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1964: Sabine wird in der Firma von ihrem Chef und daheim von ihrer Mutter und dem Stiefvater Heinz gegängelt. Mit 19 Jahren ist sie noch längst nicht volljährig. Heinz und ihre Mutter sorgen sich ständig um ihren guten Ruf. Wie soll Sabine sonst einen ordentlichen Mann finden? Als Sabine sich in Michael verliebt, scheint ihr Traum von der Freiheit zum Greifen nah. Durch den Sohn einer reichen Industriellenfamilie öffnen sich die Türen zu einer Welt voller Verheißungen. Doch dann wird Sabine ungewollt schwanger – und von Michael verlassen. Ihre Eltern setzen sie vor die Tür. Für Sabine beginnt ein einsamer Kampf um ein selbstbestimmtes Leben mit ihrer Tochter.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2021
Claudia Kaufmann
Roman
Roman
1964: Die Beatles erobern gerade die Welt, und Amerika tritt in Vietnam in den Krieg ein. Vier Jahre später werden die 68er dem Jahr ihren Stempel aufdrücken – doch in der kleinen Welt der neunzehnjährigen Sabine ist von Aufbruch noch nichts zu spüren. Ihre Volljährigkeit ist zwei Jahre entfernt, und sie wird von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater ebenso gegängelt wie von ihrem Chef, für den sie als "Tippse" arbeitet.
Als sie sich in den Sohn einer sehr reichen Familie verliebt, scheint sich endlich die Tür zur Freiheit zu öffnen. Doch dann wird Sabine ungewollt schwanger. Als Mutter eines unehelichen Kindes hat sie kaum Rechte. Damit sie ihre Tochter behalten und selbst erziehen darf, beginnt sie einen fast aussichtslosen Kampf – gegen alle Widerstände.
Der Roman erzählt vom Weg eines naiven Mädchens zu einer selbstbewussten Frau, zeichnet aber auch ein Bild der Bundesrepublik in der Zeit, in der die Pille die Moralvorstellungen veränderte und die Auschwitz-Prozesse das große Schweigen brachen.
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Claudia Kaufmann wurde in Salzburg geboren und ist in München aufgewachsen. Sie ist Autorin zahlreicher Drehbücher, die für die ARD und das ZDF verfilmt wurden. Ursprünglich kam sie über das Schreiben von Romanen zum Film und kehrt mit diesem Buch zu ihren Anfängen zurück. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
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Prolog
Sabine hatte kaum die Tür...
Es war Schmuddelwetter, und [...]
Epilog
Das Klingeln des Smartphones ließ Sabine im Bett hochschrecken. Andrea verriet ein Blick auf das Display. Sie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Stimme ihrer Tochter klang aufgeregt, sie drohte sich in einem Wortschwall zu verhaspeln. Sabine hatte Mühe zu begreifen, worum es ging.
»Was sagst du? Lilly ist verhaftet worden?«
»Ja! Und ich bin in Berlin und habe morgen früh ein wichtiges Meeting. Ich kann unmöglich kommen. Du musst sie da rausholen.«
»Was ist denn passiert? Hat sie jemanden umgebracht?«
»Haha, sehr lustig, Mutter! Sie hat auf einer Demo Steine geschmissen, das dumme Kind.«
»Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich drum«, sagte Sabine. Sie ließ sich noch erklären, auf welchem Polizeirevier Lilly festgehalten wurde, und versprach Andrea, anzurufen, sobald Lilly wieder sicher zu Hause wäre.
»Kann sie bei dir bleiben, bis ich zurück bin? Ich würde ruhiger schlafen.«
Sabine versprach auch das und begann sich anzuziehen. Dann griff sie nach dem Autoschlüssel und verließ das Haus. Wenig später parkte sie ihren Mini vor dem Polizeirevier.
»Oma!«, grinste Lilly, als ein Polizeibeamter sie bei Sabine ablieferte. »Hat sie dich aus dem Bett geschmissen? Tut mir echt leid!«
»Ich werd’s überleben«, sagte Sabine.
Lilly durfte gehen, würde aber mit einer Anzeige rechnen müssen, wie ihr der Beamte klarmachte. Lilly wollte gerade etwas dazu sagen, doch ihre Großmutter kam ihr zuvor, verabschiedete sich höflich und schob Lilly Richtung Tür.
»Hat doch keinen Sinn, sie weiter zu provozieren.«
»Ich würde jederzeit wieder Steine auf das Nazipack schmeißen«, sagte Lilly, die von ihrer Verhaftung wenig beeindruckt war. Du hättest sie sehen sollen, diese Arschlöcher, wie sie ihre Parolen gebrüllt haben … einfach nur widerlich. Und nicht die werden eingebuchtet, sondern wir.«
»Aber Steinewerfen ist kaum die richtige Antwort«, versuchte Sabine einen pädagogischen Einwand.
»Schade, dass ich keinen von denen richtig getroffen habe«, grinste Lilly.
Sabine grinste ebenfalls. Im Grunde war sie stolz auf ihre Enkelin, sie hätte es nicht viel anders gemacht.
»Deine Mutter hätte gern, dass du bei mir wohnst, bis sie zurückkommt.«
»Wahrscheinlich hat sie Angst, dass ich demnächst in den bewaffneten Untergrund abwandere«, scherzte Lilly. »Aber gut, bei dir kriege ich wenigstens was Anständiges zu essen. Du weißt ja, wie Mama kocht.«
Sabine lachte. »Ruf sie an, damit sie sich keine Sorgen mehr macht!«
Später lümmelten sie zusammen auf Sabines breitem Sofa. Sabine hatte Lilly wie in ihren Kindertagen Kakao gekocht, und Lilly gefiel es, so bemuttert zu werden. Nach den Kämpfen der Pubertät fand sie es mit achtzehn ganz schön, sich ab und zu wieder zurück in die Kindheit fallen zu lassen.
Sie betrachtete die stattliche Zahl von Familienfotos, die Sabine auf ihrer Kommode aufgereiht hatte. Viele Fotos von ihrer Tochter Andrea und noch mehr von ihrer Enkelin Lilly. Dahinter, fast versteckt, ein Hochzeitsfoto von Sabines Eltern in Schwarz-Weiß. »Deine Urgroßeltern«, sagte Sabine, wobei die Verhältnisse etwas komplizierter waren, aber einer zu langen Erklärung bedurft hätten. Lilly nahm das Foto daneben in die Hand, das ein ernst dreinschauendes Mädchen neben zwei Erwachsenen zeigte.
»Das hab ich noch nie gesehen, bist du das?«, fragte sie.
»Ja, da war ich in deinem Alter. Das war nach dem Standesamt, als meine Mutter Heinz geheiratet hatte.«
»Du siehst nicht gerade glücklich aus.«
»War ich auch nicht.«
»Die Frisur!« Lilly inspizierte das hochtoupierte Kunstwerk genauer. »Und das Kostüm! Du siehst aus, als wärst du fünfunddreißig oder so.«
»Damals gab es noch keine Mode für junge Leute. Die Zeiten waren so anders, das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.«
Lilly nahm ihr Smartphone aus der Tasche und fotografierte das Bild ab. »Das poste ich auf Instagram.«
Sabine nahm ihr das Foto aus der Hand und betrachtete es lange.
Sabine hatte kaum die Tür aufgeschlossen, als ihre Mutter schon ungeduldig nach ihr rief. »Wo warst du nur so lange? Komm, du musst mir helfen!«
Sabine ging in die Küche, wo Brigitte nervös herumfuhrwerkte. »Kannst du bitte den Braten begießen? Nicht dass der noch trocken wird.«
Sie lief nach nebenan ins Wohnzimmer, um Platzdeckchen gerade zu rücken, nicht vorhandene Staubflusen zu entfernen und den Lesezirkel in den dafür vorgesehenen Zeitungsständer zu räumen. Dann sah sie sich prüfend im Zimmer um.
»Alles perfekt für deinen Besuch«, versuchte Sabine sie zu beruhigen. Sie fand den Aufwand, den ihre Mutter für Heinz veranstaltete, reichlich übertrieben.
»Unseren Besuch«, verbesserte Brigitte und band sich die Schürze ab. Vor dem Spiegel im Flur zog sie sich die Lippen nach, kontrollierte, ob die Dauerwelle saß, und probierte ein gewinnendes Lächeln. Sie musterte Sabine mit prüfendem Blick.
»Du solltest eine frische Bluse anziehen. Die blaue steht dir doch so gut.«
»Er will doch nicht mich heiraten«, sagte Sabine. Sie mochte Heinz nicht besonders. Sein Blick, der sie stets von oben bis unten musterte, und dann die immer gleiche Bemerkung, dass die Männer bei einer so hübschen jungen Dame wie ihr sicher Schlange stünden. Und schon gar nicht mochte sie die Unterwürfigkeit, mit der ihre Mutter ihm begegnete. Aber Brigitte war entschlossen, ihn als Ehemann zu gewinnen, und aus seinen Andeutungen neulich schloss sie, dass er ihr heute einen Antrag machen würde, und war dementsprechend aufgeregt. Sabine freute die Aussicht, Heinz als Stiefvater zu bekommen, weit weniger.
»Liebst du ihn denn?«, hatte sie ihre Mutter einmal gefragt, weil sie sich unmöglich vorstellen konnte, in einen Mann wie Heinz verliebt zu sein, und ein resigniertes Lächeln zur Antwort bekommen.
»Liebe«, hatte Brigitte gesagt und das Wort gedehnt, als würde sie versuchen, seinen Sinn zu begreifen. Dann hatte sie Sabine erklärt, dass man als Frau ohne Mann nichts gelte und in ihrem Alter nicht mehr allzu wählerisch sein könne.
Brigitte war Anfang vierzig und immer noch eine attraktive Frau. Die feinen Linien um Mund und Augen traten nur hervor, wenn sie müde war, und die grauen Strähnen im Haar färbte sie kastanienbraun. Doch in ihrem Alter waren die Ehemänner rar – so viele waren im Krieg geblieben. Die Aussicht, bis zu ihrer kümmerlichen Rente im Kaufhaus Hertie zu stehen und sich von arroganten Kunden schikanieren zu lassen, war nicht sonderlich verlockend. Da war sie als Ehefrau von Heinz besser dran.
Heinz mit seinen schwitzigen Händen, dem Bauch und dem bereits schütteren Haar. Wenn er mit am Tisch saß und wartete, dass Brigitte ihm auftat, wirkte das Zimmer plötzlich noch kleiner, als es ohnehin war. Als würde er allen Raum für sich allein beanspruchen. Er war zweiundfünfzig und kam Sabine uralt vor, aber als Inhaber eines Installateurbetriebs war er eine gute Partie, und Brigitte würde nicht mehr arbeiten müssen, denn er verdiente genug.
Wie von Brigitte erhofft, kam er diesmal mit einem Blumenstrauß und hatte sich in einen Anzug gezwängt. Als der Sonntagsbraten mit den Knödeln verzehrt war und Brigitte den selbst gebackenen Kuchen hereintrug, stand er auf, hüstelte und hob zu einer Rede an, in der von der Hälfte eines Ganzen die Rede war, wobei er den Vergleich mit einer Semmel bemühte und sich ziemlich verhedderte. Doch am Ende der etwas unglücklich gewählten Metapher fragte er Brigitte, ob sie ihn heiraten wolle.
»Ja!«, rief Brigitte und strahlte über das ganze Gesicht. Zum Kuchen gab es dann den Sekt, den sie für diesen Anlass vorsorglich in den Kühlschrank gestellt hatte, und als sich die neu Verlobten küssten, schaute Sabine weg. Dann wurde sie ebenfalls von Heinz umarmt, etwas zu lange, wie ihr schien, und als er auch sie küssen wollte, drehte sie schnell den Kopf zur Seite.
Heinz erinnerte sie an Kampmüller, einen der Abteilungsleiter bei Linde, wo sie als Sekretärin arbeitete. Eigentlich stand Stenotypistin in ihrem Arbeitsvertrag, intern Tippse genannt, und das Gehalt war dementsprechend bescheiden, aber Sabine fand, dass Sekretärin besser klang. Kampmüller war ihr Vorgesetzter, und obwohl sie ihm möglichst aus dem Weg ging, schaffte er es oft, sich so an ihr vorbeizudrücken, dass er ihren Busen streifen musste. Aber ansonsten war es ein halbwegs angenehmer Job, und sie musste sich nicht wie ihre Mutter als Verkäuferin die Füße platt stehen.
Jetzt wartete Heinz ungeduldig darauf, dass sie ihrer Freude über die neue Familienkonstellation Ausdruck verlieh, und sie versuchte, ihm durch entsprechendes Grinsen den Gefallen zu tun. Schließlich, wie er ihr zuzwinkerte, bekam sie jetzt einen neuen Vater, den eine so hübsche Stieftochter sicher mühelos um den Finger wickeln konnte.
Die Vermählung auf dem Standesamt war eine nüchterne Angelegenheit. Weder Heinz noch Brigitte legten Wert auf eine große Hochzeit, das Geld konnte man sinnvoller ausgeben. Dass es zu regnen begann, als sie aus dem Taxi stiegen, das sie sich ausnahmsweise geleistet hatten, passte zu Sabines Stimmung.
Hinterher standen sie alle aufgereiht auf den Stufen vor dem Standesamt und warteten darauf, dass ein Fotograf sie ablichtete. Es war Anfang April, und nach ein paar sonnigen Frühlingstagen war es wieder empfindlich kalt geworden. Sabine fror in ihrem dünnen Kostüm und wünschte, er würde sich beeilen. »Und jetzt lächeln«, befahl er und war unzufrieden, weil Sabine nur widerwillig das Gesicht verzog. Endlich waren die Bilder im Kasten, und sie gingen zum Essen in ein nahe gelegenes Gasthaus mit bürgerlicher Küche.
Sabine hatte eine andere Vorstellung von einer Hochzeit, vor allem von ihrer eigenen. Sie konnte ohnehin nicht verstehen, wie man eine Verbindung aus rein praktischen Gründen eingehen konnte. Sie träumte von der großen Liebe, wie sie in Romanen geschildert und in Filmen gezeigt wurde, und war überzeugt, dass sie ihr eines Tages begegnen werde. Die Krönung dieser Liebe würde die Heirat sein, und Sabine würde als strahlende Braut in Weiß zum Altar schreiten.
Jetzt stand sie auf dem Balkon ihrer zukünftigen Wohnung und schaute hinunter auf das dürftige Fleckchen Rasen, das den Eingang zierte. Ein paar verspätete Schneeflocken wirbelten durch die Luft, als wollten sie dem kommenden Frühling partout den Platz verwehren. Es war kalt, aber Sabine wollte nicht hineingehen. Sie beobachtete eine Krähe, die sich auf dem Balkon des Betonklotzes gegenüber niedergelassen hatte, sich umsah und unter Krächzen wieder davonflog. Sie schien sich hier auch nicht wohlzufühlen.
Fürstenried, das klang für Sabine wie das Ende der Welt. München bestand für sie aus Schwabing und der Innenstadt. Die alte Wohnung war in der Schleißheimerstraße, auch keine besonders gute Gegend, doch zumindest näher am Zentrum.
Nebenan im Wohnzimmer blätterten Heinz und Brigitte in einem Möbelkatalog. Ein Ehebett musste angeschafft werden, nachdem es Heinz bis jetzt gelungen war, den heiratswilligen Damen aus dem Weg zu gehen, wie er grinsend sagte. Da musste erst Brigitte kommen, die sein Herz im Sturm erobert hatte. Nicht zuletzt durch ihre Kochkünste, denn Liebe ging nun mal durch den Magen.
Sabine war vor seinem Gesülze auf den Balkon geflüchtet und fragte sich, ob ihr Leben auch einmal so aussehen würde wie das ihrer Mutter, ob das Schicksal auch sie einmal zwingen würde, einen solch schalen Kompromiss einzugehen. Der Gedanke war so trostlos, dass sie beinahe laut Nein! geschrien hätte. Sie würde sich nicht mit einem solchen Leben zufriedengeben. Sie wollte mehr, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das erreichen konnte.
Zuvor hatte Heinz »seine Damen« stolz durch seine Wohnung geführt. »Alles ganz modern«, hatte er betont. Brigitte war selbstverständlich schon hier gewesen, ein Besuch, der sie nicht zuletzt in ihrem Entschluss, Heinz als Ehemann zu gewinnen, bestärkt hatte. Denn nun würde das alles ihr Reich sein, und sie sah sich stolz darin um. Sogar eine Waschmaschine hatte Heinz für sie bestellt, und das Prunkstück der Wohnung, in der rustikale Eiche dominierte, war ein in eine Schrankwand integrierter Fernsehapparat. Mittlerweile gab es sogar zwei Programme, das hieß für Sabine, dass sie bei den Kantinengesprächen, die sich hauptsächlich um das Fernsehprogramm drehten, künftig mitreden konnte.
Das Haus hatte auch einen Aufzug, der sich mit einem Ruck, der kurz für Erschrecken sorgte, in Bewegung setzte. Sabines Zimmer war größer und heller als in der alten Wohnung, trotzdem verursachte ihr der Gedanke, hier mit einem quasi Fremden zusammenzuleben, Beklemmung. Aber als sie vorsichtig angedeutet hatte, dass sie lieber allein wohnen würde, sagte Brigitte kategorisch nein. Sabine war gerade erst neunzehn geworden und hatte keine Wahl. Die ersehnte Volljährigkeit war noch zwei Jahre entfernt. Außerdem hätte sie sich mit ihrem Gehalt nur ein Zimmer zur Untermiete leisten können, und das wäre nicht viel besser gewesen.
Heinz wollte nichts von Brigittes »altem Krempel« in seiner Wohnung sehen, weshalb sie vor dem Umzug rigoros ausmistete. Lediglich Sabines Bett und Schrank durften mit in die neue Wohnung, die restlichen Möbel kamen auf den Sperrmüll. Auch viele Erinnerungsstücke landeten bei den ausrangierten Sachen, doch als Brigitte auch Sabines wenige Kinderbücher wegwerfen wollte, protestierte sie.
»Den Trotzkopf will ich behalten!«, rief sie und riss ihrer Mutter das Buch aus der Hand. Sie hatte es immer wieder gelesen und konnte noch ganze Passagen auswendig. »Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten«, zitierte sie. »Und das Unglück schreitet schnell.«
Sobald Brigitte und Sabine die Kisten mit Kleidung und persönlichen Gegenständen in Heinz’ Wohnung geschleppt hatten, wurden sie in Windeseile ausgepackt und eingeräumt, denn Heinz mochte keine Unordnung und sollte nicht mit den Widrigkeiten des Umzugs behelligt werden. Sein Arbeitstag war anstrengend genug, es war jetzt Brigittes Aufgabe, ihm das Leben so bequem wie möglich zu gestalten.
Bei Heinz hatte alles seinen angestammten Platz. Block und Kugelschreiber zum Notieren wichtiger Nachrichten mussten stets exakt neben dem Telefon im Flur liegen, und Sabine, die es mit der Ordnung nicht so genau nahm, musste sich einen langen, ermüdenden Vortrag darüber anhören, welchen Zweck ein Notizblock neben dem Telefon erfüllte. Offenbar hatte sich Heinz vorgenommen, vermeintliche Defizite in ihrer Erziehung auszugleichen, oder er hörte sich selbst gern reden, jedenfalls fand er schwer ein Ende. Sabine schaltete auf Durchzug, sobald er das Wort an sie richtete, versuchte, dabei aber möglichst interessiert auszusehen, denn wenn er merkte, dass sie nicht zuhörte, sah er sich genötigt, das Ganze zu wiederholen.
Erst als sie die Tochter der »Schlampe« kennenlernte, geschah in Sabines Leben endlich etwas Aufregendes. Bei einer gemeinsamen Fahrt im ruckelnden Aufzug quatschte Rena sie an. Eigentlich hieß sie Renate, wie sie Sabine später anvertraute, doch den Namen hasste sie.
Sabine hatte Rena schon ein paar Mal von weitem gesehen, und das Mädchen war ihr natürlich aufgefallen, denn es trug nicht die für Frauen üblichen Röcke oder Kleider, sondern meist Männerhosen, die auf der Hüfte saßen und trompetenartig nach unten ausgestellt waren. Dazu hatte Rena ihre schwarzen Haare raspelkurz geschnitten, und das stand ihr sogar gut.
Rena an sich war schon ungewöhnlich, aber dazu war sie noch die Tochter der Schlampe. Schon als Sabine und ihre Mutter die ersten Kisten in den Aufzug wuchteten, wurden sie von der Hausmeisterin über die Bewohner des Hauses aufgeklärt, und bei der Erwähnung der Schlampe im dritten Stock senkte die Frau verschwörerisch die Stimme.
Wie die Schlampe zu ihrem zweifelhaften Ruf gekommen war, hatte Sabine nie genau herausfinden können, aber zahlreiche Gerüchte befeuerten ihn weiter. Tatsache war, dass sie sich schminkte, allein ausging und ab und zu Männerbesuch bekam. Brigitte schärfte Sabine jedenfalls ein, sich von ihr fernzuhalten. Das hatte Heinz ihr zuvor eingeschärft, denn sein guter Ruf war sein Kapital und wichtig fürs Geschäft.
Für Sabine war die Schlampe wie ein exotisches Tier im Zoo, das man zwar interessant fand, dem man sich aber nur mit Vorsicht näherte. Es war logisch, dass die Tochter der Schlampe, die, schon was die Kleidung betraf, auf die üblichen Konventionen pfiff, ebenfalls verschrien war. »Lesbe«, tuschelte man hinter vorgehaltener Hand. Sabine hatte noch nie vorher eine Lesbe getroffen und war dementsprechend neugierig.
»Endlich jemand unter hundert in diesem Spießerhaus«, sagte Rena zu Sabine, als der Aufzug losruckelte. »Hier ist alles verboten. Wehe, du spielst einmal laut Musik. Dann rufen sie sofort die Polizei.«
Sabine war sich nicht sicher, was sie von Rena halten sollte. Eigentlich war sie ganz sympathisch, doch sie hatte nun mal diesen Ruf und war eigentlich verbotenes Terrain. Doch zu den Spießern im Haus wollte Sabine auf keinen Fall gehören, außerdem reizte schon die Tatsache, dass sie sich von dem Mädchen fernhalten sollte, dazu, das Gegenteil zu tun.
»Ich habe gar keinen Plattenspieler«, sagte Sabine. »Und meinem Stiefvater würde die Musik, die ich mag, sicher nicht gefallen.«
»Negermusik von Elvis?«, fragte Rena. »Oder die Pilzköpfe?«
»Die Beatles. Aber die findet er furchtbar. Er mag lieber deutsche Volksmusik.«
»Na ja, als Blockwart …« Rena zuckte die Achseln.
Sabine sah Rena ratlos an. »Blockwart?«
»Das waren die, die während der Nazizeit in den Häusern für ›Recht und Ordnung‹ gesorgt haben«, klärte Rena sie auf. »Nazis, die andere denunziert haben, wenn sie was Verbotenes taten. Feindsender hören oder so was. Angeblich war der Kowalski so einer. Hat die alte Ernie jedenfalls mal meiner Mutter erzählt.«
Der Aufzug hielt, und Rena stemmte die Tür auf. »Wollen wir mal zusammen weggehen?«
Jetzt wurde Sabine wirklich neugierig. »Wir beide? Wohin denn?«
»In den Kuhstall?«
Sabine zuckte die Schultern. Vom Kuhstall hatte sie noch nie gehört.
»Die Disco von dem dicken Griechen, Alecos. Kennst du die nicht?«
Sabine schüttelte den Kopf. Rena musterte ihr Gegenüber genauer. Sabines braves Kostüm und ihre blonden, mittels Unmengen klebrigen Haarsprays und Haarnadeln zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmten Haare. »Wie lange brauchst du für so was?«
Sabine tastete unwillkürlich nach der hochtoupierten Frisur. »Meinst du, wir beide allein?«, fragte sie ungläubig und dachte bei sich, dass Rena und ihre Mutter ihren Ruf wohl nicht umsonst hatten.
»Es sei denn, du willst deinen Stiefvater mitnehmen«, grinste Rena und lief Richtung Bus.
Sabine sah ihr nach und überlegte, ob Rena, wenn sie auf Frauen stand, sie vielleicht anmachen wollte. Ein unangenehmer Gedanke.
Erst als Sabine aus dem Büro nach Hause kam und Brigitte geradezu hysterisch auf die Schmutzabdrücke deutete, die sie im Flur hinterlassen hatte, fiel ihr wieder ein, was Rena über Heinz gesagt hatte.
»Kannst du nicht die Schuhe vor der Tür ausziehen?«, fragte Brigitte vorwurfsvoll, »jetzt muss ich hier noch mal wischen.«
»Ich mach schon«, sagte Sabine und holte einen Putzlumpen. Brigitte verschwand wieder in der Küche. »Es gibt Rouladen«, verkündete sie, »deck schon mal den Tisch!«
»War Heinz hier früher Blockwart?«, fragte Sabine.
Brigitte sah sie überrascht an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Hat jemand erzählt.«
»Wer?«
»Also stimmt es oder nicht?«
Brigitte zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber auch wenn es so wäre, was ist schon dabei? Die waren früher so was wie die Hausmeister heute. Nur mit mehr Verantwortung, weil sie für einen ganzen Block zuständig waren.«
»Aber Nazis.«
»Das sagt sich so leicht heute. Als ob wir groß eine Wahl gehabt hätten. Du hast keine Ahnung, wie das damals war.«
»Dann erzähl’s mir doch.«
»Wozu denn? Sei froh, dass du das nicht mehr erlebt hast. Die Bombennächte, die Angst, der Hunger. Uns hat der Krieg die Jugend gestohlen.«
Sabine sagte nichts mehr. Der Krieg mit seinen Gräueln war noch zu gegenwärtig in den Köpfen derer, die ihn erlebt hatten, und ihre Mutter hatte recht, sie konnte tatsächlich nicht ermessen, wie es gewesen war.
Brigitte lief in den Flur, weil das Geräusch des Schlüssels signalisierte, dass Heinz heimgekommen war. Sie nahm ihm den Mantel ab und gab ihm einen Kuss. Heinz fasste sie um die Taille und schnupperte in Richtung Küche.
»Riecht das wieder gut hier! Rouladen?«
Brigitte lächelte. »Die magst du doch so gerne.«
Heinz lächelte ebenfalls und ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen. »Bringst du mir schon mal ein Bier?«
Brigitte ging in die Küche, um eine Bierflasche und ein Glas zu holen, und Heinz rief nach Sabine. »Was hältst du davon, für mich zu arbeiten?«, fragte er unvermittelt. »Unsere Schreibkraft wird heiraten und hat gekündigt. Du kannst doch Steno und Schreibmaschine?«
Sabine war vollkommen überrumpelt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Brigitte hatte seinen Vorschlag beim Hereinkommen gehört. »Das ist ja wunderbar!«, freute sie sich. Sabine sagte gar nichts und versuchte, den erwartungsvollen Blicken der beiden auszuweichen. Sie hatte das Gefühl, ihr häusliches Gefängnis sollte mit einem Vorhängeschloss noch zusätzlich gesichert werden.
Der Gedanke, ihren Stiefvater auch noch tagsüber dauernd um sich zu haben, schnürte ihr die Luft ab. Heinz mit seinem Kontrollzwang und seinen billigen Scherzen, der sich so großzügig vorkam, weil sich Sabine nicht einmal an der Miete beteiligen musste.
»Ich muss mit meinem Chef darüber reden«, sagte sie.
»Ich brauche bald jemanden, am besten kündigst du gleich«, sagte Heinz.
Sabine nickte. »Aber ich muss die Kündigungsfrist einhalten. Ich kann ihn nicht einfach sitzenlassen.«
»Braves Mädchen.« Heinz, der lächelnde Gefängniswärter, tätschelte ihr den Oberschenkel. »So loyale Angestellte wünscht man sich.«
»Darauf müssen wir anstoßen!« Brigittes Wangen waren bereits gerötet. Vom Frauengold, vermutete Sabine, denn neuerdings sah sie immer eine Flasche davon in der Küche stehen. Die Werbung pries es überlasteten Hausfrauen und Müttern als wahres Wundermittel an, um sich lebensfroh und jugendfrisch zu fühlen.
Dabei waren die Belastungen für ihre Mutter weniger geworden, dachte Sabine. Die langen Tage im Kaufhaus mit schmerzenden Füßen gehörten der Vergangenheit an. Brigitte hatte nur noch einen Haushalt für drei Personen zu versorgen. Sabine hätte sie gern gefragt, ob sie als respektable Ehefrau eines Mannes mit eigenem Handwerksbetrieb jetzt zufrieden sei, aber diese Art von Gesprächen führten sie nicht.
Früher hatte sie sich oft gewünscht, es wäre anders. Sie hätte gern mit ihrer Mutter gekuschelt, Geheimnisse mit ihr geteilt und sich so ihrer Liebe versichert. Aber dazu war Brigitte nicht gemacht. Die körperliche Nähe zwischen ihnen beschränkte sich von jeher auf eine kurze Umarmung und einen Kuss auf die Stirn. So wenig Brigitte von ihrem Seelenleben preisgab, so wenig tat es auch Sabine.
Nur bei der Beerdigung von Sabines Vater, als die wenigen Trauergäste endlich gegangen waren, gab es einen seltenen Moment der Intimität zwischen Mutter und Tochter. Brigitte saß in der Küche, eine Schnapsflasche vor sich, aus der sie sich immer wieder bediente. Ihre Sprache war bereits undeutlich, als sie sich den Erinnerungen an ihren toten Ehemann hingab und Sabine offenbarte, wie verliebt sie in Sabines Vater einmal gewesen war.
»Er war so jung, so lustig, riss dauernd Witze – alle haben ihn gemocht.« Sie stützte ihren Kopf schwer in die Hände. »Doch wir hatten nur sechs Wochen zusammen, es war Krieg, und er wurde eingezogen. Und bei seinem nächsten Heimaturlaub haben wir geheiratet.«
Sie schaute Sabine an. »Wir kannten uns kaum, aber es wusste ja keiner, wie lange man überlebt.« Sie machte lange Pausen, die Sätze wurden immer zusammenhangloser. »Briefe – Briefe – immer nur Briefe. Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr, ich vermisse dich, du glaubst nicht, wie sehr ich an dich denke. Hätte ich die Fotos nicht gehabt – eines von ihm als Soldat und das Hochzeitsbild –, ich hätte gar nicht mehr gewusst, wie er aussieht.«
Sabine hatte ihre Mutter noch nie betrunken gesehen, und diese dem Alkohol geschuldeten Bekenntnisse waren ihr unangenehm. Doch sie war sich nicht sicher, ob Brigitte ihre Gegenwart überhaupt wahrnahm. Ihre Worte schienen an niemand Bestimmten adressiert zu sein, und sie starrte dabei ins Leere.
»Drei Jahre nach Kriegsende kam er dann aus der Gefangenschaft. Als er aus dem Zug stieg und mir entgegengehumpelt kam, hab ich erst gedacht, das ist ein Fremder. Alt hat er ausgesehen, so uralt. Und er war ein Krüppel.«
Brigitte stand auf, ging hinüber ins Wohnzimmer, wo das Hochzeitsfoto, das jetzt ein schwarzer Trauerflor zierte, auf der Kommode stand. Sie nahm das Bild in die Hand. »Damals haben wir uns unser Leben anders vorgestellt, was?« Dann lachte sie – lachte und lachte, bis das Lachen in Weinen überging. Sabine nahm ihr das Bild aus der Hand und stellte es zurück.
»Gehen wir ins Bett, Mutti, es ist schon spät.« Brigitte nickte, und Sabine zog sie vom Stuhl hoch und brachte sie ins Schlafzimmer.
Als Sabine im Bett lag, musste auch sie an ihren Vater denken. Sie war gerade alt genug gewesen, um mit Messer und Gabel zu essen, und hatte ein Stück Fett von ihrem Fleisch abgesäbelt. Da holte er aus und schlug sie so fest ins Gesicht, dass sie fast vom Stuhl kippte. »Du weißt wohl nicht, was Hunger ist, du verwöhntes Gör!«, schrie er und schickte sie ohne Essen ins Bett, wo sie in ihr Kissen weinte.
Prügel bekam sie aus den geringsten Anlässen, manchmal auch ganz ohne Grund. »Er hat viel mitgemacht«, versuchte ihn Brigitte dann zu entschuldigen, aber über das, was er mitgemacht hatte, redete er nie. Vor dem Krieg war er Maurer gewesen, aber jetzt hatte er ein steifes Bein und keine Arbeit. Das machte ihn zusätzlich verbittert.
Als er Krebs bekam, war Sabine fünfzehn, und sie war fast achtzehn, als er starb. Wie oft sie in den Jahren gehofft hatte, er möge endlich tot sein, hat sie niemals gebeichtet, und sie fühlte sich schuldig, als es endlich so weit war.
Fernsehen war seit dem Umzug die Hauptattraktion in Sabines Leben, fast jeden Abend saß sie mit Brigitte und Heinz auf dem Sofa und verfolgte das Programm. Sie liebte die Serie Mit Schirm, Charme und Melone, während sich Brigitte für Peter Frankenfeld begeistern konnte. Kam in der Tagesschau etwas über den Auschwitzprozess, der gerade in Frankfurt stattfand, stand Heinz auf und wechselte das Programm.
»Warum lassen sie uns nicht endlich damit in Frieden!«, schimpfte er, und Brigitte pflichtete ihm bei.
Aber die Fernsehabende waren kein Ersatz für das echte Leben, und als Sabines Kollege Jürgen sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen wolle, sagte sie ja. Jürgen mit seinen schnell verschwitzten Trevira-Hemden und schlecht geschnittenen Anzügen war nicht gerade ein Traummann, aber etwas Besseres war gerade nicht in Sicht. Auch die Unterhaltung mit ihm erwies sich als eher zäh, zum Glück gab es das Fernsehprogramm, über das man reden konnte.
Er führte Sabine in einen spärlich beleuchteten Jazzkeller, wo eine Band Dixieland spielte, man auf Holzkisten saß und Whisky Cola trank. Sabine konnte Dixieland nicht ausstehen, aber wenigstens musste man nicht reden, weil die Musik so laut war.
Bei der nächsten Verabredung war Jürgen schon mutiger und ging mit ihr in eine schummrige Bar, wo er beharrlich versuchte, seine Hand in ihrem Ausschnitt zu versenken, was Sabine ebenso beharrlich zu verhindern wusste. Vor der Haustür zog er Sabine dann unvermittelt an sich und steckte ihr seine Zunge in den Hals. Von da an zog sie die Fernsehabende wieder vor, wartete aber ungeduldig auf eine Möglichkeit, der häuslichen Eintönigkeit zu entfliehen.
Im Büro hatte Sabine in der Abendzeitung, die eine Kollegin dabei hatte, geblättert und war auf der Klatschseite auf einen Bericht über den Kuhstall gestoßen. Eine Diskothek, wo die Schönen und Reichen von München verkehrten. Das hatte ihre Neugier geweckt. Vielleicht war der Umgang mit Rena interessanter, als sie gedacht hatte. Obwohl Sabine bezweifelte, dass man sie in diese Diskothek überhaupt hineinlassen würde. Rena hatte allerdings so getan, als sei sie bereits dort gewesen. Sie hatte so geklungen, als sei es selbstverständlich, dass Mädchen allein ausgingen und noch dazu in eine Diskothek, in der ganz offenbar andere Leute verkehrten als Jürgen. Hatte sie Sabine nur angeschwindelt, oder ging sie da tatsächlich allein hin? Sabine hätte es zu gern gewusst, und Renas Vorschlag ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Während Brigitte und Heinz vor dem Fernseher saßen, inspizierte Sabine ihren Kleiderschrank und überlegte, was die Leute in dieser Diskothek wohl tragen würden. Kuhstall, was für ein seltsamer Name! Wenn es Rena tatsächlich ernst gemeint hatte, dann musste Sabine sie um modischen Rat fragen. Aber in die Wohnung konnte sie das Mädchen keinesfalls mitbringen. Ihre Mutter würde aus der Haut fahren, von Heinz ganz zu schweigen. Was die beiden von ihrem Vorhaben, mit der Tochter der Schlampe auszugehen, halten würden, wollte sich Sabine lieber gar nicht vorstellen.
Das Angebot von Heinz fiel ihr ein, und das drückte ihre Stimmung gleich wieder. Sie wollte nicht bei ihm arbeiten, aber wie konnte sie das verhindern? Sie schob den Gedanken daran beiseite und überlegte, wann sie Rena wiedertreffen könnte. Oder sollte sie einfach bei ihr klingeln?
Sabine saß an der Bar, hielt sich an ihrem Gin Tonic fest und beobachtete die Tanzenden. Rena wollte sie erst mit sich auf die Tanzfläche ziehen, aber Sabine hatte sich nicht getraut. Die meisten hier konnten gut tanzen, und sie hatte zu viel Angst, sich zu blamieren. Sie konnte Foxtrott und Cha-Cha-Cha, sogar Twist hatten sie in der Schule geübt, aber hier gab es keine Vorgaben oder Schritte, an die man sich halten konnte. Jeder tanzte, wie er wollte, bemüht, dabei gut auszusehen. Dies war eine Welt, zu der sie bisher keinen Zutritt gehabt hatte.
»Vor zehn, elf brauchen wir da nicht aufzukreuzen, da ist nichts los«, hatte Rena gesagt, und wenn Sabine so spät weggegangen wäre, hätte das sofort Brigittes Verdacht erregt. Es war schon schwer genug gewesen, eine passende Ausrede zu finden, denn natürlich wollte ihre Mutter wissen, wo sie hinwollte und mit wem. Sie war ständig besorgt, Sabine könnte auf Abwege geraten.
Also war Sabine am frühen Abend zu Rena in die Wohnung geschlichen, wo sie sich unter viel Gekicher fertig gemacht hatten. Rena hatte Sabine mit Sachen von sich ausstaffiert, denn mit Sabines braven Kostümen und Kleidern war in der Disco kein Staat zu machen. Rena hatte ihr noch mit sicherer Hand einen dicken schwarzen Lidstrich gemalt, mit dem sich Sabine richtig verrucht vorgekommen war, und hatte sie überredet, die Haare offen zu tragen. Dann waren sie losgezogen.
Als sie später aus der Straßenbahn stiegen und Sabine die teuren Sportwagen vor der Diskothek parken sah, hätte sie am liebsten wieder kehrtgemacht. Die würden sie doch nie da reinlassen.
»Unsere Währung ist ein hübsches Gesicht«, lachte Rena, »hübsche Mädchen kommen überall rein.«
Wie zum Beweis begrüßte der Türsteher sie wie eine alte Bekannte und winkte sie beide durch. Und jetzt saß Sabine hier an der Bar und schaute, ob sie unter den laut Abendzeitung Reichen und Schönen irgendeine Berühmtheit entdecken konnte.
»Tanzen?«, fragte ein Mann neben ihr. Sabine schüttelte fast erschrocken den Kopf.
»Lassen Sie mich raten«, sagte er, »Ihr eifersüchtiger Freund ist dagegen. Wo ist er?« Er sah sich mit gespielt ängstlichem Blick um.
Sabine lachte und betrachtete ihn nun näher. Dunkle Haare fielen ihm in die Stirn – ihre Mutter hätte gesagt, er bräuchte dringend einen ordentlichen Haarschnitt –, er hatte ein übermütiges Lachen, ein Grübchen am Kinn und blaugraue Augen. Er gefiel Sabine auf Anhieb.
»Ich habe keinen Freund«, sagte sie.
»Dann können Sie doch mit mir tanzen«, sagte er. »Ich heiße Michael. Michael Dornheim. Verraten Sie mir auch Ihren Namen?«
»Sabine Decker«, sagte sie, »und ich kann nicht besonders gut tanzen.«
»Glaub ich nicht ohne entsprechenden Beweis.« Er zog sie vom Barhocker auf die Tanzfläche. I Want To Hold Your Hand sangen die Beatles, und Sabine ahmte einfach die Bewegungen der anderen auf der Tanzfläche nach. Es war eigentlich ganz einfach, und da sie ein gutes Rhythmusgefühl hatte, fühlte sie sich schnell sicher. Langsam wurden ihre Bewegungen ausladender, sie hatte Spaß daran.
»Ich wusste, dass Sie schwindeln«, sagte Michael. »Von wegen nicht gut tanzen.«
Der Discjockey spielte eine langsame Nummer, und er zog sie an sich. Sie mochte seine Nähe und seinen Geruch. Drei langsame Songs hintereinander tanzten sie eng umschlungen, und Sabine wünschte sich, bis in alle Ewigkeit von ihm festgehalten zu werden. Aber es war schon spät, wie sie mit einem Blick auf die Uhr erschrocken feststellte.
»Ich muss gehen«, sagte sie und sah sich suchend nach Rena um.
»Sehe ich Sie wieder?«, fragte er.
»Wenn Sie wollen«, sagte Sabine, die sich nichts mehr wünschte.
»Will ich«, sagte er, und sie hatte das Gefühl, in seinem Blick zu versinken. »Ich schlage vor, wir duzen uns, oder?«
Sabine nickte.
»Gibst du mir deine Nummer?«
Er lieh sich einen Kugelschreiber vom Barkeeper und schrieb die Zahlen, die ihm Sabine diktierte, auf seinen Unterarm. Die Telefonnummer von Heinz fühlte sich immer noch fremd an für Sabine – genau wie seine Wohnung. Obwohl sie bereits vor Wochen eingezogen war, fühlte sie sich dort nicht zu Hause.
»Ich melde mich«, sagte Michael, verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Wange und verschwand im Gewühl. Dass er hier eine Menge Leute kannte, war nicht zu übersehen. Dauernd schlug ihm jemand auf die Schulter oder winkte ihm zu.
Sabine fand Rena in einer Ecke, wo sie mit einem jungen Mann knutschte. Sabine dachte an die Lesben-Gerüchte, die sich wohl lediglich darauf gründeten, dass Rena Hosen trug und kurze Haare hatte. Aber es gab drängendere Probleme. Beim Blick auf die Uhr war ihr siedend heiß eingefallen, dass um diese Zeit keine Bahn mehr fuhr. Wie sollten sie jetzt bloß nach Hause kommen? Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere, bis Rena sie endlich bemerkte.
»Wie kommen wir denn jetzt heim?« Sabine konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme verzweifelt klang.
»Irgendwer wird uns schon fahren«, sagte Rena, die offenbar keineswegs beunruhigt war. Sie wandte sich an ihren Begleiter. »Nimmst du uns mit?«
»Klar«, sagte der. »Ich will eh nicht mehr lange bleiben.« Rena registrierte Sabines panischen Gesichtsausdruck und überredete ihn dazu, gleich zu fahren. Sie folgten ihm zu seinem Käfer am Straßenrand.
»Wo müsst ihr denn hin?«, fragte er und zog ein Gesicht, als Rena »Fürstenried« sagte. Aber er lieferte sie brav zu Hause ab. Sie bemühten sich, leise zu sein, wobei der Aufzug einen Höllenlärm machte. Krachend hielt er erst im dritten Stock bei Rena und dann im fünften bei Sabine.
Leise schlich Sabine in die Wohnung, bestrebt, nur ja kein Geräusch zu machen. Sie zog sich aus, legte die von Rena geliehenen Klamotten sorgfältig zusammen und versteckte sie unter ihrem Bett. So bald wie möglich würde sie sich neue Sachen kaufen, beschloss sie. Ein bisschen was hatte sie gespart, und Rena hatte versprochen, mit ihr einkaufen zu gehen. Sie war zwar etwas ausgeflippt, aber auf ihren Geschmack konnte man sich verlassen.
Sabine huschte ins Bad, wusch sich die Schminke aus dem Gesicht und cremte sich ein. Zum Glück hatte sie niemanden aufgeweckt. Erst als sie im Bett lag, erlaubte sie sich einen Gedanken an Michael. Noch einmal versuchte sie, sich jeden Moment dieser Begegnung ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte das Gefühl zu schweben und war zu aufgeregt, um einschlafen zu können.
Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, hatte sie so gut wie nicht geschlafen, war aber trotzdem hellwach. Sie fühlte sich so gut wie nie zuvor im Leben. Wenn sie an den gestrigen Abend dachte – daran, wie sie eng zusammen getanzt hatten –, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Ob er wirklich anrufen würde? Sicher sagte er zu vielen Mädchen, dass er sich melden würde. Oder hatte er vielleicht eine Freundin? Vielleicht hatte er nicht mehr daran gedacht und die Nummer versehentlich abgewaschen, ein schrecklicher Gedanke.
In ihrer Phantasie spielte sie immer neue Variationen des Themas durch – dass er heute noch anrufen würde und sie glückstrahlend den Hörer abnahm oder dass er ihre Hoffnungen zunichtemachen und sich überhaupt nicht melden würde. Sie war immer noch vollkommen in die Gedanken an ihn vertieft, als sie sich an den Frühstückstisch setzte. Sonst hätte sie Brigittes missbilligende Miene eher registriert und sich entsprechend gewappnet. So kamen die Vorwürfe unvermittelt.
»Darf man fragen, wo du gestern bis drei Uhr gewesen bist?«
»In einer Diskothek. Mit Jürgen«, setzte sie schnell hinzu, denn Jürgen, den Brigitte kennengelernt hatte, als er sie abholte, und als anständigen jungen Mann eingestuft hatte, war ihre Ausrede gewesen, um weggehen zu dürfen.
»Ist das was Ernstes zwischen euch?«, erkundigte sich Brigitte.
»Weil wir dreimal zusammen aus waren?« Sabine musste daran denken, was Rena gesagt hatte. Rena hatte sich darüber gewundert, dass sich Sabine in ihrem Alter von ihrer Mutter derart gängeln ließ. Rena konnte wegbleiben, so lange sie wollte, und sie war noch nicht einmal neunzehn.
Aber sich gegen ihre Eltern aufzulehnen hatte Sabine nie geschafft. Vor ihrem Vater hatte sie zu viel Angst gehabt, und als er tot war, wurde Brigitte noch strenger, fürchtete noch mehr, durch das gesellschaftliche Raster zu fallen. Was die Leute dazu sagen würden, war für viele ihrer Verbote entscheidend, und anständig war ihr Lieblingswort. Sie war eine anständige Frau, hatte Sabine anständig erzogen, und dass Sabine ein anständiges Mädchen blieb, war ihr ein Herzensanliegen.
»Wir waren bloß tanzen«, sagte Sabine.
»Gönn den jungen Leuten doch das Vergnügen«, sagte Heinz und zwinkerte Sabine zu. »Bring den jungen Mann doch am Sonntag zum Essen mit. Deine Mutter zaubert bestimmt was besonders Leckeres.«
Sabine lächelte freundlich, obwohl sie dieses Zwinkern, das ein vermeintliches Einverständnis zwischen ihnen signalisieren sollte, noch schlimmer fand als seine moralinsauren Vorträge.
»Das ist ja schon morgen. Ich weiß nicht, ob er da Zeit hat. Ich glaube, sonntags isst er immer mit seiner eigenen Familie.«
»Wie lobenswert. Hat er schon eine eigene Wohnung?« Heinz zwinkerte wieder, diesmal in Brigittes Richtung. »Dann müssen wir besonders auf der Hut sein.«
»Keine Ahnung«, sagte Sabine wahrheitsgemäß.
»Wenn er Sonntag nicht kann, dann frag ihn einfach, an welchem Tag er Zeit hat. Ich würde ihn gern kennenlernen.«
Sabine ballte innerlich die Fäuste. Jetzt spielte sich Heinz auch noch als Ersatzvater auf. Und Brigitte würde ihm ebenso wenig widersprechen, wie sie das bei Sabines leiblichem Vater getan hatte. Schon wieder saß sie in der Falle. Wie lange würde sie sich dieses blöde Essen mit Ausreden vom Hals halten können? Als sei das nicht genug, fragte Heinz prompt, ob sie schon mit ihrem Chef gesprochen habe.
»Er ist auf Geschäftsreise«, flunkerte sie, »aber sobald er zurück ist, rede ich mit ihm.«
Sie beneidete Rena um ihr Selbstbewusstsein. Rena hätte bestimmt keine Schwierigkeiten gehabt, Heinz zu sagen, dass sie nicht für ihn arbeiten wolle und dass sie mit neunzehn Jahren das Recht auf ein eigenes Privatleben habe. Aber sie war nicht Rena. Zum Glück, dachte sie in einem Anflug von Bosheit, wenn sie an den Ruf von Rena und ihrer Mutter dachte. Das war eben die Kehrseite der Medaille.
Heinz schlug am Nachmittag einen Familienausflug zum Starnberger See vor, und normalerweise wäre Sabine mitgekommen. Sie hatte nicht viele Freunde, dafür hatte früher das strenge Regiment ihres Vaters gesorgt, und von den Schulfreundschaften hatte keine überdauert. Es gab ein paar Kolleginnen, mit denen sie ab und zu etwas unternahm, aber von denen besaß keine ein Auto. Heinz dagegen fuhr einen bequemen Mercedes, und die Ausflüge am Wochenende waren zumindest eine Abwechslung.
Doch heute blieb Sabine zu Hause. Falls Michael anrief, wollte sie seinen Anruf nicht verpassen. Aber so hartnäckig sie auch versuchte, das Telefon mit ihren Blicken zu hypnotisieren, es wollte nicht klingeln.
Nach dem Discobesuch hatte es keine Gelegenheit mehr gegeben, sich mit Rena über den Abend auszutauschen, aber vielleicht kannte Rena Michael, und Sabine konnte durch sie etwas über ihn in Erfahrung bringen. Kurz entschlossen lief sie hinunter in den dritten Stock und klingelte bei ihr.
Die »Schlampe« öffnete die Tür. Eine Begegnung, die Sabine im ersten Moment verlegen machte, sie hatte Angst, dass sich all das, was sie über diese Frau gehört hatte, in ihrem Gesicht widerspiegeln könnte. Aber die Schlampe, die, wie sich später herausstellte, auf den Namen Anna hörte und eigentlich ganz nett war, lächelte freundlich und bat Sabine, hereinzukommen.
Wie Rena dann erzählte, war ihre Mutter Garderobiere beim Fernsehen und machte die Kostüme für ein Kindertheater. Rena wollte auch einmal zum Fernsehen, möglichst als Cutterin, deshalb hatte sie eine Lehre beim Arri-Kopierwerk begonnen.
»Aber kein Gedanke, dass ich in dieser Fabrik drei Jahre versauere«, sagte sie, »der Gestank in der Entwicklung bringt mich um, und die Frauen dort sind alle Biester.«
»Erlaubt denn deine Mutter, dass du dort einfach aufhörst?«
»Wenn’s mir nicht gefällt, sicher.«
»Wo ist denn dein Vater?«, fragte Sabine und erfuhr, dass Anna schon seit Jahren geschieden war und Rena ihren Vater praktisch nie sah.
»Vermisst du ihn nicht?«
»Nö«, sagte Rena, »mit meiner Mutter allein ist es viel besser. Sie ist große Klasse.«
Unwillkürlich verspürte Sabine ein Gefühl von Eifersucht, denn wie gut sich Mutter und Tochter verstanden, war ihr schon nach den wenigen Worten, die beide wechselten, klar geworden. Sie fragte sich, ob die bösen Gerüchte, die über die beiden kursierten, einfach üble Nachrede waren, und schämte sich, weil sie sie so kritiklos übernommen hatte.
Sie fragte Rena nach Michael. Rena kannte ihn nicht, aber das war nicht weiter schlimm, denn Sabine hatte endlich Gelegenheit, ausführlich über ihn zu reden und ihre Gefühle jemandem anzuvertrauen. Rena war eine gute Zuhörerin, wollte jedes Detail wissen und bestärkte Sabine in der Hoffnung, dass er anrufen würde.
Sie erzählte von dem Jungen, in den sie letztes Jahr verliebt gewesen war, wobei es so klang, als seien sie ein richtiges Paar gewesen. Trotz ihrer Neugier traute sich Sabine nicht, zu fragen, wie weit diese Liebe gegangen war. Als sie sich verabschiedete, hatte sie jedenfalls das Gefühl, eine Freundin gewonnen zu haben. Künftig konnte sie ihre Geheimnisse mit jemandem teilen.
Gerade als sie im fünften Stock angekommen war, hielt auch der Aufzug, und Brigitte und Heinz stiegen aus. Sabine flunkerte schnell etwas von einem kleinen Spaziergang, den sie gemacht hätte, weil sie den Ausflug ja leider verpasst habe. Brigitte schwärmte von der Dampferrundfahrt, die sie gemacht hatten, und Sabine versprach, das nächste Mal mitzukommen.
So oft hatte sich Sabine noch nie vertippt. Immer wieder musste sie mit Hilfe eines Tipp-Ex-Folienblättchens einen falsch geschriebenen Buchstaben löschen. Karin, die ihr gegenübersaß und unermüdlich auf ihre Tasten einhämmerte, warf ihr bereits verwunderte Blicke zu, und dass Kampmüller bei seinem Kontrollgang hinter Sabine stehen blieb und sie zusätzlich nervös machte, war auch nicht hilfreich. Schon zuvor, als er ihr einen Brief diktiert hatte, musste sie zweimal nachfragen, weil ihre Gedanken immer wieder abschweiften.
»Was ist nur heute mit Ihnen los, Fräulein Decker?«, rügte er sie.
»Entschuldigen Sie, Herr Kampmüller, aber ich habe fürchterliche Kopfschmerzen«, stammelte Sabine.
»Ich habe Spalt-Tabletten in meinem Büro.«
Er machte eine auffordernde Geste, und Sabine folgte ihm in sein Büro, wo er ihr eine Tablette gab und es dabei wieder schaffte, ihren Busen zu streifen. Sie bedankte sich artig und ging zurück an ihre Schreibmaschine. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass sie in einer Stunde erlöst sein würde. Ein Glück. Nie war ihr die Arbeit eintöniger erschienen und die Zeit bis zum Feierabend endloser.
Beim Ausstempeln dachte sie wieder an Michael. Er hatte weder am Samstag noch am Sonntag angerufen, doch er beherrschte Sabines Gedanken rund um die Uhr. Die Stimme der Vernunft sagte ihr, sie solle ihn sich aus dem Kopf schlagen, er würde bestimmt nicht mehr anrufen, aber selbst wenn sie das wollte, sie schaffte es nicht.
Kaum hatte sie die Schuhe ausgezogen, kam ihr Brigitte entgegen und fragte, wer denn Herr Dornheim sei.
»Hat er angerufen?«, schnitt ihr Sabine aufgeregt das Wort ab. »Hat er eine Nummer hinterlassen?«
»Ja«, sagte Brigitte. »Wer ist denn das?«
Sabine entschloss sich zur Wahrheit. »Ich habe ihn in der Diskothek kennengelernt.«
»Du bist mit Jürgen unterwegs und gibst einem anderen Mann deine Telefonnummer?«, rügte Brigitte. »Was soll Jürgen bloß von dir denken?«
Aber Sabine hörte ihr schon nicht mehr zu. Sie lief zum Telefon und schaute auf den Notizblock, auf dem Brigitte die Nummer notiert hatte. Sie griff zum Hörer, doch der Anblick ihrer Mutter, die in die Küche gegangen war, aber die Tür offen gelassen hatte, damit ihr nichts von dem Gespräch entging, bremste ihren Schwung. Sie würde warten, bis es eine Gelegenheit gab, ungestört zu telefonieren.
Als sich Brigitte und Heinz vor den Fernsehapparat setzten, war es so weit. Aufgeregt wählte Sabine die Nummer.
»Bei Dornheim?«, meldete sich eine weibliche Stimme.
Sabine hatte gehofft, er würde selbst an den Apparat kommen, und war kurz aus dem Konzept gebracht.
»Kann ich bitte Michael sprechen?«, sagte sie.
»Wer spricht denn bitte?«
Sabine wurde rot. Wie dumm von ihr, nicht gleich ihren Namen gesagt zu haben. »Sabine Decker«, korrigierte sie ihren Fehler.
»Einen Moment bitte«, sagte die Stimme.
Sabine wartete eine kleine Ewigkeit, wie ihr schien. Dann kam Michael an den Apparat. »Hallo? Sabine?«
Sabine räusperte sich verlegen. »Ja, ich bin’s, Sabine«, sagte sie und kam sich gleich wieder dumm vor. »Guten Abend.«
»Wie geht’s dir?«
»Gut, und dir?«