Das Flirren am Horizont - Roland Buti - E-Book

Das Flirren am Horizont E-Book

Roland Buti

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1976 herrscht Dürre in Europa, seit Wochen drückt eine wahnsinnige Hitze auf die Felder – eine Katastrophe für die Landwirtschaft. Den Hof der Sutters in der französischen Schweiz trifft es besonders hart: Der Bauer und Familienvater hat sein ganzes Vermögen in die Hühnerzucht gesteckt, und die Küken sterben in der Hitze weg; die Mutter quartiert eine geheimnisvolle Fremde auf dem Hof ein, die sich als ihre Geliebte herausstellt; der geistig zurückgebliebene Knecht Rudy wird, als ein fürchterliches Gewitter ausbricht, von einem Balken erschlagen; und für den 13-jährigen Gus ist es das Ende seiner Kindheit. Wuchtig, farbig, zum Anfassen plastisch lässt Butis Roman eine Welt entstehen im Moment ihres Untergangs.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 227

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nagel & Kimche E-Book

Roland Buti

Das Flirren

am Horizont

Nagel & Kimche

REIHE

Literatur aus der Schweiz

in Übersetzung

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der

ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit dank

der Beteiligung aller 26 Kantone. Die Übersetzung

wurde von Pro Helvetia subventioniert.

ISBN 978-3-312-00642-7

Titel der Originalausgabe: Roland Buti, Le milieu de l’horizon

© 2013, Editions Zoé, Genf

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Stephanie Hirt Soondrum, unter Verwendung eines Fotos von © Nicholas Prior / Stone / Getty Images

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Meinen Eltern

«Wir schätzen, dass […] jeder Schönwettertag, der vergeht, ein weiterer Schritt in Richtung Katastrophe ist.»

Ein Vertreter des Bundesamts für Landwirtschaft,

Gazette de Lausanne, 26. Juni 1976

I

Es war im Juni des Jahres 1976. Es war der Beginn der großen Ferien meines dreizehnten Sommers. Es war das Jahr der Dürre.

In Tankwagen wurde Wasser, das man aus den Seen abpumpte, zu den Dörfern geschafft. Unter einem Himmel so gelb wie Maispapier war das Militär mit Lastwagen und Motorpumpen im Einsatz, um die Felder notdürftig zu bewässern und an Pflanzen zu retten, was noch zu retten war. Die Behörden hatten den Notstand ausgerufen.

Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Da im Winter in den Bergen kein Schnee gefallen war, hatten sich im Frühjahr die Grundwasserspeicher nicht aufgefüllt. Alles war trocken, in der Tiefe wie an der Oberfläche, und die Landschaft ähnelte einem alten, harten Keks. Manche Leute meinten, die Sonne sei plötzlich der Erde zu nah gekommen, andere sagten, es sei anders herum, die Erdachse hätte sich verschoben und die Erde sei von der Sonne angezogen worden. Ich meinerseits war überzeugt, diese außergewöhnliche Hitze müsse von einem Asteroideneinschlag in unserer Nähe verursacht worden sein, von einem großen Himmelskörper aus unbekanntem Metall, der unsichtbare, giftige Dämpfe verströmte. Wie sonst als durch Gase, die sich allmählich bis zu den Häusern des Dorfs ausbreiteten und uns unmerklich vergifteten, sollte ich mir die schleichende Veränderung im Charakter meiner Mutter erklären, ihre Verwandlung in eine andere Person? Wie mir erklären, dass uns im Lauf dieses Sommers unser Leben entglitt und die Welt meiner Kindheit zu Ende ging?

Seit einigen Tagen redete Rudy davon, dass das Gras schlecht roch. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er mir ernst und traurig, das sei so, weil es leide. Das passte zu Rudy, sich vorzustellen, dass die Vegetation ihr Unbehagen durch eine übelriechende Ausdünstung zum Ausdruck brachte. In unserem mit kümmerlichem Gras bewachsenen, vom Vieh plattgetrampelten Hinterhof hing ein Geruch von Sellerie und Schwefel. Das matte Grün des Efeus, der sich an der gemauerten Umfriedung des Gemüsegartens emporrankte, war fast schwarz geworden. Die Sonne heizte das Mauerwerk auf, ließ die Efeublätter welken, krümmte ihre verschrumpelten Stiele, die eine letzte Anstrengung unternahmen, um nicht von ihren Zweigen zu brechen und auf die staubige Erde zu fallen. Als ich dichter heranging, um die Kletterfüße der Pflanze zu betrachten – sie glichen winzigen, vor Verzweiflung geballten Fäusten –, musste ich zugeben, dass das Laub tatsächlich stank.

Ich hielt mich am liebsten an diesem Platz zwischen Stall und Garten auf, vor Blicken geschützt und fernab der Arbeit und Geschäftigkeit. Wenn ich im Sitzen den Blick hob und über die Mauer hinwegschweifen ließ, die unser Gemüsebeet einrahmte, sah ich die sanft gerundeten Kuppen der Felder, hinter denen man die Wölbungen weiterer Felder erahnte, bis zur Grenze des Waldes, der ganz in der Ferne seinen Schatten über die violettfarbenen Berge warf. Der Zufall der Mulden und Buckel der Landschaft schluckte Leitungsmasten, Bauten, Straßen. Hier vergaß ich die Welt und las stundenlang in den Comicheften, die ich im einzigen Laden unseres Dorfs, der zugleich Lebensmittel- und eine Art Kramladen war, kaufte. Neben den unentbehrlichen Dingen des Alltags fand man hier allerlei Gegenstände, für die bisher niemand so recht eine Verwendung gefunden hatte und die – Opfer der gnadenlosen Gesetze des Marktes – in den Regalen ganz unten langsam Staub ansetzten. Ich hatte großen Respekt vor Monsieur Florin und seiner Frau, weil ich dachte, dass alles, was es in ihrem Laden gab, ihnen gehörte, dass sie sich einfach so nach Lust und Laune aus den Bonbongläsern bedienen, eine Tafel Schokolade aufreißen oder eine kleine gelbe Flasche Sinalco aufmachen konnten. Wenn sie mir mein Spirou-Magazin reichten, für die Mitnahme fein säuberlich zusammengerollt und mit einem Gummi versehen, dann war ich ihnen immer dankbar, weil sie mich in den Genuss einer solchen Kostbarkeit kommen ließen.

Die Comics waren «Fortsetzung folgt»-Geschichten, die Abenteuer hörten immer mittendrin auf. Über dem Ritter, jungen Römer, Cowboy, Reporter, Pfadfinder oder auf übersinnliche Phänomene spezialisierten Wissenschaftler prangte in einer riesigen Sprechblase ein fettgedrucktes «Ah!», ein «Oh!» oder das Wort «Verflixt!» Immer stand irgendeine Gefahr, ein außergewöhnliches Ereignis oder die Lösung aller Probleme unmittelbar bevor, doch erst das folgende Kästchen in der Ausgabe der nächsten Woche würde die Aufklärung bringen. Dieses Geheimnis setzte den Lauf der Zeit außer Kraft, als wäre der Held dazu verdammt, für mehrere Tage wie angewurzelt stehen zu bleiben, ohne seiner Ungewissheit, seiner Panik oder seiner Neugier entkommen zu können.

In der Hoffnung, dass mir gleich irgendetwas Außergewöhnliches zustoßen würde, hatte ich mir angewöhnt, längere Zeit mucksmäuschenstill zu verharren. So wartete ich, reglos, auf dem schmalen Weg hinter unserem Haus zum Wald hinauf, reglos im hohen Gras der Wiesen verborgen, reglos im Hof vor dem Stall. Doch unsere Landschaft blieb immer dieselbe Landschaft: Kein geheimnisvoller Fremder, der nach einer endlosen Reise durchs Raum-Zeit-Kontinuum in einem Ballonkorb vom Himmel gefallen war, strich durchs Gehölz; kein schnittiges Cabrio mit einer Ladung hübscher Mädchen an Bord preschte plötzlich heran, eine Bande fieser Gangster dicht auf ihren Fersen; kein sympathischer Page in Begleitung eines extravaganten Journalisten und eines exotischen Tiers mit aufsehenerregenden Fähigkeiten tauchte in der Biegung der Straße oder in einer Ecke unseres Hofs auf. Am Ende sah ich nur ein Eichhörnchen an einem Baumstamm emporklettern, das aber zu meinem Leidwesen nicht über die Gabe der Sprache zu verfügen schien; ich sah Papa, der mich von seinem Traktor herunter aufforderte, ihm zu helfen, oder Sheriff, unseren Hund, der seine alten Knochen bis zu meinen Füßen schleppte, um sich eine Streicheleinheit abzuholen.

An jenem Tag bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Rudy dastand und mir etwas zeigen wollte, was er auf dem Boden gefunden hatte. Rudy verbrachte viel Zeit mit Arbeiten und viel Zeit mit Nichtstun. Sein Tagesablauf bestand darin, sich um die Tiere zu kümmern, das Stroh auszuwechseln, den Stall auszumisten, die Schweine zu füttern, den Hühnerstall zu reparieren und all die kleinen Aufgaben auszuführen, die Papa ihm anvertraute. Hatte er nichts zu tun, so konzentrierte er sich mit ganzer Energie darauf, seine Umgebung zu beobachten, vermutlich in dem Bemühen, ein wenig Ordnung in den wild wuchernden Strom seiner Gedanken zu bringen; wenn er so dastand, unnatürlich steif und mit weit aufgerissenen Augen, dann konnte man ein Dutzend Mal an ihm vorbeigehen, ihn berühren, ihn rufen, ohne dass er sich rührte. Wer ihn nicht kannte, geriet leicht in Panik, wenn er sich unerwartet diesem mondgesichtigen Wesen gegenüber fand.

Seit ich denken konnte, war Rudy immer schon da gewesen. Er war vor meiner Geburt zu uns gekommen. Für mich hatte er kein Alter, als wäre er nie Kind gewesen, als wäre er keinem körperlichen Verfall unterworfen. Irgendwie hegte ich immer den Gedanken, dass die Distanz, die seine rauhe, dicke Haut zwischen ihm und der Welt etablierte, ein Teil dieser ganz besonderen ihm eigenen Form von Glückseligkeit war.

Er war der geistig zurückgebliebene Sohn eines entfernten Cousins aus dem Seeland. Als ich ungefähr acht war, erklärte man mir, dass er an einer milden Form des Downsyndroms leide. Rudys Status in unserer Familie war anders als meiner und der meiner Schwester. Ich hatte Mama gefragt, warum er in einem eigenen Zimmer unweit des Schweinestalls schlief, warum er nie mit uns zusammen irgendwohin ging, außer manchmal sonntags in die Kirche, und warum er nie weinte (wobei er übrigens auch nie lachte). Sie erzählte mir, dass er irgendwo in seinem Körper etwas Zusätzliches habe, was wir anderen nicht hätten, und was dazu führe, dass er ein wenig anders funktioniere als andere Menschen. Diese Antwort und die Vorstellung einer zufallsbedingten Verteilung der Chromosomen bei der Geburt beschäftigten mich noch jahrelang.

Als Papa erfuhr, dass die Familie seines Cousins dieses Kind, aus dem inzwischen ein recht lebhafter junger Mann geworden war, nicht behalten wollte, sich jedoch keine Lehrstelle für ihn finden ließ, weshalb sie ihn in einer Anstalt unterzubringen gedachten, beschloss er, ihn aus der Gegend von Aarberg zu uns zu holen. Bei uns würde es ihm gefallen, und er würde sich nützlich machen können. Das gehört sich so, hatte Papa gesagt. Die Einfältigen, Schwachsinnigen, Kretins, Trottel, mehr oder minder Debilen geben allesamt tadellose Bauernknechte ab, weil sie ganz instinktiv ihre Fürsorge den Tieren und den Pflanzen widmen, hatte er gesagt. Sie gehören nicht in Hospitäler, wo sie am Ende wirklich verrückt werden. Seit je haben Bauern sie als Knechte auf ihrem Hof beschäftigt, hatte er noch hinzugesetzt, und einige Gläser Pflümli hatten geholfen, die Angelegenheit rasch zu besiegeln.

Ich war also gerade in eine Geschichte mit dem Detektiv Jeff Jordan vertieft, als ich mich umdrehte und plötzlich Rudy vor mir stand. Er hatte die Hände vor dem Bauch aneinandergelegt und schaute konzentriert darauf hinunter. So stand er oft da und betrachtete, manchmal lange, diese Hände, die in der Lage waren, die kleinsten Gegenstände zu ergreifen und zu bewegen und noch eine ganze Palette anderer Tätigkeiten zu verrichten, betrachtete sie, als ob sie eigentlich gar nicht richtig zu seinem ansonsten eher ungelenken und schwerfälligen Körper gehörten. Als er merkte, dass ich ihn ansah, kam er näher und zeigte mir den Vogel.

«Das ist eine weiße Taube», sagte er.

Ich legte mein Buch zur Seite. «Eher eine Zuchttaube. Eine kleine Zuchttaube.»

«Zuchttaube?»

«Ja. Eine Zuchttaube.»

Rudy hatte das Wort noch nie gehört. Er lächelte vor lauter Glück, auf etwas so Außergewöhnliches gestoßen zu sein. Er kannte vor allem den regelmäßigen Umgang mit unseren braunen Leghorn-Hennen, für die er zuständig war und um deren Wohlergehen er sich mit einem unerschöpflichen Einfallsreichtum kümmerte. Dass er nun in der hohlen Hand einen Vogel hielt, der, wenn man es genau bedachte, gar nicht so viel anders war als die, die seinen Hühnerstall bevölkerten, beunruhigte ihn. Das kleine Köpfchen des Vogels hatte eine unglaubliche Beweglichkeit, es drehte sich um zweihundertsiebzig Grad, und darin saßen große, vorspringende Augen, fast wie die Knopfaugen eines Plüschtiers. Unser auf alle vier Himmelsrichtungen seines Blickfelds projiziertes Abbild musste seine Panik noch verstärken. Wir schwiegen eine Weile.

Rudy fixierte die Flügel des Vogels mit beiden Daumen. «Sein Herz klopft ganz schnell.»

«Das ist kein Vogel, der bei uns vorkommt, weißt du. Es ist kein Wildvogel», sagte ich.

«Es ist kein Wildvogel.»

Zu wiederholen, was er gerade gehört hatte, war ein Anzeichen von Stress bei ihm, ein Versuch, sich mit einer neuen Information vertraut zu machen und sich Zeit zum Überlegen zu verschaffen. Aber meistens klangen die Wörter für ihn doch nur leer, und am Ende war er genauso ratlos wie vorher.

«Manchmal lässt man bei Hochzeiten weiße Tauben fliegen. Man steckt sie in eine Schachtel, nimmt den Deckel ab, und sie fliegen alle auf einmal davon.»

«… alle auf einmal davon.»

«Das bringt Glück. Oder vielleicht ist diese Taube einem Zauberer davongeflogen, als sein Zaubertrick danebenging …»

«Ein Zauberer. Genau … ein Zauberer», murmelte er.

Rudy schaute die Taube an, als ob die Tatsache, dass sie mit einem Zauberkünstler in Berührung gekommen war, ihm selbst magische Fähigkeiten verlieh. Er öffnete die Hände ein wenig, dann streckte er schnell die Arme aus, um die Taube in die Luft zu werfen. Eigentlich hätte sie sich mit einem seidig rauschenden Flügelschlag in den Himmel hinaufschwingen und mit der gleißenden Masse über unseren Köpfen verschmelzen sollen. Sie breitete auch ganz korrekt ihre Flügel aus, bewegte sie korrekt auf und ab, gewann jedoch keine Höhe. Nach ein paar Zuckungen, die ihr kaum Auftrieb brachten, stürzte sie wie ein Stein in das gelbe Gras.

«Nicht, Rudy! Du tust ihr weh!»

Ich hob sie auf, und als ich sie streichelte, spürte ich die entfesselte Mechanik ihres Herzens unter meinen Fingern, ihren zitternden Körper, der vollkommen von diesem Organ in Beschlag genommen war, das pumpte und pumpte und pumpte. Wie schlimm musste das für einen Vogel sein, aus unerfindlichem Grund nicht mehr wie gewohnt fliegen zu können. Wie hätte er verstehen sollen, dass er mit gestutzten Schwanzfedern höchstens einen kläglichen Tiefflug zustande bringen würde? Sein entblößter Bürzel wirkte ein wenig obszön, wie er so herabhing, rosarot mit winzigen Löchlein auf der Haut.

«Kein Wunder! Schau, Rudy», sagte ich und zeigte ihm die Taube von hinten, «den hat wohl eine Katze erwischt.»

«… hat wohl eine Katze erwischt!», wiederholte Rudy mit besorgter Miene. Vor lauter Konzentration berührten sich seine Augenbrauen in der Mitte der Stirn.

Rasch, aber offenbar ohne greifbares Ergebnis, ging er im Geist die Liste der in Frage kommenden Übeltäter aus der Nachbarschaft durch, um den mutmaßlich Schuldigen zu ermitteln.

Die Taube beruhigte sich langsam in meiner Hand. Sie war offenbar zahm. Als sie sich auf die Füße stellte, zog ich die Hand mit einer schnellen Bewegung nach unten weg und fing die Taube in der anderen Hand auf. Dieses Manöver wiederholte ich ein paarmal. Sie war geschickt. Bestimmt war sie es gewohnt, durch ein Rohr aus einem winzigen Käfig in einen großen Hut zu klettern und dann im passenden Moment unter dem Applaus des Publikums auf dem Finger des Zauberers zu erscheinen.

Ich ließ sie auf meine Schulter klettern, und es schien ihr dort oben zu gefallen.

«Ich werde sie behalten.»

Rudy stimmte zu, indem er seine stets etwas zu feuchten Lippen schürzte. Ich kannte diese Grimasse von ihm, sie bedeutete in etwa: «Na gut, das wäre geregelt. Machen wir was anderes.» Er drehte sich einfach um und ging energischen Schritts, mit vorgeneigtem Oberkörper, zum Stall. Die Sache mit dem Vogel war für ihn erledigt. Doch da wurde seine Aufmerksamkeit von der lautstarken Ankunft einer Frau mit einem großen Koffer in der Hand erregt, die eben auf dem Hof erschien.

Sheriff war von seinem Platz unter der großen Ulme aufgesprungen, hatte den Schwanz eingerollt und am Hinterteil angelegt und rannte bellend vor uns her, wie er es immer tat, wenn ein lebendes Wesen einen bestimmten Umkreis betrat, dessen präzis festgelegtes Ausmaß nur er selbst kannte. Er hieß Sheriff, weil es seine Aufgabe war, den Hof und seine Bewohner vor Eindringlingen zu beschützen, eine Rolle, die er perfekt ausfüllte, wenn wir in der Nähe waren, um ihm bei seiner Arbeit zuzusehen. Wenn wir allerdings nicht da waren, um sein Können zu bewundern, rührte er sich nicht vom Fleck, und jeder Fremde konnte ungestört auf unserem Hof ein und aus gehen. Trotzdem hatten wir, um seinen Status offiziell zu besiegeln, an seinem Halsband einen Sheriffstern mit fünf Zacken und je einer kleinen Kugel an der Spitze angebracht. Er war ein Appenzeller Sennenhund, wobei das Schwarz und Braun in seinem Fell zunehmend vom Weiß verdrängt wurde, so dass er sein Hundeleben wohl mit einem farblosen, monochromen Pelz beschließen würde.

Die Frau war offenbar den reservierten Empfang nicht gewöhnt, der Fremde auf einem Bauernhof erwartet, denn sie blieb stehen, die Arme an den Körper gepresst. Als Rudy näher kam, hörte Sheriff mit seinem Theater auf, ließ sich zur Belohnung, oder wohl eher zum Zeichen, dass er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, von Rudy mit einer groben Geste den Kopf tätscheln und trottete, nunmehr all seiner Verpflichtungen enthoben, zu seinem Schattenplätzchen zurück.

«Bon … Bonjour! Ich hätte gern die Bäuerin gesprochen. Ich bin …»

Die junge Frau hatte, wie ich von meinem diskreten Beobachtungsposten aus bemerkte, mittlerweile begriffen, dass sie es mit einem geistig Zurückgebliebenen zu tun hatte. Wobei Rudy sie allerdings auch mit einer absolut ungenierten Direktheit anstarrte, während ihm der Speichel auf der Unterlippe stand. Sie lächelte und setzte erneut an, diesmal in sanfterem Tonfall und langsamer, indem sie jede einzelne Silbe getrennt aussprach, als würde sie einem kleinen Kind eine Lektion im Rechtschreiben erteilen.

«Ich heiße Su-zy. Ist die Frau Bäu-erin zu Hause? Ich würde gern mit ihr spre-chen.»

Ohne den Blick von ihr zu wenden, nahm Rudy seine Kappe ab, strich sich sorgfältig die vom Schweiß verklebten Haare zur Seite und verbeugte sich.

«Ich …», stammelte die Frau mit wachsendem Unbehagen.

«Ich heiße Rudy.»

«Ah, schön. Schön. Ich heiße Su-zy.»

«Guten Tag, Suzy.»

«Guten Tag, Ru-dy.»

In der Hoffnung, irgendwo eine vernünftige Menschenseele zu entdecken, spähte die Frau nach rechts und links, jedoch ohne mich zu sehen. Die üblichen Höflichkeiten waren also ausgetauscht. Sie lächelte, wagte jedoch nicht, sich zu rühren. Rudy interpretierte diese Reglosigkeit als das Ergebnis seines unwiderstehlichen Charmes, und nur ein Zauberspruch hätte diesen Bann brechen können.

Für ihn war jede Frau, die ihm zufällig über den Weg lief, egal ob jung oder alt, schön oder hässlich, diejenige, die ihm seit langem bestimmt war und die nur durch eine unglückliche Verkettung von Umständen bis zu diesem Augenblick von ihm ferngehalten worden war. Er erzählte mir oft von seiner Hochzeit, und dabei waren seine Augen immer feucht vor Seligkeit. Um ihn zu besänftigen, sagten wir ihm immer, dass er sich gedulden müsse, dass es irgendwann bestimmt so weit sein und es eines Tages eine Frau Rudy geben werde. In der Zwischenzeit machte er allen Frauen im Dorf den Hof, und sie grüßten ihn auch immer ganz freundlich, wenn sie ihm begegneten, erkundigten sich höflich nach seinem Befinden oder wie es mit der Arbeit gehe. Diese zuckersüßen Liebenswürdigkeiten bestärkten ihn natürlich nur in dem Glauben an seine Chancen beim anderen Geschlecht.

Er streckte den Arm aus und ergriff ihre freie Hand. Die Frau erstarrte angesichts der plumpen Vertraulichkeit.

«Ich heiße Rudy.»

«Das … das ist prima! Al-so, Ru-dy! Ich muss jetzt ge-hen.»

Er trat näher zu ihr, um einen engeren Körperkontakt herzustellen. Die junge Frau wich instinktiv zurück und wäre vermutlich Hals über Kopf davongerannt, hätte Rudy nicht stur ihre Hand festgehalten.

«Rudy! Lass die Frau los!», ertönte Mamas Stimme von der Haustür her. «Entschuldigen Sie bitte. Aber er tut niemandem was. Er ist ein guter Junge.» Zu Rudy sagte sie: «Sei lieb und lass die Frau los!»

Er gehorchte sofort, ließ seine Beute jedoch nicht aus den Augen.

«Er muss die Leute immer anfassen, das ist so seine Art.»

«Ja. Sicher.»

«Bitte entschuldigen Sie.»

«Ich reise von Dorf zu Dorf. Ich verkaufe Plastikbehälter, die man luftdicht verschließen kann. Zum Aufbewahren von Lebensmitteln. In allen Größen. Das ist ganz neu, es kommt aus Amerika. Möchten Sie vielleicht …»

«Kommen Sie herein, da haben wir unsere Ruhe. Und kühler ist es da auch.»

«Danke.»

«Bitte, nach Ihnen.»

Mama flüsterte Rudy etwas ins Ohr, woraufhin er sich seine Kappe sorgfältig wieder auf den Kopf setzte. Er sah ihnen nach, wie sie ins Haus gingen, und schien damit einverstanden. Ich wusste, was Mama ihm zum hundertsten Mal gesagt hatte: dass er geduldig sein müsse, dass er eines Tages seine Seelenverwandte finden werde; aber damit das geschehe, müsse er sich artig benehmen und zu den Frauen Abstand halten.

In der Nacht ging ich ins Freie, um der drückenden Hitze in meinem Zimmer zu entkommen. Für meine Taube hatte ich eine improvisierte Sitzstange aufgetrieben, einen alten Kleiderständer aus Holz, den ich im Schuppen gefunden hatte. Sie fühlte sich sofort zu Hause darauf und hüpfte von einem der sechs geschwungenen Haken zum nächsten. Da ihr kleines Gehirn nur eine winzige Menge an Informationen aufnehmen konnte, funktionierte sie effizient, genau wie all die anderen einfachen Mechanismen in der Natur.

Die aufgestaute Hitze des Tages stieg jetzt ungehindert zum Himmel hinauf. Ein warmer, von glühenden Partikeln durchsetzter Wind wehte von den Bergen herab wie der Atem eines großen, im Schatten verborgenen Tiers. Die Sterne, weit draußen im All, boten keinerlei Zuflucht. Sie sahen aus wie winzige Feuer.

Ein Fensterflügel im Erdgeschoss klapperte. Die Taube vollführte auf meiner Schulter eine plötzliche Drehung um die eigene Achse und reckte dabei den Kopf in alle Richtungen: wohl so eine Art Balztanz. Ich klatschte einmal in die Hände, und sie wiederholte das Manöver begeistert, als wäre sie von einem unsichtbaren, vielstimmigen Beifall angestachelt. Ich klatschte noch einmal, dann noch mal und noch mal, und ihre unweigerlich folgenden Drehungen erzeugten ein Geräusch wie von einem Räderwerk.

Bestimmt machte sie das nicht mir zuliebe. Vielleicht hielt sie mich für ihren früheren Meister, den Zauberer, aus dem nun ein Verwandlungskünstler geworden war? Aber dass sie auf diese ganzen Zirkuskunststücke dressiert worden war, gefiel mir.

«Wer ist da? Ist da jemand?»

Es war Mamas Stimme. Ich wich zwei Schritte zurück, um mich im Schatten des Vordachs zu verbergen. Sie beugte sich aus dem Fenster und warf einen raschen Blick auf den Hof. Von meinem Standpunkt aus konnte ich das erleuchtete Viereck und etwas vom Schlafzimmer meiner Eltern sehen. Mama machte sich bettfertig, Papa schlief wohl schon.

Meine Taube hatte sich wieder beruhigt. Sie hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, ihre Lider senkten sich in regelmäßigen Abständen schwer über die aus dem Schädel hervortretenden Augen. Ihr weißes Gefieder schimmerte unwirklich hell im Mondlicht.

Mama stellte sich vor den Spiegel. Sie hob die Arme, öffnete langsam ihr Haar und breitete es mit weichen, weiten Bewegungen aus, um ihm sein Eigenleben wiederzugeben. Den Kopf zur Seite geneigt, bürstete sie es mit Sorgfalt. Dann verharrte sie eine Weile, eingerahmt vom Fenster und genau unter der Lampe, die ihren Nacken, ihre nackten Schultern und die dunklen Achselhöhlen in orangegelbes Licht tauchte, und betrachtete sich, als wolle sie ihre Nachtseite besser kennenlernen, die so verschieden war von der ihrer Alltagspflichten. Seit Jahren hatte ich sie nicht mehr so entblößt gesehen. Selbst wenn ich krank war und sie mir mitten in der Nacht eine Medizin ans Bett brachte, zog sie sich eins der Kleider über, in denen ich sie tagsüber sah.

Mama verschwand. Das Licht blieb noch eine ganze Weile an. Ich schluckte meinen Speichel hinunter. Vom Schlaf übermannt, sank die Taube auf meiner Schulter merklich in sich zusammen.

Ich konnte meinen Blick nicht von dem dunklen, leeren, wie auf der Hausfassade verwaisten Fenster losreißen und stellte mir mit einer unerklärlichen Eifersucht vor, wie Mama sich neben dem kräftigen, wohlgenährten Körper von Papa unter die Decke kuschelte.

II

Bei uns gab es zwei Morgen. Der erste gehörte den Katzen, die ihre Streifzüge begannen, und Papa, der als Erster aufstand und herunterkam, um sich an die Arbeit zu machen. Im Kuhstall, im Schweinstall oder im Schuppen traf er Rudy. Dieser erste Morgen kündigte sich mit knarrenden Dielen oder dem Quietschen einer Tür im Haus an und im Winter mit dem fahlen, weißen Licht der Lampen in den Nebengebäuden. Mama stand etwas später auf, um die erste Mahlzeit des Tages zuzubereiten, und leitete damit eine zweite Phase des Aufstehens ein. Jetzt gesellte ich mich zu ihr in die Küche. Dann kam Papa herein, dicht gefolgt von Rudy, der sich eilig ans Tischende setzte, ein klein wenig abseits. Die beiden brachten einen Schwall Stallluft mit herein, der sich mit dem Duft des Kaffees vermischte; in meiner Erinnerung etwas Beständiges, das uns alle milde stimmte. Léa kam immer als Letzte: weil sie mit dem Moped zur Schule fuhr, weil sie öfter verschlief und das Frühstück ausfallen ließ, weil sie immer irgendeinen Grund fand, möglichst wenig am Familienleben teilzunehmen.

Das Frühstück war immer genau gleich: reichlich, um für die ersten Anstrengungen des Tages zu entschädigen, bestehend aus Rösti und dünnem Kaffee mit Milch. Rudy schnitt seine Rösti immer in Streifen, bevor er sie in die Flüssigkeit tunkte und sie sich, das Kinn dicht über der Kaffeeschale, in den Mund schob. Diese kulinarische Tradition war ein Überbleibsel unserer Berner Vorfahren, eingeführt von unserem Urahn, der schon mit den ersten Güterzusammenlegungen jenseits des Röstigrabens von seinem Grund und Boden vertrieben worden war und den Hof zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gekauft hatte. Seit jenem Gründungsakt hatten sich drei Generationen das Französische mit dem Akzent des hiesigen Landstrichs angeeignet, allerdings ohne das hier gebräuchliche Frühstück aus großen, mit Butter und Marmelade beschmierten Brotscheiben zu übernehmen.

Als ich die Küche betrat, warf Mama mir vom Herd aus einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. Sie wusste, dass ich es war, immer zur selben Uhrzeit; sie erkannte mich an meinem Schritt, aber ich freute mich trotzdem über diesen kurzen Blick, der den Kontakt zwischen uns herstellte und mir erlaubte, ihr ein «Guten Morgen, Mama» zuzurufen, das sie erwiderte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

An diesem Morgen stellte Mama die Pfanne ab, in der die Rösti brutzelte, wischte sich die Hände sorgfältig an einem Geschirrtuch ab und kam zu mir. «Du hast eine Taube!»

«Ja!»

Sie streckte die Hand aus, um ihr über den Bauch zu streichen. «Woher hast du sie?»

«Rudy hat sie gefunden …»

«Ah! Und hast du ihr schon einen Namen gegeben?», fragte sie mich und schniefte, während sie ohne Unterlass den runden, flaumigen Rücken des Vogels streichelte.

Die Taube fing an zu gurren, ein feines, aber tiefes Gurren, von dem ihr Gefieder vibrierte.

«Du musst ihr einen Namen geben.»

«Hm … vielleicht nicht.»

«Anscheinend ist sie verletzt.»

«Eine Katze.»

«Willst du sie behalten?»

«Ja.»

Mama zog ein winzig klein zusammengeknülltes Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schneuzte sich so gewissenhaft und behutsam, als bliese sie in ein avantgardistisches Musikinstrument, in der Hoffnung, wohlklingende Töne daraus hervorzubringen. Ihre Nase war immer leicht gerötet, weil sie ständig lief und von dem vielen Schneuzen. Jetzt, in der Sommerhitze, wo noch ein Vielfaches mehr an Partikeln in der Luft schwebte und ihre Bronchien verklebte, ging ihr Atem pfeifend. Man hatte den Eindruck, dass die Luft nur widerwillig ein- und ausströmte. Jedenfalls konnten ihre Lungenflügel wohl kaum genügend Platz in ihrem schmalen Brustkorb finden. Sie ging zu den brutzelnden Kartoffeln zurück. So unglaublich zierlich, wie sie wirkte, in ihrem dünnen blauen, mit helleren blauen Blumen bedruckten Kleid, schien es, als ob sie sich in eine Welt von Riesen verirrt hätte. Alles um sie herum wirkte überdimensioniert: der Herd, die steinerne Spüle mit den perfekten Armaturen, die Töpfe aus Steingut, die auf dem Bord aufgereiht standen, die Deckenbalken, der große Holztisch, an dem ich saß, kurz, der ganze Raum mit seinen massiven Mauern. Wenn sie sich ein wenig nach vorn beugte, trat in ihrem gespannten Nacken, direkt am Ansatz ihrer fein säuberlich zu einem Knoten hochgesteckten schwarzen Haare, die Perlenschnur ihrer Wirbel hervor. Die Vorstellung, dass ich, bevor ich das Licht der Welt erblickte, mehrere Monate in ihrem Bauch verbracht haben sollte, dass ich aus so einem zierlichen Wesen hervorgekommen sein sollte, war mir schon immer schleierhaft gewesen. Mama wirkte wie ein zartes kleines Mädchen.