Das Fragile-X-Syndrom - Petra Lang - E-Book

Das Fragile-X-Syndrom E-Book

Petra Lang

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Beschreibung

Sie sind zappelig, impulsiv, berührungsempfindlich und scheu. Später als andere lernen sie laufen und sprechen: Kinder mit Fragilem-X-Syndrom. Obwohl das Syndrom eine der häufigsten angeborenen Ursachen von Lernbeeinträchtigung und geistiger Behinderung ist, ist es auch unter Fachleuten noch zu wenig bekannt. Der lange Weg von der Beobachtung erster Verhaltensauffälligkeiten bis zur Diagnose kann daher für Eltern besonders leidvoll sein. In diesem Buch schildert die Mutter eines betroffenen Jungen ihre Erfahrungen bei der Suche nach einer Erklärung für das herausfordernde Verhalten ihres Kindes. Sie erzählt von der eigenen Unsicherheit, von Selbstzweifeln, von unzureichender fachlicher Aufklärung und von den Sorgen um die Zukunft eines dauerhaft behinderten Kindes. Sie zeigt aber auch, wie man sich der erzieherischen Herausforderung stellt und individuelle Lösungen für Alltagsschwierigkeiten findet. Neu in der zweiten Auflage hinzugekommen ist ein Kapitel zur Pubertät und zum Leben als Erwachsener mit Fragilem-X-Syndrom. Ergänzt wird dieser Erfahrungsbericht durch einen Überblick über den medizinischen, psychologischen und pädagogischen Kenntnisstand aus der Beratungspraxis eines Fachmanns. Dieser Teil wurde für die zweite Auflage aktualisiert. Ein Buch, das nicht nur informiert, sondern auch Mut macht! Mit Adressen und zahlreichen Literaturtipps, die weiterhelfen.

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Petra Lang, EDV-Fachfrau, hat einen Sohn, der vom Fragilen-X-Syndrom betroffen ist, und eine Tochter.

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski, Diplom-Psychologe, war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung und Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Sarimski, K.: Handbuch interdisziplinäre Frühförderung (2. Aufl. 2022; ISBN 978-3-497-03157-3)

Sarimski, K.: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in der Kita. Praxis-Know-how für Fachkräfte (2. Aufl. 2021; ISBN 978-3-497-03081-1)

Sarimski, K., Hintermair, M., Lang, M.: Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung (2. Aufl. 2021; ISBN 978-3-497-03067-5)

Sarimski, K.: Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in der Kita (2016; ISBN 978-3-497-02588-6)

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03243-3 (Print)

ISBN 978-3-497-61823-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61824-8 (EPUB)

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/RPMGsas (Agenturfoto. Mit Models gestellt)

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Teil I: Das Fragile-X-Syndrom – Die Entdeckung einer Behinderung (Petra Lang)

Einleitung

Am Anfang war nur Kinderkram

Die ersten vier Jahre

Fachleute – Ärzte, Therapeuten und andere Experten

Der Tag X

Offiziell – Die Bekanntgabe des Befundes

Chaos – Was sich im Innern abgespielt hat

Rituale – Was einen beschäftigen kann

Handfest – Praktische Dinge

Zwei Jahre nach der Diagnose

Vom Lernen und Älterwerden

Teil II: Pädagogische und psychologische Aspekte des Fragilen-X-Syndroms (Klaus Sarimski)

Worum handelt es sich beim Fragilen-X-Syndrom?

Ein spezifischer Verhaltensphänotyp?

Kognitive Stärken und Schwächen

Gibt es auch spezifische sprachliche Merkmale?

Soziale Scheu, Impulsivität und Hyperaktivität

Frühe Förderung

Soziale Beteiligung in Kindergarten und Schule

Fragiles-X-Syndrom und Autismus – hat das etwas miteinander zu tun?

Und was ist mit den Mädchen?

Was kommt nach der Schule?

Welche Unterstützung können Eltern finden?

Ein Wort zum Schluss

Anhang

Wo finden Fachleute Informationen zum Fragilen-X-Syndrom?

Welche Fachliteratur ist im Text erwähnt?

Welche Literatur kann für Eltern hilfreich sein?

Nützliche Adressen

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Tag X; nun ist es offiziell – und das Leben ist nicht mehr dasselbe, das es vorher war. Eine Mutter beschreibt ihre Erfahrung – den langen Weg bis zur Diagnose ihres Sohnes und den Alltag mit ihm. Kritisch mit den Ärzten, Psychologen und Pädagogen, die ihr lange Zeit nicht zu sagen vermochten, was die Ursache der Entwicklungsauffälligkeiten ihres Sohnes ist. Ohne zu beschönigen, was Verhaltensmerkmale wie „Hyperaktivität und Impulsivität“, „taktile Überempfindlichkeit“, „soziale Scheu vor fremden Anforderungen“, „ausgeprägtes Bedürfnis nach Ritualen“ für den gemeinsamen Alltag bedeuten, wenn sie eben nicht nur „Kinderkram“ sind, sondern dauerhafte Verhaltenseigenarten bei Kindern, bei denen ein Fragiles-X-Syndrom vorliegt. Und ohne zu verbergen, wie groß die Zweifel an der eigenen Kompetenz als Mutter vor der Diagnosestellung und die Trauer und Angst vor der Zukunft nach der Mitteilung einer dauerhaften geistigen Behinderung mit dem Namen „Fragiles-X-Syndrom“ waren.

Ein Einzelfall? Beileibe nicht. Das Fragile-X-Syndrom ist die zweithäufigste Form einer ererbten Behinderung der Lern- und Auffassungsfähigkeiten. Statistiken zeigen, dass mindestens jeder 4000. Junge von dieser Form der Behinderung betroffen ist. Bei vielen Kindern wird die Behinderung – anders als bei anderen genetischen Syndromen – erst spät erkannt. Das liegt u. a. daran, dass die Auffälligkeiten in der frühen Entwicklung eben oft „nur“ das Verhalten des Kindes betreffen – und doch die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind sehr belasten. Aber die Kinder lernen eben doch später (als andere) laufen, lernen viel später (als andere) sprechen – und man sieht ihnen ihre Behinderung nicht auf den ersten Blick an. Das macht es nicht unbedingt einfacher, wenn sich ein Kind auf dem Spielplatz, im Kindergarten oder beim Arzt so anders, so unberechenbar verhält. Allzu oft gelten die Kinder schlicht als ungezogen – und die Eltern als unfähig, ihre Kinder zu erziehen.

In einer solchen Situation kann die Mitteilung einer genetischen Veränderung, die mit einer kognitiven Behinderung und einer Disposition zu impulsivem Verhalten, sozialer Scheu und Reizverarbeitungsproblemen einhergeht, eine Entlastung bedeuten – von den Zweifeln an sich selbst. Diese Mitteilung kommt aber für viele Eltern viel später als es möglich wäre. Denn häufig vergeht viel Zeit, bis die Symptome von einem Kinderarzt ernstgenommen, die Eltern zu einer humangenetischen Untersuchung des Kindes überwiesen werden und ein spezieller Bluttest durchgeführt wird, der die Diagnose eines Fragilen-X-Syndroms bestätigt.

Dieser Band, der im Jahre 2003 in erster Auflage erschienen ist, enthält zwei Teile. Der Erfahrungsbericht zur Entwicklung von Michael soll dazu beitragen, die Kenntnisse über die Diagnose „Fragiles-X-­Syndrom“ und das Verständnis für die Besonderheiten von Kindern mit dieser Diagnose zu erweitern. Im zweiten Teil habe ich versucht, einen Überblick über die Bedürfnisse der Kinder und die pädagogischen und psychologischen Hilfen zu geben, die dazu beitragen können, dass ihre soziale Teilhabe bestmöglich gelingt. Für die hier vorliegende zweite Auflage habe ich diesen Überblick auf der Grundlage der umfangreichen Forschungsarbeiten, die in den letzten zwanzig Jahren zum Fragilen-X-Syndrom erschienen sind, aktualisiert und ergänzt. Wir hoffen, dass auch diese 2. Auflage das Interesse von Eltern sowie Fachkräften findet, die sich über das Fragile-X-Syndrom informieren möchten.

München, Herbst 2023

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski

Teil I: Das Fragile-X-Syndrom – Die Entdeckung einer Behinderung

Von Petra Lang

Einleitung

Eine Behinderung, die erst nach mehreren Jahren festgestellt wird? Was soll das sein? Kinder, die in den ersten Lebensjahren nur entwicklungsverzögert scheinen, stattdessen aber krank sind? Gibt es die? Mütter, die von Zweifeln geplagt werden, ob mit ihren Kindern tatsächlich alles in Ordnung ist? Was beunruhigt sie denn so? Ärzte, die sich nicht genügend auskennen? In unseren Breiten? All dies scheint doch eher in den Bereich der Sagen und Legenden zu gehören, aber nicht in ein so hochtechnisiertes und fortschrittliches Land wie Deutschland.

Und dennoch. Genau so fängt alles an. Mit einem Kind, das sich nicht der „Norm“ entsprechend entwickelt. Mit einer Mutter, der Dinge auffallen, die außer ihr scheinbar niemand sieht. Mit einem Arzt, der keine andere Diagnose stellt als „Leichte Entwicklungsverzögerung“. Es klingt vielleicht unglaublich, wie lange und hartnäckig sich eine solche Diagnose hält, wie viele Jahre vergehen können, wie viele überflüssige Untersuchungen gemacht werden müssen, bis endlich die „richtige“ Diagnose gestellt wird. Und dennoch. Genau so ist es uns ergangen.

Dies ist der Bericht von den ersten Lebensjahren unseres Sohnes, von einem Kind, das auf den ersten Blick völlig gesund erscheint. Doch unser Sohn ist von einer Krankheit betroffen, die kein Laie und kaum ein Fachmann zu kennen scheint. Diese Krankheit, die sich aus einer Vielzahl verschiedener Symptome zusammensetzt, heißt „Fragiles-X-Syndrom“.

Sie haben noch nie etwas davon gehört? Wie kann das sein, wo doch dieses Syndrom nach dem Down-Syndrom eine der häufigsten erblich bedingten Ursachen für Lernbehinderungen bis hin zu geistiger Behinderung darstellt? Dass dieses Syndrom unter Laien kaum bekannt ist, mag nachvollziehbar sein. Die Behinderung sieht man den Betroffenen – zumindest in jungen Jahren – kaum an. Dass Ärzte dieses Syndrom kaum oder gar nicht kennen, scheint bei einer Häufigkeit von etwa einem unter 4.000 Jungen doch etwas verwunderlich. Genau das ist aber ganz offensichtlich der Fall.

Mittlerweile sind knapp zwei Jahre vergangen, seit wir erfahren haben, dass unser Sohn von diesem Syndrom betroffen und damit behindert ist. Zum Zeitpunkt der Diagnose war er sechseinhalb Jahre alt. Mit dem Erhalt der Diagnose hat sich für uns vieles verändert. Unzählige Fragen wurden aufgeworfen. Viele blieben bis heute unbeantwortet. Eine der Fragen, auf die ich in der Literatur keine Antwort gefunden habe, lautet:

„Wie erleben Eltern es, wenn sie nach vielen Jahren erfahren, dass ihr Kind behindert ist?“

Diese Frage brachte mich auf die Idee, selbst etwas darüber zu schreiben. Über den Weg zum Befund. Und über die Zeit danach.

Am Anfang war nur Kinderkram…

Kinderkram – damit meine ich all die Ungereimtheiten, die sich im Laufe der ersten Jahre in der Entwicklung desjenigen zeigen, um den es hier gehen soll: Unseren Sohn Michael.

Kinderkram – dieses Wort ist ironisch gemeint. Für mich ist all das, was mich beunruhigt, kein Kinderkram, keine Kleinigkeit, die nicht ernstgenommen zu werden bräuchte. Meine Umwelt sieht das offensichtlich ganz anders.

Kinderkram – für mich auch ein Synonym für den Eindruck, den meine Bedenken hinsichtlich der Entwicklung unseres Sohnes in den ersten Jahren bei Außenstehenden offensichtlich hinterlassen.

Kinderkram – von Erwachsenen nicht ganz ernstzunehmende Vorkommnisse, die keiner Würdigung bedürfen.

Kinderkram – Bedenken einer Mutter, die in den Wind geschlagen werden.

Alles Kinderkram eben – oder etwa doch nicht?

Die ersten vier Jahre

Unser Sohn Michael wird im Winter 1992 geboren. Bei einer Routineuntersuchung setzen die Herztöne des Ungeborenen plötzlich aus. Ein Kaiserschnitt wird eingeleitet. Alles geht rasend schnell. Ich habe keine Zeit, großartig darüber nachzudenken, was mit mir passiert. Als ich aus der Narkose erwache, halte ich ein kleines Bündel Mensch im Arm. Mein erster Gedanke ist: „Ist das Kind auch gesund?“ Ja, alles ist bestens. Die ersten Untersuchungen ergeben, dass alle Werte in Ordnung sind. Wir sind glücklich, auch wenn mein eigener Gesundheitszustand zu wünschen übrig lässt. Nach 16 Tagen dürfen wir endlich gemeinsam das Krankenhaus verlassen und uns zu Hause richtig aneinander gewöhnen. Da Michael mein erstes Kind ist, betrachte ich ganz genau, was mit ihm so vor sich geht. Jede noch so kleine Veränderung beäuge ich kritisch. Manchmal fühle ich mich unsicher.

Was mir schon im Krankenhaus auffällt und mich auch später zu Hause nachdenklich stimmt, ist Michaels recht großer Kopf. Auch nach Monaten bereitet es ihm noch große Schwierigkeiten, ihn alleine aufrecht zu halten. Während die gleichaltrige Tochter einer Freundin ihren Kopf mittlerweile ohne Mühe selbst halten kann, kippt Michaels Kopf immer noch nach hinten weg, sobald ich ihn nicht mehr stütze. Mit Muskeltraining in der Bauchlage schaffe ich relativ schnell Abhilfe, so dass Michael nach ein paar Wochen seinen Kopf sehr gut selbst aufrecht halten kann. Es gibt für mich zunächst keinen weiteren Grund, beunruhigt zu sein.

Ein paar Monate nach Michaels Geburt habe ich das Gefühl, dass mit dem Hörvermögen des Kindes irgendetwas nicht stimmt. Ich erzeuge Geräusche und prüfe, ob er reagiert und in die Richtung schaut, aus der die Geräusche kommen. Seine Reaktionen sind nicht ganz eindeutig. Meine Bedenken bleiben bestehen. Also gehe ich zum Kinderarzt und teile ihm meine Befürchtung mit. Er prüft Michaels Gehör, stellt jedoch keine Beeinträchtigung des Hörvermögens fest. Alles in Ordnung.

Seine ersten Worte sind „Mama“ und „Papa“, aber er benutzt sie recht selten. Viel lieber brabbelt er vor sich hin, ohne dass ich verstehe, was er sagen will. Meine anfängliche Sorge schiebe ich beiseite. Schließlich ist Michael ja nicht stumm. Geduld üben und abwarten. Es wird schon alles gut werden.

Ein Kind zu versorgen, das sich lediglich durch Brabbeln bemerkbar macht, ist nicht einfach. Viel Raten. Viel Irren. Mit 30 Monaten kommt dann das erste Wort. Natürlich sprechen zu diesem Zeitpunkt alle anderen Gleichaltrigen schon. Aber das kann ja schon mal passieren. Alles noch im Rahmen. Ist eben ein Junge – und Jungen sind ja sowieso immer etwas langsamer als Mädchen.

Michael spielt nicht gerne allein. Viel lieber schaut er zu, wie ich spiele. Er ist interessiert, zeigt aber kaum Eigeninitiative. Mein Nachfragen beim Kinderarzt bringt keine zufrieden stellende Antwort. Es ist alles in Ordnung. Jedes Kind entwickelt sich eben anders.

Auf dem Spielplatz fühlt sich Michael nicht wohl. Sand? Igitt! Bloß nicht den Sand berühren. Interesse an Spielgeräten oder daran, mit anderen Kindern zu spielen? Scheint nicht vorhanden zu sein. Zugucken? Na gut. Mein Kinderarzt findet auch das völlig normal. Ich habe einfach kein Sandkasten-Spielplatz-Kind.

Auch nach drei Jahren nimmt das „Spielen-lassen“ kein Ende. Bin ich so dominant, dass das Kind sich nicht traut, mal alleine zu spielen? Oder kann es sich einfach nicht gut alleine beschäftigen? Oder läuft da doch etwas nicht richtig? In diesem Alter sollte das doch langsam möglich sein, oder? Kein Grund zur Besorgnis, sagt mein Kinderarzt.

Laufen funktioniert motorisch betrachtet schon mit rund zehn Monaten. Aber Michael geht nur, wenn ich ihm beide Hände halte. Scheinbar hat er große Angst davor, loszulassen. Erst acht Monate später läuft er alleine. Alles noch im Rahmen.

Natürlich ist mir bewusst, dass ein kleines Kind einem immer am Rockzipfel hängt. Aber ab einem bestimmten Alter sollte doch der Zeitpunkt erreicht sein, an dem eine erste Loslösung stattfindet, oder? Der eine braucht eben kürzer, der andere etwas länger. Halb so wild, meint einmal mehr der Kinderarzt.

Es irritiert mich, dass Michael über das normale Maß hinaus schüchtern ist, wenn fremde Leute ins Haus kommen. Kinder sind zwar verschieden, aber Michael weicht in Gesellschaft nicht von meiner Seite.

Laute und durchdringende Geräusche verträgt Michael überhaupt nicht. Ganz schrecklich ist es für ihn, wenn z. B. eine Bohrmaschine zum Einsatz kommt, oder wenn er ein Flugzeug hört. Michael schreit laut auf und beruhigt sich erst, wenn das Geräusch nachlässt.

Michael ist eigentlich ein guter Esser. Allerdings nur, wenn ich ihn füttere. Selbst als er schon lange feste Nahrung zu sich nehmen kann, lässt er sich die Happen von mir immer noch in den Mund schieben. Verlasse ich den Tisch, um etwas zu holen, schiebt er seinen Teller weg und beendet die Mahlzeit. Mit seinem Besteck will er nicht essen. Er akzeptiert nur, dass ich ihn füttere.

Es sind all diese Kleinigkeiten, die mich stutzig machen und mich beunruhigen. Ich spüre instinktiv, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. All die gut gemeinten Beruhigungen des Kinderarztes ändern an meinem Gefühl absolut nichts. Entwickelt Michael sich nur langsamer als andere Kinder? Ist wirklich alles nur Kinderkram? Oder werde ich nicht ernstgenommen?

Das Leben unserer Familie ändert sich, als unser zweites Kind, Lena, geboren wird. Michael ist zu diesem Zeitpunkt dreieinhalb Jahre alt. Er ist von Anfang an hochgradig eifersüchtig. Nicht nur, dass er immer dann besonders viel Unsinn macht, wenn ich gerade mit dem Säugling beschäftigt bin. Vielmehr versucht er unaufhörlich, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sobald Lena das Krabbelalter erreicht, fängt Michael an, sie auf den Boden zu drücken. Ziemlich heftig und ziemlich oft. Sein Verhalten irritiert mich, zumal diese Handgreiflichkeiten Lena gegenüber mit der Zeit auch nicht weniger werden. Irgendwann sollte er sich doch an seine Schwester gewöhnt haben. Schließlich widme ich beiden Kindern meine ganze Aufmerksamkeit. Der Kinderarzt findet wieder beruhigende Worte. Meine Bedenken verwirft er.

Besonders bei der Körperpflege verhält sich Michael nicht so, wie ich es erwarte. Er wehrt sich vehement, wenn er baden soll. Er läuft schreiend weg, wenn ich ihm die Nägel schneiden will. Er lässt sich nicht die Haare waschen. Er lässt keinen an seine Ohren heran.

Arztbesuche sind eine Tortur, weil er sich weder anfassen lässt noch auf Fragen eingeht, die ihm gestellt werden. Für die Ärzte kein Grund zur Beunruhigung.

Michael schläft nachts unruhig. Immer wieder deckt er sich auf. Oft brabbelt er auch nachts weiter. Auffällig finde ich, dass er immer sehr früh morgens aufsteht, egal wann er abends ins Bett gegangen ist.

Die Entwicklung unserer Tochter, die so ganz anders verläuft als die unseres Sohnes, verstärkt meine Bedenken. Klar, sie ist das zweite Kind. Und dazu ist sie auch noch ein Mädchen. Ist dies aber eine zufrieden stellende Erklärung? Ist Michaels Verhalten wirklich bloß Kinderkram?

Betrachte ich jeden dieser Punkte für sich, so ist sein Verhalten vielleicht doch nicht so auffällig, wie ich es meine. Und alle bestätigen mir ja immer wieder, dass mit Michael alles in Ordnung ist. Meine Zweifel aber bleiben. Sein Verhalten beschäftigt mich täglich, es prägt mehr und mehr mein Leben und belastet mich und unser Familienleben in zunehmendem Maße.

Michael ist stets ein fröhliches, freundliches und recht gesundes Kind. Sein Schmerzempfinden ist offensichtlich nur sehr gering ausgeprägt. Hat er sich einmal wehgetan, geht er ziemlich rasch darüber hinweg und beschwert sich auch nicht sonderlich über eventuell vorhandene Schmerzen. Auch ist er relativ selten krank. Die wenigen Infekte, die er hat, machen sich mit gerötetem Trommelfell und Ohrenschmerzen bemerkbar. Allerdings wird niemals eine Mittel­ohrentzündung diagnostiziert. In der Zeit, in der er Zähne bekommt, hat er meistens auch einen Infekt. Er bekommt allerdings nicht Zahn für Zahn, sondern immer gleich drei oder vier auf einmal.

Alles in allem gibt es während der ersten vier Lebensjahre keine deutlichen und unumstößlichen Anzeichen dafür, dass mit unserem Sohn etwas Grundlegendes nicht stimmen könnte. Die obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen bringen keinerlei negativen Befund. Zwar spricht der Arzt von einer leichten Verzögerung in Michaels Entwicklung. Grundsätzlich aber gebe es keinen Grund zur Beunruhigung.

Und dennoch – meine Zweifel werden immer stärker. Mein ungutes Gefühl lässt sich nicht schönreden. Meine Beobachtungen werden immer wieder durch Michaels Verhalten bestätigt. Aber außer mir und meinem Mann scheint das niemand zu bemerken. Vielleicht liegt ja auch alles nur an mir. Eine unerfahrene Mutter, nicht streng genug in der Erziehung, die ihr Kind überbehütet. Ich spüre, wie man mehr und mehr versucht, in meinem Verhalten die Ursache für Michaels Auffälligkeiten zu sehen. Es wird mir nahegelegt, meine Erziehungsmethoden zu überdenken, anstatt dauernd an der Gesundheit und den Fähigkeiten unseres Sohnes zu zweifeln. Also, nicht hadern, sondern an mir selbst arbeiten.

Dann, nach gut viereinhalb Jahren, wird Michael mit der Welt außerhalb seiner behüteten vier Wände konfrontiert, ohne dass wir dabei sind. Für ihn ist die Zeit gekommen, in den Kindergarten zu gehen.

Die folgenden zwei Jahre mit Michael sind in besonderer Weise durch ärztliche Diagnosen, therapeutische Maßnahmen und weiteres „Expertenwissen“ geprägt.

Fachleute – Ärzte, Therapeuten und andere Experten

August 1997