Das Exil und das Reich - Albert Camus - E-Book

Das Exil und das Reich E-Book

Albert Camus

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Beschreibung

Sechs Erzählungen von Albert Camus, vereint durch ein Thema: das Exil als Gefangenschaft des Menschen in einer falschen, beengenden Umgebung. «Welch ein Stil! Welche Präzision und Eleganz, Sparsamkeit und visionäre Plastizität! Dass es auch in unserem Jahrhundert noch möglich ist, Wahrheit und Schönheit, Maß und Vision, Eleganz und Unbestechlichkeit zu vereinigen, schenkt uns Vertrauen zum Gewesenen, tröstet uns in der Dunkelheit des Tages und lässt uns hoffen für morgen.» (Walter Jens)

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Seitenzahl: 227

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Albert Camus

Das Exil und das Reich

 

 

Aus dem Französischen von Guido G. Meister

 

Über dieses Buch

Sechs Erzählungen von Albert Camus, vereint durch ein Thema: das Exil als Gefangenschaft des Menschen in einer falschen, beengenden Umgebung. Es geht, im Spiegel alltäglicher Situationen und menschlicher Erfahrungen, um existenzielle Fragen – nach Einsamkeit und Gemeinschaft, Daseinsbewältigung zwischen Glück und Moral, den Möglichkeitsräumen künstlerischen Schaffens.

 

«Welch ein Stil! Welche Präzision und Eleganz, Sparsamkeit und visionäre Plastizität! Dass es auch in unserem Jahrhundert noch möglich ist, Wahrheit und Schönheit, Maß und Vision, Eleganz und Unbestechlichkeit zu vereinigen, schenkt uns Vertrauen zum Gewesenen, tröstet uns in der Dunkelheit des Tages und lässt uns hoffen für morgen.» Walter Jens

 

Das letzte zu seinen Lebzeiten vollendete und veröffentlichte Buch des Nobelpreisträgers.

Vita

Albert Camus wurde am 7. November 1913 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Von 1933 bis 1936 studierte er an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama «Caligula», das 1945 uraufgeführt wurde. Camus zog 1940 nach Paris. Neben seinen Dramen begründeten der Roman «Der Fremde» und der Essay «Der Mythos des Sisyphos» sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall.

 

Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.

Impressum

Die Erzählungen erschienen bereits 1966 in «Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit».

 

Die vorliegenden deutschen Fassungen von «Der Gast» und «Der treibende Stein» wurden für diese Neuausgabe sprachlich durchgesehen. Im Zuge dessen waren einzelne, zum Zeitpunkt der ursprünglichen Übersetzung gewählte Begrifflichkeiten zu ändern, da sie den Differenzierungen des Originals keine Rechenschaft trugen. Weitere damals noch übliche Formulierungen des französischen Originaltexts wurden aus Gründen der Werktreue äquivalent übersetzt beibehalten.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit» Copyright © 1966 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«L’Exil et le Royaume» Copyright © 1957 by Librairie Gallimard, Paris

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Benjamin_Lion/iStock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00454-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Die Ehebrecherin

Eine kümmerliche Fliege torkelte schon eine ganze Weile im Überlandbus umher, obwohl sämtliche Fenster geschlossen waren. Sie hatte sich hierher verirrt und taumelte nun lautlos und erschöpft von einer Ecke zur anderen. Janine verlor sie aus den Augen, dann sah sie, dass sie sich auf der unbeweglichen Hand ihres Mannes niederließ. Es war kalt. Die Fliege zitterte, sooft der sandgeladene Wind knirschend gegen die Scheiben peitschte. Im kargen Licht des Wintermorgens rollte das schwankende Gefährt scheppernd und ächzend dahin und kam doch kaum von der Stelle. Janine betrachtete ihren Mann. Mit den tief in die enge Stirn reichenden, angegrauten Haarbüscheln, der breiten Nase und dem unregelmäßig gezeichneten Mund glich Marcel einem schmollenden Faun. Bei jeder Unebenheit der Straße stieß er mit einem Ruck gegen sie. Dann ließ er seinen schweren Oberkörper wieder vornüber auf seine gespreizten Beine fallen und starrte von neuem mit leblosem, abwesendem Blick vor sich hin. Nur die klobigen, unbehaarten Hände, die besonders kurz wirkten, weil der graue, aus den Hemdärmeln hervorguckende Flanell bis über die Handgelenke reichte, schienen zu leben. Sie hielten ein zwischen die Knie geklemmtes Leinwandköfferchen so fest umklammert, dass sie das zögernde Wandern der Fliege nicht zu spüren schienen.

Auf einmal hörte man den Wind laut aufheulen, während der Steinstaub den Bus noch dichter umhüllte. Der Sand prasselte jetzt wie von unsichtbaren Händen geworfen gegen die Scheiben. Die Fliege rieb einen frierenden Flügel, duckte sich und flog davon. Der Bus verlangsamte die Fahrt und schien anhalten zu wollen. Dann ließ der Wind offenbar etwas nach, der Dunst lichtete sich ein wenig, und man fuhr wieder rascher. Vereinzelte Lichtlöcher gaben den Durchblick auf die im Staub versinkende Landschaft frei. Zwei oder drei schmächtige, weiß überpuderte Palmen, die aus einer Metallfolie ausgeschnitten schienen, tauchten hinter dem Fenster auf, um alsogleich wieder verschluckt zu werden.

«Was für ein Land!», sagte Marcel.

Der Bus war voll von Arabern, die sich in ihre Burnusse gehüllt hatten und zu schlafen schienen. Einzelne hatten ihre Füße untergeschlagen und schwankten stärker als die anderen im Schaukeln des Wagens. Janine fand ihr Schweigen und ihre Teilnahmslosigkeit nachgerade bedrückend; ihr war, als reiste sie schon seit Tagen mit dieser stummen Eskorte. Dabei war der Bus erst im Morgengrauen von der Endstation der Bahn abgefahren und rollte nun seit zwei Stunden in der Kälte der Frühe über eine steinige, öde Hochebene, die wenigstens anfänglich ihre Geraden bis zum rötlich glimmenden Horizont ausgeschickt hatte. Aber dann war der Wind aufgekommen und hatte nach und nach die ganze unendliche Weite aufgesogen. Von diesem Augenblick an hatten die Reisenden nichts mehr von der Landschaft gesehen. Einer nach dem anderen waren sie verstummt, schweigend kreuzten sie in einer Art weißen Nacht; bisweilen wischten sie sich die Lippen und die vom eindringenden Sand gereizten Augen.

«Janine!» Sie fuhr zusammen. Wie schon so oft dachte sie, dass dieser Vorname für eine Frau von ihrer Stattlichkeit eigentlich lächerlich war. Marcel begehrte zu wissen, wo sich der Musterkoffer befinde. Sie erforschte mit dem Fuß den leeren Raum unter ihrem Sitz, bis sie an einen Gegenstand stieß, der das gesuchte Köfferchen zu sein hatte, denn sie konnte sich nicht gut bücken, ohne ein wenig unter Atemnot zu leiden. Dabei war sie in der Schule Erste im Turnen gewesen und hatte eine unerschöpfliche Atemkraft besessen. War das denn schon so lange her? Fünfundzwanzig Jahre waren so viel wie nichts, da es ihr doch vorkam, es sei erst gestern gewesen, als sie zwischen Unabhängigkeit und Heirat schwankte, erst gestern, als sie voll Angst an den Tag dachte, da sie vielleicht allein würde altern müssen. Sie war nicht allein, und jener Student der Rechte, der ständig um sie sein wollte, befand sich jetzt an ihrer Seite. Sie hatte ihn schließlich doch erhört, obwohl er ein bisschen kleingewachsen war und obwohl ihr sein gieriges, abgehacktes Lachen nicht eben gefiel, so wenig wie seine zu stark hervortretenden schwarzen Augen. Aber sein Lebensmut gefiel ihr, den er mit den anderen Franzosen dieses Landes gemein hatte, und auch sein entgeistertes Gesicht, wenn er sich durch die Ereignisse oder die Menschen in seinen Erwartungen getäuscht sah. Vor allem aber gefiel es ihr, geliebt zu werden, und er hatte sie mit Aufmerksamkeiten überschüttet. Indem er sie so unzählige Male spüren ließ, dass sie für ihn da war, verlieh er ihrem Dasein Wirklichkeit. Nein, sie war nicht allein …

Mit lautem Gehupe bahnte der Bus sich einen Weg durch unsichtbare Hindernisse. Im Inneren des Wagens rührte sich indessen niemand. Plötzlich spürte Janine, dass jemand sie anblickte, und wandte den Kopf nach der Sitzreihe jenseits des Mittelgangs. Dieser Mitreisende war kein Araber, und sie wunderte sich, dass sie ihn nicht schon bei der Abfahrt bemerkt hatte. Er trug die Uniform der französischen Sahara-Einheiten, und über seinem langen und spitzen, wettergebräunten Schakalgesicht saß ein Käppi aus ungebleichter Leinwand. Aus seinen hellen Augen musterte er sie unverwandt mit einer Art Verdrossenheit. Sie errötete unvermittelt und rückte wieder näher zu ihrem Mann, der unentwegt in Dunst und Wind hinausstarrte. Sie kuschelte sich in ihren Mantel. Aber noch stand ihr das Bild des französischen Soldaten vor Augen, groß und schlank, so schlank in seinem eng auf Taille geschnittenen Waffenrock, dass er aus einer trockenen, spröden Masse gebaut schien, einer Mischung aus Sand und Knochen. In diesem Augenblick gewahrte sie auf einmal die hageren Hände und die verbrannten Gesichter der vor ihr sitzenden Araber und bemerkte gleichzeitig, dass sie trotz ihrer weiten Gewänder auf den Sitzen, die ihr und ihrem Mann kaum genug Raum boten, reichlich Platz zu haben schienen. Sie zog die Falten ihres Mantels näher an sich. Dabei war sie gar nicht so besonders dick, sondern einfach hochgewachsen und füllig, aus Fleisch und Blut, und – sie fühlte es wohl unter den Blicken der Männer – noch immer begehrenswert, mit dem Gegensatz zwischen ihrem etwas kindlichen Gesicht, den kühlen, klaren Augen und ihrem großen, wie sie wohl wusste, warmen und Ruhe verheißenden Körper.

Nein, es war wirklich nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als Marcel sie auf seine Geschäftsreise mitnehmen wollte, war sie zunächst gar nicht einverstanden. Er hatte diese Reise schon lange geplant, genau gesagt seit Kriegsende, als das Geschäftsleben sich wieder normalisiert hatte. Die kleine Stoffhandlung, die er von seinen Eltern übernahm, als er das Studium der Rechte aufgab, hatte sie vor dem Krieg eher recht als schlecht ernährt. In einer Küstenstadt können die jungen Jahre eine Zeit des Glücks sein. Aber er war kein besonderer Freund körperlicher Anstrengung und hatte sehr bald darauf verzichtet, mit ihr an den Strand zu gehen. Ihr kleines Auto führte sie nur zur sonntäglichen Spazierfahrt aus der Stadt. Im Übrigen zog er es vor, in seinem mit bunten Stoffen gefüllten Laden zu bleiben, der sich unter den Arkaden eines halb eingeborenen, halb europäischen Viertels befand. Über dem Laden lag ihre mit arabischen Wandbehängen und Warenhausmöbeln eingerichtete Dreizimmerwohnung. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Im gewollten Dämmer hinter den halbgeschlossenen Fensterläden waren die Jahre vergangen. Sommer, Strand, Spaziergänge, ja selbst der Himmel waren fern. Marcel schien sich ausschließlich für sein Geschäft zu interessieren. Sie glaubte, seine wahre Leidenschaft entdeckt zu haben, nämlich das Geld, und das missfiel ihr, ohne dass sie recht wusste, warum. Letzten Endes fuhr sie gut dabei. Er war nicht geizig, im Gegenteil, er war freigebig, besonders ihr gegenüber. «Wenn mir etwas passieren sollte», pflegte er zu sagen, «wäre deine Zukunft gesichert.» Und es ist in der Tat richtig, wenn man sucht, sich vor der Not zu sichern. Aber wo soll man sich vor dem, was nicht die alleralltäglichste Not ist, in Sicherheit bringen? Das war es, was sie in seltenen Stunden dunkel empfand. Unterdessen half sie Marcel bei der Buchhaltung und vertrat ihn zuweilen im Laden. Am mühsamsten war es im Sommer, wenn die Hitze sogar das angenehme Gefühl der Langeweile zerstörte.

Da, auf einmal, ausgerechnet mitten im Sommer, der Krieg; Marcel eingezogen und bald darauf ausgemustert, Warenmangel, Stillstand der Geschäfte, heiße, verödete Straßen. Wenn jetzt etwas passierte, gab es keine Sicherheit mehr für sie. Aus diesem Grund hatte Marcel im Augenblick, da wieder Stoffe auf den Markt kamen, den Plan gefasst, in die Dörfer der Hochebenen und des Südens zu fahren, um den Zwischenhandel zu umgehen und seine Ware direkt den arabischen Händlern zu verkaufen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Janine mitzunehmen. Sie wusste, dass die Verbindungen schlecht waren, und sie litt an Atembeschwerden; es wäre ihr lieber gewesen, zu Hause auf ihn zu warten. Aber er war starrköpfig, und sie hatte schließlich nachgegeben, weil es zu anstrengend gewesen wäre, bei ihrem Nein zu bleiben. Jetzt waren sie unterwegs, und wahrhaftig, nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte sich vor der Hitze gefürchtet, den Schwärmen von Fliegen, den schmutzstarrenden Hotels, wo alles nach Anis roch. Sie hatte nicht an die Kälte gedacht, den schneidenden Wind, die Polarlandschaft der moränenübersäten Hochplateaus. Auch von Palmen und weichem Sand hatte sie geträumt. Nun musste sie einsehen, dass die Wüste anders war, dass sie nur aus Stein bestand, Stein allüberall: auf der Erde, wo im Gestein nur dürre Gräser wuchsen, wie im Himmel, wo der kalte, knirschende Staub des Gesteins allmächtig herrschte.

Plötzlich blieb der Bus stehen. Der Fahrer sagte ein paar an niemand gerichtete Worte in der Sprache, die sie ihr Leben lang gehört hatte, ohne sie je zu verstehen. «Was ist los?», fragte Marcel. Der Fahrer erklärte, diesmal auf Französisch, der Sand habe offenbar den Vergaser verstopft, und von neuem verwünschte Marcel das Land. Der Fahrer lachte über das ganze Gesicht und versicherte, es sei nur eine Kleinigkeit, er werde den Vergaser reinigen, und dann werde man weiterfahren. Er öffnete die Tür, der kalte Wind stürmte in den Wagen und schleuderte ihnen augenblicklich tausend Sandkörnchen ins Gesicht. Die Araber verbargen die Nase im Burnus und krochen in sich zusammen. «Mach die Tür zu!», brüllte Marcel. Der Fahrer lachte, als er zum Eingang zurückkam. Gelassen holte er sein Werkzeug unter dem Armaturenbrett hervor und entfernte sich, ohne die Tür zu schließen, wieder nach vorne, eine im Dunst verschwindende, winzige Gestalt. Marcel seufzte: «Ich möchte wetten, dass er in seinem Leben noch keinen Motor gesehen hat.» – «Reg dich nicht auf!», sagte Janine. Plötzlich fuhr sie zusammen. Auf dem Damm, ganz nahe am Bus, standen unbeweglich ein paar vermummte Gestalten. Man sah unter der Kapuze des Burnus und hinter dem Wall der Schleier nur ihre Augen. Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht und betrachteten stumm die Reisenden. «Hirten», sagte Marcel.

Im Innern des Wagens herrschte Totenstille. Mit gesenktem Kopf schienen alle Fahrgäste der Stimme des Windes zu lauschen, der ungehemmt über die endlosen Hochebenen dahinbrauste. Janine stellte auf einmal überrascht fest, dass fast kein Gepäck vorhanden war. An der Endstation der Bahn hatte der Fahrer ihren großen Koffer und ein paar Ballen auf das Dach geladen. Drinnen sah man in den Netzen nur knotige Stöcke und flache Körbe aus Zwergpalmenblättern. All diese Leute aus dem Süden reisten offenbar mit leeren Händen.

Aber jetzt kehrte der nach wie vor gutgelaunte Fahrer zurück. Man sah nur seine lachenden Augen über den Schleiern, mit denen auch er das Gesicht bedeckt hatte. Er verkündete, nun werde man weiterfahren. Er schloss den Schlag, der Wind brach ab, und man hörte den Sandregen wieder deutlicher auf den Scheiben. Der Motor spuckte und stand seufzend still. Nach langem Drängen des Anlassers begann er endlich zu drehen, und aufs Gas tretend, ließ der Fahrer ihn aufheulen. Mit einem hustenden Ruck setzte der Bus sich wieder in Bewegung. Aus der immer noch reglosen, zerlumpten Gruppe der Hirten hob sich eine Hand und verschwand gleich darauf hinter ihnen im Dunst. Beinahe gleichzeitig begann das Fahrzeug auf der schlechter gewordenen Fahrbahn zu holpern. Die durchgerüttelten Araber schaukelten unablässig hin und her. Janine spürte, wie trotz allem der Schlaf sie allmählich übermannte, als unvermittelt eine kleine, gelbe, mit Katechus gefüllte Schachtel vor ihr auftauchte. Der Schakal-Soldat lächelte ihr zu. Sie zögerte, nahm eines und bedankte sich. Der Schakal steckte die Schachtel wieder ein und schluckte augenblicks sein Lächeln hinunter. Jetzt starrte er geradeaus auf die Straße. Janine drehte sich nach Marcel um, sah aber nur seinen kräftigen Nacken. Er schaute durch die Scheiben in den sich verdichtenden Dunst, der von den bröckeligen Erddämmen aufstieg.

Seit Stunden rollten sie so dahin, und die Müdigkeit hatte im Wagen jede Lebensäußerung erstickt, als draußen Schreie ertönten. In Burnusse gekleidete Kinder, die sich wie Kreisel um ihre eigene Achse drehten, Sprünge vollführten und in die Hände klatschten, umschwärmten den Bus. Er fuhr jetzt durch eine lange, von niederen Häusern gesäumte Straße; man gelangte in die Oase. Der Wind wehte noch immer, aber die Mauern hielten die Sandkörnchen ab, sodass sie das Licht hier nicht mehr verdunkelten. Indessen blieb der Himmel bedeckt. Inmitten des Geschreis und des gewaltigen Kreischens der Bremsen hielt der Bus vor den Pisee-Lauben eines Hotels mit schmutzigen Scheiben. Janine stieg aus; als sie auf der Straße stand, wankte der Boden unter ihren Füßen. Sie gewahrte über den Häusern ein schlankes, gelbes Minarett. Zu ihrer Linken erhoben sich bereits die ersten Palmen der Oase, und zu ihnen hätte sie gehen mögen. Aber obwohl es schon nahezu Mittag war, herrschte bittere Kälte; der Wind ließ sie frösteln. Sie wandte sich nach Marcel um und sah zuerst den Soldaten, der auf sie zukam. Sie erwartete sein Lächeln oder seinen Gruß. Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzublicken, und verschwand. Marcel war damit beschäftigt, sich den großen, schwarzen Feldkoffer mit den Stoffen vom Dach des Busses herunterreichen zu lassen. Das schien Schwierigkeiten zu bereiten. Der Fahrer musste sich allein um das Gepäck kümmern; er unterbrach denn auch bereits seine Bemühungen und richtete sich auf dem Dach auf, um dem Kreis der um den Wagen versammelten Burnusse hochtrabende Reden zu halten. Von Gesichtern umgeben, die alle aus Knochen und Leder geschnitzt schienen, von kehligen Schreien bestürmt, fühlte Janine unvermittelt ihre Müdigkeit. «Ich gehe hinein», sagte sie zu Marcel, der sich ungeduldig beim Fahrer Gehör zu verschaffen suchte.

Sie betrat das Hotel. Der Besitzer, ein hagerer, wortkarger Franzose, kam ihr entgegen. Er führte sie in den ersten Stock und über eine die Straße überblickende Galerie in ein Zimmer, das augenscheinlich nichts anderes enthielt als ein Eisenbett, einen weißlackierten Stuhl, eine vorhanglose Kleidernische und hinter einem aus Schilf geflochtenen Wandschirm die Waschecke mit einem von feinem Sandstaub überzogenen Becken. Als der Wirt die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte Janine die Kälte, die von den kahlen, weißgetünchten Wänden ausging. Sie wusste nicht, wo sie ihre Handtasche abstellen, wo sie sich selbst niederlassen sollte. Man musste sich hinlegen oder stehen bleiben und auf jeden Fall frieren. Sie blieb stehen, behielt die Tasche in der Hand und blickte unverwandt auf eine Art Schießscharte, die sich nahe an der Decke auf den Himmel öffnete. Sie wartete, ohne zu wissen, worauf. Sie empfand nur ihre Einsamkeit und die Kälte, die sie durchdrang, und ein schwerer lastendes Gewicht in der Herzgegend. In Wahrheit träumte sie, beinahe taub für die von der Straße aufsteigenden Geräusche, in die sich zuweilen Marcels laute Stimme mischte; ihr Bewusstsein erschloss sich vielmehr dem flussgleichen Raunen, das aus der Schießscharte zu ihr drang und das der Wind den, wie ihr vorkam, jetzt ganz nahen Palmen entlockte. Dann schien der Wind an Heftigkeit zuzunehmen, und das sanft plätschernde Wasser wurde zur brandenden Flut. Sie sah hinter den Mauern ein Meer von aufrechten, biegsamen Palmen, die im Sturm wogten. Nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber diese unsichtbaren Wellen erfrischten ihre müden Augen. Schwerfällig stand sie da, mit hängenden Armen, leicht vornübergeneigt, und die Kälte kroch an ihren plumpen Beinen empor. Sie träumte von den aufrechten, biegsamen Palmen und von dem jungen Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Nachdem sie sich gewaschen hatten, begaben sie sich in den Speisesaal. Auf die nackten Wände hatte jemand Kamele und Palmen gemalt, die in rosa-violetter Marmelade ertranken. Der Arkaden wegen ließen die Fenster nur spärliches Licht einfallen. Marcel erkundigte sich beim Besitzer des Hotels nach den verschiedenen Händlern. Dann brachte ein alter Araber, der auf seinem Kittel eine militärische Auszeichnung trug, das Essen. Marcel hing seinen Gedanken nach und zerkrümelte sein Brot. Er hielt seine Frau davon ab, Wasser zu trinken. «Es ist nicht abgekocht. Nimm Wein.» Das war ihr gar nicht recht, der Wein machte sie schwer. Und zudem gab es Schweinefleisch. «Der Koran verbietet es. Aber der Koran wusste nicht, dass gargekochtes Schweinefleisch keine Krankheiten verursacht. Wir verstehen es zum Glück, richtig zu kochen. Woran denkst du?» Janine dachte an nichts, oder vielleicht an diesen Sieg der Köche über die Propheten. Aber sie musste sich beeilen. Sie wollten am nächsten Morgen zeitig weiterfahren, weiter südwärts; es galt daher, alle wichtigen Händler noch am Nachmittag zu besuchen. Marcel forderte den alten Araber auf, den Kaffee ein bisschen schnell zu bringen. Der andere nickte, ohne zu lächeln, und entfernte sich gemessenen Schritts. «Gemach am Morgen, nicht zu hastig am Abend», sagte Marcel lachend. Aber schließlich wurde der Kaffee doch gebracht. Sie nahmen sich kaum Zeit, ihn hinunterzustürzen, und traten auf die staubige, kalte Straße hinaus. Marcel rief einen jungen Araber herbei, um sich beim Tragen des Feldkoffers helfen zu lassen; aber aus Prinzip suchte er die Entlöhnung herunterzuhandeln. Seine Meinung, die er Janine zum hundertsten Male mitteilte, ließ sich in der Tat in den undurchsichtigen Grundsatz fassen, dass sie immer das Doppelte forderten, um ein Viertel zu erhalten. Janine folgte den beiden Männern mit einem unbehaglichen Gefühl. Sie hatte eine wollene Jacke unter ihren dicken Mantel angezogen und hätte sich gerne ganz schmal gemacht. Zudem bereiteten ihr das Schweinefleisch, auch wenn es gar gekocht war, und das Tröpfchen Wein, das sie zu sich genommen hatte, Beschwerden.

Sie gingen durch eine kleine Anlage staubbedeckter Bäume. Araber, die ihnen begegneten, traten scheinbar ohne sie zu sehen beiseite und schlossen dabei die Falten ihrer Burnusse enger um sich. Selbst wenn sie in Lumpen daherkamen, entdeckte Janine einen Stolz in ihrem Gehaben, den die Araber ihrer Heimatstadt nicht besaßen. Sie folgte dem Koffer, der ihr einen Weg durch die Menge bahnte. Sie kamen durch das Tor eines Festungswalles aus ockerfarbener Erde und gelangten auf einen kleinen Platz, wo wieder die gleichen versteinerten Bäume wuchsen. Im Hintergrund, an der Breitseite des Platzes, sah man einen Saum von Bogengängen und Läden. Aber sie hielten auf dem Platz selber vor einem kleinen, blaugetünchten Gebäude, dessen Form an eine Granate erinnerte. In dem einzigen Raum, der sein Licht nur durch die Eingangstür erhielt, stand ein alter Araber mit weißem Schnurrbart hinter einem Ladentisch aus poliertem Holz. Er war gerade dabei, Tee einzuschenken, und hob und senkte die Kanne über drei kleinen, bunten Gläsern. Noch ehe Marcel und Janine irgendetwas anderes im Halbdunkel des Ladens erkennen konnten, empfing sie der frische Duft des Minzentees. Marcel trat durch den Eingang mit seinen sperrigen Girlanden aus zinnernen Teekannen, Tassen und zwischen drehenden Postkartenständern schwingenden Teebrettern, und schon stand er am Ladentisch. Janine blieb im Eingang stehen. Sie trat ein bisschen beiseite, um dem Raum kein Licht wegzunehmen. Dabei gewahrte sie im Halbdunkel hinter dem alten Händler zwei Araber, die auf prallen, den ganzen hinteren Teil des Ladens ausfüllenden Säcken saßen und die Neuankömmlinge lächelnd betrachteten. An den Wänden hingen rote und schwarze Teppiche und gewirkte Tücher, auf dem Boden standen überall Säcke und wohlriechende Körner enthaltende kleine Kisten. Auf dem Ladentisch reihten sich neben einer Waage mit blankgeputzten Kupferschalen und einem alten Metermaß mit stark verwischten Eichmarken Zuckerhüte, deren einer von seinen dicken blauen Papierwindeln entblößt und an der Spitze angebrochen war. Der in der Luft schwebende Geruch nach Wolle und Spezereien machte sich durch den Duft des Tees hindurch bemerkbar, als der Händler jetzt die Teekanne auf den Tisch stellte und guten Tag sagte.

Marcel sprach hastig auf ihn ein, leise, wie immer, wenn er von Geschäften redete. Dann öffnete er den Koffer, zeigte seine Stoffe und Halstücher, schob Waage und Metermaß beiseite, um seine Ware besser vor dem Alten ausbreiten zu können. Er ereiferte sich, sprach mit größerem Stimmaufwand, lachte ohne Grund; er benahm sich wie eine Frau, die gefallen möchte und der es an Selbstvertrauen mangelt. Nun mimte er mit weit geöffneten Händen Kauf und Verkauf. Der Alte schüttelte den Kopf, reichte das Tablett den beiden hinter ihm sitzenden Arabern und sagte bloß ein paar Worte, die Marcel zu entmutigen schienen. Er packte seine Stoffe zusammen, verstaute sie im Koffer und wischte sich den vermutlich nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. Dann rief er nach dem kleinen Träger, und sie zogen weiter zu den Bogengängen. Im nächsten Laden hatten sie ein bisschen mehr Glück, obwohl der Händler anfänglich dieselbe Unnahbarkeit an den Tag legte. «Sie halten sich alle für den lieben Gott persönlich», sagte Marcel, «aber schließlich müssen sie auch etwas zu verkaufen haben! Wir haben es alle schwer.»

Janine folgte ihm, ohne zu antworten. Der Wind hatte sich beinahe völlig gelegt. Fleckenweise wurde der Himmel sichtbar. Ein kaltes, gleißendes Licht drang aus den blauen Brunnen, die sich in den dicken Wolkenmassen auftaten. Sie hatten den Platz jetzt verlassen und gingen durch enge Gassen, an Erdmauern entlang, über die erfrorene Dezemberrosen oder hie und da einmal ein vertrockneter, wurmstichiger Granatapfel herunterhingen. In diesem Viertel roch es überall nach Staub und Kaffee, nach schwelender Palmrinde, Stein und Schaffleisch. Die aus den Mauern gehöhlten Läden lagen weit auseinander; Janine spürte, wie ihre Beine schwer wurden. Aber die Laune ihres Mannes besserte sich allmählich, er fing an, seine Ware loszuwerden, und zeigte auch mehr Entgegenkommen; er nannte Janine ‹Kleines›, die Reise würde nicht umsonst sein. «Natürlich», sagte Janine, «es ist besser, sich direkt mit ihnen zu verständigen.»

Durch eine andere Straße gelangten sie wieder ins Zentrum. Der Nachmittag war schon vorgeschritten, der Himmel nun beinahe wolkenlos. Auf dem Platz blieben sie stehen. Marcel rieb sich die Hände, er betrachtete mit liebevollem Blick den Koffer zu ihren Füßen. «Schau», sagte Janine. Vom anderen Ende des Platzes her kam ein großer, hagerer, sehniger Araber; er trug einen himmelblauen Burnus, Handschuhe und weiche, gelbe Schaftstiefel; sein braungebranntes Adlergesicht blickte stolz. Nur das lange, zum Turban geschlungene Tuch erlaubte, ihn von den französischen Verbindungsoffizieren zu unterscheiden, die Janine manchmal bewundert hatte. Er kam mit gleichmäßigen Schritten auf sie zu, schien jedoch über sie hinwegzublicken, während er langsam den einen Handschuh auszog. «Na», sagte Marcel achselzuckend, «das scheint mir auch einer, der sich für einen General hält.» Gewiss, alle trugen sie eine stolze Miene zur Schau, aber dieser hier übertrieb es nun wirklich. Obwohl der Platz rings um sie menschenleer war, schritt er geradenwegs auf den Koffer zu, ohne ihn zu beachten, ohne sie zu beachten. Dann wurde die Entfernung schnell kleiner, und der Araber stieß schon beinahe mit ihnen zusammen, als Marcel plötzlich den Koffer beim Griff packte und zurückzog. Scheinbar ohne im Geringsten etwas wahrzunehmen, ging der andere vorbei und entfernte sich mit unveränderter Gemessenheit in Richtung auf die Wälle. Janine blickte ihren Mann an, er machte wieder sein entgeistertes Gesicht. «Sie meinen jetzt, sie dürften sich alles erlauben», sagte er. Janine gab keine Antwort. Sie verabscheute die alberne Überheblichkeit dieses Arabers und fühlte sich auf einmal unglücklich. Sie wollte fort, sie sehnte sich nach ihrer kleinen Wohnung. Der bloße Gedanke an die Rückkehr ins Hotel, in das eiskalte Zimmer, lähmte sie. Unvermittelt fiel ihr ein, dass der Wirt ihr geraten hatte, auf die Terrasse des Forts hinaufzusteigen, weil man von dort die Wüste sehen konnte. Sie machte Marcel diesen Vorschlag, den Koffer konnten sie im Hotel lassen. Aber er war müde und wollte vor dem Abendessen noch ein bisschen ruhen. «Bitte», sagte Janine. Er schaute sie mit plötzlich wacher Aufmerksamkeit an. «Aber natürlich, Liebes», sagte er.

Sie wartete auf der Straße vor dem Hotel. Die weißgekleidete Menge wurde immer dichter. Es fand sich keine einzige Frau darunter, und Janine hatte den Eindruck, noch nie so viele Männer gesehen zu haben. Dabei schaute sie keiner an. Scheinbar ohne ihrer zu achten, wandten Einzelne ihr langsam das magere, wettergegerbte Gesicht zu, um dessentwillen sie in ihren Augen alle gleich aussahen, der französische Soldat im Bus, der Araber mit den Handschuhen – ein zugleich verschlagenes und stolzes Gesicht. Sie kehrten dieses Gesicht der Fremden zu, sie sahen sie nicht, und dann gingen sie leichtfüßig und lautlos rechts und links an ihr vorbei, während ihre Knöchel immer mehr anschwollen. Und ihr Unbehagen, ihr Verlangen, fortzukommen, wuchs. ‹Warum bin ich hierhergekommen?› Aber schon war Marcel zurück.