Das Flüstern der Wipfel - M. Pastore - E-Book

Das Flüstern der Wipfel E-Book

M. Pastore

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Beschreibung

Fünf Geschichten zwischen Realität und Fiktion, Realismus und Fantasy, Moderne und Legende – und ein Schauplatz, der sie eint: das Erzgebirge. Ein Eremit muss sein Refugium verlassen. Ein Wohltäter braucht Hilfe. Zwei alte Freunde treffen sich als Fremde. Eine Landschaft, die den Wanderer gefangen hält und ein Bursche, der als Hüter das Schicksal des Waldes teilt. Von Helden, die an ihren Grenzen nach Wegen suchen, flüstern die Wipfel.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2023

 

Das Flüstern der Wipfel

 

© by Matt Pastore

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Jenny Siege, Weißenfels

Lektorat: Rudolf Strohmeyer

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Rudolf Strohmeyer

Autorenfoto: Privat

 

 

Coverbild ›Planet Centronos‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Das Billardcafé‹

© 2021 by Creativ Work Design

Coverbild: © 2021 by Jenny Siege, Weißenfels

 

ISBN 978-3-96741-228-4

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

 

 

 

Matt Pastore

 

 

 

Das Flüstern der Wipfel

 

Geschichten aus dem Erzgebirge

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den Frauen und Männern, die für den Frieden streiten, ohne an Waffen zu denken.

Den Enthusiasten, die für eine Zukunft arbeiten, in der wir mehr geben als nehmen.

 

 

 

 

 

 

 

Der Weg zu einer besseren Welt beginnt,

wo wir uns mit eigenen Fehlern beschäftigen,

nicht mit dem Fingerzeig auf andere.

Inhalt

 

Die Summe unserer Fehler

Frau am Straßenrand

Hexenhaus

Im Kreis

Waramaquara

1. Der Urwald

2. Venceslav und Milena

3. Bronislav

4. Die Lichtung — Wahrheit und Legende

5. Miroslavs Baum

6. Die Wesen des Waldes — Plapperlieschen

7. Die Berggeister

8. Ein Angelausflug

9. Abschied

10. Die Salzstraße

11. Der Wolf

12. Die Schenke

13. Die Mühle

14. Der Tagesbruch

15. Der Stein

16. Rodung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Summe unserer Fehler

Der Alte saß vor seiner Hütte auf dem Hügel inmitten der Lichtung, die sacht zum Hochwald hin abfiel. Der Hochwald wiederum gab bei schönem Wetter den Blick frei auf die Gipfel des Gebirges, die ein Wanderer von der Lichtung aus innerhalb eines Tages erreichen konnte. Die anderen Seiten der Lichtung begrenzten mit starkem Unterholz durchwachsene Laubmischwaldpflanzungen, die das Forstamt vor weniger als vierzig Jahren anlegen ließ. Ein schmaler Pfad zog sich am Waldrand entlang, den nur sehr selten ein verirrter Fußgänger benutzte. Der Förster sah jedoch regelmäßig bei dem Alten vorbei, der vor seiner Hütte saß und Weidenkörbe flocht. Manchmal band er auch Besen, die in den vergessenen Dörfern hinter dem Wald noch immer ihre Abnehmer fanden. Besser als der ganze industrielle Mist, um den Stall zu fegen, meinten die alten Bauern. Und billiger obendrein. Das freute den Alten, der vor seiner Hütte saß und seine Tabakspfeife rauchte. Der Förster hatte ihm vor einigen Tagen wieder eine Ladung seines Tabaks mitgebracht, die wohl vier Wochen reichte. Bis dahin träfe die nächste Lieferung bei ihm ein, so die Überzeugung des Alten, der versonnen den dicken Wolken nachsah, die er ausstieß.

Eine nächste Kiepe wollte er flechten. Neben ihm in einer alten Zinkwanne lagen schon die Weidenruten im Wasser. Der Eckerbauer hatte nach einem neuen Korb gefragt für das Hasenfutter, und beim Eckerbauern hoppelten viele Hasen in ihren Boxen. So zumindest übermittelte es der Förster, der als einziges Wesen den alten Mann mit der Welt verband. »Ich brauche diese Welt nicht mehr«, sagte der alte Mann, »fast alles bieten Lichtung und Hütte, den Rest bringt der alte Förster.« Nur sehr, sehr selten führte ihn sein Weg noch in das nächste Dorf, niemals weiter.

Auch der Förster war schon alt, doch noch nicht pensioniert wie der alte Mann, der gerade hinter die Hütte lief, zu seinem Brunnen, um Wasser zu holen. Die Zinkwanne leckte zwischen Wand und Boden, er musste hin und wieder nachgießen. Ich könnte sie demnächst löten, nahm er sich vor. Langsam zog er den Eimer herauf, aus dem Brunnen mit dem Dach darüber, das mit Holzschindeln gedeckt war wie die Hütte auch. Er füllte die beiden Emailleeimer, die er mitgebracht hatte. Ich sollte mir kleinere Eimer mitbringen lassen, sagte sich der alte Mann. Diese hier werden langsam schwer, man ist ja nicht mehr der Jüngste. Oder ich mach sie nicht mehr so voll. Auch eine Variante. Schwer atmend stellte er einen Eimer neben die Zinkwanne und füllte aus dem anderen nach.

Wieder stiegen dicke Wolken Tabakrauchs vor der Hütte auf, denen der Alte nachschaute, beobachtend, wie sie langsam sich verteilend schließlich vom leichten Lüftchen, dem ständigen Gast hier oben an seiner Hütte, erfasst und davongetragen wurden. Prüfend griff die Linke des Alten in die Wanne, ohne hinzusehen entschied er, dass die Ruten jetzt so weit seien. »Da können wir ja anfangen«, sagte er, legte die Tabakspfeife beiseite, zog sein Flechtmaterial aus dem Wasser und begann, die Ruten im Kreis zu einem Boden zu formen. Gelegentlich wanderte sein Blick, während die Hände weiter ihre Arbeit verrichteten, zum Himmel, und schließlich stellte er fest: »Es wird bald regnen. Eine halbe Stunde vielleicht noch.« Unverwandt flocht er weiter, bis der Boden des Korbs fertiggestellt war. Dann erhob er sich, räumte seinen Stuhl in die Hütte, ging über die Wiese, schlug die Pflöcke aus dem Boden und führte seine Schafe in den Verschlag, der hinter dem Haus in gehöriger Entfernung stand und außer den Tieren Heu und Rüben für den Winter aufnahm. Ohne Eile schritt er zurück zu seiner Hütte, fischte sich noch ein paar Ruten aus der Wanne und verschwand, die Tür fest hinter sich schließend, im Gemäuer.

Zwei Stufen führten hinein, so dass der Stampflehmboden seines Heims erhaben über der Lichtung ruhte. Die Feldsteinmauern des Erdgeschosses boten soliden Schutz gegen äußere Unbill, und nur einem kleinen Fenster hatte er es gestattet, diese Solidität zu brechen. Es schaute nach Süden, gleich neben der Tür, über das Land bis zu den Gipfeln der Berge. Unter dem Fenster stand ein grob gezimmerter Tisch mit zwei Stühlen, einer für den Alten, und einer für die Weidenruten, aus denen er jetzt die Wandung der Kiepe flocht, hin und wieder nach dem Unwetter lugend, das sich vor dem Fenster entlud. Es schien sich auf der Lichtung festsetzen zu wollen, Sturzbäche fielen vom Himmel, begleitet von immer heller zuckenden Blitzen. »Ist ja gut jetzt!« rief der Alte, als die Einschläge so nah kamen, dass er zwischen Blitz und Donner keine Pause mehr wahrnahm. Doch das Wetter richtete sich nicht nach seinen Wünschen und tobte weiter bis in den zeitigen Abend.

Die Rückwand des Gebäudes beherrschte ein großer Ofen, der auch als Herd diente und auf der gekachelten Seite von einer Bank gesäumt wurde. Das Holz, das der Alte über den Sommer im Wald sammelte, lagerte nicht nur in den großen runden Holzmieten, Feumeln genannt, neben der Hütte, ein ordentlicher Vorrat davon fand auch unter dem Herd Platz, wo sich der Alte gerade zu schaffen machte, um Wasser zu kochen. Links des Herds stieg er die steile Treppe hinauf, lief gebeugt das nur hüfthoch aufgefachte und deshalb mansardenartige Obergeschoss entlang, das eine dünne Wand in zwei Kammern teilte. In der warmen Hälfte, über dem Herd, stand sein Nachtlager, durch die kleine verglaste Luke darüber beleuchtet, die andere Seite war kalt, durch eine ähnliche Luke wie im nördlichen Giebel erhellt und beherbergte diverse Vorräte, er nannte sie bei sich den »kalten Boden«. Der Alte suchte sich einige Pfefferminzblätter aus eigener Ernte, roch daran und ging zufrieden wieder hinunter, wo das Wasser schon darauf wartete, der Bereitung des Getränks zu dienen. Mit der emaillierten Kanne in der Hand kehrte der Alte zu seinem Korb zurück. »Jetzt reicht’s aber langsam«, murmelte er, als er seine große Tasse füllend zum Fenster hinausschaute. »Das Hochmoor läuft wieder über und dann fließt die braune Soße über die Lichtung. Das muss doch nicht sein.«

Diesmal schien das Gewitter verstanden zu haben. Von Westen bahnten sich bald die Strahlen der untergehenden Sonne einen Weg durch die davonziehenden Wolken, beleuchteten die dem Betrachter zugewandte Seite der dunkelgrauen Masse mit blutrotem Licht. Der Alte hielt in seiner Arbeit inne und beobachtete intensiv dieses Schauspiel, bis die versinkende Sonne dem ein Ende bereitete. Jetzt erst griff er nach der Tasse und stellte fest, dass der Inhalt kalt geworden war. »Kalter Tee. Na gut, zu trinken ist er allemal«, murrte er, ehe er das Gefäß in einem Zug leerte. Die Kanne freilich stellte er auf den Herd zurück, bevor er daran ging, die Kerzen in den vielen Nischen im Mauerwerk zu entzünden. Dann räumte er das Flechtwerk beiseite, meinte »Morgen ist auch noch ein Tag« und stellte Brot und Käse auf den Tisch. Eine Stunde später löschte er die Kerzen und stieg die Treppe hoch.

Der nächste Morgen brachte strahlenden Sonnenschein, blauen Himmel und dampfende Wälder. Das erste Gewitter des nahenden Sommers hatte ordentlich gehaust, totes Holz von den Bäumen ringsum gerissen, auch frische Triebe. »Da ist ordentlich was zu sammeln. Der nächste Winter kommt bestimmt«, brummte der Alte, und »Kann ich auch noch am Nachmittag erledigen, da ist es ringsum trockener«, denn der Boden in weitem Rund war vollgesogen wie ein Schwamm. Der Alte brachte seine Schafe trotzdem auf die Lichtung hinaus, ehe er die Kiepe für den Eckerbauern vollendete. Gegen Mittag brummte etwas auf dem Waldweg. »Nanu«, wunderte sich der alte Mann, »der Förster war doch erst vor drei, vier Tagen da«, und ging vor die Hütte.

Der Wald- und Wildhüter ließ sein Gefährt wie immer auf dem kleinen, fast zugewucherten Pfad hinter der Behausung stehen, als er ausstieg und von Weitem grüßte: »Hallo Theo! Wie hast du die Nacht überstanden?«

»Es hat ja schon vor Sonnenuntergang aufgehört, Rudi, alles gut, nur nass.«

Der Besucher kam heran, umarmte den alten Mann, der eigentlich Theo hieß, sie gingen miteinander in die Hütte. Der Alte setzte Wasser auf und angelte sich die Büchse mit dem Kaffeepulver. »Türkisch?« fragte er, wie er das jedes Mal tat.

»Bei dir immer, Theo, weißt du doch«, lautete die Antwort. Als das Getränk in zwei großen Töpfen dampfte, setzten sich die beiden an den Tisch. Der Alte angelte noch den Zucker vom schmalen Bord, das sich über den Köpfen die fensterlose Wand entlang bis zum Ofen hin erstreckte und allerlei Kram Platz bot, Büchsen und Schachteln, Gewürzen und Nippes. Ungewöhnlich allein war die gerahmte Fotografie. Sie zeigte ihn in jüngeren Jahren in Gesellschaft einer jungen Frau und dreier Kinder. Es schien das einzige wirklich persönliche Stück im Raum zu sein und wirkte deshalb irgendwie besonders. Der alte Mann sah den Förster lange schweigend an. »Was treibt dich so schnell wieder zu mir ans Ende der Welt?« fragte er dann.

»Ja, Theo, ich hätte es schon Montag erzählen sollen, oder vor vier oder vor acht Wochen, ich hab’s nicht gekonnt. Es ist so, also, dass ich pensioniert werde.«

Der Alte rührte ohne Regung in seinem Kaffee. »Da werd’ ich mich wohl an einen Neuen gewöhnen müssen«, sagte er dann.

»Das Forstamt wird aufgelöst, es kommt kein anderer hierher.«

»Da kannst du in deinem alten Forsthaus bleiben?«

»Nein, ich muss in die Stadt, mir eine Wohnung suchen. Hab ich letzte Woche erfahren.«

»Tut mir leid für dich. Kannst immer zu mir kommen, wenn du Lust hast.«

»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich hab ja noch die Ulli, endlich Zeit für unsere Enkel, wir haben uns schon lange darauf gefreut, dass ich in Pension gehe.«

»Kannst du alle mitbringen, wenn du Lust hast.«

»Das ist doch nicht das Problem.«

»Und wo siehst du eins?«

»Ich kann dich doch nicht allein lassen, hier, mitten im Wald, ohne Strom, ohne Telefon, ohne Auto, ohne einen, der hin und wieder nach dir sieht!«

»Um mich mach dir mal keine Sorgen, ich kümmere mich schon. So bequem wie bisher wird es nicht mehr sein, aber es geht. Es ist immer gegangen, irgendwie.«

»Und wenn dir was passiert?«

»Was soll mir noch passieren? Es mag kommen, es mag gehen, ich bleibe, oder ich schwinde. Es ist belanglos.«

Der Förster kannte diese Anwandlungen des Alten, und er hatte sie gründlich satt. »Für dich vielleicht, für mich ist es schon von Belang!«

»Na, beruhige dich, Rudi! Das Schlimmste, was mir hier passieren kann, ist, dass das Hochmoor durch das Gärtchen läuft, und damit werd ich schon fertig. Der Garten trocknet auch wieder. Komm, nimm deinen Stuhl, lass uns in die Sonne gehen!«

Sie ließen sich mit ihren Stühlen auf der leidlich befestigten Fläche vor der Hütte nieder und schlürften ihren Kaffee.

»Hab ich dir schon gesagt, dass ich auch mal Förster werden wollte?«, begann der Alte.

»Ja, hast du. Aber du wolltest nicht im Büro landen. Mit einem solchen Glückstreffer, ausgerechnet zu jener Handvoll Absolventen zu gehören, die in den Wald dürfen, hast du nie gerechnet. Da hast du dir dann etwas anderes gesucht, richtig?«

»Wie oft hab ich’s dir schon erzählt?«

»Ein paar Dutzend Mal sicherlich. Ich unterbrach dich nie, weil dir die Geschichte sehr wichtig zu sein schien.«

»War sie gar nicht. Der Rest wäre wichtiger gewesen, aber den hab ich immer für mich behalten.«

»Willst du ihn mir jetzt erzählen?«

»Nein. Was willst du mit dem Gegreine eines alten Mannes?« Der Alte blinzelte in die Sonne. Nach einer Weile fragte er: »Wie wird der Sommer hier oben, Rudi?«

»Das interessiert dich nicht mehr, Theo.«

»Hast du irgendwas zu erwähnen?«

»Das Forstamt wird geschlossen, hab ich dir gesagt. Das Forsthaus wird verkauft, konntest du dir denken, weshalb sollte ich sonst ausziehen. Das Revier wird vollkommen neu geordnet, das weißt du noch nicht. Die Lichtung wird dem Flächennaturdenkmal zugeschlagen. Deine Hütte wird abgerissen. Du sollst fort aus deinem Refugium.«

Der Alte setzte zu Widerworten an, brach ab, schloss den bereits geöffneten Mund und atmete hörbar aus. Er kannte die Klausel im Kaufvertrag: »… vorbehaltlich forstlichen Bedarfs …«, hieß es da. Wie oft hatte er alles verloren, was für ihn Bedeutung besaß? Und jetzt wieder, wo er alt und grau war und nichts mehr erwartete. Als er diesen Vorposten menschlicher Besiedelung hier oben, weit weg von allen anderen, erwerben konnte, hielt er das für einen Glücksfall, den er nie und nimmer erwartet hatte. Es erwies sich im Nachhinein als Fehlgriff sondergleichen.

»Alte Bäume verpflanzt man nicht«, sagte er, und eine Weile später: »Es sollte mein Ruhesitz sein.« Dann Schweigen. »Wie viel Zeit bleibt mir?«, fragte er schließlich.

»Noch vor dem Winter wäre die Renaturierung abgeschlossen, heißt es.«

»Wohin schicken sie mich?«

»Für dich ist in der Stadt eine Eigentumswohnung reserviert, Neubau im Zentrum …«

»Und wo bleiben da die Schafe?« unterbrach der Alte. »Grasen die dann auf dem Balkon, wenn sowas überhaupt dran ist?«

»Das hab ich ihnen auch gesagt, und dass du keinesfalls in diese Gegend umziehen wirst.«

»Und?«

»Sie meinten, du schaffst dir lieber einen Hund an.«

»Hunde sind wie Menschen. Sie mögen mich nicht. Solange ich noch auf dem Hof in Heinrichsdorf gelebt habe, gab es dort auch keine Töle.«

»Was hast du gegen Hunde?«

»Bin mal, rein dienstlich, von zweien angefallen worden. Und mein damaliger Chef schaffte sich irgendwann einen an. Solange er keinen hatte, gab es noch verträgliches Auskommen zwischen uns. Dann drehte sich alles nur noch um das Vieh. Noch ein entscheidender Nachteil: Hundefleisch schmeckt mir nicht.«

»Nicht alles, was man im Hause hat, muss man essen. Gegen meinen Jagdhund hast du doch auch nie etwas gehabt.«

»Ist ja auch ein Nutztier, hat eine Funktion. Genauso wie die Katzen, die dir die Mäuse vom Hals halten.«

»Dann schaff dir eben eine Katze an.«

»In der Stadt? Bist du verrückt? Die muss streunen können! Außerdem hat sie Charakter, ist nichts, um sich damit zu beschäftigen. Nein, lass mal, keine Tiere in der Stadt.«

»Und was hast du gegen Menschen?«

Der Alte schwieg. Nach einer Weile stand er auf und hantierte am Herd. »Willst du eine Kleinigkeit mit essen? Ich hab noch ein Stück Hammel, Kartoffeln und Bohnen!«

Der Förster kam herein. »Ich weiß zwar nicht, wie du das fertig bringst, aber es schmeckt immer so lecker bei dir, dass ich nicht ablehnen kann.«

Sie standen nun beieinander in der Hütte, der Alte machte sich am Herd zu schaffen, während der Förster sich um das Geschirr kümmerte. »Pellkartoffeln?« fragte er.

»Ganz neue Kartoffeln, hast du mir erst am Montag mitgebracht, die letzte Ernte hier oben fiel nicht so besonders aus, wie du weißt. Die Knollen brauchen noch eine Weile«, knurrte der Alte. Sie gingen wieder hinaus, er nahm seine Tabakspfeife mit und begann zu rauchen. »Der Kaffee ist inzwischen kalt«, sagte er, sonst nichts. Schweigend verbrachten sie die Zeit, bis das Essen fertig war. Dann saßen sie am Tisch, pulten sich die Haut von ihren Kartoffeln, aßen, spülten schließlich Teller und Töpfe, alles gemeinsam, und keiner sprach. Der Förster tadelte sich für sein Versäumnis, er hätte viel eher mit dem alten Mann sprechen müssen und das nicht immer wieder hinausschieben, bis auf die letzten Tage; der Alte hingegen dankte insgeheim dem Freund, dass er den Frühling nicht mit dieser Nachricht verdorben hatte. Nach getaner Arbeit saßen die beiden wieder vor der Hütte, mit frischem Kaffee, und rauchten diesmal gemeinschaftlich. Ulli, die Frau des Försters, mochte es nicht, wenn er daheim sein Rauchzeug auspackte, hier konnte er nach Belieben seiner Sucht nachgehen.

»Sie haben mich zu oft enttäuscht«, sagte der Alte plötzlich.

»Wer?« Der Förster verstand nicht.

»Die Menschen. Und eben tun sie es wieder.« Mehr war er an diesem Tag offenbar nicht bereit preiszugeben. Als sich der Förster am späten Nachmittag heimwärts verabschiedete, trug der Alte ihm auf, er möge seinen Dienstherren mitteilen, dass das Angebot nicht der vertraglich festgelegten Vereinbarung entspräche und er deshalb ablehne. Dort stünde nämlich, dass in solchem Falle adäquater Ersatz anzubieten sei, und das könne er nicht sehen. Sollen die Herrschaften zu ihm kommen und verhandeln, lautete sein letzter Satz.

Der Alte saß die nächsten Tage, als sei nichts geschehen, vor seiner Hütte und flocht, ging Holz sammeln, kümmerte sich um sein Vieh und seinen kleinen Garten, wie er die Gemüsebeete neben der Hütte nannte. Obwohl er es sich nicht eingestand, wartete er. Auf irgendetwas düster Ungewisses, etwas, das aus der Stadt den Weg zu ihm finden würde.

Eines Morgens lugte er aus der Tür, die morgendliche Kühle versprach einen sehr sonnigen, trockenen und wohl auch heißen Tag, zumindest drunten im Tal, wo die Zivilisation wohnte. »Oder was sich so nennt. Kann mir gestohlen bleiben«, brummte er. Die Wiese war nass vom Tau, er zog Schuhe und Strümpfe aus, raffte die Hose und lief durch das Gras, genoss das Gefühl, tanzte nach einer imaginären Musik, die nur er in seinem Kopf hörte, drehte sich und sprang, bis er irgendwann lang hinfiel und zu lachen begann. Er wälzte sich im Gras und lachte, lachte und wälzte sich, war nass von Kopf bis Fuß und herrlich albern, behaglich allein in diesem Wald auf dieser Lichtung bei dieser Hütte. Er hielt inne. Er würde diese einsame Ödnis verlassen müssen, noch vor dem Winter. Das war sein letzter Sommer.

Er raffte sich auf und ging zurück zur Hütte. Seine Schultern zuckten, dann schüttelte es ihn heftig, doch nicht die Morgenkühle ließ ihn erschauern. Drinnen saß er am Tisch und ließ seiner Trauer freien Lauf. In jüngeren Jahren hatte er sich solche Gefühle abgewöhnt, sie einfach nicht zugelassen, unterdrückt, und das war ihm nicht bekommen. Welche Erleichterung verschaffte es ihm, wieder gelernt zu haben, seinen Empfindungen den ihnen gebührenden Raum zu geben, und nun musste er hier weg, er würde sie wieder verbergen müssen.

Der Vormittag war schon weit fortgeschritten, als sein Blick auf die Kiepe für den Eckerbauern fiel. »Na ja«, sagte er, »da muss ich wohl los. Der Förster wird nicht mehr kommen, um’s abzuholen«, und er packte in die Kiepe die zwei Besen für den Nachbarn des Bauern und eine Schmuckschale, die im Dorf bestellt worden war. Das Material dafür hatte er sich extra aus der Stadt mitbringen lassen, denn mit Weidenruten konnte er dem Wunsch nicht gerecht werden. Das Stück erfüllte ihn schon mit ein wenig Stolz, oval sollte sie sein, mit geflochtenem Boden und nach außen geschwungenem Rand. Er hatte aus hellem und dunklem Rohr ein Muster geflochten, das der Schale einen eigenen, einzigartigen Charakter verlieh. Eigentlich gibt man ein solches Stück nicht weg. »Was soll die Trauer«, meinte er, »es gibt Dinge, die viel trauriger sind.«

In drei Stunden wollte er das Gehöft des Bauern erreichen, da wäre Mittag, und wenn er straff liefe, schaffte er das auch noch. Er verschloss Fenster und Tür und machte sich auf den Weg.

Spät in der Abenddämmerung kehrte er zurück. Der Eckerbauer hatte ihn zum Mittag eingeladen, im Dorf musste er nicht nur vespern, erst nach dem Abendmahl ließen sie ihn ziehen. Bei den Adressaten hatte seine Ware auch ordentlich Aufsehen erregt, er konnte zufrieden sein. Nur eins berührte ihn merkwürdig: Alle waren viel freundlicher und herzlicher zu ihm gewesen, als er das für gewöhnlich verspürte, wenn er sich, selten genug, auf den weiten Weg machte. Als ob sie ahnten, dass es vielleicht sein letzter Besuch im Dorf gewesen sei. Er schob den Gedanken beiseite, woher sollten sie wissen, dass er den Wald verlassen und womöglich in die Stadt ziehen musste. Aber er wollte nicht in die Stadt. »Lieber gehe ich als Knecht zum Eckerbauern!«, brummte er, und er meinte das ernst.

Der alte Mann saß vor seiner Hütte und rauchte. Es gab gerade keinen Bedarf an Körben oder Besen, zumindest wusste er nichts davon, seinen Gemüsegarten hatte er auf Vordermann gebracht, Holz war in ausreichender Menge gebunkert und auch schon auf das rechte Format gestutzt, ihm fehlte gerade eine richtige Beschäftigung. Du könntest mal wieder ein ordentliches Stück laufen, fiel ihm ein. Warum nicht, die Runde am Hochmoor sind wir lange nicht gegangen.

So machte er sich nach dem Mittag auf den Weg. Es gab hier keine Wanderwege, schon gar keine Begrenzungen, man musste Acht geben, wohin man trat. Zwischen den Bäumen des Hochwalds bewegte man sich relativ sicher, konnte indes vieles, was die Natur im Moor bot, nicht entdecken. Doch ein Narr, der dem Moor näher kam als die hochgewachsenen Bäume es taten; noch ehe man den Fehltritt bemerkte, stak man fest, und es gehörte eine ganze Menge Arbeit und Glück dazu, sich wieder zu befreien. Krüppelkiefern, Sonnentau, die seltenen Schmetterlinge und Gräser sollte man besser aus der Ferne erahnen als der Versuchung nachzugeben, sie aus der Nähe zu beobachten. Selbst der Steg am Torfstich bot, da schon seit vielen Jahren nicht mehr in Benutzung, nur sehr trügerische Sicherheit. Der Alte aber kannte die Tücken des Holzwegs und tastete sich darauf vorsichtig an die sumpfige Fläche heran, um zu schauen, ob einige seiner alten Bekannten noch Präsenz zeigten.

Er wähnte sich allein im Moor und achtete nicht darauf, dass weit hinter ihm Bewegung ins Gebüsch kam. Wohl drehte er sich kurz um, er hatte im Augenwinkel etwas Ungewöhnliches bemerkt, doch er konnte nichts entdecken, es schien eine Täuschung zu sein. Auch wiederholte sich die Erscheinung nicht, als er weiterging, und so gelangte er ohne Arg zu seiner Kanzel, wie er die alte Hütte der Torfstecher nannte. Vorsichtig prüfte er die Sicherheit des Bodens, ehe er die Hütte betrat. Das nächste Mal würde er ein paar Lärchenholzbretter mitbringen und zwei oder drei Stellen ausbessern müssen. Da klatschte hinter ihm etwas ins Wasser, weit ab freilich, doch im Moor trug das Geräusch. Der Alte fuhr herum und trat in der Hast auf eine Stelle, die — wohl noch ungeprüft — unter ihm wegbrach. »Na gut«, brummte er missmutig, »vier Stellen« und versuchte mühsam, sich aus dem im Fußboden entstandenen Loch zu befreien. Dann lief er eilig zurück, um die Quelle des Geräuschs ausfindig zu machen. Ein Mensch hielt sich im Moor auf. Es gab keine andere Erklärung. Die größeren Tiere mieden den tückischen Morast, Wassergeflügel oder fallende Bäume klangen anders.

Er musste weit laufen, keine zwanzig Meter vom Ufer fand er einen Bruch im Steg, den er vorhin nicht gesehen hatte und der einen sehr frischen Eindruck machte. Er suchte die sumpfige Fläche ab und entdeckte einen Körper im Morast, der sich ihm abgewandt an Krüppelkiefern festhielt, weit genug entfernt, dass er ihn nicht erreichen konnte. In diesem Leib schien kaum noch Leben zu sein, so reglos und still lag er da, ohne Anstalten, nach dem Geräusch zu schauen, das der Alte ganz sicher beim Näherkommen verursacht hatte. »He, du«, rief er den Leblosen an, der durch keine Reaktion zu erkennen gab, den Ruf gehört zu haben. Der Alte fischte aus dem schlammigen Wassereinen Knüppel und stieß den Fremden damit an, erstschwach, dann stärker. Da plötzlich bewegte sich die bis dahinleblose Person, hustete und zitterte am ganzen Leib. »He, du, nicht bewegen! Kannst du mich verstehen?«, rief der Alte.

»Ja«, kam schwach, kaum hörbar, die Antwort.

»Pass auf, ich habe hier einen ordentlichen Knüppel«, sprach der Alte, so laut er konnte, »der reicht gerade bis zu dir hinüber. Den musst du packen, dann kann ich dich herüberziehen. Aber halt um Himmels willen die Füße still, sonst bist du verloren!«

Umständlich griff die Gestalt nach dem dargebotenen Stecken, ließ die Kiefern fahren und der Alte zog mit aller ihm verfügbaren Kraft, um die Beine des, wie man jetzt sah, jungen Mannes aus dem Untergrund zu befreien. Nass von den Füßen bis zum Kopf und schwarz vom Moor lag der Mann endlich auf dem Steg, neben ihm der nach Luft ringende Alte. »Eigentlich bin ich zu alt für so eine Scheiße«, japste er. »Warum läufst du Junge auch ins Moor, hier hat keiner was zu suchen, wenn er sich nicht richtig gut auskennt, und das tust du nicht, hast du ja bewiesen, du Dämlack. Mann, Mann, Mann, bringt den Kindern Vernunft bei, nicht bloß Videospiele! He, Junge!« In diesem Moment bemerkte der Alte, dass der eben Gerettete ihm nicht zuhören konnte. Er war wieder bewusstlos. »Mach keinen Mist, Junge«, fluchte er und versuchte, die Gestalt wieder zu sich zu bringen. »Ich krieg dich doch nicht über den alten Steg bis ans Ufer gezogen, der bricht mir doch weg.« Ein paar kräftige Ohrfeigen brachten endlich Leben in den jungen Mann, der sich die Wange haltend zur Seite drehte und seinen Mageninhalt dem Moor anvertraute.

»Tat’s weh? Sollte es auch. Kannst du aufstehen?«

Der Angesprochene nickte leicht und erhob sich schwerfällig. Er überragte den Alten um mehr als Haupteslänge und machte nun einen kräftigen, durchtrainierten Eindruck. Allerdings stand er noch recht unsicher auf seinen Beinen. Der Alte führte ihn langsam zum Ufer, wo der Waldboden sie freundlich in Empfang nahm. Froh, sicheren Boden unter den Füßen zu spüren, ruhten sie kurz aus.

»Wo kommst du überhaupt her, und was wolltest du im Moor? Wir haben ein gutes Stück Weg bis zu meiner Hütte, dort kannst du dich der nassen Klamotten entledigen und aufwärmen, du holst dir ja den Tod! Los, es pressiert grad ziemlich, ich hab dich nicht da rausgezogen, damit du erfrierst!« Den Jungen in dieser Art immer wieder antreibend, eilte der Alte durch den Wald, nicht Weg, nicht Steg achtend, nur schnell musste es gehen.

An der Hütte angekommen riss er ihm die Sachen vom Leib und stopfte sie in die Zinkwanne, den Jungen aber in ein eilig aufgeschlagenes Lager am Ofen, den er schnell auf Temperatur brachte. Seinen Gast hieß er liegenzubleiben, bis er anderes befahl, und warf ihm alles über, was die Hütte an Decken zu bieten hatte, dass nur Nase und Mund herausschauten. Dann kümmerte sich der Alte um die moorschwarzen Kleider, die er leidlich sauber bekam und zum Trocknen aufleinte. Die tiefen, regelmäßigen Atemzüge seines Patienten zeigten an, dass er schlief, und der Alte ließ es dabei bewenden. »Da schlaf erstmal, Junge«, brummte er, machte sich der fortgeschrittenen Zeit entsprechend an sein karges Abendmahl, ehe er selbst das Nachtlager aufsuchte. Hinterm Wald versank die Sonne.

Dem alten Mann schienen nur Augenblicke vergangen zu sein, bis sie wieder hoch am Himmel stand. »Ach«, brummte er, »sowas ist mir ja ewig nicht passiert, und ausgerechnet, wenn Gäste im Haus sind, verschlafe ich!« Eilig ging er an seine morgendlichen Verrichtungen, doch so leise und vorsichtig er alles erledigte, sein Gast erwachte. »Liegenbleiben!«, befahl der Alte, der Junge schickte sich drein und beobachtete den anderen, wie er das Feuer im Herd anfachte, Wasser holte, den Kessel füllte und dem Herd anvertraute, zwei große Tassen bereitstellte …

Der alte Mann brachte die gewaschenen Kleider. »Mach langsam, Junge, und wenn’s dir zu schwer fällt, dann bleib ruhig noch liegen.« Dem Jungen fiel es schwer, doch er wollte keine Schwäche zeigen vor seinem Gastgeber. Er zog sich an und wankte mehr schlecht als recht zum Tisch, wo er sich bleiern aufstützte und auf den angebotenen Stuhl fallen ließ. »Iss langsam, Junge, wir haben Zeit«, riet der alte Mann und schob seinem Gast eine Tasse mit heißer Brühe hinüber und eine Scheibe trockenes Brot. Selbst hatte er sich etwas hausgemachte Marmelade auf die Schnitte getan, in seinem Topf dampfte Kaffee. »Wenn du dich heute gut hältst, dann kann ich dir morgen auch was Besseres bieten, aber du solltest deine erste Mahlzeit noch nicht übertreiben. Wie heißt du überhaupt?«

»Sebastian.«

»Ich bin Theo. Was treibt dich hier heraus ans Ende der Welt? Wie bist du überhaupt hergekommen?«

»Ich hab mich herfahren lassen, sollte anrufen, wenn ich fertig bin und zurück will.«

»Das könnte schwierig werden. Ich hab kein Telefon.«

»Dazu gibt es doch Handys. Wenn man weiß, wie’s geht, kann man mit denen sogar telefonieren.«

»Ein paar Kilometer weiter gibt es eine Stelle im Wald, da könnte, wenn sich das Glück dir von der holden Seite zeigt, Handyempfang möglich sein. Aber, sag mal, wie ist eigentlich die maximale Tauchtiefe von diesen modernen Dingern?«

Der Junge stutzte. Dann griff er in die Jackentasche, zog die Hand ergebnislos wieder heraus. Der Alte holte eine Handvoll Kleinigkeiten vom Bord über dem Tisch und reichte sie dem fragend dreinblickenden Burschen. »Ich hab die Jacke vor der Reinigung ausgeräumt. Aber dein Telefon hier hatte schon im Hochmoor ordentlich was abgekriegt, das Batteriefach war total abgesoffen.«

Der Junge untersuchte das Gerät, ergebnislos. »Da muss ich eben bis ins nächste Dorf laufen.«

»Davor wirst du aber noch ein paar ordentliche Stullen essen müssen. Und du gehst nur in Begleitung, verstanden? Das sind fünfzehn Kilometer quer durch den Wald! Wir wollen doch nicht, dass du wieder ins Wasser fällst!«

»Geht in Ordnung. Ich werde mich nach Ihnen richten, Theo«, ergab sich der Junge in den Willen des alten Mannes.

»Und jetzt sag mir endlich, was du hier draußen wolltest und was zum Teufel dich geritten hat, ins Moor zu laufen!«

Der Junge überlegte. »Ja, also, die Sache ist die«, begann er, »ich hab Sie gesucht. Weil, also, weil, man sagt, dass Sie noch flechten und Besen binden und so, da wollte ich fragen, ob Sie für mich, gegen Bezahlung natürlich, ein paar spezielle Dinge …«

Der Alte glaubte ihm kein Wort, ließ sich aber nichts anmerken. »Deshalb läuft man aber nicht ins Moor!«

»Es war, weil ich Sie gesehen hatte, ich wollte schnell hinterher, und so ein Hochmoor kann man auch nicht jeden Tag im Dutzend besuchen.«

Der Junge lügt wie gedruckt, aber das kriegen wir noch raus, sagte sich der Alte. »Dann lass mal hören, was für besondere Stücke du dir von mir machen lassen willst.«

Der Bursche beschrieb einige eher gebräuchliche Schalen, oval, mit halbhohem Rand, zweifarbig, hatte der Alte alles schon oft gemacht, das einzig Außergewöhnliche waren die Maße, allein die Böden würden mehrere Tage brauchen. Der Alte unterbrach: »Das kannst du mir alles noch später genau aufzeichnen, wenn die Vorstellungen klarer geworden sind. Lass erstmal gut sein.« Er hatte bemerkt, wie sich der Bursche bemühte, schnell irgendetwas zu erfinden. »Über den Zweck deines Besuchs reden wir morgen nochmal. Jetzt legst du dich hin und schläfst ein paar Stündchen, es ist nicht leicht, als Moorleiche den Weg ins Leben zurückzufinden.« Der Junge gehorchte, und bald zeigte sein ruhiger Atem an, dass er den Schlaf ganz offensichtlich brauchte.

Der alte Mann weckte ihn nicht, sollte er sich erholen, und ging seinen alltäglichen Verrichtungen nach. Erst am späten Nachmittag, die Dämmerung nahte schon, rührte sich etwas in der Hütte, der Alte sah nach. Sein Gast stand gerüstet für seinen Aufbruch.

»Wo willst du jetzt noch hin?«, fragte der alte Mann. »Es ist viel zu spät zum Aufbruch, außerdem solltest du vor solchem Marsch wenigstens gegessen haben! Das wirst du wohl auf morgen verschieben müssen. Komm, zieh die Jacke aus, ich mach dein Essen warm, und wir reden noch ein wenig, ja?«

Der Angesprochene stand unschlüssig in dem einen Raum, den die Hütte beherbergte.

»Ach geh, setz dich, ich bring dich heute nirgendwo mehr hin. Ich käme ja nicht zurück«, bedrängte ihn der Alte. Das Argument schien zu überzeugen, der Junge hängte seine Jacke auf den Haken an der Tür und nahm Platz. »Worüber wollen wir reden?«, fragte er.

»Na, was du so machst, wie du lebst, eben all so Dinge, die man sich erzählt, wenn das Leben ganz zufällig zwei Leute zusammenführt.«

»Sind Sie das auf dem Foto?« Der Junge deutete zu dem Bild auf dem Bord.

»Ja, aber das bedeutet hier nichts, also, darüber reden wir jetzt nicht.« Dieser Auskunft des Alten haftete etwas Endgültiges, Unwiderrufliches an. Über dieses Thema wollte er nicht sprechen, und es würde nie geschehen. Erschrocken über die harsche Zurückweisung schickte sich der Junge drein.

»Also, was machst du, wo bist du zu Hause, erzähl mal«, forderte der Alte erneut und sah seinen Gast dabei von der Seite prüfend an.

»Ach, nichts Besonderes, ich arbeite auf dem Amt in der Stadt, wohn auch in der Stadt, zur Miete.«

»Hast du Frau und Kinder?«

»Nein, es ergab sich noch nicht. Und darüber will wiederum ich nicht sprechen.«

»Da hätten wir unsere Grenzen ja abgesteckt. Was ist das für ein Amt, wo du da arbeitest?«

Der Junge sagte nichts mehr, aß schweigend, was der Alte ihm vorsetzte, schwieg, als jener sein karges Abendmahl zu sich nahm und ihm auch davon anbot, und schweigend begab er sich mit dem Alten zur Ruhe.

»Gut Nacht dann, vielleicht bist du ja morgen gesprächiger«, rief der Alte von der Treppe noch, dann kehrte Ruhe in die Hütte ein.

»Was bist du auch so aufdringlich«, brabbelte er, als er sich in sein Lager vergrub, »du brauchst doch keinen Menschen, warst doch immer stolz drauf, ohne andere zurechtzukommen. Und jetzt willst du einen Wildfremden in ein Gespräch verwickeln. So stieselig-kauzig, wie du bist, lädt das sicher jedermann zum Plaudern ein. Aber der Junge, dein Jüngster müsste jetzt so in diesem Alter sein, und er heißt genauso … Alles Quatsch, sie suchen dich nie und nimmer. Du warst einfach nicht gut für sie, und sie leben weit weg, mindestens zwei Stunden mit dem Auto, und dann noch hier hoch … Deshalb hast du dich doch auch hier verkrochen, damit sie dich nicht finden. Du wolltest deine Ruhe, du wolltest dich nicht erinnern müssen. Ja, das war’s, du wolltest nicht daran denken, du bist abgehauen und hast alle Brücken hinter dir abgebrochen, du wolltest deiner Fehler und Versäumnisse nicht ansichtig werden, denn das Ding hast du dir ganz alleine reingewürgt!

Und warum steht das Foto auf dem Bord?«

Der alte Mann drehte und wälzte sich in dieser Nacht, Schlaf fand er nicht. Nichtsdestoweniger fand die Trauer ihn, und am Morgen war sein Kissen feucht wie die Wiesen, durch die er in der frühen Dämmerung tanzte, um nach schlafloser Nacht die Müdigkeit abzuschütteln und all die Gedanken zu vergessen, die ihn wach gehalten hatten. Den Jungen, der irgendwann in der Tür der Hütte auftauchte, lud er ein, barfuß durch das nasse Gras zu laufen; der zögerte erst, er kannte es nicht, doch ließ er sich überzeugen und von diesem morgendlichen Brauch begeistern.

Schweigend saßen sie danach beim Kaffee, und als auch dieses Ritual endete, fragte der Alte: »Du willst jetzt zurück?«

»Ich muss. Ich kann nicht länger bleiben, obwohl ich’s gern täte, vorausgesetzt, Ihr ließet mich.«

»Von mir aus kannst du bleiben. Was treibt dich fort?«

Der Junge schüttelte nur den Kopf.

»Ist es wegen der Sache, wegen der du herkamst und die du nun nicht besorgen kannst?« Der eindringliche Blick des Alten ließ kein Ausweichen mehr zu.

»Ja und nein. Was mich eigentlich hierher führte, kann ich nicht mehr erledigen, das ist richtig, doch zurück muss ich wegen ganz anderer Geschichten.«

»Und was das für Geschichten sind, kannst oder willst du mir nicht sagen. Es fällt nicht leicht, aber ich muss das akzeptieren. Wann musst du in der Stadt sein?«

»Heute Abend, es kommt nicht auf die Stunde an.«

»Und wo willst du hin, ins nächste Dorf, das sind fünfzehn Kilometer. Dort finden wir sicher ein Telefon, dass du jemanden rufen kannst, dich abzuholen. Oder zur nächsten Bushaltestelle, das sind nur acht. Ich weiß aber nicht, wann ein Bus fährt.«

»Ich nehme die Bushaltestelle.« Dem Burschen fiel ein Stein vom Herzen, dass es einen kürzeren Fußweg in die Zivilisation gab als den ins Dorf. Er mochte es eigentlich gar nicht, Wege zu Fuß zurückzulegen.

»Wir gehen nach dem Mittag los«, entschied der Alte, »du solltest wenigstens einmal ordentlich gegessen haben.«

Der Alte tafelte auf: Hammel, Bohnen, Klöße, Kompott. Es hätten gut vier Leute satt werden können. »Bei mir gibt es immer Schaf, wenn es Fleisch gibt. Büffel kann ich hier nicht halten«, meinte er.

Und er hatte es offenbar nicht eilig, den Weg zu erledigen, der noch bevorstand. Ehe er sich zum Kaffee in die Sonne zu seinem Gast setzte, verrichtete er noch diverse Küchenarbeit, bei der er sich partout nicht helfen lassen wollte. »Du bringst mir nur alles durcheinander«, brummte er fröhlich.

Als sie endlich beim Kaffee saßen, fragte ihn der Junge, wie er das alles gezaubert hätte.

»Ach, Fleisch, Gemüse und so, das ist alles eingekocht, siehst du da hinten in der Ecke unter der Treppe, da ist mein Keller drunter, nicht groß und im Frühjahr oder nach starken langen Regenfällen, da ist es dort unten etwas feucht, aber die Konserven halten recht gut. Und die Klöße, weißt du, man kann die Kartoffeln auch mit der Hand reiben.« Dabei lachte er, freute sich, dass er seinem Gast wenigstens diese Überraschung bereiten konnte.

Irgendwann waren dann die Tassen leer, des Alten Pfeife kalt und der Aufbruch nicht weiter zu verzögern. »Dann komm mal, Junge, wir sollten los«, forderte er auf, und wenige Augenblicke später marschierten sie über die Lichtung. Der alte Mann legte ein unerwartet straffes Tempo vor, sodass es seinem Begleiter anfänglich Mühe bereitete, ihm zu folgen. »Tut mir leid«, entschuldigte der sich, »ich bin das Laufen nicht gewohnt.« Der Alte nahm das ohne Regung zur Kenntnis.

---ENDE DER LESEPROBE---