Das Fremdzeugnis für Jesus - Aaron Graser - E-Book

Das Fremdzeugnis für Jesus E-Book

Aaron Graser

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Beschreibung

Unbestritten ist die Zeugnisthematik eines der bedeutendsten Themen des Johannesevangeliums. Immer wieder wurde diesbezüglich darauf hingewiesen, dass die verwendeten Zeugnisbegriffe in rechtlichen, wenn nicht sogar gerichtlichen Zusammenhängen begegnen würden und das Johannesevangelium als metaphorischer Gerichtsprozess zu verstehen sei. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass neben dem Zeugnisgeben unter prozessähnlichen Umständen vor allem ein missionarisch-einladendes bzw. religiös motiviertes Zeugnisgeben im Mittelpunkt der Erzählung steht. Dieser Form des Zeugnisgebens widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht werden dabei die narrative Darstellung der Zeugen und Zeuginnen, der Zeugnisempfänger und -empfängerinnen sowie des Zeugnisakts und dessen Folgen.

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Aaron Graser / Günter Röhser

Das Fremdzeugnis für Jesus

Untersuchung der narrativen Darstellung des Zeugnisgebens für Jesus im Johannesevangelium

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381110025

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-381-11001-8 (Print)

ISBN 978-3-381-11003-2 (ePub)

Inhalt

Für Miriam, Herny & ...VorwortKapitel I: Einleitung, Forschungsüberblick und Wortstamm1 Einleitung2 Forschungsgeschichtlicher Überblick2.1 N. Brox (1961): Zeuge und Märtyrer2.2 J. C. Hindley (1965): Witness in the Fourth Gospel2.3 J. M. Boice (1970): Witness and revelation in the Gospel of John2.4 J. Beutler (1972): Martyria2.5 A. A. Trites (1977): The New Testament Concept of Witness2.6 M. R. Wilton (1992): Witness as a theme in the fourth gospel2.7 R. G. Maccini (1996): Her Testimony is True2.8 A. T. Lincoln (2000): Truth on Trial2.9 D. F. Gniesmer (2000): In den Prozeß verwickelt2.10 R. Bauckham (2006): Jesus and the Eyewitnesses2.11 B. Lange (2019): Der Richter und seine Ankläger3 Überblick über die semantischen Studien3.1 Gebrauch im außerbiblischen Griechisch3.2 Gebrauch in frühjüdischen, alttestamentlichen Schriften3.3 Gebrauch im Neuen Testament3.4 Zusammenfassung der semantischen Studien4 Ertrag und Grenzen der Forschungsbeiträge5 Abgrenzung, Fragestellung, Methode, Vorgehensweise und Ziel der ArbeitKapitel II: Das Fremdzeugnis für Jesus im Johannesevangelium1 Ermittlung der relevanten Textstellen und ihres Kontextes1.1 Die relevanten Stellen1.2 Abgrenzung der Erzählabschnitte und der Arbeit2 Zeugnisszene 1: Johannes der Täufer (Joh 1,1–18)2.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?2.1.1 Zeugnisgeber: Johannes (der Täufer)2.1.2 Zeugnisempfänger: „alle“2.2 Die Umstände des Zeugnisgebens2.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses2.4 Zusammenfassung und Beurteilung3 Zeugnisszene 2: Johannes der Täufer (Joh 1,19–28)3.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?3.1.1 Zeugnisgeber: Johannes der Täufer3.1.2 Zeugnisempfänger: Priester und Leviten3.2 Die Umstände des Zeugnisgebens3.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses3.4 Zusammenfassung und Beurteilung4 Zeugnisszene 3: Johannes der Täufer (Joh 1,29–34)4.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?4.1.1 Zeugnisgeber: Johannes der Täufer4.1.2 Zeugnisempfänger: ein unbestimmter Gruppencharakter4.2 Die Umstände des Zeugnisgebens4.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses4.4 Zusammenfassung und Beurteilung5 Zeugnisszene 4: Die Samaritanerin (Joh 4,28–30.39–42)5.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?5.1.1 Zeugnisgeber: Die Samaritanerin5.1.2 Zeugnisempfänger: die Dorfbewohner der samarischen Stadt5.2 Die Umstände des Zeugnisgebens5.3 Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses5.4 Zusammenfassung und Beurteilung6 Zeugnisszene 5: Der Vater, Johannes der Täufer, die Werke und die Schriften (Joh 5,17–47)6.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?6.1.1 Zeugnisgeber: der Vater6.1.2 Zeugnisgeber: die Werke6.1.3 Zeugnisgeber: die Schriften6.2 Zeugnisempfänger: die Juden6.3 Die Umstände des Zeugnisgebens6.3.1 Das Zeugnis des Vaters6.3.2 Das Zeugnis der Schriften6.3.3 Das Zeugnis der Werke6.4 Die Folgen und Auswirkungen der Zeugnisse6.5 Zusammenfassung und Beurteilung7 Zeugnisszene 6: der Vater (Joh 8,12–20)7.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?7.1.1 Zeugnisgeber: der Vater7.1.2 Zeugnisempfänger: die Pharisäer7.2 Die Umstände des Zeugnisgebens7.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses7.4 Zusammenfassung und Beurteilung8 Zeugnisszene 7: Die Werke (Joh 10,25–39)8.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?8.1.1 Zeugnisgeber: die Werke8.1.2 Zeugnisempfänger: die Juden8.2 Die Umstände des Zeugnisgebens8.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses8.4 Zusammenfassung und Beurteilung9 Zeugnisszene 8: Das Volk (Joh 12,12–19)9.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?9.1.1 Die Volksmengen in Joh 6 und 79.1.2 Die Volksmenge in Johannes 129.1.3 Zeugnisempfänger: die Volksmenge9.2 Zeugnisgeber: die Volksmenge9.3 Die Umstände des Zeugnisgebens9.4 Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses9.5 Zusammenfassung und Beurteilung10 Zeugnisszene 9: Der Geist, die Jünger und die Welt (Joh 15,1–16,33)10.1 Die Figur des Geistes bzw. des Parakleten im Johannesevangelium10.1.1 Mögliches Verständnis des Parakletenbegriffs aus dem biblischen Kontext10.1.2 Mögliches außerbiblisches Verständnis des Parakletenbegriffs10.1.3 Zusammenfassung des Verständnisses des Parakletenbegriffs10.2 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?10.2.1 Zeugnisgeber: der Geistparaklet10.2.2 Zeugnisempfänger: die Jünger10.3 Die Umstände des Zeugnisgebens10.4 Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses des Geistes10.5 Erweitertes Zeugnis: die Jünger und die Welt10.5.1 Zeugnisgeber 2: die Jünger10.5.2 Zeugnisempfänger 2: die Welt10.5.3 Die Umstände des Zeugnisgebens10.5.4 Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses der Jünger10.6 Zusammenfassung und Beurteilung11 Zeugnisszene 10: Der Jünger, den Jesus liebt (Joh 19,31–37)11.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger: Wer bezeugt wem?11.1.1 Zeugnisgeber: der Jünger, den Jesus liebt11.1.2 Zeugnisempfänger: „ihr“11.2 Die Umstände des Zeugnisgebens11.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses11.4 Zusammenfassung und Beurteilung12 Zeugnisszene 11: Der Jünger, den Jesus liebt (Joh 21,24–25)12.1 Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger12.1.1 Zeugnisgeber: der Jünger, den Jesus liebt12.1.2 Zeugnisempfänger: die intendierten Rezipienten12.2 Die Umstände des Zeugnisgebens12.3 Die Folgen und Auswirkungen des Zeugnisses12.4 Zusammenfassung und BeurteilungKapitel III: Zusammenfassung und Auswertung1 Tabellarischer Überblick über die Untersuchungsergebnisse2 Zusammenfassung der Besonderheiten und Auffälligkeiten3 Ergebnisse der UntersuchungBibelstellenverzeichnisLiteraturverzeichnis

Für Miriam, Herny & Robin

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung zur Zeugnisthematik des Johannesevangeliums wurde unter dem Titel „Das Fremdzeugnis für Jesus – Untersuchung der narrativen Darstellung des Zeugnisgebens für Jesus im Johannesevangelium“ im Sommersemester 2021 von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen als Dissertation im Fach Evangelische Theologie (Exegese und Theologie des Neuen Testaments) angenommen. Für den vorliegenden Druck wurde sie geringfügig überarbeitet.

Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Bernd Kollmann (Siegen), der die Betreuung der Arbeit übernahm und mit konstruktiver Kritik die Fertigstellung der Arbeit begleitete, sowie meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Zimmermann (Mainz), der sich immer wieder die Zeit nahm, auf Rückfragen zu reagieren, zu ermutigen und den gesamten Entstehungsprozess der Arbeit zu begleiten. Bedanken möchte ich mich überdies bei vielen Bekannten und Freunden, die mir über die letzten Jahre in vielerlei Hinsicht mit Rat und Tat zur Seite standen. Genannt seien hier u. a. Dr. Sönke Finnern, der mir persönlich für jede Rückfrage zur Narratologie Rede und Antwort stand, Dr. Alexander Drews, Dr. Dr. Benjamin Lange, Prof. Dr. Christoph Stenschke, Dr. Ruben Bühner und Michael Böllert (BBF). Ein besonderer Dank geht auch an Herrn Prof. Dr. Manuel Vogel (Jena) und den gesamten Herausgeberkreis für die Aufnahme meiner Arbeit in die Buchreihe Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ).

Doch wie könnte eine Dissertation geleistet werden ohne den Rückhalt des eigenen Partners? Ich danke daher insbesondere meiner Frau Miriam. Mit Liebe und Geduld hat sie meine häufige (gedankliche) Abwesenheit mitge- und ertragen und mir immer wieder den nötigen Freiraum zum Arbeiten gelassen. Nur durch Dich, Deine Unterstützung und Ermutigung habe ich manche Mutlosigkeit, Niedergeschlagenheit und Enttäuschung überwunden und die vorliegende Arbeit zu Ende geführt.

Zum Schluss bleibt noch zu sagen: Möge diese Arbeit zum Zeugnis und zur Ehre desjenigen Mannes beitragen, der der Protagonist des Johannesevangeliums ist – Jesus von Nazareth.

Kapitel I: Einleitung, Forschungsüberblick und Wortstamm

1Einleitung

οὗτος ἦλθεν εἰς μαρτυρίαν ἵνα μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός […] (Joh 1,7Joh1,7)

Als Zeuge oder Zeugin aufzutreten ist eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe. Vor Gericht kann ein abgelegtes Zeugnis zum Freispruch oder zur Verurteilung führen, in einem außergerichtlichen Kontext kann es zur Reputation und Glaubwürdigkeit einer Person beitragen. In diesem Sinne und zu diesem Zweck werden auch im Johannesevangelium (JohEv) immer wieder und in unterschiedlichen Zusammenhängen Zeugen und Zeuginnen angeführt, um Zeugnis für die Hauptperson der Erzählung, Jesus von Nazareth, abzulegen. Auch wenn betont und immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Zeugnisbegriffe häufig in rechtlichen, wenn nicht sogar gerichtlichen Zusammenhängen begegnen würden und das JohEv als metaphorischer Gerichtsprozess zu verstehen sei, so fällt doch bei näherer Betrachtung der Zeugnisthematik auf, dass neben dem Zeugnisgeben unter prozessähnlichen Umständen vor allem ein missionarisch-einladendes bzw. religiös motiviertes Zeugnisgeben im Mittelpunkt der Erzählung steht. Es geht bei der Verwendung der Zeugnisbegriffe im JohEv also nicht nur oder nicht primär um entlastende Zeugnisse, die zu einem „Freispruch“ der Person führen sollen, für die Zeugnis abgelegt wird, sondern vielmehr um Zeugnisse, die zu „gutem Ansehen“ der Hauptperson beitragen und zur persönlichen Begegnung mit ihr einladen sollen und wollen. Dabei zeigt die Häufigkeit der Verwendung von μαρτυρία und μαρτυρεῖν, dass die Zeugnisthematik kein Randthema, sondern eines der zentralen Themen des vierten Evangeliums darstellt. Insgesamt 33-mal ist vom „Zeugnisgeben“, „Zeugnisablegen“ oder „Bezeugen“ (μαρτυρεῖν), 14-mal vom „Zeugnis“ (μαρτυρία) die Rede. Bereits in den ersten Zeilen des Prologs wird ein erster zentraler Zeuge für Jesus eingeführt. Deutlich wird darauf verweisen, dass dieser Zeuge, Johannes der Täufer, nicht zum Selbstzeugnis gekommen ist, sondern „damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten“ (Joh 1,7Joh1,7). Von der Erwähnung dieses ersten Zeugen an tauchen das Thema und die Begriffe „Zeuge sein“ bzw. „Zeugnis ablegen“ in fast jedem Kapitel des Evangeliums auf. Die vorliegende Arbeit gilt dieser zentralen Zeugnisthematik und untersucht die narrative Darstellung der Zeugen, der Zeugnisempfänger und des Akts des Zeugnisgebens.

2Forschungsgeschichtlicher Überblick

Das Interesse an der neutestamentlichen Zeugnisthematik und der Zeugenterminologie erlebte vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren seine Blütezeit. Infolge einiger früher Beiträge1 und des 1942 im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament veröffentlichten Artikels von Hermann Strathmann2 widmeten sich zahlreiche Forscher dieser Thematik. Ende der Siebzigerjahre flaute das Interesse zunehmend ab, erstarkte aber erneut in den Neunzigerjahren und gegenwärtig in einigen Beiträgen.

2.1 N. Brox (1961): Zeuge und Märtyrer

Einen umfassenden Beitrag leistete Norbert Brox mit seiner Monografie Zeuge und Märtyrer: Untersuchung zur frühchristlichen Zeugnis-Terminologie.1 Sein Interesse besteht vor allem darin, „den Ursprüngen der Bedeutungsänderung des Wortes μάρτυς κτλ., die zur Entstehung des Märtyrertitels führte, nachzugehen“ (13). Brox geht davon aus, dass der Märtyrertitel erst in nachneutestamentlicher Zeit gebildet wurde. Um dies nachzuweisen, wendet er sich in seiner 14 Kapitel umfassenden Abhandlung dem allgemeinen Sprachgebrauch, der spezifischen Begrifflichkeit des Zeugen und Zeugnis im Neuen Testament2 und in einem dritten Teil der Benennung des christlichen Märtyrers zu. Des Weiteren beleuchtet er das Verkündigungszeugnis, den Märtyrer und den Märtyrertitel im neutestamentlichen Sprachgebrauch und setzt sich hierbei mit früheren Erklärungsversuchen3 auseinander. Da diese Versuche Brox jedoch nicht zufriedenstellen, wendet er sich einer näheren Untersuchung des Judentums und des Alten Testaments zu, um dort nach Erklärungen für die Entstehung und Bedeutungsänderung des Märtyrertitels zu suchen. Auch hier hinterfragt Brox bisherige Untersuchungsergebnisse4 und kommt zu dem Schluss, dass „das Alte Testament und Spätjudentum als Ursprungsort für den Märtyrertitel ausscheiden“ (172). Infolgedessen konzentriert sich Brox im dritten Abschnitt (175–195) des dritten Teils seiner Arbeit auf außerbiblische Texte und hellenistische Parallelen zur Vorstellung und Benennung des christlichen Märtyrers. Da Brox auch dort keine Antworten findet, richtet er sein Augenmerk auf die frühchristliche Literatur bis hin zum Martyrium des Polykarp, des Jakobus und der Lugdunenser (196–228). Brox stellt fest, dass sich der Märtyrertitel weder aus dem Wortzeugnis gebildet noch den Begriff des Wortzeugen verdrängt habe. Es sei auch „unwahrscheinlich, daß der Märtyrertitel auf dem Wege der direkten Ableitung vom Begriff des Glaubens- und Verkündigungszeugen entstanden ist“ (230).5 Dementsprechend fasst er die Ergebnisse seiner Forschung wie folgt zusammen: Für ihn steht fest, „daß sich keine zuverlässigen Anhaltspunkte dafür finden lassen, daß der Märtyrertitel aus dem biblischen Begriff des Wortzeugen entstanden ist, weder aus den biblischen Büchern selbst noch in der frühen Kirche“ (232; vgl. 236). Keiner der untersuchten Texte kenne eine „innere begriffliche Verbindung von Martyrium und Verkündigungszeugen“, noch sei nachweisbar, „daß in den neutestamentlichen Schriften die Leidensvorstellungen an den Stamm μαρτ- gebunden würden“ (233). Somit verortet Brox die Entstehungszeit des Märtyrertitels zwischen der Abfassung des letzten Buches des Neuen Testaments und dem Martyrium des Polykarp.

Erste Anzeichen der Entstehung des Titels sieht Brox bei Ignatius und Irenäus von Lyon. In der Auseinandersetzung mit der doketischen Irrlehre sei diesen „das Martyrium der Christen als Beweise für die Leidensfähigkeit Christi und die Tatsächlichkeit seines Leidens vorgehalten“ worden (234). Die getöteten Christen könnten dabei als Zeugen (μάρτυς) und ihr Martyrium bzw. ihr Tod6 (nicht ihr Wortzeugnis7) als Zeugnis (μαρτυρία und μαρτύριον) „für die wahre Leiblichkeit Christi und für seine wirklich geschehene Passion“ gehalten worden sein, was sodann zur Entwicklung des Titels geführt haben könnte.

Neben manchen Unsicherheiten ist Brox überzeugt, „daß er [der Märtyrertitel] für die Zeit etwa von 100 bis zur Niederschrift des Martyriums des Polykarp (156) in Kleinasien anzusetzen ist und im Vollzug etwa so zu denken ist, wie es dargestellt wurde“ (236). Überdies könne festgehalten werden, „daß sich […] der Märtyrertitel weder unmittelbar aus der philosophischen Sondersprache, noch direkt aus alttestamentlich-jüdischer und auch nicht aus neutestamentlicher Terminologie ableiten läßt, da die in vielen Variationen vorgeschlagenen Begriffsverbindung von biblischem Zeugnis und Leiden oder Tod nicht nachweisbar ist“ (237). Vieles deute eher darauf hin, dass der Titel

auf anderem Wege und auf Grund anderer Vorstellungen gebildet wurde, wahrscheinlich nämlich auf einem gelegentlichen, der frühen Kirche sich bietenden Anlaß, wie wir ihn in der antidoketischen Polemik erblicken und der für uns möglicherweise gar nicht mehr mit Sicherheit greifbar ist. Dabei sind die sprachlichen Voraussetzungen durch den im profanen Griechisch bekannten und auch gebräuchlichen Begriff des Tatzeugen gegeben (237).

Da sich Brox vorrangig mit Fragen nach dem Ursprung und der Entwicklung des Märtyrerbegriffs auseinandersetzt, ist seine Monografie diesbezüglich zwar sehr aufschlussreich, sie trägt aber kaum etwas zur Aufhellung der Fragen nach der Darstellung und Bedeutung des Zeugnisgebens für Jesus im JohEv bei.

2.2 J. C. Hindley (1965): Witness in the Fourth Gospel

Nach Broxʼ Monografie erscheint 1965 im englischsprachigen Raum John C. Hindleys Artikel Witness in the Fourth Gospel.1 In seinem Aufsatz geht Hindley der Frage nach, in welchem Zusammenhang (logische) Beweise, theologische Erkenntnisse oder Schlussfolgerungen von Beweisen zum Glauben an Jesus stehen. Er untersucht, ob der Glaube Resultat überzeugender und logischer Argumente oder Schlussfolgerungen ist und ob die Worte martyrein und martyria als Verständnishilfe für die Verbindung von Glaube und Beweisen dienen können (320).

Um Antworten zu erhalten, wendet sich Hindley der Zeugnisthematik des JohEv zu, insbesondere den Zeugnissen des Vaters, des Sohnes und der Wunder Jesu. Bei der Untersuchung des Selbstzeugnisses Jesu und des Zeugnisses des Vaters kommt Hindley zu dem Schluss, dass diese bestenfalls als Hinweise dienen könnten, nicht aber überzeugend seien und vor einem ordentlichen Gericht nicht als Beweise gelten würden (323). Daraufhin widmet sich Hindley den Wundern Jesu. Er unterteilt diese aufgrund ihrer unterschiedlichen Auswirkungen in vier Kategorien2 und betont, dass sie überzeugend sein könnten, wenn denn die Zeichen hinter den Wundern erkannt und geglaubt würden.3 Hindley folgert, dass auch die Wunder, wie schon die Zeugnisse des Vaters und des Sohnes, in sich selbst als Zeugnis nicht zwingend überzeugend seien; auch sie könnten und müssten letztlich im Glauben erfasst werden. Aus diesem Grund haben Wunder für Hindley nur einen untergeordneten Stellenwert in der christlichen Apologetik und bilden „not the basis of true faith and do not bear the ‚glory‘ of God“.4

Um weitere Antworten auf seine Fragen zu erhalten, untersucht Hindley den Zusammenhang zwischen Glaube und Beweisen aus philosophischer Sicht. Er argumentiert, dass das Evangelium nicht mit der abstrakten Feststellung „Gott existiert“ beginne und nicht versuche, diese Aussage zu verstehen oder zu begründen. Stattdessen werde im Evangelium ein Mann dargestellt, der eine lebendige Konfrontation mit dem Vater verkörpert: „He is the place where traffic between earth and heaven goes on (cf. John 1.51Joh1,51). We have, not an argument but an encounter“ (335). Diese Beobachtungen führen Hindley zu der Vermutung, dass es nicht so sehr um Beweise oder überzeugende Argumente gehe, sondern um die Zeichenbedeutung (sign-value) der Wunder (335) und darum, dass das Zeugnis Jesu (Ich und der Vater sind eins, oder: Wenn ihr mich gekannt hättet, hättet ihr auch den Vater gekannt) im Glauben angenommen werden müsse. Das gesamte Selbstzeugnis Jesu und die Annahme dieses Zeugnisses im Glauben würden dem Wort und Konzept „Gott“ überhaupt erst seine Bedeutung verleihen.5Martyria beinhalte somit auf unterschiedliche Weise gewisse Formen und Muster menschlicher Erfahrungen.6 Hindley schlägt abschließend vor, den Begriff martyria in allen seinen Formen als Einladung zur Jüngerschaft zu sehen,

to move step by step towards faith affirmation, whose results may meet the test of experience. This is distinguished from testing a scientific hypothesis by empirical facts. As the Fourth Gospel shows, the empirical facts are ambiguous. It is also distinguished from rational proof of God, which would be either pride or idolatry. But it does admit and appeal to that in man which wants verification and assurance: it offers entry into an experience which is not wholly irrational, but which itself yield meaning and definition to the concept ‚God‘ and ‚life in his name‘. It is perhaps a part of the meaning of those great words in John 8.31fJoh8,31f.: ‚If you continue in my word, you are truly my disciple, and you will know the truth, and the truth will make you free‘ (337).

Mit seinem Aufsatz legt Hindley interessante Zusammenhänge zwischen überzeugenden Beweisen, Erkenntnissen und Zeugenaussagen und dem Glauben an Jesus offen. Eine detaillierte Untersuchung der Zeugnisthematik wird jedoch nicht geleistet, sodass Fragen nach den Zeugnisgebern und Zeugnisempfängern sowie nach der Wirkung der Zeugnisse offenbleiben.

2.3 J. M. Boice (1970): Witness and revelation in the Gospel of John

Neben diesem Artikel und weiteren kürzeren Abhandlungen1 erscheint 1970 die Dissertation von James M. Boice Witness and revelation in the Gospel of John.2 Boice geht davon aus, dass es sich bei den im JohEv angeführten Zeugnissen um Offenbarung (revelation) handele. Der Evangelist gebrauche die Zeugnisbegriffe martyrein und martyria, um sein eigenes Verständnis des unverwechselbaren Charakters christlicher Offenbarung auszudrücken (14), während er auf die eigentlichen Offenbarungsbegriffe apokalyptein und dēloun verzichte. Um die Zusammenhänge zwischen Zeugnis (witness) und Offenbarung nachzuweisen, untersucht Boice zunächst die Zeugnisthematik des Alten Testaments. Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen wendet er sich der Zeugnisthematik des JohEv zu und stellt sieben Arten von Zeugnissen heraus, mit folgendem Ergebnis: „[A]ll of the seven are not equal. Some witnesses are partial. Some are dependent on the others“ (27). Die sieben Arten der Zeugnisse unterteilt Boice dann in Zeugnisse von Jesus (Kapitel 3) und Zeugnisse für Jesus, wobei er bei Letzteren zwischen „the divine witness to Jesus“ (Kapitel 4), „the human witness to Jesus Christ“ (Kapitel 5) und „the witness of the Holy Spirit“ (Kapitel 6) unterscheidet.

Boice betont besonders die Sonderstellung des Zeugnisses Jesu. Während alle Zeugen Zeugnis für Jesus ablegen würden,3 sei Jesus der Einzige, der Zeugnis für sich selbst, den Vater und die Wahrheit ablege – drei Ausdrücke, die laut Boice letztlich für Synonyme gehalten werden müssen (28). Somit sei Jesus der Zeuge par excellence, da nur sein Zeugnis – als Zeugnis des Sohnes Gottes – ein unmittelbares und unverfälschtes Verständnis der göttlichen Realität beinhalte. Christus übernehme in und mit seinem Zeugnis die Rolle des einzigartigen Offenbarers.

Durch die Untersuchung der Zeugnisthematik sieht Boice seine These bestätigt, dass das Zeugnis Jesu als Mittelpunkt aller göttlichen und rettenden Offenbarung hervortrete. „For John the witness of Jesus is revelation and the witnesses which cluster about it are expressions by the evangelist of those aspects of revelation which concern the subjective appropriation and the objective verification of religious truth“ (31). Zudem muss laut Boice Folgendes festgehalten werden: „Johnʼs treatment of the idea of witness moves within the area of divine revelation, the verification of religious claims and the response of the individual to the revelation which is found in Christ“ (35).

Aufgrund dieser Beobachtungen steht für Boice fest, dass der Evangelist nicht nur an der bloßen Zeugnisthematik interessiert sei. Vielmehr habe er ein theologisches Interesse, aus dessen Sicht das Zeugnis nicht nur forensische Bedeutung besitze, sondern vielmehr auch eine religiöse Zeugnisdimension aufweise, welche die Darstellung, Nachprüfbarkeit und Bestätigung der Behauptungen und Ansprüche Jesu miteinbeziehe (28–29). Zusammenfassend lasse sich daher sagen, dass Johannes als Theologe über das Wesen und die Bedeutung des christlichen Zeugnisses reflektiere. Das daraus resultierende religiöse Zeugnis erreiche im vierten Evangelium seinen absoluten Höhepunkt, der sich so in keiner anderen neutestamentlichen Quelle wiederfinde.4

Dieser beachtenswerte Beitrag, in dem sich Boice ganz auf die Zeugnisbegriffe martyrein und martyria bezieht und zwischen den unterschiedlichen Zeugnissen klar differenziert, zeigt auf, dass die Zeugnisthematik des JohEv nicht nur eine forensische, sondern vor allem auch eine religiöse Offenbarungsdimension aufweist. Obgleich sich Boice auf die eigentliche Zeugnisthematik und die offensichtlichen Zeugnisstellen fixiert, können diese noch ausführlicher und umfassender auf die narrative Darstellung der Zeugnisakte hin untersucht werden, um die Funktion, Bedeutung und vor allem die Wirkung des Zeugnisses für das JohEv, die erzählten Zeugnisempfänger und die intendierten Rezipienten5 zu erhellen.

2.4 J. Beutler (1972): Martyria

Im deutschsprachigen Raum beteiligt sich 1972 Johannes Beutler mit seiner Monografie Martyria: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes an der Erforschung der Zeugnisthematik des Neuen Testaments.1 Im Fokus seiner Arbeit steht neben der Suche nach der vorausgegangenen biblischen oder außerbiblischen Tradition der Zeugenbegriffe die Suche nach einer biblischen Glaubensbegründung.2 Während in vorhergehenden, ähnlichen Arbeiten vielfach die Zeugenbegriffe auf ihren Wortsinn hin untersucht wurden und der Frage nach der Herkunft und Entwicklung des Märtyrertitels nachgegangen wurde3 oder die Zeugnisterminologie und Wortbedeutung als solche beleuchtet wurden,4 will Beutler sich dem konkreten Wortgebrauch zuwenden. „Nicht der Wortinhalt wird von uns untersucht, sondern die verschiedenen Kontexte, in denen Wörter des Stammes μαρτυ- im NT und in der urchristlichen Literatur vorkommen. Von dorther werden wir versuchen, den Hintergrund aufzuhellen, auf dem die joh ‚Zeugnis‘-Stellen zu verstehen sind“ (169).

Um dies umzusetzen, sucht Beutler im ersten Teil (43–205) seiner Arbeit zunächst im außerbiblischen Griechisch, im Alten Testament, in der altjüdischen, synkretistischen und gnostischen Literatur und schließlich im Neuen Testament (außerhalb der Schriften des Johannes) und dem Urchristentum nach möglichen Parallelen zur johanneischen Zeugnisterminologie. Hierbei kommt er zu folgenden Ergebnissen: In der griechischen Rechtssprache, Umgangssprache, Rhetorik und Philosophie kämen μαρτυρϵῖν und μαρτυρία „sehr häufig in rechtlichen, wenn nicht sogar in gerichtlichen (‚forensischen‘) Zusammenhängen“ vor (72–73). Ebenso verhalte es sich mit der Zeugnisterminologie in der LXX, im hebräischen Alten Testament (118) und in den Qumrantexten (144). Bezüglich der jüdisch-hellenistischen und der griechisch-hellenistischen Literatur merkt Beutler an, dass die Zeugenbegriffe „häufig Ausdrücke zur Einführung eines Arguments oder einer Autorität in der religiösen Apologetik“ seien. „Sie sind der griechisch-hellenistischen Rhetorik und Dialektik entnommen, können aber durchaus ‚forensische‘ Schärfe […] erhalten“ (155). Aus der Terminologie der frührabbinischen Literatur hebt Beutler besonders die verbale Verbindung העיד … על hervor, da er in ihr Entsprechungen bei Johannes erkennt. „Sachlich enthalten die Anforderungen, die an den Zeugen im jüdischen Prozeß des Mischnarechts gestellt werden, Elemente, die auch in den joh Schriften eine Rolle spielen, wie die Zahl der Zeugen, Glaubwürdigkeit usw.“ (162–163).

Was das „Bezeugen“ und „Zeugnis“ im Neuen Testament außerhalb der johanneischen Schriften und der urchristlichen Literatur betrifft, so erkennt Beutler vor allem bei Lukas, der Apostelgeschichte, dem Hebräerbrief, der Apokalypse und dem 1. Clemensbrief inhaltliche Berührungspunkte und eine ähnliche Vorliebe für die Begriffe μαρτυρϵῖν und μαρτυρία (204).

Mit diesen gewonnenen Erkenntnissen wendet sich Beutler im zweiten Teil (206–361) seiner Arbeit dem Evangelium und den Briefen des Johannes zu, um die Zeugnisthematik in terminologischer, traditionsgeschichtlicher und theologischer Hinsicht zu untersuchen.

Hinsichtlich der johanneischen Zeugnisterminologie zeigt sich laut Beutler eine große Unabhängigkeit von der biblischen Sprachtradition und den jüdisch-hellenistischen Autoren (234). Dagegen will Beutler eine „Verwurzelung der joh Sprache in ihrer griechischen (z. T. semitisch beeinflußten) Umgebung“ sehen (363), obwohl sich zugleich auch einige charakteristische Verbindungen5 nachweisen lassen, für die sich kaum oder überhaupt keine Parallelen finden (363).

Bei der Untersuchung der Zeugen für Christus sieht Beutler beim Zeugnis Gottes und dem Zeugnis der Schriften innerbiblische Parallelen zur Apostelgeschichte, dem Hebräerbrief und zu Paulus. Darüber hinaus erkennt Beutler für beide Zeugnisse viele „Berührungspunkte mit der jüdisch-hellenistischen Apologetik bei Philo […] und Fl. Josephus […] sowie bei griechischen und hellenistischen Autoren“ (363). Auch beim Zeugnis der Werke ließen sich Parallelen zur Apostelgeschichte, dem Hebräerbrief und dem 1. Clemensbrief erkennen (305), beim Zeugnis des Geistes Parallelen zu Paulus (363).

Was Christus als Zeugen angeht (als Zeugen göttlicher Offenbarung6 und als Zeugen für die Wahrheit), sieht Beutler Entsprechungen in der frühchristlichen Apokalyptik, u. a. in der Geheimen Offenbarung, dem Buch der Jubiläen und einigen Qumranschriften. Zudem geht er davon aus, dass es Berührungspunkte „traditionsgeschichtlicher Art zwischen der joh ‚Zeugnisargumentation‘ und der Vorstellung von ‚Jesus als Zeuge himmlischer Dinge‘“ gebe, denen er in seiner Arbeit aber nicht weiter nachgehen will.7 Beutler beschreibt: „Vereinfacht gesagt führt uns die ‚Zeugnisargumentation‘ stärker in den Umkreis hellenistischer Argumentationsweise, während wir bei der Vorstellung ‚Jesus als Zeuge‘ (neben christlichen) stärker jüdisch-palästinensische Parallelen aufweisen konnten“ (364).

Neben diesen Parallelen hebt Beutler abschließend die besondere Eigenleistung des Evangelisten hervor. Die stärkste „theologische Eigenleistung“ sieht er „in der Charakterisierung des Täufers Johannes als Zeugen für Christus“ (305). Hier könnten keine Parallelen nachgewiesen werden und „hier scheint sich bereits die Eigenleistung des Evangelisten anzukündigen“ (363). Eigenleistung des Evangelisten erkennt Beutler zudem in der „Vorstellung vom ‚Zeugnis über (περί) Jesus‘, die „so gut wie ohne Parallelen (außer Apg 22,18) [bleibe]“ (365). Weitere eigenständige Beiträge leiste der Evangelist in der „Anordnung der einzelnen ‚Zeugen‘ für Jesus innerhalb des Evangeliums […] zu einer geschlossenen und zusammenhängenden ‚Zeugnisargumentation‘“, in der „eigentümliche[n] Dynamik, mit der er vom äußeren, gesehenen Zeugnis zum geglaubten Zeugnis führt“, und in der „Einordnung der verschiedenen Einzelzeugnisse für Jesus in einen ‚großen Prozeß‘“ (365). In der Zeugnisargumentation sieht Beutler den für das vierte Evangelium charakteristischen „Entscheidungsdualismus“, in dem „die joh ‚Zeugnisargumentation‘ aufs engste mit der joh Glaubenstheologie verknüpft“ sei (365).

Der Glaube stützt sich auf ‚Zeugnisse‘, auch das der ‚Werke‘ Jesu, die als ‚Zeichen‘ Staunen erregen. Aber Zeugnisse werden letztlich nur im Glauben voll erfasst. In diesem Sinne muß der Glaube über sie hinauswachsen zum Glauben auf das Wort Jesu hin. Rückschauend zeigt sich dann, daß das vielfache Zeugnis, das der Vater für Jesus gibt, kein anderes ist alles das, das Jesus von sich selber gibt. Sie sind nicht nur inhaltlich identisch, sondern sie sind eins (366).

Obwohl Beutler ausführlich auf die Zeugnisthematik, die Identität der Zeugen und umfassend auf die Zeugnisterminologie im JohEv eingeht, tut er dies doch und vor allem aus seinem Interesse an traditionsgeschichtlichen Hintergründen und grammatischen Feinheiten, was die Formulierung bezüglich des Zeugnisablegens betrifft (ob mit ὅτι, Akkusativ, Dativ oder περί τινος). Nicht untersucht werden dabei die narrative Darstellung der Zeugnisakte, der Zeugnisgeber und Zeugnisempfänger sowie die Wirkung der Zeugnisse, sodass in diesen Bereichen Raum für weitere Betrachtungen der Zeugnisthematik des JohEv bleibt.

2.5 A. A. Trites (1977): The New Testament Concept of Witness

Um die gleiche Zeit wie Boice und Beutler setzt sich Alison A. Trites in unterschiedlichen Beiträgen mit der Thematik des Zeugnisses und Zeugnisgebens auseinander.1 Den ausführlichsten Beitrag leistet er durch seine Dissertation The New Testament Concept of Witness.2 Hierin untersucht er neben der Verwendung der Zeugnisterminologie im säkularen Griechisch und der Septuaginta vor allem das Konzept des Rechtsstreits im Alten Testament, besonders in Jesaja 40–55. Des Weiteren wendet er sich der Zeugnisterminologie und dem Konzept des Zeugnisablegens im Neuen Testament zu. In seiner Arbeit hebt Trites neben anderen Bedeutungen besonders den forensischen Charakter der Zeugenterminologie hervor und begründet dies vor allem mit dem in Jesaja 40–55 geschilderten Rechtsstreit zwischen Jahwe und der Welt. In Jesaja 40–55 will Trites das dem Neuen Testament zugrundeliegende Modell der Zeugenschaft erkennen. Neben der Apostelgeschichte und der Offenbarung werde dieser alttestamentliche Hintergrund besonders im JohEv deutlich. Während in Jesaja 40–55 der Rechtsstreit zwischen Jahwes Repräsentanten Israel und der Welt, repräsentiert durch die heidnischen Völker, geführt werde, geschehe dies im JohEv durch Jesus sowie die für ihn auftretenden Zeugen3 und die Welt bzw. den ungläubigen Juden. Trites führt Folgendes aus:

In Isaiah 40–55 the debate is over the claim of Yahweh as the Creator, the only true God and the Lord of history; in John it is over the Messiahship and divine Sonship of Jesus. John, like his prophetic [Old Testament] counterpart, has a case to present, and for this reason he advances his arguments, asks his juridical questions, and presents his witnesses after the fashion of the Old Testament legal assembly.4

Aufgrund dieser Feststellung betont Trites in seiner Untersuchung des JohEv mehrfach den forensischen Charakter des gesamten Evangeliums und die Bedeutung der Zeugen für dasselbige. „The idea of witness in Johnʼs Gospel is both very prominent and thoroughly juristical, and is to be understood in terms of Old Testament legal language“ (80). Besonders in den ersten zwölf Kapiteln komme die forensische Sprache zur Beschreibung des kosmischen Rechtsstreits zwischen Gott und der Welt zur Geltung (112). In den Kapiteln 13–17 hingegen werde mehr auf den nachösterlichen Rechtsstreit eingegangen, bei dem Jesus bereits als derjenige dargestellt werde, der die Welt überwunden und das Werk des Vaters vollendet habe (113–114). „The post-resurrection lawsuit can be understood in this fashion: ‚the high court has already spoken its verdict [namely, that Jesusʼ death judges the world, not him], but its decision has still to be applied to individual case‘“ (114). Laut Trites geht der Rechtsstreit nach Jesu Verherrlichung und Himmelfahrt weiter, auch wenn Jesus dann nicht mehr der Hauptzeuge für die Wahrheit sei. Nun sei es der Heilige Geist, der als Advokat den Fall Jesu vertrete und Johannes und andere zur Untermauerung des Zeugnisses aufrufe (114).

Trotz der besonderen Betonung der forensischen Aspekte und des Rechtsstreitmotivs ist sich Trites bewusst, dass diese Seite der Zeugnisthematik nicht überbetont werden darf:

In fact, our study has uncovered four classes of material where the witness imagery operates: (a) actual trials, where the legal terminology is genuinely forensic; (b) controversy, where there is an extension of forensic; (c) metaphor where the forensic aspect may be in the background but is not necessarily present; (d) the idea of witness as testimony to, in a religious context (or in terms of reputation, etc.). There are clearly several gradations which must be taken into account (222, Hervorhebung im Original).

Mit seiner Dissertation und anderen Beiträgen leistet Trites einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Konzepts des Zeugnisses im Neuen Testament. Bei einer so breit angelegten Untersuchung ist es jedoch nicht möglich, auf Details der Zeugnisthematik des JohEv einzugehen. Somit bleibt auch nach den Beiträgen von Trites Raum für eine sorgfältigere und differenzierte Untersuchung der Darstellung der Zeugnisakte, der auftretenden Zeugen und Zeugnisempfänger und der Wirkung des Zeugnisses.

2.6 M. R. Wilton (1992): Witness as a theme in the fourth gospel

Mit einigem Abstand folgt zwanzig Jahre später eine weitere Dissertation zur Zeugnisthematik des JohEv. In seiner unveröffentlichten Dissertation Witness as a theme in the fourth gospel wendet sich Murray R. Wilton dem vierten Evangelium vor allem aus seinem persönlichen missionarisch-evangelistischen Interesse1 zu, um aus der Zeugnisthematik des JohEv für das eigene Bekenntnis zu Jesus zu lernen.2 Ziel seiner „narrativ-exegetischen Studie“ ist es, die zentrale Bedeutung des Zeugnisses im vierten Evangelium aufzuzeigen3 und darzulegen, „what John considered a witness to be and how he communicated this understanding to the reader throughout the literary medium of the fourth gospel narrative“4. Wilton geht dabei vier Hypothesen nach: 1. „[…] witness is a key theme distributed throughout the narrative of the fourth gospel“, 2. „[…] a narrative study of chapters one through twelve depicts Jesus in the role of a witness to the world“, 3. „[…] the study of the witness of Jesus to his disciples reveals the characteristics of an individual believerʼs witness to other believers“, 4. „[…] a study of chapters twenty and twenty-one of the fourth gospel demonstrates that Jesus bore continuing witness to the reality of the resurrection“ (3).

Im ersten Kapitel (15–77) untersucht Wilton die explizit erwähnten Zeugnisstellen in der gesamten Erzählung des JohEv. Als Ergebnis sieht er seine Hypothese bestätigt, dass das zentrale Thema des Zeugnisses die johanneische Erzählung über Jesus durchdringe. „The evangelist used words, phrases, settings, narrative story, discourse, explicit commentary, and metaphors, to convey the theme and meaning of witness to the reader“ (76). Weiter zeigt Wilton, wie in den ersten zwölf Kapiteln das Thema Zeugnisgeben durch den Täufer Johannes eingeleitet werde, wie dessen Rolle als Zeuge dann aber von Jesus übernommen werde, um vor der Welt Zeugnis abzulegen. „Jesus witnessed to the world and the disciples learned by following Him and observing His mission“ (76). In den Kapiteln 13–19 konzentriere sich Jesu Mission dann auf die Jünger und die Sendung der Jünger, während die letzten beiden Kapitel die Zeugnisthematik nach der Auferstehung aufgreifen würden.

Der implizierten Zeugnisthematik des JohEv wendet sich Wilton in den folgenden beiden Kapiteln seiner Arbeit zu. Das zweite Kapitel (78–122) beleuchtet die ersten zwölf Kapitel des JohEv und richtet den Fokus auf die Rolle Jesu als Zeuge gegenüber der Welt und gegenüber einer Vielzahl von Individuen (1). „Jesus witnessed to persons of diverse social standing in a variety of settings. In each witness encounter Jesus presented coherent truth by adapting to the contingent particularities of the human situation“ (3). Darüber hinaus entwickle Johannes „an implied theme of witness by casting Jesus as a role model in witness. Jesus invited various persons to follow Him and observe His mission. […] Those who received His testimony responded either by accepting or rejecting His message“ (183).

Im dritten Kapitel (123–155) analysiert Wilton die implizierte Zeugnisthematik der Kapitel 13–19 und hält fest, dass die ersten Verse hier zeigen würden, dass der Fokus des Abschnitts auf Jesu Dienst an seinen eigenen Jüngern liege. Zentral seien hier die Wörter „Vorbild“ (das Vorbild, das Jesus seinen Jüngern in der Fußwaschung hinterlässt) und „Einheit“ (die Einheit, die Jesus und der Vater haben und die sich nun auch in der neuen Familie Gottes unter Glaubensgeschwistern wiederfinden soll). „By following his example they witnessed to one another. Their mutual interwitnessing proved that they were true disciples of Jesus. The unity thus preserved was a testimony to the world that they belonged to Jesus“ (154).

Im vierten Kapitel (156–182) wendet sich Wilton der implizierten Zeugnisthematik der Kapitel 20 und 21 zu und stellt fest: „The theme of witness is continued and expanded in the final two chapters of the fourth gospel“ (180). Dadurch, dass Jesus seinen Jüngern als der Auferstandene in verschiedenen Situationen begegne, sichere er ihnen die Realität seiner Gegenwart zu. Diese Gegenwart Jesu erfülle nicht nur die Zusage Jesu, dass er wiederkommen würde, sondern durch sie würden die Jünger auch die Autorität erhalten, als Zeugen Jesu auch nach seiner Auferstehung weiterhin tätig zu bleiben.5

Was Wiltons grundlegendes Forschungsinteresse betrifft, so kommt er nach seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das vierte Evangelium in der Darstellung der Ereignisse eine praktische Anleitung für all diejenigen beinhalte, die sich zu Zeugen des auferstandenen Jesus berufen sähen. „Practical instruction and motivation is provided through the fabric of Johnʼs story for those who continue the mission“ (185). Durch die Darstellung der Interaktionen Jesu mit einer Vielzahl unterschiedlichster Menschen ermögliche Johannes es seinen Lesern6, „to identify such persons and learn to witness in accordance with Jesusʼ example“ (186). Wilton schließt seine Arbeit mit einigen Hinweisen auf die Vorbildfunktion Jesu beim Ablegen eines Zeugnisses.

Wiltons Dissertation befasst sich sehr einschlägig mit dem Thema des Zeugnisgebens und stellt eindrücklich heraus, wie sich Zeugen für Jesus an Jesus als dem Zeugen par excellence orientieren sollen und können. Bezüglich der Zeugen-/Zeugnisthematik bleiben dennoch Fragen offen, weil Wilton sich zwar auf das Zeugnisgeben und den Zeugen fokussiert, nicht aber den gesamten Zeugnisakt, die Charakterisierung der Zeugnisempfänger7 oder die (implizierte) Wirkungen und die (implizierten) Folgen des Zeugnisses untersucht.

2.7 R. G. Maccini (1996): Her Testimony is True

Vier Jahre nach Wilton folgt mit der Dissertation von Robert G. Maccini Her Testimony is True: Women as Witnesses according to John ein weiterer Beitrag zur Erforschung der Zeugnisthematik des JohEv.1 Maccini wendet sich der Zeugnisthematik aus einem egalitären Anliegen zu2 und versucht nachzuweisen, dass die Zeugnisse von Frauen und Männern im JohEv gleichwertig nebeneinanderstehen. Hierzu untersucht er, nach einer Darstellung der Frauen als Zeuginnen in der biblischen Kultur (63–97), das Zeugnis der Mutter Jesu bei der Hochzeit zu Kana, das Zeugnis der Samaritanerin, das Zeugnis von Maria und Martha bei der Auferweckung des Lazarus und bei der Salbung Jesu, das Zeugnis der Frauen am Kreuz und das Zeugnis von Maria Magdalena am leeren Grab. In einem Exkurs in Kapitel 10 beleuchtet Maccini darüber hinaus weitere Stellen aus Joh 7,53–8,11Joh7,53–8,11, 9,1–44Joh9,1–44 und 18,12–27Joh18,12–27.

Am Ende seiner Arbeit kommt Maccini zu der Überzeugung, dass Johannes weder Männer Frauen noch Frauen Männern als Zeugen vorziehe. Dem Verfasser gehe es um das vorgebrachte Zeugnis an sich, nicht um das Geschlecht des Zeugen.

John is interested in their testimony, not their gender. If individual women witnesses are integral to the events John chose to narrate […] it is not because John wants to make statements about women, but because he wanted to provide testimonies about Jesus, and these events best suited that purpose (245).

Da das Geschlecht für die Glaubwürdigkeit der angeführten Zeugnisse für Johannes keine Rolle spielt, kommt Maccini am Ende seiner Arbeit auf sein Anliegen zurück und betont: „Is her testimony true just as his testimony is true? It depends, then as now, not upon the gender but upon the faith of the witness who is born of the Spirit as a child of God. Their testimony is true who truly believe that the messiah, the Son of God, is Jesus“ (252).

Auch der interessante Ansatz von Maccini trägt seinen Teil zur Erhellung der Zeugnisthematik des JohEv bei. Bei seiner Frage nach den weiblichen Zeugen löst sich Maccini jedoch vom eigentlichen Zeugenbegriff und bezieht Aussagen von Frauen in seine Untersuchung mit ein, die im Text selbst nicht explizit als „Zeugnis“ bezeichnet werden, denn außer bei der samaritanischen Frau in Joh 4Joh4 werden die Begriffe μαρτυρεῖν und μαρτυρία an keiner Stelle auf Aussagen von Frauen bezogen. Aufgrund der Einschränkung der Untersuchung auf weibliche Zeugen und der Loslösung von den expliziten Zeugnisbegriffen stellt die Dissertation von Maccini keine umfassende Untersuchung der expliziten Zeugnisakte des JohEv dar. Wie nach der Begutachtung anderer Arbeiten zeigt sich auch bei Maccini, dass die Zeugnisthematik noch nicht erschöpfend, differenziert und detailliert genug untersucht worden ist und Raum für weitere Forschung lässt.

2.8 A. T. Lincoln (2000): Truth on Trial

Vier Jahre nach der Veröffentlichung von Maccinis Dissertation erscheint das umfassende Werk Truth on Trial: The Lawsuit Motif in the Fourth Gospel, in dem sich Andrew T. Lincoln ausführlich mit der Prozess- und Rechtsstreitmotivik des JohEv auseinandersetzt.1 In Anlehnung an Trites kommt Lincoln zu folgender Überzeugung: „[I]t is Isa 40–55 in particular that provides the resources for the Fourth Gospelʼs narrative“ (13). Auf der Grundlage dieser Annahme wendet sich Lincoln mit seiner Arbeit der Untersuchung dieses „vernachlässigten Hauptthemas“ zu (6).

Nach einer kurzen Einleitung gibt Lincoln in einem ersten Kapitel (The Lawsuit and the Narrative of the Fourth Gospel) einen vorläufigen Überblick über den Aufbau der Erzählung, einige Schlüsselbegriffe und das Rechtsstreitmotiv in der Erzählung.2 Im zweiten Kapitel (The Lawsuit, Jewish scripture, and the Fourth Gospel) wendet er sich der Untersuchung des Rechtsstreitmotivs in frühen jüdischen Schriften und in Jes 40–55 zu, arbeitet dessen Einflüsse auf das JohEv heraus (43–45) und geht auf „[t]he Fourth Gospelʼs Reworking of Deutero-Isaiahʼs Lawsuits“ ein (45–51). Von daher kommend ist Lincoln überzeugt:

The implied reader who is also an informed reader and who not only has received Jesusʼ witness that the Scriptures testify on his behalf […] but has also picked up on the narratorʼs three direct citations from Isa 40–55 […] will not fail to have heard resounding echoes from these chapters of Isaiah. […] This scriptural depth enables the implied reader to discern clearly that, in the Fourth Gospelʼs narrative, the two lawsuits of Deutero-Isaiah have been brought together. The lawsuit between God and the nation becomes that between God and the world and provides the overarching framework within which Israelʼs controversy with God is now seen to be a part. In fact, Israelʼs lawsuit with God not only forms a counterplot within the main plot; Israel also now becomes the representative of the world in the main plot (45–46).

Weitere Parallelen zwischen Jes 40–55 und dem JohEv sieht Lincoln in den Ich-bin-Aussagen sowie der Absicht des Rechtsstreits: „Both in Deutero-Isaiah and in the Fourth Gospel, the ultimate purpose of the lawsuit is the salvation of the world“ (50).

In den darauffolgenden Kapiteln richtet Lincoln den Fokus seiner Untersuchung auf die Schlüsselmomente des johanneischen Gerichtsprozesses, auf eine erneute Betrachtung des Aufbaus der Erzählung und einige literarische Fragen, bevor er im fünften Kapitel dann zu einer Betrachtung des theologischen Standpunkts des JohEv kommt, der die Rechtsstreitmotivik beeinflusst. Hierbei stellt Lincoln fest, dass eine Untersuchung der Rechtsstreitmotivik des JohEv bei Gott beginnen müsse, „because a cosmic lawsuit is all about the relationship between God and the world“3, und dass das Zeugnis Jesu von zentraler Bedeutung sei, weil er Zeugnis für Gott, sich selbst und die Wahrheit ablege. „In witnessing to God, Jesus also witnesses to the truth about himself and to the truth about Godʼs purpose for humanity and the world. […] His witness is that of the authorized agent who fully represents God in the lawsuit“ (193–194).

Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung wendet sich Lincoln dem Ergebnis des Gerichtsprozesses zu,4 beleuchtet das Zeugnis der Jünger Jesu und des Heiligen Geistes und das „Cosmic Setting of the Trial“, um dann in zwei größeren Abschnitten die Rechtsstreitmotivik des JohEv aus einer soziohistorischen Perspektive zu beleuchten5 und die Rechtsstreitmetaphorik in ihrer anhaltenden Bedeutung und aus heutiger Sicht zu betrachten.6 In zwei abschließenden Kapiteln geht Lincoln auf Einwände und Überlegungen bezüglich des Rechtsstreits des vierten Evangeliums ein.

Das fünfhundert Seiten umfassende Werk Lincolns ist ganz auf die Rechtsstreitmotivik des JohEv ausgerichtet und bietet einen umfassenden Überblick über die Begründung für die Annahme derselben im JohEv und über die möglichen Hintergründe und Prätexte, die diesem Motiv zugrunde liegen könnten. Die Fixierung auf dieses Motiv – ob gerechtfertigt oder nicht – bringt es mit sich, dass Lincoln Textpassagen schnell und fast durchweg aus Sicht dieses im Hintergrund stehenden Rechtsstreits interpretiert, weil er der folgenden Überzeugung ist: „[…] [T]he results of the attempts to read John in its original context have made it very difficult to see its message as transferable beyond that specific and limited context“ (4).

Entgegen dieser Annahme kann es aber durchaus gewinnbringend sein, sich der narrativen Darstellung der Zeugnisthematik, gelöst von einer vorschnellen Einbettung sämtlicher Aussagen in ein Rechtsstreitmotiv, zuzuwenden, um die einzelnen erzählten Zeugnisakte in ihrer erzählten Welt und auf ihre Bedeutung und Wirkung hin zu untersuchen.

2.9 D. F. Gniesmer (2000): In den Prozeß verwickelt

Neben Lincoln erscheint im gleichen Jahr Dirk F. Gniesmers Dissertation In den Prozeß verwickelt1, in der auch er sich der Zeugnisthematik des vierten Evangeliums zuwendet. Gniesmer untersucht – wie der Untertitel seiner Arbeit verrät – insbesondere den Prozess Jesu vor Pilatus (Joh 18,28–19,16aJoh18,28–19,16.b) anhand erzähltextanalytischer und textpragmatischer Erwägungen.

Die Dissertation beginnt mit einem Überblick über Aporien älterer und neuerer literarkritischer Untersuchungsmethoden und einer kritischen Hinterfragung der neueren Literarkritik, um dann auf mögliche „Auswege aus der Aporie“ (31–38) hinzuweisen. Einen dieser Auswege sieht Gniesmer in der Erzähltextanalyse. Sie liefere einen „umfassenden Ansatz […], der den Text und die in ihm entworfene Welt in den Mittelpunkt rückt, zugleich aber diesen Text als Teil eines Kommunikationsgeschehens auffaßt und daher auch die Frage nach Autor und Adressaten – jedoch in modifizierter Form – aufnehmen kann“ (42–43).

Nach der Einführung geht Gniesmer im zweiten Hauptteil seiner Arbeit auf die Erzähltextanalyse und die Funktion des Erzählens ein und wendet sich dabei ausführlich dem von Paul Ricœur vorgestellten dreifachen Prozess des Erzählens zu.2 „[A]usgehend von einem kurzen Überblick über den von P. Ricœur beschriebenen Vorgang des Erzählens [werden dann] aus den jeweiligen Aussagen Fragestellungen für die Exegese der johanneischen Prozeßschilderung gewonnen und bereits auch erste Ergebnisse erzielt […]“ (51).

Um diesen Vorsatz umzusetzen, beginnt Gniesmer mit einer Erläuterung der Bedeutung der Mimesis I, um ihr zufolge im Anschluss zu analysieren, „an welche pränarrativen Strukturen (1.1) Johannes anknüpfen konnte und welche Prätexte (1.2) er zur Verfügung hatte“ (54). Daraufhin wendet er sich der Mimesis II zu, dem „Zentrum des Erzählprozesses“, und damit der Frage, wie aus den pränarrativen Strukturen und Prätexten die (neue) Erzählung des JohEv gestaltet wurde.3 Zur Beantwortung dieser Frage hält Gniesmer es für wichtig, einige Grundbegriffe der Erzähltextanalyse, wie beispielsweise die Begriffe „story“ (was wird erzählt?) und „discourse“ (wie wird es erzählt?)4, sowie „die Bedeutung des Erzähltextes und seiner verschiedenen Kommunikationsebenen“5 zu erklären. Im Anschluss daran stellt er „Erwägungen zur Analyse des johanneischen Erzähltextes“ an und untersucht den Aufbau und die Struktur des JohEv, typische johanneische Denkweisen, die implizierten Kommentare, die Präsentation der Geschichte durch den fiktiven Erzähler, die Perspektive des fiktiven Erzählers und die Darstellung des Lieblingsjüngers und des Parakleten (91–116).

Im dritten Abschnitt des zweiten Hauptteils geht Gniesmer auf die Mimesis III ein, „die Refiguration in der Rezeption der Erzählung“ (116), in der der Erzählprozess zum Ziel kommt. Gniesmer erklärt:

Die vielfältigen, im Text angelegten und auf die Leserinnen und Leser zielenden Strategien entfalten ihre Wirksamkeit in der Rezeption. Nun entscheidet sich, ob es der Erzählung gelingt, als ein einladender und verwandelnder Entwurf von Welt gelesen und angeeignet zu werden. […] Im Akt des Lesens, der ‚Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes‘ kommt der Prozeß des Erzählens an sein Ziel (116–117).

Wie gut die Rezeption gelingt, hängt laut Gniesmer von verschiedenen Voraussetzungen ab, die er in einem weiteren Abschnitt darstellt, bevor er am Schluss das Ziel des Erzählens erläutert. Ziel sei es, dass sich die Leser durch die Begegnung mit dem Text „selbst erkennen und locken lassen, ‚aus der Finsternis ans Licht zu kommen‘. […] Durch Erzählen ‚sollen Einstellungen, Gefühle, Verhaltensweisen entstehen, beeinflußt und verändert werden‘, Erzählungen sind Handlungen, die sich in der Rezeption vollziehen“ (132) und bei dem Leser zum Aufbau einer „narrative[n] Identität“ führen sollen.6

Nach der Darstellung des dreifachen Prozesses und des Ziels der Erzählung geht Gniesmer schließlich zum JohEv über. Er ist überzeugt: „Die Aussagen Ricœurs zum Prozeß des Erzählens als einer dreifachen Mimesis lassen sich ohne Probleme auf das Johannesevangelium anwenden“ (135). Daraus leitet Gniesmer seine Leitthese ab: „Der dreifache Prozess des Erzählens findet seine Entsprechung im johanneischen Erzählen des Prozesses, der – mit den Aussagen Ricœurs zusammengebracht – nun als ein dreifacher Prozeß Jesu im Johannesevangelium in den Blick kommen kann“ (135).

Dieser These folgend, untersucht Gniesmer im dritten Kapitel ausführlich die Erzählung des Prozesses Jesu in Joh 18,28–19,16aJoh18,28–19,16.b und arbeitet dabei „die in der Erzählung entfaltete Sache des Textes“ sowie die „Aussagen zur intendierten Rezeptionshandlung“ heraus (367–368).

Im vierten und letzten Kapitel wendet sich Gniesmer „textpragmatischen Erwägungen“ zu (367–424). Er fasst bisherige Untersuchungsergebnisse zusammen, deutet das gesamte Evangelium als Prozesserzählung (379–385) und kommt in einer weiteren Zusammenfassung, in Anlehnung an Bultmann, zu dem Ergebnis, dass das gesamte JohEv den großen Prozess zwischen Gott und der Welt darstelle.7

In einem letzten Abschnitt des vierten Kapitels beschäftigt sich Gniesmer mit „Erwägungen zur konkreten Kommunikationssituation“ (394–424) und geht dabei auf unterschiedliche Themen ein, wie beispielsweise auf die Fragen, wer „die Juden“ im Prozess Jesu seien, was Hintergründe für einen Synagogenausschluss sein könnten und in welche Zeit die Abfassung des JohEv zu datieren sei.

Gniesmer beendet seine Dissertation mit einem Schlussfazit, in dem er noch einmal auf das Ergebnis seiner erzähltextanalytischen und textpragmatischen Untersuchung hinweist, nämlich dass im JohEv von einem dreifachen Prozess Jesu ausgegangen werden könne, einem Prozess, von dem „in dreifacher Hinsicht gesprochen werden kann“ (424).

Gniesmers Arbeit orientiert sich vor allem an dem von Paul Ricœur vorgestellten dreifachen Prozess des Erzählens und untersucht davon ausgehend die johanneische Darstellung des Prozesses Jesu vor Pilatus. Durch die Fokussierung auf den einen Erzählabschnitt fällt die Untersuchung anderer Abschnitte kurz aus oder entfällt ganz. Was das Zeugnisthema des JohEv betrifft, so wird dieses zwar kurz gestreift und die Befähigung zum Zeugesein als die Hauptintention des Textes erkannt,8 dennoch kommt eine ausführliche Untersuchung der Zeugnisthematik und vor allem der Zeugnisakte und des Zeugnisgebens zu kurz, sodass sich der Bedarf für weitere Untersuchungen erkennen lässt.

2.10 R. Bauckham (2006): Jesus and the Eyewitnesses

Abgesehen von den Dissertationen von Maccini und Gniesmer hat sich in den letzten Jahren vor allem Richard Bauckham1 mit seinen Werken Testimony of the Beloved Disciple: Narrative, History, and Theology in the Gospel of John2 und Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony3 mit der (Augen-)Zeugenschaft in den Evangelien beschäftigt. Sein Augenmerk richtet sich stärker auf die Überlieferungsgeschichte der Evangelien. Bauckham geht davon aus, dass hinter den Evangelien keine lange mündliche Tradition stehe, sondern dass deren Schreiber selbst Augenzeugen gewesen seien oder in engem Kontakt mit namhaften Augenzeugen gestanden hätten, die ihnen ihr Wissen über Jesus direkt vermittelt hätten (93). Bauckham setzt sich daher in seinem letztgenannten Werk mit der historischen Jesusforschung auseinander und stellt infrage, ob eine Erforschung und Darstellung Jesu losgelöst von den Evangelien möglich seien. Der Versuch, den „echten Jesus“ hinter oder neben den Evangelien zu rekonstruieren, habe lediglich dazu geführt, nicht den einen, wahren Jesus, sondern viele „Jesusse“ zu erhalten. Bauckham plädiert daher in der Forschung für einen Weg „in which theology and history may meet in the historical Jesus instead of parting company there“ (5). Diesen Weg sieht er darin, die Evangelien als Berichte über glaubwürdige Zeugenaussagen anzuerkennen. „This does not mean that they are testimony rather than history. It means that the kind of historiography they are is testimony“ (5). Bauckham ist überzeugt: „Testimony is the category that enables us to read the Gospels in a properly historical way and a properly theological way. It is where history and theology meet“ (5–6).

Ermutigung zu dieser Sicht findet Bauckham in Byrskogs Arbeit Story as History – History as Story: The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History4. Byrskog weist nach: „The historians ‚preferred the eyewitness who was socially involved, or, even better, had been actively participating in the event‘“, weil „a ‚person involved remembers better than a disinterested observer‘“5.

Im Verlauf seines Buches weist Bauckham eine gleiche Vorgehensweise bei Papias und anderen antiken Historikern nach und schlussfolgert, dass vermutlich auch die Schreiber der Evangelien auf gleiche Weise in ihrer Geschichtsschreibung vorgegangen sein dürften. „Evangelists would have gone to eyewitnesses or to the most reliable sources that had direct personal link with the eyewitnesses. Collective tradition as such would not have been the preferred source“.6 Ausgehend von dieser Annahme geht Bauckham der Frage nach, wie zuverlässig das Erinnerungsvermögen von Augenzeugen ist. Um dies zu beantworten, greift Bauckham auf psychologische Untersuchungen zurück (319–357) und stellt fest, dass es vier Arten der Erinnerung gebe, von denen die „rückbesinnende Erinnerung“ (recollective memory), also die persönliche Erinnerung an ein spezielles Ereignis im eigenen Leben, am häufigsten in den narrativen Abschnitten der Evangelien auftauche (324). Nachgewiesen sei dabei Folgendes:

Recent recollective memories tend to be fairly veridical unless they are influenced by strong schema-based processes. Recollective memories give rise to high confidence in the accuracy of their content and that confidence can frequently predict objective memory accuracy.7

Was die Zuverlässigkeit der „rückbesinnenden Erinnerung“ angehe, so seien besonders die einzigartigen, ungewöhnlichen, besonders auffälligen und bedeutenden Ereignisse, in die man möglichst sogar emotional involviert gewesen sei, diejenigen, an die man sich am genauesten erinnern könne (331). Dazu komme, dass ein regelmäßiges Abrufen der gespeicherten Erinnerungen wesentlich dazu beitrage, die Erinnerungen gut und genau im Gedächtnis zu behalten (334).

Übertragen auf die Erinnerungen an Jesus bedeutet dies für Bauckham, dass „the memories of eyewitnesses of the history of Jesus score highly by the criteria for likely reliability that have been established by the psychological study of recollective memory“ (346).

Mit den Ergebnissen der ersten 13 Kapitel wendet sich Bauckham in den Kapiteln 14–17 dem JohEv zu. Er nimmt dieses als Augenzeugenbericht ernst und setzt den Verfasser des Evangeliums mit dem Lieblingsjünger gleich. Belege dafür findet er in Aussagen von Papias, Polykrates und Irenäus. Als Augenzeuge, der von Anfang an bei Jesus gewesen sei, wird der Lieblingsjünger für Bauckham zum idealen Zeugen Jesu und Verfasser des Evangeliums, der sich selbst sogar durch eine Inclusio am Anfang und Ende seiner Erzählung nenne.

Im abschließenden Kapitel „The Jesus of Testimony“ (472–508) fasst Bauckham die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen. Erneut betont er, dass der Jesus der Evangelien der Jesus sei, den die Augenzeugen dargestellt hätten – der Jesus des Zeugnisses (472). Diesem Zeugnis solle Vertrauen geschenkt werden, genauso wie man sich täglich Hunderte Male auf Aussagen anderer Menschen verlasse.8 Bauckham plädiert mit Verweis auf Ricœur dafür, dass an Zeugnissen erst dann gezweifelt werden solle, wenn berechtigte Gründe dafür bestünden.9 Mit der folgenden abschließenden Feststellung schließt Bauckham sein Buch:

Reading the Gospels as eyewitness testimony differs […] from attempts at historical reconstruction behind the texts. It takes the Gospel seriously as they are; it acknowledges the uniqueness of what we can know only in this testimonial form. It honors the form of historiography they are. From a historiographic perspective, radical suspicion of testimony is a kind of epistemological suicide. It is no more practicable in history than it is in ordinary life. Gospel scholarship must free itself from the grip of the skeptical paradigm that presumes the Gospels to be unreliable unless, in every particular case of story or saying, the historian succeeds in providing independent verification (506).

2.11 B. Lange (2019): Der Richter und seine Ankläger

Abschließend sei hier auf die jüngst erschienene Dissertation von Benjamin Lange hingewiesen. Seine Arbeit Der Richter und seine Ankläger: Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Johannesevangelium1 konzentriert sich anfänglich auf eine Untersuchung des griechisch-römischen und alttestamentlichen Rechtsstreits (31–87), um die Ergebnisse daraufhin mit der Prozessdarstellung des JohEv zu vergleichen. Dabei geht Lange, wie andere vor ihm, von einer dem JohEv zugrundeliegenden Rechtsstreit- und Prozessmotivik aus,2 die bislang aber nur „in sporadischen Anmerkungen im Kontext anderer Themenkomplexe“ thematisiert worden sei (7). Lange wendet sich „mit Methoden der narratologischen Analyse sowie mit Methoden der Analyse johanneischer Bild- und Motivsprache“ der Untersuchung der genannten Motivik zu, um offene Fragen nach einer narratologischen Gesamtschau zu Joh 1–12 und der bild- und symbolhaften Dimension der Prozessmotivik zu beantworten (19) und um herauszufinden, ob nicht gerade die „metaphorische Dimension des Rechtsstreits als Vehikel der Botschaft des Evangeliums“ diene (17).

Im Rahmen der vorbereitenden Untersuchung der „Prozessdarstellung als Thema des Johannesevangeliums“ (89–136) beleuchtet Lange auch die „Zeugnis-Wortgruppe“ des JohEv (113–125). In dem Umstand, dass die Lexeme μαρτυρεῖν und μαρτυρία „nicht nur im säkularen Sprachgebrauch als gerichtliche termini technici, sondern […] auch bei Johvorwiegend im juristischen Sinne gebraucht“ würden (114–115), und in der Tatsache, dass beide Lexeme im JohEv häufiger vorkommen als in Texten, „in denen sich dezidierte Gesetzesabhandlungen oder -wiedergaben und eine damit zwangsläufig einhergehende Häufung forensischer Lexeme finden“ (117), sieht Lange eine Bestätigung, dass „die Wortgruppe Anzeichen für ein forensisches Motiv ist“ (117). Diese Ansicht festigt sich für ihn nach der Betrachtung der „Bestandteile des literarischen Prozess-Settings“, der „Verweise auf den alttestamentlichen Rechtsstreit“, der verwendeten „Bildsprache“ in Joh 1–12Joh1–12 und der Untersuchung der „Rechtsstreitmotivik und narrativen Struktur“. Lange kommt zu folgendem Ergebnis: „Dieser Befund muss als Indiz gewertet werden, dass die Prozess- und Rechtsstreitmotivik ein ausgeprägter Schwerpunkt des Evangeliums ist“ (135).

Ausgehend von dieser Überzeugung wendet sich Lange in Kapitel IV dem „kosmischen Prozess“ bzw. dem narrativen Gerichtsprozess in Joh 1–12 zu. Dabei beleuchtet er die Einführung in den kosmischen Prozess (Joh 1,1–34Joh1,1–34), die Prozesseröffnung (Joh 2,13–25Joh2,13–25; 3,11–21Joh3,11–21; 3,31–36Joh3,31–36), die Formulierung der Anklage (Joh 5,1–47Joh5,1–47), die Beweisführung vor den Prozesszuschauern (Joh 7,14–8,59Joh7,14–8,59), das Anklageplädoyer, das Geständnis des Angeklagten (Joh 9,1–10,39Joh9,1–10,39) sowie die Urteilsverkündung (Joh 11,47–57Joh11,47–57; 12,37–50Joh12,37–50) (139–310) und endet seine Untersuchung in Kapitel V mit einer Zusammenfassung und Auswertung. Lange kommt zu folgendem Ergebnis:

Die narratologische Untersuchung von Joh 1–12Joh1–12 und Joh 18–19Joh18–19 ergab, dass die Rechtsstreit- und Prozessmotivik des Johannesevangeliums einen außergewöhnlichen Schwerpunkt in der Erzählung bildet und in ihrer Funktionalität intrinsisch mit der Zielsetzung des Evangeliums (Joh 20,31Joh20,31) verbunden ist. (347) […] Im Zentrum der narrativen Darstellung ist es gerade die Paradoxie diametral entgegengesetzter Prozess- und dahinterstehender Wahrnehmungs- und Glaubensparadigmen, durch die der Leser zum Glauben an Jesus geführt wird und die sich in ihrem Kern auf jene Paradoxie zurückführen lässt, die wie keine andere die Prozessdarstellung prägt – die des Richters und seiner Ankläger (351).

Wie Lincoln fixiert sich auch Lange ganz auf die Motivik des kosmischen Prozesses zwischen Gott und der Welt bzw. zwischen Jesus und den Juden und beleuchtet davon ausgehend die Kapitel 1–12Joh1–12 des JohEv. Die Zeugnisthematik und -terminologie werden in diesem Zusammenhang ganz im Licht der Motivik des kosmischen Prozesses als juristisch bzw. forensisch verstanden und gedeutet. Da die Untersuchung der übergeordneten Rechtsstreit- und Prozessmotivik im Mittelpunkt der Arbeit steht und dazu hauptsächlich die Kapitel 1–12Joh1–12 analysiert werden, erfolgt keine detaillierte und differenzierte Betrachtung der Zeugnisthematik bzw. der Zeugnisakte. So zeigt sich auch bei dieser neuesten Arbeit, dass eine Untersuchung der Zeugnisakte und der Folgen und Wirkungen der Zeugnisse eine lohnenswerte Aufgabe darstellt.

3Überblick über die semantischen Studien

Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, eine eigenständige und umfassende traditionsgeschichtliche oder semantische Studie zu liefern, sondern fasst lediglich aus der vorhandenen Literatur die wesentlichen Punkte zusammen und nutzt diese als Ausgangspunkt einer eigenständigen Untersuchung des JohEv unter Zuhilfenahme anderer Methoden.1 Dabei soll keine systematische Gesamtdarstellung der Zeugnisthematik vorgenommen werden, in der umfassend auf alle Arten, Formen und Begriffe des Zeugnisgebens und Bezeugens eingegangen wird. Vielmehr orientiert sich die Untersuchung der Darstellung der Zeugnisthematik vorrangig an den zentralen Begriffen μάρτυς κτλ. und beschränkt sich auf die Betrachtung der Stellen, in denen durch den Gebrauch von μαρτυρεῖν und μαρτυρία explizit vom Zeugnisgeben und Bezeugen die Rede ist.

Wendet man sich unter dieser Prämisse dem JohEv zu, wird bereits aufgrund der Häufigkeit der Verwendung der Lexeme μαρτυρεῖν und μαρτυρία deutlich, dass die Zeugnisterminologie für das vierte Evangelium eine bedeutende Rolle spielt.

Abbildung 1: Gebrauch von μαρτυρεῖν im NT2

Abbildung 2: Gebrauch von μαρτυρία im NT

Aus den Abbildungen wird ersichtlich, dass die Lexeme μαρτυρεῖν und μαρτυρία im JohEv deutlich häufiger gebraucht werden als in anderen neutestamentlichen Schriften. Die zugehörigen Substantive μαρτύριον und μάρτυς tauchen hingegen nicht auf.3