Das Fundament der Ewigkeit - Ken Follett - E-Book

Das Fundament der Ewigkeit E-Book

Ken Follett

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Beschreibung

Nach DIE SÄULEN DER ERDE und DIE TORE DER WELT der neue große historische KINGSBRIDGE-Roman des internationalen Bestsellerautors:

1558. Noch immer wacht die altehrwürdige Kathedrale von Kingsbridge über die Stadt. Doch die ist im Widerstreit zwischen Katholiken und Protestanten zutiefst gespalten. Freundschaft, Loyalität, Liebe ... nichts scheint mehr von Bedeutung zu sein. Die wahren Feinde sind dabei nicht die rivalisierenden Konfessionen. Der eigentliche Kampf wird zwischen denen ausgefochten, die an Toleranz und Verständigung glauben, und den Tyrannen, die ihre Ideen den anderen aufzwingen wollen - koste es, was es wolle.

Ned Willard wünscht sich nichts sehnlicher, als Margery Fitzgerald zu heiraten. Doch der Konflikt entzweit auch sie, und Ned verlässt Kingsbridge, um für die protestantische Prinzessin Elizabeth Tudor zu arbeiten. Als diese wenig später Königin wird, wendet sich ganz Europa gegen England. Um in dieser heiklen Situation früh vor Mordkomplotten, Aufständen und Angriffen der konkurrierenden Mächte gewarnt zu sein, baut die scharfsinnige Monarchin mit Neds Hilfe den ersten Geheimdienst des Landes auf. Die kleine Gruppe geschickter Spione und mutiger Geheimagenten ermöglicht es Elizabeth I. in den nächsten fünfzig Jahren, an ihrem Thron und ihren Prinzipien festzuhalten. Die Liebe zwischen Ned und Margery scheint verloren zu sein, denn von Edinburgh bis Genf steht ganz Europa in Flammen ...

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Seitenzahl: 1543

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatPersonenverzeichnisPrologTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Teil 2Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Teil 3Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Teil 4Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Teil 5Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30EpilogDanksagungWen gab es wirklich?

Über das Buch

Nach DIE SÄULEN DER ERDE und DIE TORE DER WELT der neue große historische KINGSBRIDGE-Roman des internationalen Bestsellerautors: 1558. Noch immer wacht die altehrwürdige Kathedrale von Kingsbridge über die Stadt. Doch die ist im Widerstreit zwischen Katholiken und Protestanten zutiefst gespalten. Freundschaft, Loyalität, Liebe ... nichts scheint mehr von Bedeutung zu sein. Die wahren Feinde sind dabei nicht die rivalisierenden Konfessionen. Der eigentliche Kampf wird zwischen denen ausgefochten, die an Toleranz und Verständigung glauben, und den Tyrannen, die ihre Ideen den anderen aufzwingen wollen – koste es, was es wolle. Ned Willard wünscht sich nichts sehnlicher, als Margery Fitzgerald zu heiraten. Doch der Konflikt entzweit auch sie, und Ned verlässt Kingsbridge, um für die protestantische Prinzessin Elizabeth Tudor zu arbeiten. Als diese wenig später Königin wird, wendet sich ganz Europa gegen England. Um in dieser heiklen Situation früh vor Mordkomplotten, Aufständen und Angriffen der konkurrierenden Mächte gewarnt zu sein, baut die scharfsinnige Monarchin mit Neds Hilfe den ersten Geheimdienst des Landes auf. Die kleine Gruppe geschickter Spione und mutiger Geheimagenten ermöglicht es Elizabeth I. in den nächsten fünfzig Jahren, an ihrem Thron und ihren Prinzipien festzuhalten. Die Liebe zwischen Ned und Margery scheint verloren zu sein, denn von Edinburgh bis Genf steht ganz Europa in Flammen ...

Über den Autor

Ken Follett, Autor von über zwanzig Bestsellern, wird oft als »geborener« Erzähler gefeiert. Betrachtet man jedoch seine Lebensgeschichte, so erscheint es zutreffender zu sagen, er wurde dazu »geformt«. Ken Follett wurde am 5. Juni 1949 im walisischen Cardiff als erstes von drei Kindern des Ehepaares Martin und Veenie Follett geboren. Nicht genug, dass Spielsachen im Großbritannien der Nachkriegsjahre echte Mangelware waren – die zutiefst religiösen Folletts erlaubten ihren Kindern zudem weder Fernsehen noch Kinobesuche und verboten ihnen sogar, Radio zu hören. Dem jungen Ken blieben zur Unterhaltung nur die unzähligen Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte – und die Abenteuer, die er sich in seiner eigenen Vorstellungswelt schuf. Schon früh lernte er lesen; er war ganz versessen auf Bücher, und nirgendwo ging er so gern hin wie in die öffentliche Bibliothek.

»Ich hatte kaum eigene Bücher und war immer dankbar für die öffentliche Bücherei. Ohne frei zugängliche Bücher wäre ich nie zum eifrigen Leser geworden, und wer kein Leser ist, wird auch kein Schriftsteller.«

Als Ken Follett zehn Jahre alt war, zog die Familie nach London. Nach seinem Schulabschluss studierte er Philosophie am University College; dass der Sohn eines Steuerinspektors sich für dieses Fach entschied, mag auf den ersten Blick befremden, aber bedenkt man, dass Kens religiöse Erziehung viele Fragen aufgeworfen und offengelassen hatte, erscheint sie gar nicht mehr so untypisch. Ken Follett ist der Überzeugung, dass die Entscheidung für dieses Studienfach ihm die Weichen in seine Zukunft als Schriftsteller gestellt hat.

»Zwischen der Philosophie und der Belletristik besteht ein Zusammenhang. In der Philosophie beschäftigt man sich mit Fragen wie zum Beispiel: ›Wir sitzen hier an einem Tisch, aber existiert der Tisch überhaupt?‹ Eine verrückte Frage, aber beim Studium der Philosophie muss man solche Dinge ernst nehmen und braucht eine unorthodoxe Vorstellungsgabe. Beim Schreiben von Romanen ist es genauso.«

In einem Hörsaal danach zu fragen, was wirklich ist, war eine Sache – doch plötzlich sah sich Ken mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert: Er wurde Ehemann und Vater. Er heiratete seine Freundin Mary am Ende seines ersten Semesters an der Universität. Im Juli 1968 kam ihr Sohn Emanuele zur Welt. »So etwas plant man nicht, wenn man erst achtzehn ist, aber als es geschah, war es ein unglaubliches Erlebnis.«

Ken Follett

DAS FUNDAMENTDER EWIGKEIT

Historischer Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher

BASTEI ENTERTAINMENT

Titel der englischen Originalausgabe:

»A Column of Fire«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Ken Follett

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus, Oberhausen, und Helmut Pesch, Köln

Vorsatzgestaltung und Innenillustrationen: Markus Weber, Guter Punkt, München

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotiv: © Heinz Nixdorf MuseumsForum/Jan Braun;© De Agostini Picture Library/getty-images; © dwph/shutterstock;© Mondadori Portfolio/getty-images; © Classic Image/Alamy Stock Photo;© picture alliance/Mary Evans Picture Library;© Scruggelgreen/shutterstock; © siam sompunya/shutterstock

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-4282-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für Emanuele49 Jahre Sonnenschein

 

Der Herr zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten. So konnten sie Tag und Nacht unterwegs sein.

Exodus 13,21

Ich hoffe, liebe Leser, Sie brauchen die Namensliste nicht, denn an Stellen, an denen Sie eine Figur vergessen haben könnten, habe ich kurze Gedächtnisstützen eingebaut. Aber da wir alle manchmal ein Buch zur Seite legen und dann längere Zeit nicht zum Weiterlesen kommen (ich kenne das), vergessen wir schon mal das eine oder andere. Deshalb hier für alle Fälle eine Liste der Personen, die mehr als einmal auftauchen:

ENGLAND

Im Haus der Willards

Ned Willard

Barney, sein Bruder

Alice, ihre Mutter

Malcolm Fife, Stallknecht

Janet Fife, Haushälterin

Eileen Fife, Tochter von Malcolm und Janet

Im Haus der Fitzgeralds

Margery Fitzgerald

Rollo, ihr Bruder

Sir Reginald, ihr Vater

Lady Jane, ihre Mutter

Naomi, Magd

Schwester Joan, Margerys Großtante

Im Haus der Shirings

Bart, Viscount Shiring

Swithin, sein Vater, Graf von Shiring

Sal Brendon, Haushälterin

Die Puritaner

Philbert Cobley, Reeder

Dan Cobley, sein Sohn

Ruth Cobley, Philberts Tochter

Donal Gloster, Schreiber

Father Jeremiah, Pfarrer von St. John in Loversfield

Witwe Pollard

Andere

Bruder Murdo, Wanderprediger

Susannah, Gräfin Brecknock, Freundin von Margery und Ned

Jonas Bacon, Kapitän der Hawk

Jonathan Greenland, Erster Offizier der Hawk

Stephen Lincoln, ein Geistlicher

Rodney Tilbury, Richter

Historische Persönlichkeiten

Mary Tudor, gen. »Bloody Mary«, Königin von England

Elizabeth Tudor, ihre Halbschwester und Nachfolgerin auf dem Thron

Sir William Cecil, Ratgeber Elizabeths

Robert Cecil, Williams Sohn

William Allen, führender Kopf der englischen Katholiken im Exil

Sir Francis Walsingham, Zweiter Staatssekretär, Englands Gesandter in Frankreich, später Begründer des englischen Geheimdienstes

FRANKREICH

Familie Palot

Sylvie Palot

Isabelle Palot, ihre Mutter

Giles Palot, ihr Vater

Andere

Pierre Aumande

Vicomte Villeneuve, Studienfreund von Pierres Vater

Pater Moineau, Pierres Mentor

Nath, Pierres Magd

Guillaume von Genf, Wanderprediger

Louise, Marquise von Nîmes

Luc Mauriac, Frachtmakler

Aphrodite Beaulieu, Tochter des Grafen Beaulieu

René Duboeuf, Schneider

Françoise Duboeuf, seine junge Frau

Marquis de Lagny, ein protestantischer Adliger

Bernard Housse, ein junger Höfling

Alison McKay, Zofe Maria Stuarts von Schottland

Fiktive Angehörige des Hauses Guise

Gaston Le Pin, Hauptmann der Leibgarde der Familie Guise

Brocard und Rasteau, zwei von Gastons Männern

Véronique de Guise, eine junge Hofdame

Odette, Zofe Véroniques

Georges Biron, ein Spion

Reale historische Persönlichkeiten: das Haus Guise

François de Lorraine, Herzog von Guise

Henri, dessen Sohn

Charles de Lorraine, Kardinal von Lothringen, Bruder von François

Reale historische Persönlichkeiten: die Bourbonen und ihre Verbündeten

Antoine de Bourbon, Titularkönig von Navarra

Henri, dessen Sohn, als Henri IV. König von Frankreich

Louis I. de Bourbon, Prinz von Condé

Gaspard de Coligny, Admiral von Frankreich

Reale historische Persönlichkeiten: andere

Henri de Valois, als Henri II. König von Frankreich

Caterina de’ Medici, Königin von Frankreich

Kinder Henris und Caterinas:

François, als François II. späterer König von Frankreich

Charles, als Charles IX. späterer König von Frankreich

Henri, als Henri III. späterer König von Frankreich

Margot, genannt »la Reine Margot«, Königin von Navarra

Maria Stuart, eig. Mary Stewart, als Mary I. Königin der Schotten und als Ehefrau François’ II. Königin von Frankreich

Charles de Louviers, Attentäter

SCHOTTLAND

Reale historische Persönlichkeiten

James Stuart, unehelicher Halbbruder von Maria Stuart

James Stuart, Sohn von Maria Stuart, später als James VI. König der Schotten und als James I. König von England

SPANIEN

Familie Cruz

Carlos Cruz

Tante Betsy

Familie Ruiz

Jerónima

Pedro, ihr Vater

Andere

Erzdiakon Romero

Pater Alonso, Inquisitor

Capitán »Eisenhand« Gómez

NIEDERLANDE

Familie Wolman

Jan Wolman, Cousin von Edmund Willard

Imke, seine Tochter

Familie Willemsen

Albert

Betje, Alberts Frau

Drike, ihre Tochter

Evi, Alberts verwitwete Schwester

Matthus, Evis Sohn

In anderen Teilen der Welt

Ebrima Dabo, Sklave aus dem Volk der Mandinka

Bella, Rumbrennerin auf Hispaniola

 

Wir hängten ihn vor der Kathedrale, seit alters die Richtstätte von Kingsbridge. Denn wo sonst sollte man einen Menschen vor Gottes Strafgericht befehlen, wenn nicht im Angesicht des Herrn?

Der Sheriff führte ihn aus dem Verlies unter der Ratshalle zu uns herauf. Er ging aufrecht, die Hände auf dem Rücken gefesselt. In seinem bleichen Gesicht stand Trotz, keine Angst.

Die Menge beschimpfte ihn und überschüttete ihn mit Hohn und Spott, doch er schien es nicht wahrzunehmen. Er sah nur mich. Unsere Blicke trafen sich – und in diesem kurzen, flüchtigen Moment lag die ganze Lebensspanne, die ihn und mich verband.

Er wusste, ich war für seinen Tod verantwortlich.

Über Jahrzehnte hinweg hatte ich Jagd auf diesen Mann gemacht. Er war ein Bombenleger, der den größten Teil unserer Königsfamilie mitsamt der Hälfte der Fürsten unseres Landes getötet hätte, wäre ich seiner schrecklichen Bluttat nicht zuvorgekommen.

Mein Leben lang war ich nun schon verhinderten Mördern wie diesem auf der Spur, und viele von ihnen endeten auf dem Schafott und starben auf furchtbare Weise: Sie wurden verstümmelt, enthauptet und gevierteilt – eine Todesart, die nur den schlimmsten Verbrechern vorbehalten ist.

Ja, ich sah viele Männer in den Tod gehen. Und viele starben in dem Wissen, dass ich es war, der sie ihrer furchtbaren, aber gerechten Bestrafung zugeführt hatte.

Warum ich so etwas tue? Weil mein Land mir lieb und teuer ist und weil ich im Dienst meiner Königin stehe. Doch es gibt noch einen weiteren Grund – ein Prinzip, dem ich anhänge: meine tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hat, auf seine ganz eigene Weise sein Verhältnis zu Gott zu bestimmen.

Der Delinquent in Kingsbridge war der Letzte in einer langen Reihe von Männern, die ich zur Hölle geschickt habe. Doch seine Hinrichtung ließ mich an den Ersten in dieser endlosen Reihe denken …

 

Als Ned Willard nach Kingsbridge heimkehrte, wütete ein Schneesturm.

Im Hafen von Combe schiffte er sich auf einem langsamen Frachtkahn ein, der Tuch aus Antwerpen und Wein aus Bordeaux geladen hatte, und fuhr in dessen Kajüte flussaufwärts. Als das Schiff sich endlich Kingsbridge näherte, zog er seinen französischen Umhang straffer um die Schultern, warf sich die Kapuze über, ging an Deck und ließ den Blick schweifen.

Zuerst war er enttäuscht, denn er sah nichts als dichtes Schneegestöber, wo ihn doch ein beinahe schmerzliches Verlangen erfüllte, Kingsbridge wiederzusehen. Deshalb blickte er angestrengt und voller Hoffnung in die wirbelnden Flocken. Nachdem er eine Zeit lang in das blendende Weiß gestarrt hatte, wurde ihm sein Wunsch erfüllt: Der Schneesturm ließ nach, und mit einem Mal erschien ein Fleck blauen Himmels.

Ned blickte über die Wipfel der Bäume am Ufer hinweg und entdeckte den Turm der Kathedrale – vierhundertundfünf Fuß hoch, wie in Kingsbridge jedes Schulkind wusste. Der steinerne Engel, der von der Turmspitze aus über die Stadt wachte, trug an diesem Tag eine Decke aus Schnee über den ausgebreiteten Flügeln; sie ließ die sonst taubengrauen Federspitzen in strahlendem Weiß leuchten. Noch während Ned schaute, traf ein Sonnenstrahl die Engelsstatue, und der Schnee erstrahlte wie ein Heiligenschein. Dann zog der weiße Vorhang sich wieder zu, und der Engel verschwand aus Neds Blick.

Längere Zeit sah er nur die Bäume am Ufer, grau und geisterhaft im Schneegestöber. Doch sein Inneres war jetzt, da er Kingsbridge vor sich wusste, voller Bilder. Bald würde er wieder bei seiner Mutter sein – nach einem Jahr in der Ferne. Wie schmerzlich er sie vermisst hatte, würde er ihr indes verschweigen; als Mann von achtzehn Jahren musste er auf eigenen Beinen stehen.

Am meisten hatte ihm ohnehin Margery gefehlt. Ned hatte sich zum unpassendsten Zeitpunkt in sie verliebt – wenige Wochen vor seiner Abreise nach Calais, dem Hafen an der Nordküste Frankreichs, der gleichwohl zu England gehörte. Ned kannte die ungestüme, eigenwillige Tochter von Sir Reginald Fitzgerald seit ihrer Kindheit. Inzwischen war Margerys jungenhafte Ausgelassenheit ausgesprochen weiblichen Reizen gewichen, und Ned hatte sich dabei ertappt, wie er sie in der Kirche anstarrte, mit großen Augen und trockenem Mund. Doch er hatte gezaudert, mehr zu tun, als sie mit Blicken zu verschlingen, zumal sie drei Jahre jünger war als er.

Margery hingegen kannte keine solchen Hemmungen. Den ersten Kuss gab sie Ned auf dem Friedhof von Kingsbridge, im Schutz des wuchtigen Mausoleums von Prior Philip – jenem Mönch, der vierhundert Jahre zuvor die Kathedrale hatte erbauen lassen. An Margerys leidenschaftlichem Kuss war nichts Kindliches; umso schmerzlicher war es für Ned, als sie sich von ihm löste und lachend davonrannte. Doch schon am nächsten Tag küsste sie ihn erneut. Und am Abend vor seiner Abreise nach Frankreich gestanden sie einander ihre Liebe.

In den ersten Wochen schrieben sie sich leidenschaftliche Botschaften, konnten dabei aber nicht offen in Briefwechsel treten: Beide hatten ihren Eltern nichts von den Gefühlen erzählt, die sie füreinander hegten; es war ihnen zu früh erschienen. Stattdessen vertraute Ned sich seinem älteren Bruder Barney an, der ihr Mittelsmann wurde – bis auch Barney Kingsbridge verließ und nach Sevilla ging. Zwar hatte auch Margery einen älteren Bruder namens Rollo, aber sie vertraute ihm nicht so sehr, wie Ned Barney vertraute. So war der Briefwechsel versiegt.

Für Ned änderte es wenig, von nun an auf Margerys Briefe verzichten zu müssen, zumindest nicht, was seine Gefühle für sie anging. Er wusste, was die Leute über junge Liebe erzählten, und beobachtete sich selbst in der Erwartung, dass seine Liebe zu Margery ersterben würde. Aber das geschah nicht. Deshalb geriet Ned kaum in Versuchung, als ihm nach ein paar Wochen in Calais seine Cousine Thérèse offen zu erkennen gab, dass sie ihn mochte und fast alles zu tun bereit war, was ihm gefiel. Ned staunte über sich selbst, hatte er sich zuvor doch nie eine Gelegenheit entgehen lassen, ein schönes Mädchen mit hübschen Brüsten zu küssen.

Allerdings machte ihm nun etwas anderes zu schaffen. Auch wenn er sicher war, dass sich während seines Aufenthalts in Calais nichts an seinen Gefühlen für Margery geändert hatte, stellte er sich die bange Frage, was er empfinden würde, wenn er sie wiedersah. War Margery in Fleisch und Blut genauso bezaubernd wie ihr Bild in seiner Erinnerung? Würde seine Liebe ihr Wiedersehen überstehen?

Und wie war es um Margerys Gefühle bestellt? Für eine Vierzehnjährige war ein Jahr eine lange Zeit. Sicher, inzwischen war sie fünfzehn, aber das würde keinen großen Unterschied machen. War Margerys Liebe erloschen, als ihr Briefwechsel geendet hatte? Hatte sie vielleicht schon einen anderen hinter Prior Philips Mausoleum geküsst? Ned wäre bitter enttäuscht, sollte er Margery in der Zeit seiner Abwesenheit tatsächlich so gleichgültig geworden sein. Doch selbst wenn sie ihn noch liebte – konnte er nach dem langen Jahr in der Fremde mit dem strahlenden Bild in Margerys Erinnerung mithalten?

Neds Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als der Schneesturm erneut abflaute. Erst jetzt bemerkte er, dass der Frachtkahn durch die westlichen Vororte von Kingsbridge fuhr. An beiden Ufern reihten sich Werkstätten, die sich hier am Fluss angesiedelt hatten, da sie viel Wasser brauchten: Färber, Tuchwalker, Papiermacher, Schlachter – allesamt Handwerksbetriebe, die üble Gerüche verbreiteten; deshalb gab es in diesem Teil der Stadt keinen Mangel an günstigen Wohnungen.

Vor Neds Blicken schälte sich nun Leper Island aus dem wirbelnden Weiß. Doch der Name der Insel war nur noch eine ferne und schreckliche Erinnerung: In Kingsbridge hatte es seit Jahrhunderten keinen Fall von Lepra mehr gegeben. Bald darauf erhob sich Caris’ Hospital vor Neds Augen, ein Krankenhaus im Ostteil der Insel, gegründet von Caris Wooler, jener Nonne, die in der Zeit des Schwarzen Todes die Stadt gerettet hatte.

Als der Frachtkahn an der Insel vorüberglitt, erblickte Ned hinter Caris’ Hospital den anmutigen Doppelbogen von Merthins Brücke, die beide Flussufer im Norden und Süden mit der Insel verband. Die Liebesgeschichte zwischen Caris und Merthin gehörte zu den Legenden von Kingsbridge, die man seit Generationen an winterlichen Kaminfeuern erzählte.

Wenig später schob sich der Frachtkahn an einen der freien Liegeplätze am betriebsamen Uferstreifen zwischen den Lagerhäusern, Anlegestellen und vertäuten Booten. Die Stadt schien sich während des vergangenen Jahres nicht sehr verändert zu haben. Vermutlich, überlegte Ned, weil Orte wie Kingsbridge sich nur langsam wandelten. Kathedralen, Brücken und Hospitäler waren schließlich für die Ewigkeit gebaut.

Ned schob seine Schultertasche zurück, als der Schiffer ihm sein einziges anderes Gepäckstück reichte, eine Holztruhe, in der seine Kleidung, zwei Pistolen und ein paar Bücher verstaut waren. Ned wuchtete sich die Truhe auf die Schulter und ging an Land.

Er wandte sich dem großen Lagerhaus am Kai zu, in dem seine Familie ihre Geschäfte abwickelte, kam aber nur ein paar Schritte weit, bevor er eine vertraute Stimme mit schottischem Akzent hörte: »Wenn das nicht unser Ned ist! Willkommen daheim!«

Ned strahlte übers ganze Gesicht. Die Stimme gehörte Janet Fife, der Haushälterin seiner Mutter. Wie er sich freute, sie zu sehen!

»Lasst mich nur rasch einen Fisch kaufen«, verkündete Janet. »Ihr könnt dann mitessen!« So spindeldürr sie war – Janet liebte es, andere Menschen zu verköstigen. Sie streifte Ned mit einem liebevollen Blick. »Ihr habt Euch verändert. Eure Schultern sind breiter, aber Ihr seid schmaler im Gesicht. Hat Eure Tante Blanche Euch denn nicht anständig gepäppelt?«

»Doch, hat sie. Aber ich musste für Onkel Dick Kies schaufeln.«

»Das ist keine Arbeit für einen Gelehrten.«

»Hat mir nichts ausgemacht.«

»Malcolm!« Janets Blick richtete sich auf einen Mann, der sich ihnen näherte, und sie hob die Stimme. »Sieh nur, Malcolm, wer wieder in der Stadt ist!«

Malcolm war Janets Ehemann und Stallknecht bei den Willards. Er hinkte über den Kai heran. Vor Jahren, als er noch jung und unerfahren war, hatte ihm ein Pferd das Bein zerschmettert. Er tauschte mit Ned einen herzlichen Händedruck, sagte aber statt einer Begrüßung: »Der alte Acorn ist gestorben, das Lieblingspferd von Eurem Bruder.«

Ned unterdrückte ein Lächeln: Es war typisch für Malcolm, von den Tieren zu erzählen, ehe er auf die Menschen zu sprechen kam. »Ist meine Mutter wohlauf?«

»Die Herrin ist gut in Schuss, Gott sei’s gedankt«, antwortete Malcolm. »Und Euer Bruder auch, soweit wir’s wissen – ein großer Schreiber vor dem Herrn ist er ja nicht, und einen Monat oder zwei dauert’s schon, bis ein Brief aus Spanien hier ankommt. Lasst mich Euch mit dem Gepäck helfen, junger Herr!«

Doch Ned wollte nicht gleich nach Hause; er hatte anderes im Sinn. »Trägst du meine Truhe zum Haus?«, bat er Malcolm und fügte eine Lüge an: »Sag Mutter und den anderen, ich gehe in die Kathedrale, um Gott für die sichere Heimkehr zu danken. Ich komme so schnell wie möglich.«

»Gewiss, junger Herr.«

Malcolm hinkte davon, während Ned sich auf den Weg ins Stadtinnere machte, wobei er sich am vertrauten Anblick der Gebäude erfreute, zwischen denen er aufgewachsen war. Noch immer rieselte Schnee auf Kingsbridge. Die Dächer strahlten in reinem Weiß, doch auf den schwarzen, schlammigen Straßen waren Scharen dunkel gekleideter Menschen und verdreckte Karren unterwegs. Ned kam am White Horse vorbei, der verrufenen Taverne, in der es fast jeden Samstagabend eine Prügelei gab; dann folgte er der Main Street, der Hauptstraße, hügelauf zum Kirchplatz, kam am Palast des Bischofs vorbei und blieb schließlich vor der Schule stehen, für einen Moment in wehmütigen Erinnerungen versunken. Durch die schmalen, spitz zulaufenden Fenster sah er die Bücherregale, vom gelben Licht der Lampen beschienen. In diesen Räumen war ihm das Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht worden; hier hatte er gelernt, wann man kämpfte, wann es besser war davonzulaufen und wie man die Tränen zurückhielt, wenn man mit einer Rute aus Birkenreisig verdroschen wurde.

Auf der Südseite der Kathedrale stand die Priorei. Seit König Heinrich VIII. die Klöster aufgelöst hatte, befand sich die Priorei von Kingsbridge in einem traurigen Zustand fortschreitenden Verfalls. Das Dach wies Löcher auf, das Gemäuer war baufällig, und aus den Fenstern wucherte Gestrüpp. Die Gebäude gehörten jetzt dem Bürgermeister, Sir Reginald Fitzgerald, Margerys Vater, aber der fing nichts damit an.

Allein die Kathedrale schien der Zeit zu trotzen. Stark und fest wie eh und je ragte sie in den Himmel – das steinerne Symbol einer lebendigen Stadt. Bevor Ned das Gotteshaus betrat, ließ er den Blick über die prachtvolle Fassade mit den langen Reihen der Lanzettfenster und Spitzbögen schweifen. Die Kathedrale von Kingsbridge war aus seinem Leben so wenig wegzudenken wie der morgendliche Sonnenaufgang; sie schenkte ihm ein gutes, warmes Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Sie wirkte unerschütterlich und ewig; nur der Himmel hoch über ihr veränderte sich im Kreislauf der Jahreszeiten. Menschen wurden geboren und starben, Städte konnten sich erheben und fallen, Kriege ausbrechen und enden – die Kathedrale überdauerte alle Zeit bis zum Jüngsten Gericht.

Ned ging durch den Westeingang ins Hauptschiff. Er hatte beschlossen, tatsächlich ein Gebet zu sprechen und die Lüge, die er Malcolm aufgetischt hatte, in Wahrheit zu verwandeln.

Wie immer war die Kirche nicht nur Stätte des Gebets, hier wurden auch Geschäfte gemacht: Bruder Murdo bot auf einem Tablett Glasfläschchen an, die mit Erde aus dem Heiligen Land gefüllt waren, für deren Echtheit er bürgte; ein Mann, den Ned nicht kannte, verkaufte für einen Penny heiße Steine, an denen man sich die Hände wärmen konnte; Puss Lovejoy schließlich, die in ihrem roten Kleid in der Winterkälte bibberte, trug das Gleiche zu Markte wie eh und je: sich selbst.

Ned blickte hinauf zu den Gewölberippen. Sie erinnerten ihn an Arme, die bittend zum Himmel gereckt waren. Vielleicht, überlegte er, waren es die Arme jener Menschen, die dieses Bauwerk errichtet hatten. Viele von ihnen waren in Timothys Buch verewigt, einer Chronik der Priorei, die Ned als Schüler gelesen hatte. Diese Chronik erzählte von den Steinmetzen Tom Builder und Jack, dessen Stiefsohn, von Prior Philip und Merthin Fitzgerald, dem Baumeister, der nicht nur die Brücke, sondern auch den Turm der Kathedrale errichtet hatte, und von den zahllosen Steinschneidern, Mörtelmischern, Zimmerleuten und Glasern – einfachen Leuten, die sich über ihre bescheidenen Verhältnisse erhoben und etwas Außergewöhnliches geschaffen hatten: unvergängliche Schönheit.

Ned kniete sich vor den Altar und sprach ein Dankgebet für die sichere Heimreise, die zwar nicht allzu lang, aber auch nicht ungefährlich gewesen war; schon auf der kurzen Überfahrt von Frankreich nach England konnten Schiffe in Seenot geraten und Menschen zu Tode kommen.

Doch Ned säumte nicht lange und machte sich auf den Weg zum Haus der Fitzgeralds, wo Margery wohnte.

An der Nordseite des Kirchplatzes, gegenüber vom Bischofspalast, stand die Schänke namens Bell; gleich daneben wurde ein neues Haus errichtet – auf einem Grundstück, das der Priorei gehört hatte, wie Ned wusste. Vermutlich war Margerys Vater der Bauherr. Es wurde ein stattliches Bauwerk, das war schon jetzt zu sehen, vielleicht das prächtigste Haus in ganz Kingsbridge mit seinen langen Reihen von Erkerfenstern und Schornsteinen.

Ned setzte seinen Weg bis zur Kreuzung der Main Street mit der High Street fort. Hier wohnten die Fitzgeralds schräg gegenüber der Ratshalle in einem Eckhaus – ein großes Fachwerkgebäude, das einen Morgen des teuersten Baulands der Stadt einnahm, aber längst nicht so beeindruckend war wie das Haus, das Sir Reginald bauen ließ.

Auf der Schwelle hielt Ned inne. Ein Jahr lang hatte er sich auf diesen Augenblick gefreut, nur um jetzt erleben zu müssen, wie ihm das Herz in die Hose rutschte.

Auf sein Klopfen hin öffnete ihm eine ältere Bedienstete. Sie hieß Naomi und kannte Ned von klein auf. Doch statt sich zu freuen, ihn zu sehen, wirkte sie abweisend, als wäre er ein Fremder von zweifelhaftem Ruf. Als er nach Margery fragte, sagte Naomi, sie werde nachsehen, und bat ihn in die große Eingangshalle.

Ned betrachtete das Gemälde von Christus am Kreuz, das über dem Kamin hing. In Kingsbridge schien es nur zwei Arten von Gemälden zu geben. Die einen zeigten Bibelszenen, die anderen waren Porträts von Adligen – ganz anders als in Frankreich, wo Ned in den Häusern der Reichen Gemälde gesehen hatte, auf denen sich halb nackte heidnische Götter wie Venus oder Bacchus in Zauberwäldern tummelten, wobei ihnen ständig das Gewand herunterzurutschen drohte.

Doch auch hier entdeckte Ned etwas Ungewöhnliches. An der Wand gegenüber der Kreuzigungsszene hing eine Karte von Kingsbridge, die er mit Interesse betrachtete, denn er hatte dergleichen nie gesehen. Die Karte zeigte, wie die Main Street, die von Norden nach Süden verlief, und die High Street, die von Osten nach Westen führte, die Stadt in vier Teile zerschnitten. Das Viertel im Südosten nahmen die Kathedrale und die ehemalige Priorei ein, den Südwesten das Handwerkerviertel mit seinen üblen Gerüchen. Auch sämtliche Kirchen waren eingezeichnet, ebenso die Häuser wichtiger Familien, zu denen die Fitzgeralds und die Willards zählten. Die Ostgrenze der Stadt bildete der Fluss. Da sein Lauf nach einem scharfen Knick in westliche Richtung führte, hatte er früher auch die Südgrenze der Stadt gebildet, aber Kingsbridge hatte sich dank Merthins Brücke auf das andere Flussufer ausgebreitet; dort lag nun eine große Vorstadt.

Zweifellos war Sir Reginald, der Politiker, dafür verantwortlich, dass die Karte hier hing, während die Kreuzigungsszene ebenso unzweifelhaft auf Betreiben seiner Frau, einer frommen Katholikin, dort angebracht worden war.

Endlich kam jemand in die Eingangshalle, nur war es nicht Margery, sondern Rollo, ihr Bruder, ein gut aussehender, schwarzhaariger Bursche, größer als Ned und vier Jahre älter. Sie waren gemeinsam zur Schule gegangen, aber nie Freunde geworden. Rollo war damals der Klügste gewesen und mit der Aufsicht über die jüngeren Schüler betraut worden, doch Ned hatte Rollos Autorität nie akzeptiert. Als sich obendrein herausstellte, dass Ned es an Klugheit mit Rollo aufnehmen konnte, war alles noch schlimmer geworden. Ständig hatte es Streit und Raufereien zwischen den Jungen gegeben, die erst endeten, als Rollo nach Oxford ging, um am Kingsbridge College zu studieren.

Ned versuchte, sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen, als er höflich fragte: »Neben dem Bell wird ein Haus gebaut, habe ich gesehen. Ist dein Vater der Bauherr?«

»Ja. Dieses Haus hier ist abgewohnt und altmodisch.«

»Die Geschäfte in Combe scheinen gut zu laufen.« Sir Reginald war Zollvorsteher im Hafen von Combe. Der einträgliche Posten war seine Belohnung für die Unterstützung Mary Tudors bei der Besteigung des englischen Throns.

»Du bist also zurück aus Calais«, stellte Rollo fest. »Wie war es?«

»Ich habe viel gelernt. Meinem Vater gehörten dort ein Pier und ein Lagerhaus, die jetzt mein Onkel Dick verwaltet.« Neds Vater war zehn Jahre zuvor gestorben; seitdem führte seine Mutter die Geschäfte. »Wir verschiffen englisches Eisenerz, Zinn und Blei aus dem Hafen von Combe nach Calais. Von dort wird es nach ganz Europa verkauft.« Die Niederlassung in Calais war das Fundament sämtlicher Unternehmungen der Familie Willard.

»Dann hoffe ich, die Feindseligkeiten schaden euren Geschäften nicht«, sagte Rollo, womit er auf den englisch-französischen Krieg anspielte. Doch seine Besorgnis war erkennbar geheuchelt. In Wahrheit freute er sich, dass der Wohlstand der Willards bedroht war.

Ned spielte die Gefahren herunter. »Calais ist gut gewappnet.« Es klang zuversichtlicher, als er sich fühlte. »Die Stadt ist von Festungen umschlossen. Sie schützen Calais, seit es vor zweihundert Jahren zu England kam.« Er beschloss, sein eigentliches Anliegen zur Sprache zu bringen. »Ist Margery zu Hause?«

»Hast du einen Grund, sie zu besuchen?«

Die Frage war unhöflich, doch Ned ging darüber hinweg. »Ich habe ihr aus Frankreich ein Geschenk mitgebracht.« Er öffnete seine Tasche und zog eine sorgfältig gefaltete Bahn schimmernder Seide in der Farbe von Lavendel hervor. »Ich bin sicher, diese Farbe steht ihr.«

»Ich glaube nicht, dass sie dich sehen will.«

Ned runzelte die Stirn. »Das glaube ich aber doch.«

»Wieso?«

Ned überlegte sich seine Antwort genau. »Ich bewundere deine Schwester, Rollo. Und ich bin sicher, sie mag mich.«

»Du wirst feststellen, dass sich einiges geändert hat, während du fort warst, junger Ned«, entgegnete Rollo herablassend.

Ned nahm es nicht allzu ernst. Wahrscheinlich wollte Rollo nur seinen Hang zur Boshaftigkeit befriedigen. »Frag sie bitte trotzdem.«

Als Rollo lächelte, war Ned zum ersten Mal beunruhigt: Es war das gleiche Lächeln wie früher, wenn man Rollo erlaubt hatte, einen jüngeren Schüler mit der Rute zu züchtigen.

»Margery ist verlobt«, sagte er. »Sie wird bald heiraten.«

»Was?« Ned starrte ihn fassungslos an, schockiert und verletzt, als hätte man ihm einen heimtückischen Schlag verpasst. Margery war einem anderen versprochen? Der Gedanke überstieg Neds schlimmste Befürchtungen.

Rollo lächelte voller Genugtuung.

»Wen will sie denn heiraten?«, fragte Ned.

»Den Viscount Shiring.«

»Bart?«, platzte Ned heraus. Das konnte nicht sein. Von allen jungen Männern der Grafschaft sollte Margery ihr Herz ausgerechnet an den begriffsstutzigen, humorlosen Bart Shiring verloren haben? Sicher – die Aussicht, dass Bart eines Tages Graf von Shiring wurde, hätte viele Mädchen über seine Makel hinwegsehen lassen, aber nicht Margery, davon war Ned überzeugt.

Zumindest wäre er vor einem Jahr noch davon überzeugt gewesen.

»Denkst du dir das nur aus?« Ned hatte kaum ausgesprochen, als ihm klar wurde, wie töricht die Frage war. Rollo mochte verschlagen sein, aber er war nicht dumm. Er würde eine solche Geschichte niemals erfinden, weil er dann befürchten müsste, wie ein Narr dazustehen, sobald die Wahrheit ans Licht kam.

Rollo zuckte mit den Schultern. »Die Verlobung wird morgen beim gräflichen Bankett bekanntgegeben.«

Morgen war Dreikönigstag. Wenn der Graf von Shiring ein Fest gab, waren die Willards mit Sicherheit eingeladen. Also würde auch er, Ned, dort sein. Dann würde er mit eigenen Ohren hören, ob Rollo die Wahrheit sagte.

Er nahm allen Mut zusammen. »Liebt sie ihn?«

Rollo blickte ihn verwundert an. Mit dieser Frage hatte er offenbar nicht gerechnet. »Ich wüsste nicht, weshalb ich mit dir darüber reden sollte.«

Rollos Ausflucht weckte in Ned den Verdacht, dass die Antwort Nein lautete. »Warum schaust du so durchtrieben?«, fragte er.

Rollo hob den Kopf. »Du solltest jetzt gehen, ehe ich in Versuchung gerate, dir eine Abreibung zu verpassen.«

»Wir sind keine Schuljungen mehr«, gab Ned gereizt zurück. »Ich glaube, du würdest dich wundern, wer von uns beiden die Abreibung bekäme.« Er hätte nichts lieber getan, als sich mit Rollo zu prügeln; in seiner Wut war es ihm egal, wer den Kampf gewann.

Rollo schien Neds Entschlossenheit zu spüren, denn er ging zur Tür, hielt sie auf und sagte: »Leb wohl.«

Ned zögerte. Er wollte nicht gehen, ohne Margery gesehen zu haben. Hätte er gewusst, welches Zimmer ihr gehörte, wäre er die Treppe hinaufgestürmt. Aber er konnte in einem fremden Haus nicht einfach eine Tür nach der anderen aufreißen.

Er legte das Seidentuch zurück in die Tasche. »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Du kannst Margery nicht ewig einsperren. Ich werde schon noch mit ihr reden.«

Rollo ging nicht darauf ein. Geduldig wartete er an der Tür.

Ned juckte es in den Fingern, Rollo zu verprügeln, aber sie waren jetzt Männer; aus einem so nichtigen Grund durfte er keine Schlägerei vom Zaun brechen. Er zögerte. Was konnte er tun? Fieberhaft dachte er nach, doch ihm fiel nichts ein. Also verließ er das Haus.

»Lass dir Zeit mit dem Wiederkommen!«, rief Rollo ihm hinterher.

Ned achtete nicht darauf. Betrübt ging er das kurze Stück die Main Street hinunter zu dem Haus, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte. Es stand in unmittelbarer Nähe der Kathedrale, im Schatten der Westfassade. Im Laufe der Zeit war es immer wieder planlos durch Anbauten erweitert worden, sodass es inzwischen unübersichtlich und verschachtelt war und mit seinem Speisesaal für festliche Gelage, den gemütlichen Kaminzimmern und den Schlafgemächern mit ihren weichen Federbetten etliche Tausend Quadratfuß einnahm. In diesem feudalen Heim wohnten Alice Willard, ihre beiden Söhne sowie Grandma, die Mutter von Neds verstorbenem Vater.

Ned traf seine Mutter im vorderen Empfangszimmer an, das sie als Registratur benutzte, wenn sie nicht im Lagerhaus am Hafen arbeitete. Sie sprang von ihrem Stuhl hinter dem Schreibpult auf, flog in Neds Arme und drückte und küsste ihn. Alice Willard war eine rundliche Frau und in dem Jahr, das verstrichen war, noch fülliger geworden. Ned sah es auf den ersten Blick, zog es aber vor, Schweigen zu wahren. Stattdessen ließ er den Blick schweifen. Das Zimmer war unverändert. Auch Alice’ Lieblingsgemälde hing noch an Ort und Stelle; es zeigte Jesus und die Ehebrecherin, umgeben von einer Meute heuchlerischer Pharisäer, die entschlossen waren, die arme Frau zu steinigen. Ihre Brüste waren entblößt, was das Gemälde für Ned besonders interessant machte und ihm in jüngeren Jahren lebhafte Träume verschafft hatte. Seine Mutter hingegen regte das Bild eher dazu an, den Heiland zu zitieren: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«

Nachdem sie ihren Sohn begrüßt hatte, sagte Alice: »Du bist ein guter Junge, dass du in der Kathedrale warst, um Gott zu danken.«

Ned brachte es nicht übers Herz, sie zu belügen. »Nun ja, danach war ich auch noch bei den Fitzgeralds.« Er sah, wie sich Enttäuschung auf Alice’ Gesicht abzeichnete. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

»Ein bisschen schon«, gab sie zu. »Aber ich weiß auch, wie es ist, jung und verliebt zu sein.«

Alice war achtundvierzig. Nach Edmunds Tod hatten alle sie ermuntert, wieder zu heiraten, doch der kleine Ned, damals acht Jahre alt, hatte sich schrecklich davor gefürchtet, einen grausamen Stiefvater zu bekommen. Mittlerweile war Alice seit zehn Jahren verwitwet, und Ned ging davon aus, dass sich für den Rest ihres Lebens nichts daran ändern würde.

»Weißt du, wen Margery heiraten soll?«, sagte er nun. »Bart Shiring. Ich habe es von Rollo erfahren.«

»Oh Gott, das hatte ich befürchtet«, stieß Alice hervor. »Mein armer Ned. Es tut mir schrecklich leid.«

»Wie ist Margery bloß auf diese Idee verfallen?«

»Weil ihr Vater es so wünscht, nehme ich an. Aber kein Vater gibt seine Tochter ohne Weiteres aus der Hand. Väter behalten gern einen gewissen Einfluss.« Alice seufzte. »Dein Vater und ich, wir mussten uns damals keine Gedanken darüber machen. Ich hatte nie eine Tochter. Jedenfalls keine, die so lange gelebt hat.«

Alice hatte zwei Mädchen zur Welt gebracht, bevor sie ihren ältesten Sohn Barney bekommen hatte. Ned kannte die beiden kleinen Grabsteine auf dem Friedhof an der Nordseite der Kathedrale.

»Eine Frau muss ihren Mann lieben«, sagte er. »Du hättest deine Tochter niemals gezwungen, einen Grobian wie Bart zu heiraten.«

»Nein, das nicht.«

»Warum tut Sir Reginald es dann? Was stimmt nicht mit diesen Leuten?«

»Sir Reginald ist es wichtig, dass jeder den ihm von Gott zugewiesenen Platz in der Gemeinschaft einnimmt und der Obrigkeit gehorcht. Als Bürgermeister glaubt er, die Aufgabe eines Ratsherrn bestehe darin, Entscheidungen zu treffen und sie dann durchzusetzen. Dein Vater sah das anders. Als er Bürgermeister war, vertrat er den Standpunkt, die Ratsherren sollten die Stadt regieren, indem sie ihr dienen.«

»Das hört sich an, als wären es zwei Sichtweisen ein und derselben Sache«, meinte Ned.

»So ist es aber nicht«, entgegnete seine Mutter. »Es sind zwei völlig verschiedene Welten.«

»Ich heirate Bart Shiring auf gar keinen Fall!«, fuhr Margery Fitzgerald ihre Mutter an.

Margery weinte vor hilflosem Zorn. Da wartete sie seit zwölf Monaten auf Neds Rückkehr, dachte jeden Tag an ihn, verzehrte sich nach seinem schiefen Lächeln und seinen goldbraunen Augen, und jetzt erfuhr sie – obendrein von den Dienstboten –, dass Ned wieder in Kingsbridge war. Mehr noch, er war sogar ins Haus gekommen, nur hatte ihr, Margery, niemand etwas gesagt, sodass er wieder gegangen war. Sie hätte ihre ganze Familie, von der sie so schändlich hinters Licht geführt worden war, umbringen können!

»Ich bitte dich ja nicht darum, Viscount Shiring noch heute zu heiraten«, sagte Lady Jane. »Aber sprich mit ihm.«

Mutter und Tochter waren in Margerys Schlafgemach. In einer Ecke stand ein Betpult, auf dem Margery zweimal täglich vor dem Kruzifix kniete, das an der Wand hing, und mithilfe einer Schnur aus geschnitzten Elfenbeinperlen ihre Gebete zählte. Ansonsten aber war das Zimmer geradezu fürstlich eingerichtet: ein Himmelbett mit Federmatratze und bunten Behängen; eine große, mit Schnitzereien verzierte Eichentruhe für die vielen Kleider Margerys und ein Gobelin mit einer Waldszene.

Im Laufe der Jahre hatte das Zimmer viele Wortgefechte zwischen Margery und ihrer Mutter erlebt. Aber jetzt war sie eine Frau – zierlich zwar, doch ein bisschen größer und schwerer als die winzige, verbissene Lady Jane. Deshalb stand es für Margery nicht mehr wie früher im Voraus fest, dass dieser Streit mit einem Sieg ihrer Mutter und einer Demütigung ihrer selbst enden musste.

»Ich soll mit Bart Shiring sprechen?«, fragte sie. »Wozu? Er ist gekommen, weil er um mich werben will. Wenn ich mit ihm rede, ermutige ich ihn doch nur. Und dann ist er umso wütender, wenn er die Wahrheit begreift.«

»Du wirst höflich sein.«

Margery wollte gar nicht erst über Bart sprechen. »Wie konntest du mir verschweigen, dass Ned hier war? Das war unehrlich!«

»Ich habe erst davon erfahren, als er fort war. Nur Rollo hat ihn gesehen.«

»Rollo! Der tut doch, was du willst.«

»Kinder sollten den Willen ihrer Eltern erfüllen«, entgegnete Lady Jane. »Du kennst das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das ist deine Pflicht vor Gott.«

Mit diesem Zwiespalt hatte Margery ihr kurzes bisheriges Leben lang gekämpft: Sie wusste, dass Gott ihr Gehorsam abverlangte, doch sie war von Natur aus aufsässig – das hatte sie sich oft genug anhören müssen. Gehorsam war nicht ihre Sache. Brachte man jedoch den Willen Gottes ins Spiel, unterdrückte sie ihre rebellische Natur und fügte sich, denn der Wille des Herrn stand für sie über allem anderen.

»Es tut mir leid, Mutter«, lenkte Margery auch diesmal ein.

»Geh und rede mit Bart«, sagte Lady Jane.

»Ja, Mutter.«

»Und kämm dir die Haare, Liebes.«

In Margery loderte ein Rest von Trotz auf. »Meine Frisur ist völlig in Ordnung«, sagte sie und verließ das Zimmer, ehe ihre Mutter etwas einwenden konnte.

Bart wartete in der Halle. Er trug eine neue gelbe Strumpfhose und ärgerte einen der Hunde, indem er ihm ein Stückchen Schinken vor die Nase hielt, um es im letzten Augenblick wegzuziehen.

Lady Jane folgte Margery die Treppe hinunter. »Führe Lord Shiring in die Bibliothek«, sagte sie, »und zeig ihm die Bücher.«

»Er schert sich nicht um Bücher«, fauchte Margery.

»Margery!«

Bart sagte: »Ich würde die Bücher gern sehen.«

Margery zuckte mit den Schultern. »Dann kommt bitte mit.« Sie führte Bart in den Nebenraum und ließ die Tür offen, aber ihre Mutter folgte ihnen nicht.

Die Bücher ihres Vaters standen auf drei Regalbrettern. »Bei Gott, wie viele Ihr habt!«, rief Bart aus. »Ein Mann könnte sein ganzes Leben damit vergeuden, sie alle zu lesen.«

Es waren ungefähr fünfzig Bücher – mehr, als man normalerweise außerhalb der Bibliothek einer Universität oder eines Klosters zu Gesicht bekam, und ein Zeichen von Reichtum. Einige Werke waren in Latein oder Französisch gedruckt.

Margery bemühte sich, die Gastgeberin zu spielen. Sie zog ein englischsprachiges Buch vom Regal. »Die Kurzweil des Vergnügens«, las sie vor. »Das könnte Euch interessieren.«

Bart grinste anzüglich und trat näher. »Gewisse Vergnügungen sind eine wundervolle Kurzweil.« Seine selbstzufriedene Miene ließ erkennen, dass er diese Bemerkung geistreich fand.

Margery wich einen Schritt zurück. »Es ist ein langes Gedicht über die Erziehung eines Ritters.«

»Ach ja?« Bart verlor das Interesse an dem Buch. Er schaute das Regal entlang und zog Das Buch der Kochkunst hervor. »Das hier ist wichtig!«, sagte er. »Eine Frau muss schließlich dafür sorgen, dass ihr Mann gut zu essen hat, findet Ihr nicht?«

»Aber ja.« Margery suchte angestrengt nach einem Gesprächsthema. Wofür mochte Bart sich interessieren? Für den Krieg vielleicht. »Die Leute geben der Königin die Schuld am Krieg gegen Frankreich.«

»Wieso sollte es ihre Schuld sein?«

»Es heißt, Spanien und Frankreich kämpfen um Besitztümer in Italien – ein Streit, mit dem England nichts zu tun hat, und dass wir nur hineingezogen wurden, weil unsere Königin Mary mit König Philipp von Spanien verheiratet ist und ihn unterstützen muss.«

Bart nickte. »Eine Frau muss von ihrem Gemahl geführt werden.«

»Deshalb sollte ein Mädchen sich ihren Zukünftigen sorgfältig aussuchen«, entgegnete Margery, doch die Anspielung überstieg Barts Verstand. Also fuhr sie fort: »Manche Leute meinen, unsere Königin sollte nicht mit einem ausländischen Monarchen verheiratet sein.«

Bart wurde des Themas müde. »Lasst uns nicht über Politik sprechen. Frauen sollten solche Angelegenheiten uns Männern überlassen.«

»Das stimmt. Frauen haben schon genug Pflichten gegenüber ihren Ehegatten«, entgegnete Margery, obwohl sie wusste, dass ihre Ironie an Bart verschwendet war. »Wir müssen für sie kochen, uns ihrer Führung unterwerfen und die Staatsgeschäfte ihnen überlassen … da bin ich froh, dass ich keinen Mann habe. Das Leben ist so viel einfacher.«

»Aber jede Frau braucht einen Mann!«

»Reden wir von etwas anderem …«

»Ich meine es ernst.« Bart schloss die Augen, sammelte sich und hielt eine kurze, offenbar eingeübte Ansprache: »Ihr seid die schönste Frau auf der Welt, und ich liebe Euch. Bitte werdet meine Gemahlin.«

Ohne nachzudenken, antwortete Margery ungestüm: »Nein!«

Bart blickte verdutzt drein. Offenbar wusste er nicht, was er nun sagen sollte. Auf die Möglichkeit, dass Margery seinen Antrag ablehnen könnte, war er nicht vorbereitet. Nachdem er eine Zeit lang dagestanden hatte, rief er aus: »Aber meine Frau wird eines Tages Gräfin sein!«

»Und Ihr müsst ein Mädchen heiraten, das sich von ganzem Herzen danach sehnt.«

»Sehnt Ihr Euch denn nicht danach?«

»Nein.« Margery versuchte, nicht schroff zu sein, was keineswegs einfach war, weil Bart nur begriff, was man ihm unmissverständlich ins Gesicht sagte. »Ihr seid stark und stattlich, Bart, und gewiss auch tapfer, aber ich könnte Euch unmöglich lieben.« Sie dachte an Ned, bei dem sie sich niemals fragen musste, worüber sie mit ihm reden konnte und worüber nicht. »Ich möchte einen Mann, der klug und überlegt ist und von seiner Frau mehr erwartet, als nur die Rolle seiner obersten Dienstbotin zu spielen.« So, mein lieber Bart, dachte sie, das kannst nicht einmal du missverstehen.

Bart bewegte sich mit überraschender Schnelligkeit und packte Margery bei den Oberarmen. Er mochte keinen starken Verstand haben, starke Hände hatte er. »Frauen mögen es, wenn man sie beherrscht!«, stieß er rau hervor.

»Wer hat Euch denn das erzählt? Ich jedenfalls mag es nicht, das könnt Ihr mir glauben!« Vergeblich versuchte Margery, sich von ihm zu lösen.

Bart zog sie an sich und presste ihr die Lippen auf den Mund.

An einem anderen Tag hätte Margery vielleicht nur den Kopf weggedreht, denn Lippen taten nicht weh. Aber sie war noch immer voller Wut, Ned verpasst zu haben, und dachte sehnsüchtig daran, was hätte sein können – wie sie ihn geküsst, sein Haar berührt, sich an ihn geschmiegt hätte. Obwohl Ned nicht bei ihr war, glaubte Margery, seine Anwesenheit zu spüren – so stark, dass Barts Umarmung sie abstieß, ja, an den Rand eines Ohnmachtsanfalls brachte. Ohne nachzudenken, rammte sie ihm das Knie so fest zwischen die Beine, wie sie nur konnte.

Bart brüllte vor Schmerz und Schock, ließ Margery los und krümmte sich. Beide Hände zwischen die Schenkel gepresst, stöhnte er dumpf und kniff die Augen zu.

Margery floh zur Tür, doch ehe sie ihr Ziel erreichte, kam ihre Mutter in die Bibliothek. Offenbar hatte sie in der Halle gestanden und gelauscht.

Lady Jane sah Bart, wusste sofort, was geschehen war, und fuhr wutentbrannt zu Margery herum. »Du dummes Kind!«

»Niemals werde ich einen solchen Wüstling heiraten!«, rief Margery trotzig.

Jetzt kam auch ihr Vater in die Bibliothek. Er war groß und schwarzhaarig wie Rollo, doch im Unterschied zu seinem Sohn mit einem Übermaß an Sommersprossen gesegnet. Mit kalter Stimme sagte er: »Du wirst heiraten, wen dein Vater für dich aussucht!«

Das ließ nichts Gutes ahnen. Margery bekam es mit der Angst. Sie befürchtete, die Entschlossenheit ihrer Eltern unterschätzt zu haben. Es war ein Fehler gewesen, ihrer Empörung freien Lauf zu lassen. Sie rang um Fassung und versuchte, nüchtern zu denken.

Schließlich sagte sie – noch immer voller Leidenschaft, doch schon viel ruhiger: »Ich bin keine Prinzessin. Wir sind reich, aber nicht von Adel. Meine Ehe ist kein Zweckbündnis. Ich bin die Tochter eines Kaufmanns, und Leute wie wir gehen keine abgesprochenen Ehen ein.«

Sir Reginald lief unter seinen Sommersprossen knallrot an. »Ich bin ein Ritter!«

»Aber kein Graf!«

»Ich bin ein Nachfahre von Ralph Fitzgerald, der vor zweihundert Jahren Graf von Shiring wurde – so wie Bart einst Graf von Shiring sein wird. Und Ralph Fitzgerald wiederum war der Sohn von Sir Gerald und der Bruder von Merthin, dem Brückenbauer. In meinen Adern strömt edelstes englisches Blut!«

Bestürzt erkannte Margery, dass ihr nicht nur der unbeugsame Wille ihres Vaters gegenüberstand, sondern auch sein Familienstolz. Wie sie diese vereinte Streitmacht überwinden sollte, wusste Margery nicht. Sie wusste nur, sie durfte keine Schwäche zeigen.

Sie wandte sich Bart zu. Er würde doch sicher keine Frau heiraten, die ihn nicht wollte? »Es tut mir schrecklich leid, Lord Shiring«, sagte sie, »aber ich werde Ned Willard zum Mann nehmen.«

Sir Reginald fuhr auf. »Das wird du nicht, beim Kreuze Christi!«

»Ich liebe Ned!«

»Du bist viel zu jung, um jemanden zu lieben. Und die Willards sind im Herzen Protestanten!«

»Sie gehen zur Messe wie alle anderen.«

»Sei es, wie es ist – du wirst Viscount Shiring heiraten!«

»Das werde ich nicht«, sagte Margery leise, aber bestimmt.

Bart schien sich allmählich zu erholen, denn er schnaufte: »Ich wusste es gleich. Die Frau macht nur Ärger.«

»Sie braucht lediglich eine feste Hand«, sagte Sir Reginald.

»Was sie braucht, ist eine Peitsche.«

Lady Jane ergriff das Wort. »Überleg doch, Margery. Eines Tages bist du Gräfin, und dein Sohn wird Graf sein!«

»Mehr zählt für euch nicht?« Margery hörte, wie sich Trotz in ihre Stimme schlich, aber sie konnte nicht aufhören. »Hauptsache, eure Enkel sind adlig!« Sie erkannte an den Gesichtern ihrer Eltern, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Voller Verachtung fügte sie hinzu: »Glaubt ja nicht, dass ich mich als Zuchtstute hergebe, nur weil ihr vom Adel besessen seid!«

Margery hatte kaum ausgesprochen, als ihr klar wurde, dass sie zu weit gegangen war. Die Schmähung hatte ihren Vater an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.

Sir Reginald zog seinen Gürtel.

Furchterfüllt wich Margery zurück und stieß mit dem Hinterteil gegen das Schreibpult. Reginald packte sie mit der linken Hand grob im Nacken und zerrte sie zum Tisch. Dabei sah Margery, dass die Gürtelschnalle aus Messing war, und sie schrie vor Entsetzen auf.

Ihr Vater drückte sie unbarmherzig auf den Tisch. Sie wand sich verzweifelt, aber er war zu stark für sie und hielt sie mit Leichtigkeit fest.

Als sie ihre Mutter sagen hörte: »Würdet Ihr bitte das Gemach verlassen, Lord Shiring?«, wuchs Margerys Angst ins Unermessliche.

Die Tür fiel ins Schloss; dann pfiff auch schon der Gürtel durch die Luft. Das Leder traf mit peitschenähnlichem Knall auf Margerys Oberschenkel. Ihr Kleid war viel zu dünn, als dass es die Schläge hätte dämpfen können. Wieder schrie sie gellend, diesmal vor Schmerz.

Ein weiterer Hieb traf sie, und noch einer.

Ihre Mutter schritt ein. »Ich glaube, das reicht, Reginald.«

»Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind!«, rief ihr Vater. Es war ein auf schreckliche Weise verbreiteter Spruch: Alle Welt glaubte, Prügel wären gut für Kinder, nur die Kinder nicht.

»Der Vers geht anders«, widersprach Lady Jane. »›Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.‹ Er bezieht sich auf Jungen, nicht auf Mädchen.«

Sir Reginald konterte: »Die Heilige Schrift sagt aber auch: ›Lass nicht ab, das Kind zu züchtigen.‹«

»Margery ist kein Kind mehr. Außerdem wissen wir beide, dass eine Bestrafung sie noch aufsässiger macht.«

»Was schlägst du vor?«

»Überlass sie mir. Ich rede mit ihr, wenn sie sich beruhigt hat.«

»Also gut«, gab Sir Reginald nach.

Margery glaubte schon, es wäre vorbei, als der Gürtel erneut durch die Luft zischte und mit lautem Knall ihre Beine traf, die bereits wie Feuer brannten. Wieder schrie sie voller Pein. Augenblicke später hörte sie die Schritte ihres Vaters, die leiser wurden, als er das Zimmer verließ.

Jetzt war es wirklich vorbei.

Ned war sicher, auf Graf Swithins Fest endlich Margery zu begegnen. Ihre Eltern konnten sie schwerlich von dort fernhalten; damit hätten sie eingestanden, dass irgendetwas faul war. Ganz Kingsbridge hätte sich gefragt, weshalb Margery nicht beim Fest erschienen war, und sich das Maul darüber zerrissen.

Die Radspuren der Karren in der schlammigen Straße waren hart gefroren; mit großer Vorsicht setzte Neds Pony seine Schritte auf der tückischen Oberfläche. Der Körper des Reittiers wärmte Ned, doch seine Hände und Füße waren taub vor Kälte. Neben ihm ritt seine Mutter auf einer Stute mit breitem Rücken.

Das Anwesen des Grafen von Shiring, New Castle, lag zwölf Meilen von Kingsbridge entfernt. Die Reise dauerte fast einen halben kurzen Wintertag und machte Ned schier verrückt vor Ungeduld. Er musste Margery sehen – nicht nur, weil er sich nach ihrem Anblick verzehrte, er wollte überdies herausfinden, was vor sich ging.

Endlich erschien New Castle vor ihnen in der dunstigen Ferne. Doch anders, als der Name vermuten ließ, war die Burg bereits hundertfünfzig Jahre alt. Kürzlich hatte der Graf auf den Ruinen der mittelalterlichen Anlage ein herrschaftliches Haus errichten lassen. Die verbliebenen Wehrmauern, aus dem gleichen grauen Stein erbaut wie die Kathedrale von Kingsbridge, schmückten sich an diesem Tag mit Bändern und Girlanden aus frostkaltem Nebel.

Als Ned näher kam, hörte er die Geräusche einer ausgelassenen Festlichkeit: Begrüßungsrufe, Gelächter und die Klänge von Musikanten – eine dumpfe Trommel, eine muntere Fiedel und näselnder Flötenklang drangen durch die kühle Luft an seine Ohren. Die Geräusche verhießen lodernde Feuer, warmes Essen und anregende Getränke.

Ned trieb sein Pferd zum Trab an. Er konnte es kaum erwarten, ans Ziel zu kommen und von seiner Unsicherheit erlöst zu werden. Liebte Margery tatsächlich Bart Shiring? Würde sie ihn gar heiraten?

Die Straße führte geradewegs zum Eingang der Burg. Raben, die auf den alten Burgmauern saßen, krächzten gehässig die Gäste an. Die Zugbrücke war längst verschwunden, der Graben zugeschüttet; nur im Torhaus gab es noch die alten Schießscharten, aber keine Fenster. Ned ritt hindurch auf den lärmerfüllten Hof, auf dem es vor bunt gekleideten Gästen, Pferden, Wagen und den emsigen Dienern des Grafen nur so wimmelte. Ned gab sein Pony in die Obhut eines Reitknechts und schloss sich der Menge an, die zum Haus strömte.

Von Margery war nichts zu sehen.

Am anderen Ende des Burghofs stand das neue, moderne Herrenhaus aus Ziegelstein. Die Kapelle zur einen, das Brauhaus zur anderen Seite, fügte es sich in die alten Burggebäude ein. Ned war in den vier Jahren, seit das Haus errichtet worden war, nur einmal hier gewesen; umso mehr bestaunte er nun die langen Reihen großer Fenster und hoher Schornsteine. Vornehmer und eleganter als die Anwesen selbst der reichsten Kaufleute von Kingsbridge, war es das größte Haus im Landstrich. In London mochte es größere geben, aber die Stadt an der Themse hatte er nie besucht.

Graf Swithin war während der Regentschaft Heinrichs VIII. in Ungnade gefallen, denn er hatte sich dem Bruch des Königs mit dem Papst widersetzt. Doch nach der Thronbesteigung durch Heinrichs ältere Tochter, die erzkatholische Mary Tudor, fünf Jahre zuvor, hatte das Geschick des Grafen sich zum Guten gewendet, und Swithin stand wieder hoch in der Gunst des Königshauses, reich und mächtig wie eh und je. Deshalb versprach es ein üppiges Bankett zu werden.

Ned betrat das Herrenhaus und gelangte in die zwei Stockwerke hohe Eingangshalle, die von hohen Fenstern selbst an diesem trüben Wintertag von hellem Licht durchflutet wurde. Die Wände waren mit lasierter Eiche getäfelt und mit Gobelins behängt, welche Jagdszenen zeigten. In zwei Kaminen zu beiden Seiten der Halle brannten Holzscheite; auf der Galerie, die sich an drei der vier Wände hinzog, spielten schwungvoll die Musikanten, die Ned schon von Weitem gehört hatte. Hoch an der vierten Wand hing ein Porträt des Vaters des Grafen mit einem Stab in der Hand, einem Sinnbild der Macht.

Einige der Gäste führten in Gruppen zu acht einen munteren Kontertanz auf. Sie hielten sich bei den Händen, bildeten sich drehende Kreise und blieben hin und wieder stehen, damit andere sich dem Reigen anschließen oder ihn verlassen konnten. Andere standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich mit erhobener Stimme, um die Musik und das Stampfen der Tänzer zu übertönen.

Ned nahm einen Holzbecher mit warmem Apfelmost und blickte sich um.

Eine Gruppe hielt sich bewusst von den Tänzern fern: der Reeder Philbert Cobley samt Familie, alle in Grau und Schwarz gekleidet. Die Protestanten von Kingsbridge waren ein verschworener, beinahe geheimer Zirkel: Jeder wusste, dass es sie gab, und jeder konnte sich denken, wer zu ihnen gehörte, doch über ihre Existenz redete man nur hinter vorgehaltener Hand. Es erinnerte Ned ein wenig an die Geheimniskrämerei über die ominöse Gemeinschaft jener Männer, die Männer liebten. Die Protestanten bekannten sich nicht offen zu ihrem Glauben. Hätten sie es getan, hätte man sie gefoltert, bis sie ihrem Glauben abschworen, oder sie dem Feuertod überantwortet, falls sie sich weigerten. Fragte man sie nach ihren religiösen Überzeugungen, wichen sie aus. Sie besuchten katholische Gottesdienste, wie das Gesetz es verlangte, ergriffen aber jede Gelegenheit, gegen weinselige Geistliche, unzüchtige Lieder und tief ausgeschnittene Gewänder Sturm zu laufen. Und langweilige Kleidung zu tragen, untersagte kein Gesetz.

Ned kannte fast jeden im Saal: Die jüngeren Gäste – die Mädchen, die er sonntags nach der Kirche an den Haaren gezogen, und die Jungen, mit denen er in Kingsbridge die Schulbank gedrückt hatte – waren ihm ebenso vertraut wie die ältere Generation der Reichen und Mächtigen der Stadt, die im Haus seiner Mutter verkehrten.

Als er nach Margery Ausschau hielt, traf sein Blick einen Fremden, einen Mann Ende dreißig mit langer Nase, modisch zugespitztem Bart und mittelbraunem, sich lichtendem Haar. Der Mann war klein und drahtig und in einen dunkelroten Umhang gekleidet, der unaufdringlich teuer aussah. Er sprach mit Graf Swithin und Sir Reginald Fitzgerald. Ned fiel die Haltung der beiden örtlichen Größen ins Auge. Offenbar mochten sie den vornehmen Fremden nicht: Reginald stand hoch aufgerichtet da, die Arme verschränkt, während Swithin sich breitbeinig vor dem Unbekannten aufgebaut hatte, die Hände in die Hüften gestemmt. Doch sie hörten dem Mann aufmerksam zu.

Die Musikanten beendeten ein Stück mit einem Tusch, und es wurde halbwegs leise im Saal. Ned nutzte die Gelegenheit, um Daniel anzusprechen, den Sohn von Philbert Cobley, dem Reeder. Daniel war zwei Jahre älter als Ned, ein dicker Bursche mit blassem, rundem Gesicht.

»Sag mal, wer ist das?« Ned zeigte auf den Fremden im roten Umhang.

»Sir William Cecil. Er verwaltet den Grundbesitz der Prinzessin Elizabeth.«

Elizabeth Tudor war die jüngere Halbschwester von Königin Mary der Katholischen, die man hinter vorgehaltener Hand auch »Bloody Mary« nannte. »William Cecil? Ich habe von ihm gehört«, sagte Ned. »War er nicht eine Zeit lang Staatssekretär?«

Daniel nickte. »Ja.«

Damals war Ned noch zu jung gewesen, um die Staatsgeschäfte genauer zu verfolgen, aber er kannte Cecils Namen; seine Mutter hatte ihn voller Bewunderung ausgesprochen. Für Mary Tudors Geschmack jedoch war Cecil nicht katholisch genug gewesen, und sie hatte ihn entlassen, kaum dass sie Königin geworden war. Deshalb versah Cecil nun die weniger ruhmvolle Aufgabe, Elizabeths Finanzen zu verwalten.

Was suchte der Mann hier in Kingsbridge?

Ned wusste, seine Mutter würde von Cecils Anwesenheit erfahren wollen. Sie war von Neuigkeiten besessen und hatte ihren Söhnen stets eingebläut, dass Informationen ein Vermögen einbringen, aber auch vor dem Ruin schützen konnten.

Als Ned nach seiner Mutter Ausschau hielt, entdeckte er Margery, und William Cecil war auf der Stelle vergessen.

Margerys Aussehen verschlug Ned den Atem. Sie sah um fünf Jahre reifer aus, nicht um das eine Jahr, das er in Frankreich verbracht hatte. Ihre dunkelbraunen Locken hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt; dazu trug sie eine Männerkappe mit einer kecken Feder, und eine kleine weiße Halskrause unter dem Kinn ließ ihr Gesicht strahlen. Sie war klein und zierlich, aber nicht dünn; das modische steife Mieder unter ihrem blauen Kleid verbarg die verlockenden Rundungen ihrer Figur nicht vollständig. Ihr Gesicht war hübsch und anziehend wie eh und je. Sie lächelte im Gespräch, zog die Augenbrauen hoch, neigte den Kopf zur Seite und mimte in raschem Wechsel Erstaunen und Verwunderung, Empörung und Entzücken. Ned ertappte sich dabei, dass er sie so unverhohlen anstarrte wie früher. Einen Augenblick lang schien es ihm, als wäre außer ihnen beiden niemand im Saal.

Er riss sich von diesen Eindrücken los und drängte sich durch das Gewühl der Gäste zu ihr.

Als Margery ihn näher kommen sah, leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Dann aber wechselte ihr Ausdruck schneller als das Wetter an einem Frühlingstag, und die Freude wich Besorgnis. Als Ned endlich vor ihr stand, weitete sie ängstlich die Augen, und ihre Blicke huschten von links nach rechts, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass es besser sei, wenn er sie in Ruhe ließe, doch Ned achtete nicht darauf. Er musste mit ihr sprechen.

Er öffnete den Mund, doch Margery kam ihm zuvor. »Komm mir nach, wenn die Jagd auf den Hirsch beginnt«, raunte sie ihm zu. »Sag jetzt nichts!«

Die »Jagd auf den Hirsch« war ein Versteckspiel, das junge Leute gern auf Festivitäten spielten. Doch sosehr Ned sich über Margerys Einladung freute – er wollte sich nicht zurückziehen, ohne die Antworten auf seine drängendsten Fragen bekommen zu haben. »Bist du in Bart Shiring verliebt?«

»Nein!«, sagte Margery. »Geh jetzt. Wir reden später.«

Ned gab sich nicht damit zufrieden. »Wirst du ihn heiraten?«

»Nicht, solange ich noch genug Atem habe, um ›Scher dich zum Teufel‹ zu sagen.«

Ned lächelte erleichtert. »Wunderbar. Jetzt warte ich gern.«

Glücklich ging er davon.

Beunruhigt verfolgte Rollo das Gespräch zwischen seiner Schwester und Ned Willard. Lange dauerte es zwar nicht, aber es war offensichtlich innig. Rollo war besorgt. Gestern hatte er vor der Tür der Bibliothek gelauscht, als Margery vom Vater verprügelt worden war; er pflichtete Mutter bei, dass Bestrafungen seine Schwester nur störrischer machten.

Rollo wollte auf gar keinen Fall, dass sie Ned heiratete. Er hatte den Kerl nie leiden können – aber das war der geringste Grund. Viel wichtiger war die lasche Einstellung der Willards dem Protestantismus gegenüber. Die Familie hatte sich damals überaus zufrieden gezeigt, als König Heinrich sich gegen die katholische Kirche auflehnte – um dann rückgratlos umzuschwenken, als Königin Mary, Heinrichs Tochter, nach ihrer Thronbesteigung, die genaue Gegenrichtung einschlug und den Protestanten das Leben schwer machte. Rollo konnte Menschen nicht ausstehen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängten und den Glauben auf die leichte Schulter nahmen. Die Autorität der Kirche musste über allem stehen.

Nicht minder entscheidend aber war, dass eine Ehe Margerys mit Ned Willard nichts zum Ansehen der Fitzgeralds beitragen könnte; diese Ehe wäre lediglich ein Bündnis zwischen zwei wohlhabenden Kaufmannsfamilien. Eine Ehe Margerys mit Bart Shiring jedoch würde die Fitzgeralds geradewegs in die Reihen des Adels befördern. Und für Rollo standen Rang und Ansehen der Familie über allem – bis auf den Willen Gottes.

Inzwischen war der Tanz zu Ende, und die Bediensteten des Grafen trugen Platten und Stützen in die Halle, aus denen sie einen Tisch in Gestalt eines riesigen »T« errichteten, der sich durch die gesamte Länge des Raumes zog. Dann machten sie sich daran, die Tafel zu decken, was jedoch mit einer gewissen Nachlässigkeit geschah, wie Rollo fand: Brotlaibe und Tonbecher wurden ohne erkennbare Ordnung auf dem weißen Tischtuch verteilt. Das kommt dabei heraus, überlegte Rollo, wenn keine Ehefrau dem Haushalt vorsteht. Die Gräfin war vor zwei Jahren gestorben, und Swithin hatte noch nicht wieder geheiratet.

Ein Diener sprach Rollo an. »Euer Vater lässt Euch rufen, Master Fitzgerald. Er ist in der Bibliothek des Grafen.«

Der Mann führte Rollo in einen großen Nebenraum, in dem sich zahlreiche Bücher auf prunkvoll geschnitzten Regalen reihten. Außerdem erblickte Rollo ein Schreibpult und ein Regal voller Kontenbücher. Offenbar führte Graf Swithin hier einen Teil seiner Geschäfte.

Swithin saß in einem riesigen Sessel, beinahe schon ein Thron. Der Graf von Shiring war groß und gut aussehend wie sein Sohn Bart, aber zu viele Jahre üppiges Essen und der allzu reichliche Genuss geistiger Getränke hatten ihm einen fetten Wanst und eine rote Nase eingebracht. Vier Jahre zuvor hatte er in der Schlacht von Hartley Wood die meisten Finger seiner linken Hand eingebüßt. Er machte keinen Versuch, seine Verstümmelung zu verbergen, er schien vielmehr stolz darauf zu sein.

Rollos Vater, Sir Reginald, saß neben Graf Swithin, rank und schlank und sommersprossig, ein Leopard neben einem Bären. Bart war ebenfalls zugegen. Zu seinem Erstaunen erblickte Rollo aber auch Ned Willard und dessen Mutter Alice.