Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel - Miriam Schäfer - E-Book

Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel E-Book

Miriam Schäfer

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Beschreibung

"Ich bin noch hier!", rief er herausfordernd in den Raum. Aber nicht einmal ein Echo antwortete ihm. Sein Ruf verklang ungehört im Nichts und die Stille wog schwerer als zuvor. Ein alter Uhrmacher vor einem Rätsel. Endlose Wanderungen durch Eis und Schnee. Lockende Versprechungen eines Baumes. Wenn das Licht schwindet und die Schatten dichter zusammenrücken, wenn kalte Finger nach dir greifen und dein Weg unweigerlich zu Ende scheint: Wem schenkst du dein Vertrauen? 21 phantastische Geschichten vom Grund der Dinge. Zum Gruseln, Träumen und Nachdenken. Geheimnisvoll, düster und melancholisch erzählt Miriam Schäfer von den Welten zwischen Traum und Wirklichkeit, Licht und Schatten, Wahrheit und Legende. 2014 wurde sie für "Claire" mit dem Deutschen Phantastik Preis für die "Beste deutschsprachige Kurzgeschichte" ausgezeichnet.

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Miriam Schäfer
Das Fehlen des Flüsterns im Wind
… und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel

Schäfer, Miriam : Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel. Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-564-6

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-565-3

Print: ISBN 978-3-86282-563-9

Lektorat: Kristin Hinz, ds, acabus Verlag; Tanja Mehlhase

Satz: Kristin Hinz, acabus Verlag

Cover: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Covermotiv: Hintergrund: Empty landscape with single cercis tree, © imagosrb, Vögel: Pigeons, © Alexey Protasov

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Alles ist still. Die Wellen branden lautlos an den Strand. Wieder und wieder. Im Rhythmus des Herzens.

Die Weite vor Augen, den Weg.

Gehalten von Liebe, ein Anker im Sand.

Es ist an der Zeit. Was war, bleibt.

Schwimm.

In Gedenken an Anne

Lichtbringer

Dreonorths Haut brannte vor Kälte. Obwohl seine Nachtwache erst begonnen hatte, unterdrückte er nur mit Mühe ein Zähneklappern. Das Lagerfeuer zu seinen Füßen, kaum mehr als leise aufbegehrende Glut, die innerhalb eines schützenden Steinkreises schwelte, war nicht imstande, ihn zu wärmen oder die Welt bis zum Ende seines ausgestreckten Armes zu erhellen. Der eisige Wind, der vom Meer heraufzog, zerrte hungrig an seiner Kapuze und peitschte ihm vereinzelte Schneeflocken ins Gesicht. Sein Pfeifen erfüllte Dreonorths Ohren. Er war gewiss, was immer in der Finsternis lauern mochte, es wäre diesem ein Leichtes, sich heranzuschleichen und ihn hinterrücks zu erdrosseln. Die Nächte hier waren dunkel wie die tiefsten Abgründe der Hölle. Sie schienen nur darauf zu warten, ihn zu verschlingen, während der Sturm lärmte, um diese hinterhältige Tat zu vertuschen. Sie hatten in den vergangenen Tagen genug erlebt; er wusste, dies war ein Verderben bringender Ort. Je schneller sie von hier fortkamen, desto besser für sie alle. Aber noch lag die Anlegestelle ihrer Schiffe einen Tagesmarsch entfernt. Eher zwei, bedachte man die vielen Verwundeten.

Er schlang die Decke enger um sich und starrte in die Dunkelheit. Nebel stieg auf. Dreonorth wusste nicht, was schlimmer war. Die vollkommene Finsternis oder der dichte, unnatürliche Dunst, den die Böen jede Nacht vom Meer herantrugen und der die Gestalten und Gesichter aus seinen Albträumen mitbrachte. Nicht zum ersten Mal verfluchte er die Nachtschicht, dieses Land und seinen König, dessen Gier sie in diese vermaledeite Kälte geführt und der geweckt hatte, was nicht hätte geweckt werden dürfen.

Angespannt beobachtete Dreonorth, wie die Schwaden sich trotz des Sturms unaufhaltsam ausbreiteten. Sie waberten um den umgestürzten Baumstamm, auf dem er saß, ehe sie durch die Böschung auf das Feldlager in seinem Rücken zukrochen, dabei die weiße Mauer immer höher zogen und alles in Schweigen erstickten. Bleiche Arme liebkosten seine Schultern, strichen über sein Gesicht und benetzten seinen Bart und seine Augenbrauen mit Feuchtigkeit, die in der eisigen Luft sogleich gefror. Unruhig knetete er seine Hände. Die Finger waren trotz der schweren Handschuhe nahezu taub.

Plötzlich sprang Dreonorth auf, die Hand am Schwertgriff. »Wer da?«, zischte er, doch der Wind trug seine Worte davon. Er lauschte angestrengt, aber erhielt keine Antwort. Ein schabendes Geräusch vermischte sich mit dem Brausen des Sturms, als seine Klinge die Scheide verließ. Da war doch jemand! Oder hatte er sich getäuscht? Es war unmöglich, in diesem Nebel einen klaren Kopf zu bewahren.

»Paladin …«

Da! Eindeutig rief jemand nach ihm! »Eure Hoheit?«, fragte er zurück.

Wieder kam keine Antwort. Er korrigierte den Griff seiner Schwerthand und streckte seine steif gefrorenen Glieder, ehe er einige Schritte von der Feuerstelle zurücktrat. »Wer ist da?«

Diesmal spürte er das Flüstern direkt an seinem Ohr und es war so schneidend wie die Kälte, die ihn umgab: »Was glaubt Ihr, was Ihr hier tut?«

Er fuhr herum, doch auch hinter ihm stand niemand. Ein Windstoß blies Dreonorth die Kapuze vom Kopf. »Ich fordere Euch auf: Zeigt Euch!«

Unheimliches Gelächter erklang, aber noch immer war nichts zu sehen, nichts als weißer, flockendurchwirbelter Dunst, der sich lichtete und wieder zusammenzog. Dreonorth spähte angestrengt umher und wartete. Sein Herz schlug heftig unter der schweren Brustplatte. Nichts geschah. »Verfluchter Nebel«, knurrte er und wollte gerade auf seinem Baumstamm Platz nehmen, als die Stimme wisperte:

»Glaubtet Ihr, Ihr könntet ungestraft unser Land betreten und nehmen, was Euch beliebt? Ihr seid wahrlich töricht, Paladin!«

»Es reicht!«, donnerte Dreonorth und straffte sich. »Beim Namen König Leargats, ich befehle Euch, Euch zu zeigen!« Aufmerksam beobachtete er seine Umgebung. In einem Moment glaubte er, ein Gesicht im Nebel zu sehen, im nächsten war es fort. »Hexerei«, murmelte er zu sich. »Das ist Hexerei.« Lauschend verharrte er, aber bis auf das Brausen des Windes blieb es still. Er erwog flüchtig, ins Lager zurückzukehren und seinem Herrn zu berichten, was er gehört hatte, doch verwarf er den Gedanken alsbald. Schuld war dieses verdammte Land, es trieb sie alle in den Wahnsinn. Kein Grund, Alarm zu schlagen und die anderen wegen seiner Hirngespinste um den dringend benötigten Schlaf zu bringen. Stattdessen sank er auf ein Knie, stützte seine Hände auf die Parierstange seines Schwertes, schloss die Augen und konzen­trierte sich. Die Klinge begann zu glimmen. Ein goldener Schimmer breitete sich von Dreonorths Händen über die polierte Schneide bis auf den steinigen, von einer dünnen Schneeschicht bedeckten Untergrund aus und weitete sich über mehrere Armlängen zu einem geweihten Kreis. Der Nebel verstärkte den Schein, fast wurde die Nacht zum Tag, bis ein besonders heftiger Windstoß ihm scharfe Eiskristalle ins Gesicht peitschte. Dann erlosch das Licht.

»Hübscher Zauber, Paladin!«, klang es höhnisch aus dem Nebel. »Aber Ihr könnt uns nicht besiegen! Dies ist unser Land!«

Dreonorth fluchte und erhob sich schwerfällig.

»Schaut hinaus aufs Meer!«, sang es euphorisch. »Seht Ihr die Wasser steigen? Mit der Flut kommt Euer Ende!«

»Genug!«, dröhnte Dreonorth und hob das Schwert. Er fuhr mit der linken Hand über die gesamte Länge der Klinge, bis der Stahl leuchtete, und stieß sie so geschützt einige Zentimeter in den gefrorenen Boden. »Beim Licht! Segnet diesen Ort und bannt den bösen Zauber!«

Schrilles Gelächter ertönte, die Nebelschwaden wirbelten wie vom Wind getragene Bänder um ihn herum.

»Zu spät, Paladin! Flieht, solange Ihr noch könnt!«, riet das Flüstern. »Hier erwartet Euch nichts als Verderben!«

»Tückisches Dämonenpack!«, schrie Dreonorth und riss die Klinge aus der Erde. Sein Zauber zeigte keinerlei Wirkung. »Zeigt Euch und kämpft, statt Euch feige hinter kindischen Jahrmarktzaubereien zu verbergen!«

Ein Knacken, so laut, dass es trotz Nebel und Wind sein Ohr erreichte, drang aus der Böschung hinter ihm und ließ ihn zusammenfahren. Mit erhobener Waffe schritt er dem dicht bewachsenen Uferstreifen entgegen. Als ein dunkler Schatten vor ihm auftauchte, spannte er die Muskeln. Nur ein wenig näher …

»Sachte, Bruder!«, keuchte der Schatten mit matter Stimme und Dreonorth ließ seine Klinge erleichtert sinken.

»Kjelder! Dem Licht sei Dank, Ihr seid es!«

Die Gestalt seines jungen Waffenbruders schälte sich langsam aus dem Nebel. Seine Schritte waren von den Kämpfen und der Flucht der letzten Tage träge, aber Dreonorth war es einerlei, zu groß war die Freude über seine Anwesenheit.

Mit einem Nicken deutete Kjelder auf die Klinge in Dreonorths Hand und wollte seinerseits zur Waffe greifen, doch Dreonorth schüttelte den Kopf. »Stimmen«, sagte er. »Böser Zauber, nichts weiter. Besser, nicht allein damit zu sein. Kommt ans Feuer.«

Noch einmal horchte er in den Sturm, aber das unmenschliche Wispern war verstummt. Er schob sein Schwert zurück in die Scheide, bot dem Ankömmling auf dem Baumstamm Platz und wickelte die Decke um seine Schultern. Jetzt wo die Stimmen schwiegen und die Gesellschaft seines Kameraden ihm Sicherheit bot, spürte er die Kälte wieder deutlich.

»Ich glaube, ich werde verrückt«, brummte Dreonorth und stocherte mit einem Ast in der Glut, um zu verhindern, dass sie erlosch.

Kjelder neben ihm nickte. »Dieses Land ist nichts für uns, Bruder. Je eher wir von hier verschwinden, desto besser«, wiederholte er, was Dreonorth bereits gedacht hatte. Die Worte kamen langsam und gepresst.

»Sagt das nicht mir.« Dreonorth spuckte auf den Boden, strich eine gefrorene Haarsträhne aus seiner Stirn und zog die Kapuze wieder auf, dabei musterte er den jungen Mann aus den Augenwinkeln.

Kjelders Gesicht wirkte fahl, die Augen lagen in dunklen Schatten und die Schultern hingen schlaff herab. Die Anstrengungen der vergangenen Tage hatten ihn sichtbar gezeichnet. Sein Atem ging schwer.

»Ihr solltet schlafen«, riet Dreonorth.

»Schlaf«, krächzte Kjelder abfällig. »Ob ich schlafe und davon träume, was mit den Spähtruppen geschehen ist oder im Zelt hocke und dem Land zuhöre, wie es meinen Geist vergiftet, das ist einerlei.«

Lange Zeit schwiegen beide und starrten dumpf auf die Funken, die aus dem angefachten Feuer stiegen.

»Wir werden niemals mehr von hier fortkommen«, flüsterte Kjelder dann. Der Wind schien das Echo seiner Worte wieder und wieder an Dreonorths Ohr zu tragen. Sein Blut gefror ihm in den Adern, als er den Freund ansah und ein seltsam entrücktes Lächeln um dessen Mundwinkel erkannte.

»Sagt so etwas nicht, Bruder«, begann er und stockte, denn das Lächeln auf den blau gefrorenen Lippen wurde breiter.

»Ihr werdet niemals von hier fortkommen!«, fauchte der junge Ritter und Dreonorth spürte einen stechenden Schmerz unterhalb der rechten Rippe. Er keuchte überrascht, stand auf und taumelte mit an die Seite gepresster Hand einige Schritte zurück. Als er die Finger von der brennenden Stelle nahm, klebte dunkles Blut auf seinem Handschuh.

»Kjelder … was …?«

Dieser kauerte vornübergebeugt auf dem Baumstamm. Ein metallisches Blitzen verriet den Dolch in seiner Hand.

Mühsam zog Dreonorth sein Schwert und richtete es auf seinen Angreifer. Er sah, wie sich Kjelders Körper hob und senkte, hörte, wie er keuchend nach Luft rang.

›Es ist dieser Nebel!‹, versuchte er sich zu beruhigen. ›Nur der Nebel und dieses verfluchte Land. Ihn trifft keine Schuld.‹

Er fasste noch einmal an die blutende Wunde, dann, als der Junge keine Anstalten machte, ihn erneut anzugreifen, zwang er sich, ihm wieder entgegenzutreten. Er musste ihm helfen, den Irrsinn abzuschütteln, ehe sie einander umbrachten.

Doch als er sich ihm näherte, erschrak er: Kjelders Atem! Er erzeugte in der kalten Luft keinerlei Dunst! »Beim Licht«, rief er. »Kjelder!« Warum hatte er das nicht eher bemerkt?

Der Andere stand schwankend auf. Das bleiche Gesicht hob sich und Dreonorth sah, wie die Augen nach hinten kippten und nur das Weiße darin übrig blieb. Die Augenlider schlossen sich kurz, und als sie wieder aufsprangen, loderte dort ein Feuer aus violetten und schwarzen Flammen.

»Nein …!« Er taumelte zurück. Seine Seite schmerzte, doch er achtete nicht darauf.

Aus der Kehle seines Kameraden drang eine Stimme, die nichts Menschliches mehr enthielt: »Seine Seele gehört jetzt dem Nebel! Und die Eure wird ihm folgen. Seht!« Kjelders Körper streckte einen Arm aus und deutete auf etwas hinter Dreonorth.

Er wollte dem Ding nicht den Rücken zuwenden, konnte aber nicht widerstehen. Er schaute über die Schulter zurück und erstarrte. Im Nebel erkannte er geisterhafte Umrisse, die über das Meer auf das Ufer zukamen. Boote. Boote, die aus dem gleichen düsteren Feuer zu bestehen schienen, das die Seele seines Freundes erfüllte. Boote, auf denen deutlich die Umrisse vieler, zu vieler, Krieger zu erkennen waren. Boote und Krieger, die im Schutz von Nebel und Sturm lautlos an die Küste schwemmten und mit Sicherheit alles Leben von diesem kalten Boden spülen würden.

»Die Flut bringt Euer Ende!«, krächzte Kjelder dicht hinter ihm.

Dreonorth wich zur Seite und wirbelte zu dem Wesen herum, sah, dass es den Dolch in den steifen Fingern auf ihn gerichtet hielt. »Kjelder …«, flüsterte er.

Die Kreatur lachte.

»Verzeiht mir«, sagte Dreonorth leise, hob ergeben sein Schwert und schlug mit einem Aufschrei nach dem Dolch. Trotz des auflodernden Schmerzes reagierte er sogleich auf die Ausweichbewegung des Geschöpfs, traf es am Arm und schmetterte das Messer aus dessen Griff. Dann hieb er ihm mit dem Schwertknauf ins Gesicht. Das Wesen, das Kjelder gewesen war, taumelte, Dreonorth rückte auf, stemmte ihm einen Fuß hinter die Fersen und schlug ein weiteres Mal zu. Kjelder stürzte zu Boden und Dreonorth setzte sich mit seinem massigen Körper auf ihn. Er nahm das Schwert und presste seinem einstigen Kameraden das Kreuz aus Griff und Parierstange auf das Gesicht. »Lasst ab von ihm, Geist! Dieser ist dem Licht geweiht!«

Die Augen flammten auf. »Ihr seid in unserem Land, Paladin. Hier gibt es kein Licht! Hier regiert das schwarze Feuer!«

Doch Dreonorth war nicht bereit aufzugeben. »Das Licht ist überall!«, rief er und reckte den freien linken Arm in die Höhe. Goldene Funken erwachten auf seiner Handfläche zum Leben und begannen dort zu tanzen. Dreonorth spürte, dass er zu schwach für diese Art von Magie war, dennoch wollte er den jungen Ritter nicht seinem Schicksal überlassen.

Er verdrängte die nahenden Schiffe aus seinem Geist, sperrte den Schmerz aus, verbannte Kälte, Angst und Wind und wiederholte seinen Ruf: »Das Licht ist überall!«

Die Funken in seiner Hand stoben auf und begannen herumzuwirbeln. Sie bildeten eine goldene Kugel, benetzten bald seinen Arm bis zum Ellbogen mit einem funkelnden Film und trugen das Licht in die Nacht. Der Nebel wich zurück, doch Dreonorth bemerkte es nicht. Er senkte die Hand und legte sie auf das Herz seines Freundes. »Dieser ist dem Licht geweiht!«

»Ihr seid alle verloren!«, gurgelte das Geschöpf unter ihm, doch Dreonorth sah, wie das Feuer in den Augen zurückwich, wie das Weiße zurückkehrte und er verstärkte den Druck auf Kjelders Brust. Es schien Ewigkeiten zu dauern, doch dann waren Kjelders Augäpfel wieder zu sehen. Dreonorth erschauderte, denn er bemerkte erst jetzt, wie leer ihr Blick auf ihm ruhte. Sein Freund war längst tot.

Trotzdem bewegten sich die gefrorenen Lippen und in der Stimme, die erklang, erkannte er die seines Bruders: »Bringt es zu Ende, Dreonorth! Lasst nicht zu, dass sie von mir Gebrauch machen! Bitte …!«

Dreonorth zögerte nicht. Bereits als Kjelders Augen wieder in den Kopf kippten, richtete er sich mit letzter Kraft auf. Der Funkenball in seiner Hand erlosch. Noch ehe das Flackern in die Augenhöhlen zurückkehrte, holte er mit seiner Waffe aus und hieb seinem Freund den Kopf von den Schultern. Kjelders Blut färbte den Schnee rot.

Mit der Erschöpfung kehrte der Schmerz übermächtig zurück und Dreonorth sank kraftlos auf den Überresten seines Bruders zusammen. Er rang nach Atem und versuchte, sich nicht um das viele Blut zu scheren, das nun überall an ihm klebte. Es dauerte eine Weile, bis er sich wankend wieder aufrichtete.

In diesem Moment glitt der Bug des ersten Bootes an den Strand.

Als König Leargat wenig später aus dem Schlaf gerissen wurde, rang er den Schrei in seiner Kehle hinunter, da er in dem Schatten vor seinem Lager seinen Paladin erkannte. »Dreonorth, was …?«, fragte er mit Blick auf die blutverschmierte Klinge des Kriegers.

»Sorgt Euch nicht, Eure Hoheit«, beruhigte Dreonorth seinen Herrn. »Das Kämpfen hat nun ein Ende.«

Das Feuer in seiner Hand brannte schwarz.

Der Zaun

Es war der Zaun hinter dem Holzschuppen, der Lirian mehr als alles andere faszinierte. Er war hoch, so hoch, dass sein Ende die Wolken kitzelte und so lang, dass Lirian die Versuche aufgegeben hatte, um ihn herumzugehen. Nachts, wenn der Mond hell genug schien, warfen die engen Maschen ein Netz aus Schatten auf sein Bett, das im Licht zitterte.

Statt mit den Jungen aus seiner Klasse Fußball zu spielen, verbrachte er seine Zeit damit, auf dem angelaufenen Wellblechdach des Schuppens zu hocken und den Zaun im Auge zu behalten. Jeden Nachmittag saß er dort, beobachtete und wartete. Worauf, vermochte er nicht zu erklären, aber er war sicher, dass mit diesem Zaun etwas nicht stimmte. Sogar im Schlaf träumte er davon, seine Finger in die Maschen zu haken und das Gesicht gegen sie zu pressen, um bloß nichts von dem zu verpassen, was auf der anderen Seite geschah. Manchmal, wenn er im Traum hindurchblickte, meinte er, sich selbst als kleines Kind zu erkennen, wie er drüben auf dem Feld herumkrabbelte und bunte Blütenblätter in seinen Mund schob. Er glaubte fest daran, dass dies echte Erinnerungen waren, doch wenn er tags darauf seine Mutter danach fragte, zuckte die bloß die Achseln und erklärte gleichmütig, der Zaun sei schon immer dort und er, Lirian, niemals auf der anderen Seite gewesen. Trotzdem gab es für ihn keinen Zweifel: Der Zaun war mit den Jahren gewachsen. Lirian war sicher, damals, als er gerade in die Schule gekommen war, hatte er auf dem Schuppen sitzen und über den Zaun hinüberspähen können. Ein Jahr später hatte er sich dafür bereits recken müssen und irgendwann war das Ende nicht mehr zu erkennen gewesen. Als er seiner Mutter davon erzählte, schaute sie ihn sehr eindringlich an und verbot ihm für die nächste Woche, auch nur einen Fuß in den Garten zu setzen. Seitdem hatte er mit ihr nicht mehr über den Zaun gesprochen.

Auch sein Vater war ihm keine Stütze. Auf die Frage, warum man hinter dem Schuppen nicht weitergehen dürfe, antwortete dieser knapp: »Hinter dem Feld beginnen die Sümpfe. Du möchtest doch nicht im Sumpf steckenbleiben, oder? Der Zaun dient nur deiner Sicherheit.« Damit war das Thema für ihn erledigt.

Doch Lirian träumte weiter von dem Zaun und dem, was dahinter liegen mochte. Einmal hatte er das Warten derart satt, dass er begann, an ihm emporzuklettern. Doch er rutschte ab und stürzte zurück in den Garten. Er brach sich ein Bein und verbrachte mehrere Wochen damit, missmutig in seinem Zimmer zu sitzen und dem Zaun wütende Blicke zuzuwerfen. Als er wieder genesen war, dachte er, es sei an der Zeit, dem Zaun zu zeigen, wer der Stärkere von ihnen beiden war. Er wartete, bis seine Eltern schliefen, schlich im Mondschein in den Garten, holte den Spaten aus dem Schuppen und begann, ein Loch zu graben. Doch egal wie tief er grub, der Zaun nahm selbst unter der Erde kein Ende. Enttäuscht und hilflos griff er zum einzigen Mittel, das ihm blieb; er knipste mit der Gartenschere die Maschen entzwei. Aber sobald er den Draht an mehr als einer Stelle durchtrennt hatte, war der erste Schnitt auf wundersame Weise verheilt. Mutlos kehrte Lirian in sein Bett zurück und schwor, nie wieder auch nur einen Gedanken an den Zaun zu verschwenden.

Eine Weile gelang es ihm tatsächlich, dem Garten fernzubleiben. Doch irgendwann entschied er, der Zaun sei genug gestraft, und kehrte auf seinen üblichen Posten zurück. Es dauerte einen Moment, ehe Lirian merkte, dass sich etwas verändert hatte: Drüben, auf der anderen Seite, stand jemand. Er kniff die Augen fest zusammen und blinzelte einige Male, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte. Doch ganz eindeutig wartete drüben auf dem Feld, nicht mehr als zwei Meter vom Zaun entfernt, ein Mädchen mit lockigem, braunem Haar und sah ihm erwartungsvoll entgegen.

»Da bist du ja wieder«, sagte sie.

Lirian konnte nicht antworten. Er legte den Kopf schief und starrte zu ihr hinüber.

»Ich sitze meistens dahinten im Baum«, sie deutete mit dem Daumen zurück über ihre Schulter. »Ich hab mich nicht getraut, zu dir zu kommen. Aber nachdem du jetzt so lange weg warst, hab ich gedacht … naja, so langsam wird es blöd, wenn wir nie miteinander reden. Also: Hi!«

Lirian starrte sie unverwandt an.

»Ich bin Charlotte«, sagte das Mädchen. Und nach einer Weile: »Stört es dich, wenn ich hier bin? Ich kann auch wieder gehen, ich dachte nur …«

»Nein!«, rief Lirian rasch. »Ich bin nur … Ich bin Lirian.«

Charlotte lächelte und kam näher. Lirian stand auf und wollte vom Dach zu ihr hinunterspringen, als er mit offenem Mund stehen blieb. Charlotte schritt geradewegs durch den Zaun hindurch und begann, seine Leiter hinaufzusteigen!

»Wie … wie hast du … wie hast du das gemacht?«, stammelte er fassungslos.

Charlottes Gesicht tauchte über dem Wellblech auf. Verwirrt sah sie ihn an. »Was meinst du?«

»Der Zaun!« Lirian konnte es nicht fassen.

»Was für ein Zaun?« In Charlottes Gesicht stand echtes Erstaunen.

»Na, der Zaun, der …«, hilflos gestikulierend deutete Lirian auf die Stelle zwischen dem Garten seiner Eltern und dem Feld auf der anderen Seite, von dem Charlotte gekommen war.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie skeptisch.

Lirian schüttelte den Kopf. »Ich schwöre dir, da ist ein Zaun! Genau zwischen unserem Garten und der Wiese. Komm mit!« Er sprang vom Dach, trat an den Zaun und presste seine ausgestreckte Hand dagegen. »Hier!«

Charlotte ließ sich vom Schuppen gleiten und streckte ihrerseits die Hand aus. Doch statt wie er auf das Hindernis zu stoßen, stolperte sie vorwärts und stand genau auf der Grenze.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lirian auf den Zaun, der mitten durch sie hindurchführte, doch Charlotte verzog die Lippen. »Sehr witzig«, sagte sie, packte sein Handgelenk und zog daran. Als er nicht einmal strauchelte, runzelte sie die Stirn. »Lehn dich dagegen«, befahl sie, und stemmte sich mit aller Kraft in seinen Rücken. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen betrachtete sie ihn kopfschüttelnd. Sie ließ ihn los und trat hinüber auf ihre Wiese, zurück zu Lirian, wieder auf die Wiese und in Lirians Garten, wobei sie die Luft eingehend untersuchte.

Lirian schauderte, während er zusah, wie sie sich durch den Zaun hin und her bewegte. »Das ist definitiv unheimlich.«

Aber Charlotte zuckte bloß mit den Schultern. »Dann besuch ich dich halt«, sagte sie leichthin und verlor kein Wort mehr über den Zaun.