein, was sie noch nicht besitzen. Und das ist sehr begreiflich, weil man nämlich nicht durch Befriedigung seiner müßigen Wünsche frei wird, sondern im Gegenteil durch Selbstbefreiung von solchen Wünschen.

Willst du dich davon überzeugen, daß das wahr ist, so verwende auf die Befreiung von deinen müßigen Wünschen wenn auch nur halb so viel Mühe, wie du bislang auf ihre Befriedigung verwendet hast, und du wirst bald sehen, daß du auf diese Weise weit mehr Ruhe und Glück erlangst.

Verlaß die reichen und einflußreichen Leute; hör auf, berühmten und mächtigen gefällig zu sein und dir einzubilden, daß du von ihnen erlangen kannst, was du nötig hast. Suche umgekehrt bei gerechten und verständigen Leuten zu erreichen, was du kannst, und ich versichere dir, du gehst nicht mit leeren Händen von ihnen, wenn du nur mit reinem Herzen und guten Gedanken kommst.