Das Flüstern der Seide - Penny Jordan - E-Book

Das Flüstern der Seide E-Book

Penny Jordan

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Beschreibung

Eine fesselnde Familiengeschichte im England der Neunzigerjahre

London 1991. Jahrzehntelang konnte die Seidendynastie Denby Silk einen Erfolg nach dem anderen in der Firmengeschichte vorweisen. Nun zieht sich die Inhaberin Amber mit ihrem zweiten Mann Jay ins Privatleben zurück, um sich ganz der Familie zu widmen – einer Familie voller Geheimnisse: Der attraktive Robert wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Die naive Kate lernt die dunklen Seiten der Liebe kennen. Und Cassandra hat noch eine Rechnung offen. Liebe, Missgunst und heimliche Leidenschaft: Ambers 80. Geburtstag wird für einige Familienmitglieder zum Wendepunkt ihres Lebens ...

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Seitenzahl: 546

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Buch

London 1991. Über Jahrzehnte hinweg konnte die Seidendynastie Denby Silk ein erfolgreiches Jahr nach dem anderen in der Unternehmensgeschichte vorweisen. Nun zieht sich die Inhaberin Amber gemeinsam mit ihrem zweiten Mann Jay aus dem Tagesgeschäft zurück, um sich voll und ganz der großen Familie zu widmen – einer Familie voller Geheimnisse: Der attraktive Robert wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Die naive Katie lernt die dunkle Seite der Liebe kennen, und sie muss mit Schuldgefühlen kämpfen, nachdem sich ihre beste Freundin das Leben genommen hat. Und Cassandra, gezeichnet von Krankheit und Verbitterung, hat noch eine Rechnung offen. Liebe, Missgunst und heimliche Leidenschaft: Ambers 80. Geburtstag wird für einige Familienmitglieder zum Wendepunkt ihres Lebens – denn irgendwann kommt jede Wahrheit ans Licht …

Autorin

Penny Jordan war eine der bekanntesten und erfolgreichsten Autorinnen von Frauenromanen in Großbritannien und hat weltweit bisher über 80 Millionen Bücher verkauft. »Das Flüstern der Seide« ist nach »Der Glanz der Seide« und »Ein Hauch von Seide« der dritte Teil einer Serie um eine große Seidendynastie aus Cheshire, wo die Autorin selbst lebte.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 EpilogCopyright

Ich möchte folgenden Personen für ihre unschätzbare Hilfe danken:

Meiner Agentin Teresa Chris.

Maxine Hitchcock und Kate Bradley, die beide als Lektorinnen dieses Bucht betreut haben.

Yvonne Holland, die den Text redigiert hat, für ihr scharfes Auge und ihr immenses Wissen.

Allen bei Avon, die zur Veröffentlichung dieses Buches beigetragen haben.

Und schließlich meinem Geschäftspartner Tony, der einen Großteil der Recherchen zu diesem Buch übernommen hat.

Auf Seide –den magischsten aller Stoffe, der mich immer wieder von Neuem verzaubert.

1

Weihnachten 1991

»Jetzt kann’s nicht mehr lange dauern. Bald sind alle hier«, sagte Amber.

Jay schenkte seiner Frau ein teilnehmendes Lächeln; er verstand ihre Aufregung.

Sie waren im Salon in Denham, dem eleganten palladianischen Herrenhaus, das Amber von ihrer Großmutter geerbt hatte. Die tiefstehende Dezembersonne warf blasse Lichtstreifen durch das Fenster, die in den in Hellblau und Gelb gehaltenen Raum fielen, wo Jay und Amber auf ihre Familie warteten.

Amber mochte gerade ihren neunundsiebzigsten Geburtstag gefeiert haben, doch das tat ihrer kindlichen Vorfreude auf den Zauber der Weihnacht keinen Abbruch.

Diese kindliche Begeisterung, die sie nie verloren hatte, und ihre große Lebenserfahrung hatten sie zur treibenden Kraft hinter dem Erfolg von Denby Silk, der Seidenfabrik in Macclesfield, gemacht, die sie ebenfalls von ihrer Großmutter Blanche Pickford geerbt hatte, denn sie waren der Antriebsmotor für ihre innovativen Verfahren und Entwürfe. Amber hatte in der Walton Street in London ihre eigene Firma für Innenausstattung gegründet und sie nicht nur während des Krieges am Laufen gehalten, sondern sogar in den wirtschaftlich noch schwierigeren Nachkriegsjahren. Schließlich hatte sie die Geschäftsführung der Firma an die jüngeren Familienmitglieder übergeben, damit diese ihren Erfolg weiterführten und ausbauten. Amber hatte nicht nur die Kraft besessen, den Tod ihres ersten Mannes, Robert, Herzog von Lenchester, und ihres Sohnes Luc zu überwinden und ihre eigene Familie hier in Denham zu unterstützen und zu beschützen, sondern auch Jays Töchter, die ihre Mutter früh verloren hatten. Dann hatte sie dem Leben die glücklichste Wendung gegeben, indem sie Jays Heiratsantrag angenommen und ihm noch zwei Kinder geschenkt hatte, ihre Zwillinge Polly und Cathy. Und jetzt kam ihre ausgedehnte Familie nach Hause nach Denham, um Weihnachten zu feiern.

Einer Tradition folgend, die für sie beide fast genauso altehrwürdig war wie Weihnachten selbst, fragte Jay sie freundlich: »Und wer genau kommt?«

»Alle«, versicherte Amber ihm lächelnd.

Sie zählte die Namen an den Fingern ab und listete sie für ihn auf. Mit den Ältesten fing sie an, Jays beiden Töchtern aus erster Ehe.

»Ella und Oliver fliegen aus New York ein. Sie bringen Sam mit, aber Olivia muss noch einen Artikel für eine Zeitschrift fertigschreiben, für die sie als Freie arbeitet, und nimmt deswegen einen späteren Flug.

Janey will am späten Vormittag vorbeikommen und die Gefriertruhe auffüllen. Sie und John und die Jungen werden natürlich den ersten Weihnachtstag mit uns verbringen. Zum Glück können die Jungen beide nach Hause kommen.«

Janey, Jays jüngere Tochter, und ihr Mann John, Lord Fitton Legh, lebten nur einige Meilen entfernt in Cheshire in Fitton Hall. Harry, ihr ältester Sohn, hatte das Royal Agricultural College in Cirencester abgeschlossen und arbeitete seither als Gutsverwalter bei einem wohlhabenden Grundbesitzer in Norfolk, während sein jüngerer Bruder David der Fitton-Familientradition gefolgt war und in Sandhurst eine Ausbildung zum Armeeoffizier machte.

»Emerald hat gestern angerufen, um Bescheid zu sagen, dass sie und Drogo an Heiligabend hier sind«, fuhr Amber fort, »und dass Katie direkt aus Oxford herkommt.« Sie unterbrach sich und gestand dann wehmütig: »Ich weiß, dass Emerald meine Tochter ist, Jay, aber manchmal wünschte ich mir, sie wäre nicht ganz so … so … privilegiert und so ein … also, so ein Snob. Es ist gewiss nicht Drogos Schuld, auch wenn er ein Herzog ist.«

Drogo, Emeralds Mann, hatte den Titel des Herzogs von Lenchester von Ambers erstem Mann, Robert, geerbt. Als Emerald als junge Frau erfahren hatte, dass ihr leiblicher Vater nicht, wie sie immer angenommen hatte, Lord Robert gewesen war, sondern ein französischer Künstler namens Jean-Philippe du Breveonet, hatte das zu einer tiefen Kluft zwischen ihr und ihrer Mutter geführt. Diese Kluft war zwar inzwischen überwunden, doch Emerald hatte darauf bestanden, dass die Tatsache, dass Robert nicht ihr leiblicher Vater war, ein Geheimnis bleiben sollte, in das nur Amber, Jay, Emerald, Drogo sowie – leider – auch Emeralds Ex-Schwiegermutter, die Fürstin-Witwe von Lauranto, eingeweiht waren.

»Emma und James kommen mit Emerald und Drogo«, fuhr Amber mit ihrer Liste fort, das waren Emeralds und Drogos älteste Tochter und ihr jüngerer Sohn. »Ich bin so froh, dass James und Sam so gut miteinander auskommen. Vermutlich hilft es, dass sie ungefähr im selben Alter sind.«

»Was ist mit Robert?«, neckte Jay seine Frau. »Den hast du noch nicht erwähnt.«

Robert war Ambers ältester Enkel, Emeralds Sohn aus ihrer kurzen, heimlich geschlossenen Ehe mit Alessandro, dem Kronprinzen von Lauranto, eine Ehe, die aufgrund der Intrigen von Alessandros Mutter bald wieder aufgelöst worden war.

Robert, der jetzt Anfang dreißig war, lebte in London, wo er als Architekt sehr erfolgreich sein eigenes Büro führte.

»Robert kommt mit dem Auto.«

»Allein?«

Jay wusste, dass Amber sich große Sorgen machte, weil Robert noch Single war und in rascher Folge immer wieder neue Partnerinnen hatte, statt zur Ruhe zu kommen und eine Familie zu gründen.

»Ja, er kommt allein. Ich wünschte, er würde die richtige Frau finden, Jay. Das Leben war nicht immer so freundlich zu ihm, wie es hätte sein können. Abgesehen davon, dass sein Vater ihn nicht wollte, glaube ich, dass seine Kindheit und Jugend mit Emerald gewiss das ihre dazu beigetragen haben, auch wenn ich ihr das nie so offen sagen würde. Ich weiß, dass Olivia ihn anbetet, aber Robert zeigt nicht das geringste Interesse an ihr. Ach komm, sieh mich nicht so an«, sagte sie lachend. »Keine Angst, ich werde jetzt nicht zur kupplerischen Großmutter. Ich glaube zufällig nämlich nicht, dass Olivia und Robert zueinander passen würden. Robert braucht eine Frau, die es ihm schwer macht, sie zu erobern. Sosehr ich ihn auch liebe, muss ich doch zugeben, dass ihm manche Dinge zu leicht in den Schoß gefallen sind und dass ihn das ziemlich rücksichtslos und arrogant gemacht hat. Er ist ein sehr gut aussehender junger Mann mit unabhängigem Einkommen und guten Verbindungen, aber die Liebenswürdigkeit, die ihn als Kind ausgezeichnet hat, hat er verloren. Ich mache mir Sorgen, dass er, wenn er nicht allmählich auch mal ein wenig an andere denkt, nicht so glücklich wird, wie er sein könnte.«

»Er hatte es nicht leicht. Er liebt Drogo, und Drogo war ihm auch ein ausgezeichneter Stiefvater, aber als sein leiblicher Sohn wird Jamie Drogo eines Tages beerben, nicht Robert.«

»Glaubst du, das ist die Wurzel des Problems, Jay? Glaubst du, dass es Robert etwas ausmacht, dass Jamie in Drogos Fußstapfen treten wird und nicht er?«

Ihre Stimme klang so verängstigt, dass Jay augenblicklich bemüht war, sie zu beruhigen.

»Nein. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass das Problem auf der Situation mit seinem leiblichen Vater gründet. Sobald er alt genug war, um die Sache zu verstehen, wusste Robert, dass sein Vater oder, genauer gesagt, seine Großmutter väterlicherseits, sich weigerte, ihn anzuerkennen. Wie wir alle muss Robert erwartet haben, dass Alessandros zweiter Ehe ein Kind entspringt, das die Linie fortsetzt. Doch jetzt ist Alessandro ohne einen Erben gestorben, und plötzlich umwirbt Roberts Großmutter ihn mit der Aussicht, die Nachfolge seines verstorbenen Vaters anzutreten. Aus dem ungewollten, nichtswürdigen Kind ist quasi über Nacht der begehrte und gefragte zukünftige Kronprinz geworden. Angesichts dessen ist es vielleicht kein Wunder, dass Robert immer zynischer geworden ist.«

Amber seufzte. »Emerald ist da eisern. Sie will auf keinen Fall, dass Robert das Versöhnungsangebot von Alessandros Mutter annimmt – und erst recht nicht die Krone –, doch die Fürstin-Witwe ist eine sehr resolute Person, die es gewohnt ist, ihren Willen durchzusetzen. Sie hat Alessandro sein ganzes Leben lang beherrscht, sie war die eigentliche Macht hinter dem Thron. Emerald wollte Robert nie von seinem leiblichen Vater erzählen, und obwohl sie es nicht gesagt hat, war sie teils auch deshalb so sehr gegen den Besuch, den Robert kürzlich Lauranto abgestattet hat, um seine Großmutter kennenzulernen, weil sie Angst hat, die Fürstin-Witwe könnte Robert die Wahrheit erzählen. Ich hoffe, dass sie das nicht tut, Jay. Wenn, dann sollte es von Emerald kommen. Ich habe sie angefleht, es Robert zu sagen, solange er noch jung genug war, um es als Tatsache zu akzeptieren, und nicht denselben Fehler zu machen wie ich, indem ich ihr die Wahrheit vorenthalten habe, doch sie wollte nicht. Ich weiß, dass Leute, die ihn nicht gut kennen, glauben, Robert sei zu stolz und habe eine zu hohe Meinung von sich selbst, aber ich glaube, das ist nur eine Art Schild, mit dem er sich schützen will. Ich erinnere mich noch gut, wie er mich mal gefragt hat, ob es wahr sei, dass sein Vater seine Mutter verlassen habe, weil er ihn nicht wollte. Der arme kleine Junge. Irgendein Rüpel in der Schule hatte ihn damit aufgezogen, dass Emeralds und Alessandros Ehe annulliert worden war.«

Jay tätschelte Ambers Hand. Er wusste, dass Robert, ihr erstes Enkelkind, einen besonderen Platz in ihrem Herzen hatte.

»Was ist mit den anderen?«, fragte er. »Kommt Rose auch?«

Bei der Erwähnung der Tochter ihres verstorbenen Cousins Greg aus dessen Beziehung mit einer chinesischen Geliebten in Hongkong strahlte Amber übers ganze Gesicht. Sie hatte Rose vom ersten Augenblick an geliebt, als sie als winziges, sehr krankes, ungeliebtes Baby von Greg nach Denham gebracht worden war.

Rose war mit Jays Töchtern und Emerald in Denham aufgewachsen und lebte jetzt mit ihrem Mann Josh, der aus seinem Friseursalon ein millionenschweres Unternehmen aufgebaut hatte, in London. Rose und Josh hatten keine eigenen Kinder, doch Rose hatte Nick, den Sohn aus einer kurzen Affäre Joshs, bevor er und Rose sich kennengelernt hatten, ins Herz geschlossen.

»Rose und Josh kommen. Weihnachten ohne Rose wäre kein richtiges Weihnachten.«

»Dann fehlen nur noch Polly und Cathy«, sagte Jay, ihre Zwillinge.

»Cathy und Sim fahren mit den Mädchen mit dem Auto aus Cornwall her, und Polly und Rocco kommen mit ihren beiden Jungen per Flugzeug aus Venedig. Wir können uns so glücklich schätzen, Jay. Ich bin glücklich«, betonte Amber und streckte die Hand nach der seinen aus, »weil ich dich habe.«

Typisch, dass sie das sagt, dachte Jay.

»Nein, Amber, ich bin derjenige, der sich glücklich schätzt«, erwiderte er zärtlich.

Sie führten eine wunderbare, harmonische Ehe. Und das wohl umso mehr, vermutete Jay, weil sie beide, bevor sie einander geheiratet hatten, viel Verzweiflung und Schmerz erlebt hatten. Amber durch den Verrat ihrer ersten Liebe, Jean-Philippe, und dann durch den Unfall, der ihren Ehemann und ihren geliebten Sohn das Leben gekostet hatte, und Jay selbst durch die unglückliche Ehe mit seiner psychisch labilen ersten Frau.

Ich bin so gesegnet, dachte Amber ihrerseits voller Dankbarkeit, vor allem dafür, dass Jay den Herzinfarkt überlebt hatte. Damals hatte sie große Angst gehabt, er könnte sterben. Sie hatten erst so spät zueinander gefunden, dass sie selbst jetzt noch das Gefühl hatte, jede gemeinsame Minute sei ein kostbares Geschenk. Es schmerzte sie, dass nicht alle ihre Kinder und Enkelkinder im Leben so viel Glück gefunden hatten.

»Dann haben wir alle, nicht wahr?«, neckte Jay sie.

»Nicht ganz. Da wäre noch Cassandra«, erinnerte Amber ihn.

Sie sahen einander betreten an.

»Ich weiß, dass sie deine Cousine ist, Jay, und natürlich Johns Stiefmutter, aber ich kann mich bemühen, wie ich will, ich kann ihr die Vergangenheit und ihre Grausamkeit einfach nicht verzeihen.«

»Ich weiß.« Jay tätschelte sanft Ambers Arm. Ihre Haut mochte jetzt voller Altersflecken sein, doch für ihn war Amber immer noch das hübsche siebzehnjährige Mädchen, als seine Liebe zu ihr ein gut gehütetes Geheimnis gewesen war.

Cassandra! Jay empfand nicht mehr Sympathie für seine Cousine als Amber.

»Wie kann ein Mensch nur so werden, Jay?«, fragte Amber traurig. »Es ist, als würde Cassandra es genießen, grausam und gemein zu sein. Ich weiß, dass es falsch war, dass Greg sich in Caroline verliebt hat, aber niemand hätte erfahren müssen, dass sie eine Affäre hatten. Doch Cassandra musste Carolines Mann von der heimlichen Liebschaft erzählen.«

»Ja, ich fürchte, ich bringe es auch nicht über mich, ihr zu verzeihen, wie viel Schaden sie angerichtet hat«, pflichtete Jay seiner Frau ernst bei.

Amber schauderte leicht. Trotz des warmen Feuers, das in dem eleganten offenen Kamin aus Carraramarmor brannte, schien es plötzlich kühl zu werden, als wehte der kalte Atemhauch vergangener Tragödien unvermutet durch den Raum.

»Wir werden niemals wissen, ob der Tod der armen Caroline ein Unfall war und sie gestolpert und in den See gefallen ist oder ob sie sich das Leben genommen hat, weil Cassandra Lord Fitton Legh von ihrer Untreue erzählt hatte. Caroline und Greg haben einen schrecklich hohen Preis für ihre Affäre bezahlt: Greg wurde von unserer Großmutter enterbt und nach Hongkong geschickt, und Caroline sah sich mit Scheidung und Schande konfrontiert. Ich frage mich oft, ob Cassandra mehr Mitgefühl an den Tag gelegt hätte, wenn sie nicht selbst Gefühle für Caroline gehegt hätte. Sie war so leidenschaftlich in sie verliebt. Glaubst du, sie hat Lord Fitton Legh geheiratet, weil er Carolines Gemahl war?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Jay. Seine Cousine war ihm ein Rätsel – ein schwieriges, boshaftes Mädchen, das zu einer verbitterten, grausamen Frau herangewachsen war.

»Ich wünschte, sie hätte Lord Fitton Legh nicht geheiratet, Jay. Sie war dem armen John keine gute Stiefmutter, und auch heute ist sie sehr unfreundlich, obwohl er und Janey sich sehr um sie bemühen.«

»John fühlt sich moralisch verpflichtet, den testamentarischen Wünschen seines Vaters nachzukommen, nicht nur buchstabengetreu, sondern auch noch darüber hinaus, und sein Vater hat sich ausbedungen, dass John gut für Cassandra sorgt. Du weißt doch, wie viel John von seinem Vater gehalten hat.«

»Ja«, räumte Amber ein, »umso erschütternder, da er ein so kalter und distanzierter Vater für John war, obwohl natürlich …« Sie unterbrach sich und sah ihren Mann unsicher an.

»Obwohl es natürlich sein kann, dass John nicht sein leiblicher Sohn ist, meinst du?«, hakte Jay nach. Er sah ihre Miene und fügte leise hinzu: »Ja, ich weiß, dass dein Cousin Greg geglaubt hat, John sei von ihm …«

»Weil Caroline Fitton Legh es behauptet hat«, bemerkte Amber spitz, »aber es kann auch sein, dass sie es Greg nur erzählt hat, weil sie es glauben wollte.«

»Trotzdem hat Lord Fitton Legh John als seinen Sohn großgezogen.«

»Und John hat ihn angebetet. Ihn und Fitton. Fitton ist sein Leben. Janey beschwert sich schon, manchmal habe sie das Gefühl, Haus und Gut bedeuteten ihm mehr als sie und ihre Söhne. John kann seine Gefühle nicht besonders gut ausdrücken, und manchmal frage ich mich, ob die Ehe der beiden so glücklich ist, wie wir bei ihrer Heirat dachten. Ich glaube, es wäre Johns Ende, wenn er je den Verdacht hätte, dass Greg und nicht der verstorbene Lord Fitton Legh sein Vater war und dass er gar kein Anrecht auf den Titel und auf Fitton hat.«

»Haben wir dann alle?«, fragte Jay wehmütig.

»Ja«, antwortete Amber und schaute auf, als sie vor der Tür zum Salon das vertraute Rattern des Teewagens hörten. »Da kommt Mrs Leggit mit dem Tee«, erklärte sie überflüssigerweise und lächelte die Haushälterin an, als diese eintrat. »Wir haben gerade über Weihnachten gesprochen, Mrs Leggit. Es wäre doch schön, wenn wir Schnee bekämen.«

»Oben in Buxton haben sie schon welchen, habe ich gehört«, sagte die Haushälterin und fügte, als sie zur Tür ging, hinzu: »Allerdings liegen die auch um einiges höher als wir hier unten.«

»Weihnachten, die Familie und Schnee. Wäre das nicht perfekt?« Amber reichte Jay lächelnd seine Teetasse.

»Perfekt«, pflichtete er ihr bei.

2

Es schneite, und Olivia hasste Schnee in New York. Es war überhaupt kein richtiger Schnee – nicht wie in Aspen oder in der Schweiz. Der Schnee in New York sorgte dafür, dass die Fahrer der gelben Taxis noch schlechter gelaunt waren als normalerweise, und verwandelte sich auf den Bürgersteigen sofort in Matsch. Sie hoffte nur, dass der Schneefall nicht so heftig war, dass er den Flughafen JFK lahmlegte und ihr Flug nach Manchester gestrichen wurde. Nach Manchester, zu Robert.

Ihr schweres, kastanienbraunes, schulterlanges Haar schimmerte vor Gesundheit, als sie aus dem Empfangsbereich der Redaktion der Vanity Fair trat und auf den Aufzug wartete, der sie hinunter in die Lobby bringen sollte. Groß und schlank, die klassischen Züge und blauen Augen mit diskretem Make-up betont, strahlte Olivia eine Aura ruhigen Selbstvertrauens aus, die im Augenblick über die Aufregung, die sie innerlich empfand, hinwegtäuschte. Bald würde sie Robert sehen. Sie seufzte wehmütig. Wann würde sie endlich erwachsen werden und sich wie eine Fünfundzwanzigjährige benehmen und nicht wie ein naiver Teenager, der zum ersten Mal verknallt ist? Wahrscheinlich nie, wenn es um Robert ging, denn sie liebte ihn schon so lange, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihn nicht zu lieben, gestand sie sich ein, als sie aus dem Aufzug in die Lobby des Gebäudes trat, in dem Sir Newhouses Verlagsimperium aus Hochglanzzeitschriften residierte. Sie trug die neuen, butterweichen Lederstiefel, die sie bei Barneys gesehen und denen sie nicht hatte widerstehen können, auch wenn sie für die schneematschigen Gehwege ungefähr so geeignet waren wie hochhackige Sommersandalen. Der Saum ihres langen, cremefarbenen Kaschmirmantels würde bestimmt auch schmutzig werden, doch sie hatte das Gefühl gehabt, ihn anziehen zu müssen, hatte das Mekka der Mode, die Vogue, ihre Redaktionsräume doch ebenfalls in dem Gebäude. Sie war überzeugt gewesen, in der Lobby Christy Turlington, einem der so genannten Supermodels, über den Weg zu laufen, wenn sie sie durchquerte.

Wenigstens hatte sie jetzt ihren Artikel bei Vanity Fair abgegeben. Sie drückte die Daumen, dass er gut ankam, auch wenn sie wegen des Abgabetermins zu Hause bleiben musste und nicht schon am Morgen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder nach England hatte fliegen können.

Immerhin würde sie ihnen bald folgen, und dann war sie in Denham, bei ihren Großeltern, wo sie mit der ganzen Familie – und Robert – Weihnachten feiern wollte.

Sie war so in die Gedanken an ihren Cousin vertieft, dass sie beinahe mit einem Mann zusammenstieß, der zum Aufzug eilte, und als sie aufschaute und erkannte, wer es war, krampfte sich ihr Magen vor Entsetzen und Abneigung zusammen.

Tait Cabot Forbes, politischer Enthüllungsjournalist ohnegleichen, ohne Mitleid für seine Opfer, ohne alles, was einen Mensch zum Menschen machte. Tait war ein wandelndes, redendes, schreibendes Gesetzbuch, immer auf der Hatz nach jemandem, der ein Gesetz brach, damit er ihn gnadenlos an den Pranger stellen konnte. Er hatte in seinen Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen den guten Ruf so vieler Menschen gnadenlos in Fetzen gerissen, dass die halbe Welt ihn hassen musste. Olivia jedenfalls hasste ihn aus vollem Herzen.

Dabei hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie ihn bewundert und wegen seiner brillanten Entlarvung derer, die mit ihrer moralischen Schwäche der Menschheit schadeten, als eine Art Held betrachtet, doch das war gewesen, bevor ihre Eltern in sein Visier geraten waren.

Die Familie bedeutete Olivia sehr viel – ihre ganze Familie, aber besonders ihre Eltern und ihr Bruder, der jetzt im Teenageralter war. Olivia liebte ihre Eltern nicht nur, sie respektierte und bewunderte sie, und als der Journalist, der dafür bekannt war, dass er die, die ihm in die Schusslinie gerieten, zu Fall brachte, den Ruf ihrer Eltern quer durch sämtliche Zeitungen New Yorks besudelte, war das auch ein Angriff auf sie gewesen, den sie ihm niemals verzeihen würde.

»Na, na, wenn das nicht die verbissen liebevolle Tochter ist«, grüßte Tait sie. »Bin ich immer noch Volksfeind Nummer eins? Dann ist es wohl nicht ganz angebracht, zu Weihnachten Küsschen auszutauschen, oder?«, zog er Olivia auf, als sie versuchte, an ihm vorbeizukommen.

Sie hatte nicht vorgehabt, sich so weit zu erniedrigen, dass sie mit ihm sprach, doch seine Bemerkung war einfach zu viel für ihre Selbstbeherrschung.

»Ich würde lieber eine Ratte küssen«, fuhr sie zornig auf.

»Sehr schmeichelhaft. Soll mir recht sein«, erwiderte Tait und bedachte sie mit seinem, wie sie fand, Haifischlächeln – weiß polierte Zähne in einem vom Segeln vor Cape Cod gebräunten Gesicht.

Olivia musste widerstrebend zugeben, dass er gut aussah, falls man auf den typischen groß gewachsenen, vor Gesundheit strotzenden Ostküsten-Amerikaner stand. Dabei waren seine Haare und seine Augen so dunkel, dass er gut italienische Vorfahren haben konnte. Na, wäre das nicht was, ein großes Tier in Boston – einer aus den obersten Rängen der privilegierten weißen Mittelschicht – mit italienischem Immigrantenblut in den Adern?

Olivia wusste, dass ihre Kolleginnen ihre Feindschaft gegen ihn nicht teilten. Auf New Yorks Straßen erzählte man sich, Tait sei nicht nur der attraktivste Journalist, sondern auch der Beste im Bett.

»Dann verbringt die Familie Weihnachten also hier in New York?«

»Nein, auch wenn es Sie nichts angeht.«

Der Schnee, der auf seinen Kopf gefallen war, hatte sein dichtes Haar angeklatscht, und es hing ihm in feuchten Strähnen in die Stirn. Die helle Beleuchtung der Lobby betonte die Fältchen um seine Augen und seine dichten Augenbrauen. Mag ja sein, dass einige Frauen sich fast umbringen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber Tait Cabot Forbes ist der Typ Mann, der mich absolut kaltlässt, dachte Olivia. Ganz im Gegensatz zu Robert.

Robert.

Es war tröstlich, Taits Gesicht auszublenden, indem sie sich auf ihr inneres Bild ihres Cousins konzentrierte. Robert war für sie der perfekte Mann. Das vornehme Betragen, das er wohl als Junge im Haus seiner Großmutter und seines Stiefgroßvaters gelernt hatte, machte ihn in Olivias Augen zu etwas Einzigartigem: einem wahren Gentleman der alten Schule, der hohe moralische Ansprüche hatte und an so altmodische Tugenden wie Ehre und Loyalität glaubte.

Und Liebe? Olivia stieß einen leisen Seufzer aus. Sie wusste genau, dass Robert nicht mehr für sie empfand als freundliche Zuneigung zu seiner Stiefcousine, auch wenn er nett gewesen war, als sie als Teenager schmerzlich offensichtlich in ihn verknallt gewesen war. Die Tatsache, dass aus der Teenagerverliebtheit jetzt die sorgsam gehütete Liebe einer Frau geworden war, war allein ihre Angelegenheit und ihr Problem und eindeutig nichts, was sie öffentlich machen würde, um beschämt zu werden und Robert in Verlegenheit zu bringen.

»Tait.« Eine Frau, die, ihrer Stimme nach zu urteilen, ganz verzückt war, den Journalisten zu erspähen, gab Olivia die Gelegenheit zu entkommen. Eine sehr willkommene Gelegenheit, dachte sie dankbar, als sie sich an Tait vorbeischob und auf die Straße trat. Dort wandte sie sich, ohne es eigentlich vorgehabt zu haben, noch einmal um und sah, dass Tait mit der hübschen Blondine, die seinen Namen gerufen hatte, die weihnachtlichen Küsschen austauschte, die sie ihm verweigert hatte.

Weihnachtliche Küsschen. Sie war Mitte zwanzig, und das letzte Mal, als sie etwas gehabt hatte, was man auch nur annähernd als Beziehung bezeichnen konnte, war im ersten Jahr am College gewesen. Doch sie hatte ihre Arbeit, erinnerte sie sich, und ihren Ehrgeiz und natürlich ihre wunderbaren Eltern.

In London, in Lenchester House, dem Londoner Domizil des Herzogs von Lenchester, unterhielt sich das Objekt von Olivias Liebe mit seinem Stiefvater in der Bibliothek.

Drogo und Robert saßen einander auf beiden Seiten des Marmorkamins in Lehnstühlen gegenüber, die der dritte Herzog bei Hepplewhite in Auftrag gegeben hatte. An den Fenstern hingen schwere Seidenvorhänge in einem satten Bernsteinton, die in Denby Mill, der Heimat des Seidenimperiums der Familie von Drogos Frau, eigens für diesen Raum angefertigt worden waren. Der satte Bernsteinton bewirkte, dass die Bibliothek stets von einem warmen, goldenen Glühen erfüllt war, als würden Sonnenstrahlen durch die Fenster fallen, egal zu welcher Jahreszeit.

Die Lehnstühle waren dazu passend mit einem bernstein- und cremefarben gemusterten Samt bezogen. Der vorherige Herzog, Lord Robert, hatte die Farbpalette zu Ehren seiner jungen Gemahlin, Amber, ausgewählt. Der Savonnerie-Teppich auf dem Parkettboden war in der Zeit von Napoleon Bonaparte geknüpft worden, und seine tiefgoldenen und blauen Muster auf beigefarbenem Untergrund ergänzten die Vorhang- und Möbelstoffe perfekt. Drogo verstand sehr gut, warum Lord Robert diese Farbpalette gewählt hatte und nicht das traditionellere Dunkelrot, das in solch maskulinen Räumen oft vorherrschte.

»Wie fühlst du dich bei dem Gedanken, offiziell die Nachfolge deines verstorbenen leiblichen Vaters anzutreten, nachdem du jetzt in Lauranto warst und die Gelegenheit hattest, dich mit deiner Großmutter und ihren Beratern zu besprechen?«, fragte Drogo seinen Stiefsohn.

Wie er sich dabei fühlte? Robert hatte den Verdacht, wenn er seinem Stiefvater eine ehrliche Antwort auf seine Frage gab, würde Drogo ihn nicht nur nicht verstehen, sondern sich auch Sorgen um ihn machen. Für Außenstehende mochte ihre Situation eine ähnliche sein: Drogo hatte ein Erbe und einen Titel angetreten, auf die er von sich aus nie Anspruch erhoben hätte, und das noch in einer ihm fremden Kultur und in einem fremden Land. Doch da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Drogo war nicht in dem Wissen aufgewachsen, abgelehnt worden zu sein, weil er als Erbe nicht gut genug war. Er war wegen dieser öffentlichen Ablehnung in seiner Kindheit nicht – wie Robert – gehänselt und verspottet worden. Er hatte nicht aufwachsen müssen in dem Wissen, dass sein Vater ihn nicht wollte. Wie konnte man also erwarten, dass Drogo die primitive, instinktive Befriedigung verstand, die es Robert verschaffte, wenn seine Großmutter sich um ihn bemühte, damit er die Nachfolge seines verstorbenen Vaters antrat, selbst wenn das nur geschah, weil sie keine andere Wahl hatte, weil es keinen anderen Erben gab? Wie konnte er erwarten, dass Drogo verstand, wie sehr er haben wollte, was man ihm anbot, auch wenn es ihm selbst nicht bewusst gewesen war, ehe man ihm den ersten Brief geschickt hatte und zum ersten Mal an ihn herangetreten war? Es war sein Geburtsrecht, und er hatte das Gefühl, eine höhere Autorität als sein Vater und seine Großmutter väterlicherseits habe ein Unrecht wiedergutgemacht. Doch vor allem wollte er beweisen, dass er als Kronprinz von Lauranto besser war als jeder andere Kronprinz vor ihm – und gewiss besser als der Vater, der ihn abgelehnt hatte. Das war es, was ihn im Augenblick antrieb; weder Altruismus – der womöglich seinen Stiefvater und seinen Großvater angetrieben hätte –, noch Lauranto oder sein Volk an sich, sondern Ehrgeiz. Er wollte dies für das Kind, das noch vor seiner Geburt als unwürdig abgelehnt und das ungeliebt und nicht anerkannt worden war, bis schiere Verzweiflung seine Großmutter zu diesem Schritt zwang.

Er wollte sich Lauranto zu eigen machen und dem Land seine persönliche Note geben, sodass er in Zukunft Lauranto sein würde und zukünftige Generationen sagen würden, er habe Lauranto zur wahren Blüte geführt. Allem, was er tat, würde er seinen Stempel aufdrücken, von der Architektur bis hin zu Finanzen und Gesetzen, zu guter Letzt auch über die Söhne, die er dem Land schenken würde. Nein, sein Stiefvater würde nicht verstehen, wie sehr er sich jetzt den süßen Geschmack von Vergeltung und Triumph auf der Zunge zergehen ließ.

Drogo musterte seinen Stiefsohn, während er auf seine Antwort wartete: groß, dichtes Haar, strahlend blaue Augen und ein fast klassisches Profil, starkes Kinn, hübsche Ohren und eine wohlgeformte Nase – damit verband Robert das gute Aussehen beider Elternteile, auch wenn sein Temperament sich sehr von dem seiner Mutter unterschied. Robert hatte die Neigung, sich in sich zurückzuziehen und andere auszuschließen, und manchmal schien es Drogo fast, als liege sein Stiefsohn im Krieg mit sich selbst.

»Es wird eine Herausforderung«, antwortete Robert, nachdem er sorgsam abgewogen hatte, was er seinem Stiefvater anvertrauen wollte. »Alessandro …« Robert zuckte wegwerfend die Achseln. »Ich kann einfach nicht an ihn als an meinen Vater denken. Das warst immer du, Dad, und das wird auch so bleiben. Ich habe den Verdacht, dass Alessandro ein Leichtgewicht war und von seiner Mutter dominiert wurde. Er war eine Marionette, die zuließ, dass andere für ihn regierten. Das Land muss dringend modernisiert werden, und das wird eine gigantische Herausforderung. Meine Großmutter und ihre Berater sind hartnäckig gegen jede Form von Veränderung. Die Regentschaft über das Land gründet auf fast feudalen Strukturen, und die Ärmsten werden nahezu wie Leibeigene behandelt, besonders die Arbeiter auf den Gütern derer, die zu der in der Gunst meiner Großmutter stehenden Clique von Baronen gehören. Die Kinder dieser Familien verlassen mit vierzehn die Schule, um auf dem Land zu arbeiten, während die Kinder der ›Vornehmen‹ und die der sehr kleinen Gruppe der höheren Berufsstände und die der Mittelschicht ihre Ausbildung zum größten Teil im Ausland erhalten. Die sozialen Grenzen sind schier unüberwindbar. Das Hofleben folgt einer formellen Routine, die eher dem viktorianischen Zeitalter entspricht als unserem. Die Staatskasse ist so gut wie leer. All das wird sich ändern müssen.«

»Hast du der Fürstin-Witwe gesagt, wie du empfindest?«

»Noch nicht. Wir haben ein weiteres Treffen im Februar verabredet. Bis dahin werde ich meine Bedingungen für die Annahme der Krone formuliert haben.«

»Dann hast du also vor, sie anzunehmen?«

»Ich denke nicht, dass ich eine Wahl habe.« Das stimmte zwar, doch Robert wusste, dass Drogo seine Aussage dahingehend interpretieren würde, dass er das Gefühl hatte, er habe wegen der Bevölkerung des Fürstentums die Pflicht, die Nachfolge seines Vaters anzunehmen, und nicht, weil er persönlich das dringende Bedürfnis empfand, sich der Herausforderung zu stellen.

»Oh, Robert, nein. Ich fasse es nicht, dass du dieser alten Vettel nachgibst und dich von ihr überreden lässt, die Krone anzunehmen. Nicht nach allem, was sie getan hat«, erklärte Emerald, die in die Bibliothek gekommen war und Roberts letzte Bemerkung gehört hatte.

Sie trat zu Drogo und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Und ich fasse es auch nicht, wie schwierig es ist, diese Familie zu organisieren. Ich musste heute Morgen mit Jamie losfahren, um ihm neue Gummistiefel zu kaufen, denn er hat einen rechten Schuss gemacht, seit er in Eton ist. Emma macht einen großen Wirbel darum, was sie mit nach Italien nimmt, wenn sie nach den Weihnachtsferien mit Polly dorthin zurückkehrt, Katie ist noch nicht aus Oxford zu Hause, und morgen früh sollen wir alle nach Macclesfield fahren.«

Während Drogo seiner Frau ein nachsichtiges Lächeln schenkte, warnte Emerald ihren ältesten Sohn: »Es ist deine Entscheidung, ich weiß das, Schatz, aber sobald sie dich in den Klauen hat, wird Alessandros Mutter nicht eher ruhen, als bis sie sämtliche Aspekte deines Lebens kontrolliert, einschließlich der Suche nach einer Ehefrau. Alles, was sie von dir will, ist die Sicherung der Erbfolge.«

Robert lächelte, unbeirrt von der Bemerkung seiner Mutter. Emerald seufzte innerlich. Wie konnte es sein, dass ihr ältestes Kind, empfangen in der wilden Leidenschaftlichkeit ihrer Jugend, so gar nicht leidenschaftlich war? Wie jede Mutter wollte sie ihre Kinder vor emotionalem Schmerz beschützen, doch manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie sich beinahe wünschte, Robert würde sich leidenschaftlich und hoffnungslos verlieben, und wenn auch nur, um zu erfahren, was Leidenschaft war. Emerald konnte sich nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Leidenschaft aussehen sollte, obwohl sie das als Mutter natürlich niemals zu ihren Kindern sagen würde, besonders nicht zu Robert, der sie manchmal ansah, als wäre er weit älter und weiser als sie.

»Das Land hat drei Millionen Einwohner, von denen die meisten unter der Last des Feudalsystems gerade eben so über die Runden kommen«, erklärte Robert seinen Eltern. »Es ist finanziell praktisch bankrott, und moralisch ist die herrschende Elite auf jeden Fall bankrott.«

»Aber das bedeutet doch nicht, dass du dich als heiliger Robert aufspielen und zu seiner Rettung eilen musst«, beharrte Emerald.

Robert lachte. Er kannte seine Mutter und wusste um die alte Feindseligkeit zwischen ihr und seiner Großmutter väterlicherseits. Beide waren willensstarke und entschlossene Frauen, die die Dinge gern nach ihrem Willen regelten.

»Ich habe mich einverstanden erklärt, im neuen Jahr noch einmal hinzufahren und mit meiner Großmutter zu reden, sobald ich die Gelegenheit hatte, über alles nachzudenken. Das Land hat Potenzial, dem Volk könnte es viel besser gehen, wenn manches anders geregelt wäre. Sämtliche alten Bauwerke und Regierungsgebäude in der Altstadt sind aus dem beginnenden achtzehnten Jahrhundert und müssten dringend renoviert werden. Als Architekt reizt mich diese Herausforderung natürlich.«

Das stimmte, doch Robert schob das Projekt absichtlich in den Vordergrund, um seine wahren Gefühle vor seiner Mutter zu verbergen.

»Überleg doch nur«, neckte er sie, »was für Möglichkeiten sich da bieten, Seidenstoffe von Denby Mill einzusetzen. Das wäre doch sicher eine hübsche Form der Rache, oder? Nach allem, was du sagst, könnte die Fabrik die Aufträge schließlich gut gebrauchen.«

Emerald seufzte, und Robert wusste, dass sein Ablenkungsmanöver funktioniert hatte.

»Das stimmt. Die gegenwärtige Mode, alles mit glattem Chintz zu drapieren, hat unseren Absatz beeinträchtigt, obwohl wir mit der neuen Duftwicken-Kollektion einigen Erfolg hatten. Ich beneide Angelli Silk um seine historischen Verbindungen zu den italienischen Opernhäusern, denn dadurch kriegen sie automatisch den Auftrag, wenn irgendwo Renovierungsarbeiten anstehen.«

»Denby Silk hat seine Verträge mit dem National Trust«, entgegnete Robert.

»Ja, wir haben einige Verträge mit ihm, aber er arbeitet nicht exklusiv mit uns zusammen. Im amerikanischen Markt liegt die Zukunft, dort brauchen wir Erfolge. Ich werde mal ein Wort mit Ella reden, wenn sie hier ist, und schauen, ob wir nicht einige der führenden New Yorker Innenausstatter dazu bringen können, unsere Seidenstoffe zu führen … Es ist ja schön und gut, wenn du versuchst, mich abzulenken, Robert«, fuhr sie fort und kehrte zu ihrem vorigen Gesprächsthema zurück, »aber wenn du wirklich Kronprinz wirst, musst du bald heiraten, denn dann ist es deine oberste Pflicht, einen Erben in die Welt zu setzen.«

Robert war im Laufe der Jahre mit einer ganzen Anzahl junger Frauen ausgegangen, doch bis jetzt hatte er noch keine Anstalten gemacht, häuslich zu werden. Dafür gab es einen guten Grund, doch darüber wollte er nicht mit seiner Mutter sprechen. Die frühen Jahre von Roberts Leben, bevor seine Mutter Drogo geheiratet hatte, waren sehr turbulent gewesen. Emerald war ein unternehmungslustiger Geist gewesen und hatte das Leben in vollen Zügen ausgekostet, wie man so schön sagte. Unter ihren Liebhabern war auch Max Preston gewesen, ein berüchtigter Gangster aus dem East End. Damals war Robert sieben gewesen.

Erinnerungen, die er lieber unter Verschluss hielt, stiegen plötzlich gegen seinen Willen auf: die beängstigenden Stimmungsschwankungen seiner Mutter, Türenschlagen und lautstarke Auseinandersetzungen, die Laute aus ihrem Schlafzimmer, als er eines Nachts aufgewacht war und allein im Dunkeln Angst gehabt hatte und zu ihr gehen wollte, um Trost zu suchen. Er hatte Angst gehabt um sie, als er die Laute gehört hatte, die schroffe Stimme eines Mannes, der mit schwerer Zunge sprach, und die Stimme seiner Mutter, die immer wieder flehte: »Bitte … bitte … bitte …«

Er hatte die Tür geöffnet, und gesehen, wie …

Vielleicht empfanden alle Kinder, die ihre Eltern unvermutet beim Sex überraschten, denselben Abscheu wie er. Vielleicht steckten sie, wie er, diese Erinnerungen in eine Kiste und verbuddelten diese Kiste sehr tief unter einem großen Stein. Vielleicht wuchsen auch sie zu Erwachsenen heran, die sich der Gefahr unkontrollierbarer Leidenschaft deutlich bewusst waren, die Angst davor hatten und wie er entschlossen waren, sich niemals davon beherrschen zu lassen. Vielleicht. Doch Robert wusste es nicht, denn über so etwas sprach man nicht.

Während seine sexuelle Vorliebe intelligenten, temperamentvollen, aufregenden und auch anspruchsvollen Frauen galt, wollte er sich doch niemals auf Dauer an eine von ihnen binden. Sie waren zu leidenschaftlich, zu aggressiv, zu fordernd und verlangten emotional wie geistig zu viel von den Männern, die sie liebten, und von ihren Familien. Das Leben mit ihnen war eine Achterbahn, die alles ummähte, was ihr in den Weg kam, und Robert hatte keine Lust auf eine solche Fahrt. Es war besser, Leidenschaft und Aufregung zu genießen und die Frauen auf sicheren Abstand zu halten, um dafür zu sorgen, dass sie austauschbar blieben. Aus diesem Grund wollte er auch nicht heiraten. Es war schließlich nicht notwendig. Doch der Tod seines leiblichen Vaters und das Ersuchen seiner Großmutter hatten alles verändert. Wenn er seinen jetzt brennenden Ehrgeiz, Kronprinz von Lauranto zu werden, befriedigen wollte, dann musste er – wie seine Mutter soeben betont hatte – heiraten.

Seine Mutter und seine Großmutter väterlicherseits würden vermutlich bis aufs Messer darum kämpfen, wer von ihnen ihm die Braut aussuchen durfte, also war es besser, das selbst in die Hand zu nehmen. Er hatte sogar schon eine im Sinn. Die richtige Frau für den Kronprinzen von Lauranto war eine Frau, deren ganze Loyalität ihm galt, die ihn bedingungslos unterstützte und die es von ihrem Naturell her akzeptierte, dass ihre Rolle eine unterstützende war und keine führende. Sie musste ihn und nur ihn allein lieben, doch zugleich durfte sie in ihrer Haltung oder ihrem Benehmen nicht leidenschaftlich besitzergreifend oder offen sexuell sein. Sie brauchte Intelligenz, Bildung, Selbstvertrauen und den richtigen Charakter, um seine Gemahlin zu sein, und natürlich musste sie gut aussehen. Das war eine lange Liste von Anforderungen, doch Robert kannte eine Frau, die sie alle erfüllte.

Olivia, die Cousine, von der er wusste, dass sie ihn liebte. Olivia, die elegant war, gepflegt, gebildet und ruhig und deren Loyalität zu ihm absolut sein würde.

Doch er hatte – noch – nicht die Absicht, seiner Mutter zu sagen, was er im Sinn hatte.

Erst später, als Robert in seine eigene Wohnung, ein Penthouse in einem eleganten neuen Wohnblock, der nach seinen Entwürfen gebaut worden war, zurückgekehrt war, zeigte Emerald Drogo, wie besorgt sie in Wirklichkeit um die Zukunft ihres Sohnes war.

»Ist es egoistisch von mir zu hoffen, dass Robert das Angebot von Alessandros Mutter ablehnt?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Drogo vorsichtig, »aber ich weiß, dass es nichts nützt, wenn du sie in seiner Gegenwart schlechtmachst, denn falls er sich entscheidet, die Krone anzunehmen, bringt ihn das in eine schwierige Position.«

So willensstark Emerald auch war, mochte sie es doch nicht, wenn sie das Gefühl hatte, ihr Mann missbilligte etwas, was sie gesagt oder getan hatte.

»Aber sie ist ein grässliches Monster«, beharrte sie, drehte sich auf dem spitzen Absatz ihrer pflaumenblauen Charles-Jordan-Pumps um und trat ans Fenster. Der Schnitt ihres Chanel-Tweedkostüms – Lila, Pflaumenblau und Weiß vor schwarzem Hintergrund – betonte diskret ihre Kurven. Selbst in dem scharfen Winterlicht, das auf sie fiel, sah sie Drogos Meinung nach immer noch so umwerfend aus wie damals, als er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Als sie sich schließlich umdrehte und die Liebe und Besorgnis im Gesicht ihres Mannes sah, ging sie zu ihm und legte den Kopf an seine Schulter.

»Ich will doch nur, dass Robert glücklich ist. Ist das so falsch?« Sie unterbrach sich und fügte dann in einer Stimme, der ihr normales Selbstvertrauen fehlte, hinzu: »Manchmal frage ich mich, ob es stimmt, dass man aufpassen soll, was man sich wünscht.«

»Soll heißen?«, fragte Drogo nach.

»Als Robert zur Welt kam, habe ich frohlockt, denn Robert wäre immer Alessandros Erstgeborener – und sein rechtmäßiger Erbe, egal, was Alessandros Mutter von ihm hält. Seither habe ich mir so oft gewünscht, du wärst sein leiblicher Vater. Dann wäre er immer hier, bei uns, Teil von uns und unserem Leben.«

Es war so ungewohnt, dass Emerald Verletzlichkeit oder Bedauern durchblicken ließ, dass Drogo sie in die Arme nahm, um sie zu trösten.

»Wenn er annimmt, was Alessandros Mutter ihm anbietet«, fuhr Emerald fort, »dann ist mir, als wäre er nicht mehr Teil von uns. Ich mache mir Sorgen um ihn, Drogo. Wir haben ihn so erzogen, dass er sich in dem Leben, das er hier in England hat, wohl fühlt. Alessandros Mutter wird wollen, dass er Alessandros Sohn ist, charmant, aber schwach, fürstlich, aber formbar, ein gut aussehender Marionettenprinz.«

»Du unterschätzt Robert«, versuchte Drogo sie zu trösten. »Er hat einen starken Charakter, Emerald.«

»Es wäre viel besser, wenn er dein Sohn wäre – nicht dass ich will, dass James enterbt wird –, aber wie um alles in der Welt soll ich mich zu einem Sohn bekennen, der Kronprinz eines so lächerlichen Fürstentums wie Lauranto ist? Jeder, der etwas zählt, weiß, dass dieser Titel im Vergleich zu einem britischen ein Witz ist.« Emerald schauderte leicht und legte sich wieder ihren gewohnten Mantel aus selbstsicherer Überlegenheit um. »Wir können nicht erlauben, dass er sich noch mehr zum Narren macht, indem er ein Mädchen mit dem erfundenen Titel ›Prinzessin‹ heiratet, nur weil sie Alessandros Mutter genehm ist.«

»Nein, es ist viel besser, wenn er eine Frau heiratet, die wir ihm ausgesucht haben«, pflichtete Drogo ihr mit unbewegtem Gesicht bei.

Emerald lehnte sich in seiner Umarmung ein wenig zurück und sah ihn an. »Du hast gut lachen, aber so etwas ist wichtig, Drogo.«

»Ich bin bereit zuzustimmen, dass es wichtig ist, dass Robert, wenn er in Alessandros Fußstapfen tritt, eine Frau heiratet, die er liebt, eine, die die Anforderungen seiner und ihrer eigenen Rolle begreift und die mit den Problemen umgehen kann, die diese Anforderungen ihnen beiden bereiten können. Doch dass wir diese Frau aussuchen sollen … überleg doch mal, wie du dich gefühlt hättest, wenn deine Mutter dir einen Mann vorgeschrieben hätte.«

Emerald sah ihn immer noch an und sagte spöttisch: »Das hat sie … Sie hat dich ausgesucht, auch wenn sie es nie gesagt hat.«

»Mhm. Also, Ausnahmen bestätigen die Regel«, gestand Drogo mit einem Grinsen, bevor er sie an sich zog, um sie zu küssen.

3

»Dann ist es endgültig, Nick? Die Trennung, meine ich. Es gibt keine Chance, dass ihr beide …«, fragte Rose Simons ihren Stiefsohn traurig.

»Nein, ausgeschlossen. Das hat Sarah mehr als deutlich gemacht. Sie hat sogar die Schlösser austauschen lassen. Das war zweifellos die Idee ihres Vaters.«

Nicks Stimme mag so frisch sein wie das Hemd, das er trägt – aus der Wäscherei und nicht von seiner Frau gewaschen –, dachte Rose ironisch, doch sie kannte ihren Stiefsohn, und sie kannte die Verletzlichkeiten und Unsicherheiten, die Nick so geschickt verbarg. Zu geschickt? War das mit ein Grund für die Trennung? Weil die Erfahrungen seiner ersten zwölf Lebensjahre dazu geführt hatten, dass Nick sich davor hütete, jemandem zu vertrauen?

Für die Außenwelt mochte Nick ein aggressiver und sehr erfolgreicher Finanzinvestor sein, dessen Foto regelmäßig im Finanzteil der Zeitungen erschien, begleitet von Artikeln, die seinen wirtschaftlichen Spürsinn rühmten, doch für sie war er zum Teil immer noch das verstörte verwaiste Kind, das sie fest in ihr Herz geschlossen hatte.

Nick zog einen der matten Chromhocker unter der Kücheninsel heraus, an der seine Stiefmutter für das Currygericht zum Abendessen Gemüse geschnippelt hatte. Die Küche des Stadthauses in Chelsea, das Josh und Rose nach ihrer Hochzeit gekauft hatten, mochte mit ihrer eleganten und äußerst individuellen Ausstattung in Chrom und Glas auf den ersten Blick nicht so gemütlich und häuslich wirken wie die handbemalte, unmäßig teure Smallbone-Küche, die Sarah in das überteuerte Haus in The Boltons, in das sie sich verliebt hatte, hatte einbauen lassen, doch Nick wusste, in welcher Küche er sich mehr zu Hause fühlte und wo er mehr geschätzt wurde.

Seine Stiefmutter hatte ihren ganz eigenen Stil, der zum großen Teil auf der Tatsache gründete, dass sie eine sehr erfolgreiche Innenausstatterin war; sie operierte von dem von der Familie geführten Laden in der Walton Street aus, den ihre Tante Amber einst gegründet hatte. Und zu einem geringen Teil basierte er gewiss auch auf ihren asiatischen Genen, die sie von ihrer chinesischen Mutter geerbt hatte. Für die, die sie nicht näher kannten, strahlte Rose Simons von den Spitzen ihres glatten, immer noch schwarzen, kurzgeschnittenen Haars bis zu dem Saum ihres umwerfend schlichten schwarzen Kleids etwas leicht Einschüchterndes aus, doch Nick kannte das liebevolle Herz, das Rose unter den Haute-Couture-Kleidern und dem geschäftsmäßigen Auftreten verbarg.

Ihm fiel keine andere Frau ein – und er kannte viele –, die, wenn sie einem schmuddeligen, rotznäsigen unbekannten Zwölfjährigen die Tür geöffnet hätte, der erklärte, ihr Mann sei sein Vater, diesem Kind die Hand gereicht hätte, wie es Rose bei ihm getan hatte, und ruhig gesagt hätte: »Also, ich bin froh, das zu hören, denn wenn es etwas gibt, was diesem Haus fehlt, dann ein Junge, der ein bisschen Leben in die Bude bringt.«

»Nick …«

»Schon gut«, erklärte er ihr jetzt. »Ich werde nichts Dummes tun, wie zum Beispiel hingehen und Rabatz machen, denn das habe ich schon versucht.« Er rieb sich mit der Hand übers Kinn, und ein leises Kratzen war zu hören. Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte Rose, als sie das kleingeschnippelte Gemüse in eine Schüssel tat und zudeckte. Ihre Bewegungen waren geübt, ruhig und minimalistisch, völlig im Einklang mit der minimalistischen Eleganz der Küche. Rose mochte es, wenn Dinge nicht kompliziert waren, sondern leicht zu verstehen und einzuschätzen. Sie mochte es, wenn die Dinge offen ausgesprochen wurden, statt im Verborgen zu lauern, und das spiegelte sich in ihren Entwürfen wider. Genau wie ein vollgestopfter, überfüllter Geist vergessene Geheimnisse und Gedanken womöglich verbarg, die wachsen und schwären konnten, so konnte vollgestopfter Raum in ihren Augen zu denselben potenziellen Gefahren führen.

Doch Nick war ein Kind, beschädigt von dem Elend seiner frühen Lebensjahre, und er tat Rose in der Seele leid.

Obwohl er es überspielte, sah sie seine Bitterkeit und seinen Zorn über das aufzehrende, lange hingezogene Elend, welches das Ende seiner Ehe gewesen war, auch wenn diese Gefühle jetzt unter einer dünnen Schicht Akzeptanz verborgen waren.

»Was … was wird aus den Jungen?« Rose wagte kaum zu fragen. Sie und Josh liebten ihre Enkelkinder, und Rose schätzte sich glücklich, sie so oft zu sehen, da sie und Josh praktisch in Fußnähe zu Nicks und Sarahs Haus lebten.

»Sarah hat sich einverstanden erklärt, dass ich angemessenen Umgang mit ihnen habe. Angemessenen Umgang. Zum Teufel, es sind meine Kinder, ich habe sie gezeugt, ich …« Er unterbrach sich und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Tut mir leid … aber wenn ich daran denke, was wir ihnen antun … Und alles nur wegen Sarahs verflixtem Vater. Die Jungen haben sich die Augen aus dem Kopf geheult, als ich gegangen bin. Verdammte Sarah – man könnte meinen, das hätte sie ihnen erspart, wenigstens bis nach Weihnachten.«

Weihnachten.

Rose beugte den Kopf über die Schüssel, denn sie wollte nicht, dass Nick ihre Gedanken erriet. Für sie bedeutete Weihnachten, »nach Hause«, nach Denham Place nahe Macclesfield zu fahren, zu Amber, ihrer Tante. Es bedeutete, Teil der großen Zusammenkunft von Geschwistern, Cousinen und Cousins und Eltern zu sein, die sich inzwischen über drei Generationen erstreckte. Doch Nick hatte sich nie so recht wohl gefühlt in dieser Gruppe, hatte sich immer vorsichtig am Rand gehalten, und seit die Jungen auf der Welt waren, fuhr er gar nicht mehr mit, weil Sarah immer nach Schottland zu ihren Eltern wollte.

»Siehst du die Jungen über Weihnachten?«, fragte Rose.

»Nicht die geringste Hoffnung. Sarah fährt mit ihnen zu ihren Eltern. Die haben mich nie gemocht, besonders ihr Vater nicht. Bestimmt wartet schon ein kilttragendes, willensschwaches Exemplar in den Kulissen, um ihr den Trost einer männlichen Schulter und den richtigen Hintergrund zu bieten. Gütiger Himmel«, explodierte Nick, »wenn ich überlege, dass ich mich schier umgebracht habe, um ihr den Lebensstil bieten zu können, von dem sie immer gejammert hat, das sie ihn wollte, nur um sich dann umzudrehen und zu sagen, sie wolle die Scheidung, weil ich so viel arbeite.«

Rose sagte nichts. Wie konnte sie? Sie wusste genauso gut wie Nick, dass Sarahs Anschuldigungen nicht unbegründet waren und dass er seine Arbeit liebte. Sie ermöglichte es ihm, die in ihm liegenden Aggressionen zum Ausdruck zu bringen, die daraus erwachsen waren, dass er sich mit aller Kraft der Grausamkeit seiner Kindheit widersetzen musste. Sein Stiefvater hatte ihn und seine Mutter geschlagen, bis dieser nach einem heftigen Saufgelage auf die Straße gestürzt und von einem Bus überfahren worden war – im Krankenhaus war er seinen Verletzungen erlegen. Nicks Arbeit gab ihm nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch etwas, was er unbedingt brauchte, nämlich den Triumph, der daraus erwuchs, andere, die sich ihm aus irgendeinem Grund überlegen glaubten, zu übertreffen.

Rose liebte ihren Stiefsohn, doch sie war nicht blind gegenüber seinen Fehlern und den inneren Dämonen, die ihn antrieben.

Doch es gab eines an Nick, was ihr Herz mit Stolz und Dankbarkeit erfüllte, und das war sein Abscheu vor körperlicher Gewalt. Er hätte so leicht dieselben Verhaltensmuster entwickeln können wie der Mann, der ihn aufgezogen hatte. Selbst mit zwölf war er trotz der erlittenen Entbehrungen ein großer, muskulöser Junge gewesen. Niemals würde Rose den Abend vergessen, an dem der Rektor der erstklassigen örtlichen Schule, auf die sie Nick geschickt hatten, vorbeigekommen war, um ihnen zu erzählen, dass Nick von einer Gruppe von Jungen in seiner Klasse bösem Spott ausgesetzt gewesen war. Nick hatte die höhnischen Bemerkungen über sich ergehen lassen und war fortgegangen, ohne sich zu einem Gewaltausbruch hinreißen zu lassen – worauf die Jungen es offensichtlich abgesehen hatten.

Als Rose später mit ihm darüber gesprochen hatte, hatte er ihr gestanden, dass seine Mutter ihm vor ihrem Tod das Versprechen abgenommen hatte, niemals die Fäuste gegen jemanden zu erheben, »weil der, der uns schlägt, nicht dein richtiger Vater ist, und ich will stolz auf dich sein können, wenn ich von da oben auf dich und deinen leiblichen Vater hinunterschaue«.

An dem Abend hatte Rose in Joshs Armen geweint. »Der Gedanke, was Nick durchmachen musste, ist mir unerträglich«, hatte sie gesagt. »Er ist erst zwölf, und er musste mit ansehen, wie seine Mutter starb, und dann hat er sich auf die Suche nach dir gemacht, ohne zu wissen, wie du ihn aufnehmen würdest.«

»Also, ich konnte ihn ja wohl kaum wieder wegschicken, oder?«, hatte Josh offen gesagt. »Schließlich ist er mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber ich hätte ihn trotzdem nicht bei mir aufgenommen, wenn du ihn nicht gewollt hättest, Rose.«

Der schlaksige dunkelhaarige Junge war in der Tat unverkennbar Joshs Sohn gewesen, als er an ihrer Tür geklopft und erklärt hatte, Josh sei sein Vater. Wie sie später herausfanden, war es eine kurze Affäre mit einer jungen verheirateten Frau gewesen, lange bevor Rose und er sich begegnet waren.

Und natürlich hatte Rose – die wegen dem, was sie als Halbchinesin erlitten hatte, keine eigenen Kinder wollte – Nick sofort ins Herz geschlossen. Josh hatte ein wenig mehr Überredung gebraucht, dass der Junge bleiben sollte, doch innerhalb eines Monats hatte Nick denselben Gang drauf wie sein Vater und redete auch wie er, und wenn Josh sich von Rose unbeobachtet glaubte, platzte er fast vor Stolz auf seinen Sohn.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Scandals« bei Avon, a division of HarperCollins Publishers, London.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2012 Copyright © der Originalausgabe 2010 by Penny Jordan Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: © gettyimages, © Mimi Haddon und

© Fergus O’Brien

Redaktion: Barbara Müller

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eISBN: 978-3-641-17514-6

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