Das fünfte Kind - Doris Lessing - E-Book

Das fünfte Kind E-Book

Doris Lessing

0,0

Beschreibung

Harriet und David lernen sich auf einer rauschenden Party kennen, möchten aber entgegen dem Zeitgeist eine ganz normale Ehe führen und setzen alsbald vier zauberhafte Kinder in die Welt. In ihrem Häuschen mit großem Garten im Londoner Umland leben sie die perfekte Idylle, bis Harriet ein weiteres Mal schwanger wird. Bereits im Bauch agiert das kleine Wesen anders als seine Geschwister, und als Baby benimmt es sich äußerst seltsam beziehungsweise unangenehm grob. Harriet versucht verzweifelt, die zunehmenden Aggressionen ihres Kinds auszugleichen, und vernachlässigt dabei alles andere. Eines der bekanntesten und beeindruckendsten Werke von Doris Lessing, das seine Figuren vor existentielle, schier unlösbare Aufgaben stellt und unbequeme Fragen aufwirft, auf die es keine Antworten gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 230

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



In ihrem Häuschen im Londoner Umland leben Harriet und David die perfekte Idylle, bis sie ein weiteres Kind bekommen. Bereits als Baby benimmt es sich äußerst seltsam beziehungsweise unangenehm grob. Harriet versucht verzweifelt, die zunehmenden Aggressionen auszugleichen. Es dauert eine Weile, bis sie sich eingesteht, dass sie Angst vor ihrem eigenen Kind hat. Welch unaussprechliche Ahnung! Eines der bekanntesten und beeindruckendsten Werke von Doris Lessing, das seine Figuren vor existentielle, schier unlösbare Aufgaben stellt.

DORIS LESSING

Das fünfte Kind Roman

Aus dem Englischen von Eva Schönfeld

Verlag Klaus Wagenbach     Berlin

Harriet und David lernten einander bei einer Betriebsfeier kennen, zu der sie beide nicht besonders gern gegangen waren, doch merkten sie sofort, dass dies der Moment war, auf den sie gewartet hatten. Konservativ, altmodisch, um nicht zu sagen altbacken, menschenscheu, schwer zufriedenzustellen: Das war nur eine kleine Auswahl der wenig begeisterten Adjektive, mit denen andere Leute sie belegten, und sie verdienten noch viele weitere. Sie aber beharrten störrisch auf ihrer Selbsteinschätzung, nämlich dass sie das Recht hatten, normal zu sein, und niemand sie wegen ihrer wählerischen, heiklen und anspruchsvollen Enthaltsamkeit zu kritisieren hatte, nur weil diese Eigenschaften nicht mehr in Mode waren.

Auf dieser berühmten Party drängten sich etwa zweihundert Leute in einem langen, festlich geschmückten Raum, der sonst dreihundertvierunddreißig Tage im Jahr als Sitzungssaal diente. Drei assoziierte Firmen, die alle mit dem Baugeschäft zu tun hatten, gaben ihre gemeinsame Neujahrsparty. Es war sehr laut. Die hämmernden Rhythmen einer kleinen Band erschütterten Wände und Decken. Die meisten der Geladenen tanzten, wobei es infolge des Platzmangels sehr eng zuging, sodass viele Paare stets an ein und derselben Stelle auf und ab wippten oder umeinander kreisten, als befänden sie sich auf einer unsichtbaren Drehscheibe. Fast alle Frauen waren theatralisch und grellbunt aufgetakelt: Seht mich an! Seht mich an! Und einige der Männer forderten ebenso viel Beachtung. Ringsumher drückten sich Nichttänzer an die Wände, unter ihnen Harriet und David, ganz für sich, das Glas in der Hand, als stille Beobachter. Beide fanden, dass die Gesichter der Tanzenden, besonders der Frauen, aber auch der Männer, ebenso gut von den Grimassen und vom Schreien aus höchster Qual heraus hätten verzerrt sein können wie vom Ausdruck des Vergnügens. Die Szene hatte etwas forciert Munteres … Aber weder Harriet noch David hätten je erwartet, dass irgendwer solche und andere ketzerische Gedanken mit ihnen teilen würde.

Über den ganzen Raum hinweg glich Harriet, sofern man sie zwischen so vielen auffälligen Gestalten überhaupt bemerkte, einem verwischten Pastellfleck, der, wie in einem impressionistischen Gemälde oder einer Fotomontage, mit seiner Umgebung verschmolz, zumal sie neben einer großen Bodenvase mit trockenen Gras- und Laubbüschen stand und ein irgendwie geblümtes Kleid anhatte. Stellte man den Blick schärfer auf sie ein, so erkannte man eine unmoderne dunkle Lockenfrisur, nachdenkliche blaue Augen und einen etwas zu fest geschlossenen Mund. Ihre Züge waren überhaupt fest und ausgeprägt, und ihr Wuchs war kräftig. Eine gesunde junge Frau also. Aber vielleicht eher in einen Garten passend als hierher?

David war schon seit einer Stunde stehengeblieben, wo er gerade stand, und während er bedächtig an seinem Glas nippte, verweilten seine ernsten blaugrauen Augen bald auf einer Einzelperson, bald auf einem Paar; er sah, wie sie sich fanden, trennten, suchten und mieden. Auf Harriet machte er den Eindruck, nicht ganz auf festem Boden zu stehen, sondern fast zu schweben, als balanciere er ständig auf den Zehenspitzen. Ein schlanker, ja fast zierlicher junger Mann, der mit seinem runden, offenen Gesicht noch jünger aussah, als er tatsächlich war. Sein weiches braunes Haar mochte manche Frauen verlocken, mit den Fingern hindurchzufahren, aber wenn sie dann seinen sinnenden Blick auf sich fühlten, ließen sie es lieber bleiben. Ihnen wurde unbehaglich zumute. Harriet nicht, sah sie doch in dieser abwägenden Zurückhaltung ein Abbild ihres eigenen Wesens und erkannte, dass seine heitere Miene nur aufgesetzt war. Er dachte über sie im Stillen ganz ähnlich: Sie schien solche Betriebsfeste ebenso wenig zu mögen wie er. Beide hatten schon erfahren, wer der andere war. Harriet arbeitete in der Verkaufsabteilung einer Firma, die Bauteile entwarf und herstellte; David war Architekt.

Was also machte gerade diese beiden zu solchen Außenseitern? Es waren ihre Ansichten über Sex! Schließlich befand man sich in den sechziger Jahren!

David hatte eine einzige längere und schwierige Geschichte mit einem Mädchen gehabt, das er trotz inneren Widerstrebens geliebt hatte: Sie verkörperte alles, was er an einer Frau nicht mochte, und sie scherzten während ihrer Beziehung über das alte Wort von den »Gegensätzen, die sich anziehen«. Seine Versuche, sie zu bekehren, amüsierten sie. »Ich glaube, du bildest dir ein, du könntest die Zeit zurückdrehen und ausgerechnet bei mir damit anfangen!« Nach der Trennung, die David hart genug angekommen war, hatte sie seiner Einschätzung nach so ziemlich mit jedem Angestellten von Sissons Blend & Co. geschlafen, auch mit den weiblichen – zumindest hätte es ihn nicht gewundert. Übrigens war sie heute Abend hier, in Feuerrot mit schwarzer Spitze, der witzigen Version eines Flamenco-Kostüms, das ihren Kopf frappierend zur Geltung brachte, ganz im Stil der Roaring Twenties, mit glattem schwarzen Haar, das im Nacken spitz zulief, zwei glänzenden schwarzen Sechsen vor den Ohren und einem ebensolchen Kringel auf der Stirn. Sie winkte heftig zu David herüber und warf ihm von der Stelle, wo sie sich mit ihrem Partner drehte, über alle Köpfe hinweg eine Kusshand zu, und er lächelte kameradschaftlich zurück: Nein, er war ihr nicht böse. Was Harriet betraf, so war sie noch Jungfrau. »Heutzutage!«, hätten ihre Freundinnen wahrscheinlich gekreischt, »bist du wahnsinnig?« Sie selbst empfand ihre Jungfräulichkeit nicht als einen Zustand, der unbedingt verteidigt werden musste, sondern mehr als ein Geschenk, das sie aufbewahrte, bis sie es, sorgsam in ausgesucht hübsches Papier gewickelt, mit Diskretion dem richtigen Empfänger würde überreichen können. Sogar ihre eigenen Schwestern lachten sie aus, und die Kolleginnen im Büro machten humorvolle Gesichter, wenn sie erklärte: »Tut mir leid, ich habe keinen Sinn für dieses Überall-Rumschlafen, das ist nichts für mich.« Sie wusste, dass man über sie als einen interessanten Fall redete, und zwar vorwiegend auf wenig freundliche Weise. Mit der gleichen eisigen Verachtung, die wohl die anständigen Frauen der Großmüttergeneration in ihren Ton gelegt hatten, um zu sagen: »Sie ist absolut unmoralisch« oder »Was kann man von der schon erwarten« oder »Sie hat keinen Ruf mehr zu verlieren« – im Vokabular der Müttergeneration klang »Sie ist mannstoll« oder »Sie ist eine Nymphomanin« so –, im genau gleichen Ton sagten die aufgeklärten Mädchen von heute hinter Harriets Rücken: »Es muss an einem Kindheitstrauma liegen, dass sie so geworden ist. Armes Ding.«

Tatsächlich hatte sie sich schon manchmal unglücklich oder unzulänglich gefühlt, weil die Männer, mit denen sie gelegentlich essen oder ins Kino ging, ihre unnahbare Haltung sowohl für krankhaft verschroben als auch für kleinlich hielten. Eine Zeit lang war da eine jüngere Freundin gewesen, mit der sie sich gut verstanden hatte, aber dann war auch die »wie alle anderen« geworden, wie Harriet es, jede Hoffnung verlierend, definierte, wobei sie sich selbst zunehmend als Außenseiterin betrachtete. Sie verbrachte viele Abende allein und am Wochenende fuhr sie oft nach Hause zu ihrer Mutter Dorothy, die sie mit den Worten tröstete: »Du bist eben ein bisschen altmodisch, das ist alles. Und massenhaft Mädchen wären gern ebenso, wenn man sie nur ließe.«

Jetzt gingen diese beiden Abweichler, Harriet und David, aus ihren weit entfernten Ecken aufeinander zu, genau im selben Moment. Das sollte sich später als wichtig erweisen, denn besagte Betriebsfeier wurde zum Teil ihrer Geschichte. »Ja, genau gleichzeitig …« Sie mussten sich durch Menschenknäuel drängen, die gegen die Wände gequetscht dastanden, und sie hielten dabei ihre Gläser hoch über ihre Köpfe, um den Tänzern nicht damit in die Quere zu kommen. Und so kamen sie endlich zusammen und lächelten, vielleicht ein bisschen verlegen, und er nahm sie bei der Hand, und sie drängelten sich aus dem Tanzsaal in das Nebenzimmer, in dem das kalte Buffet stand und das ebenso voll von lärmenden Leuten war, und von dort in den Korridor, der nur spärlich von knutschenden Pärchen bevölkert war, und schließlich stießen sie die erste Tür auf, deren Klinke ihrem Druck nachgab. Sie befanden sich in einem Büro mit einem Schreibtisch, ein paar harten Stühlen und einem Sofa. Stille … wenigstens beinahe. Sie seufzten. Sie stellten ihre Gläser ab. Sie setzten sich einander gegenüber, um sich nach Herzenslust ansehen zu können, und dann begannen sie zu sprechen. Sie redeten, als sei ihnen beiden die Sprache bisher verwehrt gewesen, als seien sie ganz ausgehungert nach Gesprächen. Und so saßen sie nah beieinander und redeten, bis der Lärm in den Räumen jenseits des Korridors nachließ, und dann gingen sie ruhig aus dem Haus und in seine Wohnung, zu der es nicht weit war. Dort lagen sie auf seinem Bett, hielten Händchen und sprachen weiter und manchmal küssten sie sich und dann schliefen sie. Harriet zog fast unmittelbar danach in Davids Wohnung, denn sie selbst hatte sich nur ein Zimmer in einem großen Gemeinschaftsquartier leisten können. Ihre Heirat im Frühling war beschlossene Sache. Worauf sollten sie noch warten? Sie waren füreinander bestimmt.

Harriet war die älteste von drei Schwestern. Erst als sie mit achtzehn von zu Hause wegging, erkannte sie, wie viel sie ihrer Kindheit verdankte, denn viele ihrer Bekannten hatten geschiedene Eltern, führten ein ungeregeltes und leichtfertiges Leben und neigten, wie man so sagt, zu seelischen Störungen. Harriet war nicht gestört und hatte schon immer gewusst, was sie wollte. Sie kam recht gut durch die Schule und ging dann auf eine Kunstakademie, um Graphikerin zu werden, was eine angenehme Art schien, die Zeit herumzubringen, bis sie heiratete. Die Frage »Sein oder Nichtsein« einer Karrierefrau hatte sie nie bekümmert, obwohl sie bereit war, darüber mitzudiskutieren. Sie wollte den anderen nicht exzentrischer erscheinen als unbedingt nötig. Ihre Mutter war eine zufriedene Frau, die alles hatte, was sie vernünftigerweise verlangen konnte, wenigstens kam es ihr und den Töchtern so vor. Harriets Eltern hatten es immer für unumstößlich gehalten, dass das Familienleben die einzige Grundlage wahren Glückes sei.

Mit Davids Herkunft war es eine ganz andere Sache. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sieben war. Er witzelte, viel zu oft, darüber, dass er zwei Paar Eltern hatte. Er war eines der Kinder mit einem Zimmer in zwei Elternhäusern gewesen, und jeder um ihn herum hatte sich mit den damit verbundenen psychologischen Problemen befasst.

Es hatte zwar keinen Zank und keine Gehässigkeit gegeben, aber ein beträchtliches Maß an Ungemütlichkeit, sogar Trübsal – das heißt für die Kinder. Der zweite Mann seiner Mutter war Akademiker, Historiker, und die beiden wohnten in einem großen schäbigen Haus in Oxford. David hatte diesen Professor Frederick Burke gern, weil er gütig, wenn auch zerstreut war, ganz wie seine Mutter Molly. David hatte sein Zimmer bei den beiden immer als sein wirkliches Zuhause angesehen, und das war es in seiner Vorstellung auch heute noch, obgleich er mit Harriet nun bald ein neues Heim schaffen würde, eine Erweiterung und Ergänzung des alten. Im hinteren Teil des Oxforder Hauses hatte er ein großes Schlafzimmer, von dem man in einen verwilderten Garten blickte. Das Zimmer war so schäbig wie das übrige Haus, noch voll von seinen Jungenssachen und auf englische Art ziemlich frostig. Davids leiblicher Vater, James Lovatt, hatte in zweiter Ehe eine Frau geheiratet, die seiner eigenen Art entsprach, eine laute, freundliche und tüchtige Person mit dem gutgelaunten Zynismus der Reichen. James Lovatt war Schiffbauer, und wenn David einer seiner Einladungen folgte, konnte es leicht passieren, dass sein Platz eine Koje auf einer Yacht war oder ein Zimmer (»Das ist dein Zimmer, David!«) in einer Villa in Südfrankreich oder auf den Bahamas. Doch er bevorzugte seine alte Bude in Oxford. So war er mit einem brennenden heimlichen Wunsch für die Zukunft aufgewachsen: Seine eigenen Kinder sollten es einmal ganz anders haben! Er wusste, was er wollte und was für eine Frau er brauchte.

Harriet hatte sich ihre Zukunft nach altem Brauch ausgemalt: Ein Mann würde ihr die Schlüssel eines gemeinsamen häuslichen Reiches übergeben, und sie würde dort alles finden, was ihrer Natur gemäß war. Sie hatte dies, erst unbewusst, dann sehr entschieden, als ihr Geburtsrecht betrachtet und war diesem Ziel zugestrebt, ohne sich auf Irrungen und Wirrungen einzulassen. Und auch David sah seine Zukunft als ein Ziel, nach dem es zu streben und das es zu schützen galt. Seine Frau musste ihm darin gleichen und wissen, wo das Glück lag und wie man es sich erhielt. Er war dreißig, als er Harriet kennenlernte, und hatte bis dahin mit der verbissenen Selbstzucht eines ehrgeizigen Menschen gearbeitet – aber das, wofür er arbeitete, war ein eigenes Heim.

Unmöglich, in London ein Haus zu finden, wie sie es brauchten und für ihr künftiges Leben wünschten. Überhaupt waren sie gar nicht so sicher, dass London der richtige Ort für sie war. Nein, er war es nicht, lieber eine kleinere Stadt in der Umgebung, mit einer eigenen Atmosphäre. Sie verbrachten einige Wochenenden mit der Besichtigung von Ortschaften in erreichbarer Nähe Londons und fanden bald ein geräumiges viktorianisches Haus mit einem verwucherten Garten. Perfekt! Allerdings kaum passend für ein junges Paar: ein dreistöckiges Haus nebst Dachboden mit einer Unzahl von Zimmern, Fluren, Treppenabsätzen … Aber mit Platz für jede Menge Kinder.

Denn sie hatten die Absicht, viele Kinder zu bekommen. Ein bisschen herausfordernd, angesichts ihrer tollkühnen Zukunftsansprüche, versicherten sie einander, sie hätten nichts gegen einen Haufen Kinder.

»Vier oder fünf …« »Oder sechs«, sagte David.

»Oder sechs!«, sagte auch Harriet und lachte, bis ihr Tränen der Erleichterung in die Augen traten. Sie hatten weitergelacht und sich auf dem Bett gewälzt und gestrahlt, weil dieser heikle Punkt, bei dem alle beide insgeheim eine Verweigerung oder einen Kompromiss erwartet und sogar akzeptiert hätten, sich nun als ganz unbedenklich herausstellte. Aber was Harriet zu David und David zu Harriet sagen konnte,

»Sechs Kinder mindestens!«, durften sie keinem anderen Menschen sagen. Trotz Davids recht anständigem Gehalt und Harriets Verdienst ging die Hypothekenlast dieses Hauses über ihre Verhältnisse. Doch irgendwie würden sie es schon schaffen! Harriet wollte noch zwei Jahre weiterarbeiten, täglich mit David in die Stadt fahren, und dann …

An jenem Nachmittag, als das Haus ihres wurde, standen sie Hand in Hand auf der kleinen Vorderveranda, und ringsumher zwitscherten die Vögel im Garten, dessen Baumkronen noch kahl und schwarz vom letzten Vorfrühlingsregen glänzten. Sie schlossen die Haustür auf, wobei ihre Herzen vor Glück klopften, und standen nach zwei Schritten in einem sehr großen Raum, von dem eine breite Treppe nach oben führte. Einer der früheren Besitzer musste sich unter einem eigenen Heim dasselbe vorgestellt haben wie sie. Die Zwischenwände waren niedergerissen worden, um einen Raum zu schaffen, der fast das ganze Erdgeschoss einnahm. Eine Hälfte diente als Küche und war nur durch ein niedriges Mäuerchen, auf das man Bücher und Vasen stellen konnte, von der anderen getrennt, wo reichlich Platz für Sitzgruppen und all die behagliche Vielfalt eines Familienzimmers vorhanden war. Harriet und David gingen behutsam, mit verhaltenem Atem lächelnd und Blicke tauschend – wobei ihr Lächeln sich verstärkte, denn sie waren schon wieder dem Weinen nahe – über die nackten Holzdielen, auf denen bald Teppiche liegen würden, und dann langsam die Stufen hinauf, deren altmodische Messingstangen auf einen Läufer warteten. Auf dem ersten Treppenabsatz drehten sie sich um und bewunderten den Riesenraum, der das Herz ihres Königreiches werden sollte. Sie gingen weiter. Im ersten Stockwerk gab es ein großes Schlafzimmer – das ihrige. Ein Durchgang führte in eine Nebenkammer, die jeweils das Neugeborene beherbergen würde. Außerdem gab es noch vier weitere ansehnliche Räume auf dieser Etage. Nach oben hin wurde die Treppe etwas schmaler, obwohl immer noch großzügig genug, und auch hier fanden sich vier Zimmer, deren Fenster, wie die unteren, den Blick auf Bäume, Gärten und Rasenflächen freigaben: das typische sympathische Ambiente englischer Vor- und Kleinstädte. Und die riesige Mansarde darüber war wie geschaffen für Kinder, die ins »magische Alter« der Geheimnisse und Märchenspiele kamen.

Harriet und David begaben sich langsam wieder nach unten, eine Treppe, zwei, vorbei an all den Räumen, die sie in ihrer Fantasie bereits mit Kindern, Verwandten und Gästen füllten, bis sie in ihrem Schlafzimmer landeten. Vorläufig stand nichts darin als ein großes Ehebett, ursprünglich eine Spezialanfertigung für das Paar, von dem Harriet und David das Haus gekauft hatten. Der Makler hatte gesagt, man müsse es in seine Bestandteile zerlegen, um es wegzuschaffen, und die früheren Eigentümer seien ins Ausland gezogen und könnten es nicht mehr gebrauchen. Nun legten Harriet und David sich Seite an Seite darauf nieder und sahen sich in ihrem Zimmer um. Beide waren still, fast ein wenig bedrängt von allem, was sie sich vorgenommen hatten. Die Schatten eines Fliederstrauches, hinter dem eine wässrige Sonne stand, zeichneten eine verführerische Skizze der Jahre, die sie in diesem Haus verleben würden, auf die weiße Zimmerdecke. Sie wandten die Köpfe dem Fenster zu, wo die oberen Zweige des alten Flieders dicke, kräftige Knospen zeigten; bald würden sie aufbrechen und in Blüte stehen. Dann sahen sie einander an. Tränen strömten ihnen über die Wangen. Sie liebten sich, dort auf ihrem Bett. Harriet hätte beinahe aufgeschrien: »Halt, nein, was machen wir da?« Denn hatten sie nicht beschlossen, mit dem Kinderkriegen noch zwei Jahre zu warten? Aber Davids Zielstrebigkeit überwältigte sie – ja, das war es, er nahm sie, während er ihr gerade in die Augen blickte, mit einer absichtsvollen, konzentrierten Kraft, die sie gefügig machte und sie akzeptieren ließ, wie er in ihr die Zukunft in Besitz nahm. Sie hatte keinerlei Verhütungsmittel bei sich. (Die Pille war ihnen beiden, natürlich, mehr als suspekt.) Harriet war auf der Höhe ihrer Gebärfähigkeit. Und dennoch liebten sie sich nun mit Ernst und Hingabe. Einmal. Zweimal. Später, als das Zimmer schon dunkel war, zum dritten Mal.

»Also«, flüsterte Harriet mit gedämpfter Stimme, denn sie fürchtete sich etwas, wollte es aber nicht zeigen, »also, das dürfte hingehauen haben, da bin ich sicher.«

David lachte. Ein lautes, leichtsinniges, skrupelloses Lachen, das dem sonst so bescheidenen, bedächtigen, freundlichen David gar nicht ähnlich sah. Nun, in fast völliger Dunkelheit, wirkte das Zimmer wie eine schwarze, endlose Höhle. Ein Ast kratzte irgendwo an der Mauer. Es roch nach kalter, regenfeuchter Erde und Sex. David lag da und lächelte in sich hinein, und als er Harriets Blick auf sich fühlte, wandte er ihr leicht das Gesicht zu und schloss sie in dieses Lächeln ein. Aber was ging in ihm vor? In seinen Augen glommen Gedanken, die sie nicht erraten konnte. Sie hatte das Gefühl, ihn noch gar nicht zu kennen … »David«, sagte sie rasch, um den Bann zu brechen, aber er umfasste sie fester, und seine Hand schloss sich mit einer unbeirrbaren Kraft, die sie nicht vermutet hätte, um ihren Oberarm. Dieser Griff sagte ihr: »Sei ruhig.« Sie blieben noch eine Weile liegen, während die Normalität langsam zurückkehrte und bis sie imstande waren, sich ein paar tröstliche Alltagsküsschen zu geben. Dann standen sie auf und zogen sich in der kalten Dunkelheit wieder an: Der Strom funktionierte noch nicht. Leise gingen sie die Treppe des Hauses, das sie so gründlich in Besitz genommen hatten, hinunter in ihr großes Familienzimmer, öffneten die Tür nach draußen und traten hinaus in den Garten, der geheimnisvoll verborgen im Dunkeln lag und ihnen noch nicht ganz gehörte.

»Und nun?«, fragte Harriet in heiterem Ton, als sie in Davids Wagen stiegen, um nach London zurückzufahren. »Wie sollen wir all das bezahlen, falls ich schwanger bin?«

Ganz recht: Wie sollten sie? Harriet war an diesem regnerischen Abend in ihrem Schlafzimmer tatsächlich schwanger geworden. Sie hatten viele schlimme Augenblicke, wenn sie an ihre begrenzten Mittel dachten und daran, wie schwach sie eigentlich waren. Denn so ist es nun einmal: Sobald der solide materielle Rückhalt fehlt, kommt es uns so vor, als würden wir strenger als gewöhnlich beurteilt. Harriet und David kamen sich kümmerlich und unzulänglich vor, ohne einen anderen Halt als ihren störrischen Glauben, der von anderen Leuten schon immer als Querköpfigkeit angesehen worden war.

David hatte niemals Geld von seinem wohlhabenden Vater und seiner Stiefmutter genommen; sie hatten seine Ausbildung bezahlt, und damit basta. (Für die Erziehung seiner Schwester waren sie ebenfalls aufgekommen. Aber Deborah hatte dann den Lebensstil ihres Vaters vorgezogen, wie David den seiner Mutter vorzog, und daher waren sie nicht mehr viel zusammengekommen. Der Unterschied zwischen Bruder und Schwester war mit einem Satz zu kennzeichnen: Deborah hatte das Leben der Reichen gewählt.) Gerade jetzt wollte David die beiden nicht um Geld angehen. Und seine »englischen« Eltern – so nannte er seine Mutter und ihren zweiten Mann in Gedanken – waren ein schlichtes Akademikerpaar und hatten selbst wenig Geld.

Eines Nachmittags standen sie zu viert – David und Harriet, Davids Mutter Molly und ihr Mann Frederick – in dem großen Familienraum neben der Treppe und begutachteten das neue Reich. Mittlerweile stand ein ungeheurer Tisch, an dem mit Leichtigkeit fünfzehn bis zwanzig Personen Platz finden konnten, in dem Teil des Raums, der zur Küche gehörte; im Wohnteil gab es zwei ausladende Sofas und einige bequeme Sessel, alles auf einer Auktion am Ort erstanden. David und Harriet fühlten sich unter den Augen der beiden älteren Leute, die ihr Tun beurteilten, alberner und überspannter denn je – und viel zu jung. Molly und Frederick sahen groß, breit und unordentlich aus, beide mit fülligem grauen Haar, und sie zeigten mit ihrer lässigen Kleidung, dass sie sich keinen Deut um die Mode scherten. Sie glichen zwei wohlwollenden Heubündeln, aber die Art, wie sie einander nicht ansahen, war David nur zu gut bekannt.

»Nun mal los«, sagte er krampfhaft lustig, als er es nicht mehr ertrug, »ihr könnt ruhig sagen, was ihr denkt.« Damit legte er einen Arm um Harriet, die blass und überanstrengt aussah, erstens wegen der Morgenübelkeit, die sie seit einiger Zeit plagte, und zweitens, weil sie eine ganze Woche mit Fußbodenschrubben und Fensterputzen verbracht hatte.

»Plant ihr, ein Hotel aufzumachen?«, erkundigte sich Frederick sachlich. Er war entschlossen, keine Kritik zu üben.

»Wie viele Kinder wollt ihr euch denn zulegen?«, fragte Molly mit einem kurzen Lachen, das andeutete, Proteste hätten hier ja doch keinen Zweck mehr.

»Viele«, sagte David leise.

»Ja«, sagte Harriet. »Ja.« Ihr war im Gegensatz zu David nicht bewusst, wie sehr sie dieses Elternpaar schockierten. Molly und Frederick gaben sich, wie in ihren Kreisen üblich, gern den Anschein des Nonkonformismus, aber im Grunde waren sie stockkonservativ und missbilligten alles, was sie für übertrieben bis ausschweifend hielten. Dieses Haus gehörte dazu.

»Kommt, wir laden euch zum Essen ein, falls es hier ein ordentliches Hotel gibt«, sagte Davids Mutter.

Während des Essens sprachen sie von anderen Dingen. Erst beim Kaffee ließ Molly die Bemerkung fallen: »Es ist dir doch wohl klar, David, dass du deinen Vater um Hilfe bitten musst?«

David zuckte schmerzlich zusammen, aber er musste sich den Tatsachen stellen: Jetzt ging es einzig um das Haus und das Leben, das sie darin führen wollten. Ein Leben – beide Eltern sahen es seiner verbissenen Miene an, die sie für unreif und überheblich hielten –, das alles annullierte, erledigte, ausstrich, was ihr Leben, Mollys und Fredericks, hatte vermissen lassen, und das galt auch für das von James und Jessica Lovatt.

Als sie sich auf dem dunklen Parkplatz des Hotels trennten, sagte Frederick: »Meiner Meinung nach seid ihr beide verrückt. Na schön, sagen wir auf dem falschen Dampfer.«

»Ja«, sagte Molly. »Ihr habt es euch nicht richtig überlegt. Kinder … Wer noch keine gehabt hat, weiß nicht, wie viel Arbeit sie machen.«

Hier musste David lachen und machte damit einen Punkt gut, und zwar einen altbekannten, wie Molly mit einem kleinen schuldbewussten Lächeln zugab.

»Du bist eben keine mütterliche Natur«, sagte David. »Bist es nie gewesen. Aber Harriet ist eine.«

»Wie du meinst«, erwiderte Molly. »Es ist euer Leben.«

Später rief sie James an, ihren ersten Mann, der sich gerade auf einer Yacht in der Nähe der Isle of Wight befand. Sie beendete das Gespräch mit dem Satz:

»Am besten kommst du einmal her und siehst es dir selbst an.«

»Wird gemacht, ich habe verstanden«, sagte er und meinte damit sowohl das Gesagte als auch das Ungesagte. Sein Unvermögen, das, was seine frühere Frau unausgesprochen ließ, zu verstehen, war der Hauptgrund dafür, dass er sie so gern verlassen hatte.

Bald nach diesem Gespräch machten David und Harriet abermals eine Hausbesichtigung, diesmal mit James und Jessica. Sie standen zu viert draußen auf dem Rasen, der noch mit den Überbleibseln des Winters und der Frühlingsstürme bedeckt war, und betrachteten kritisch die Fassade. Jessica fand das Haus düster und abscheulich, wie England überhaupt. Sie war im gleichen Alter wie Molly, sah aber zwanzig Jahre jünger aus, schlank, braungebrannt und, wie es schien, immer sonnenölglänzend, selbst wenn sie gar keins auf der Haut hatte. Ihr kurzes, weizenblondes Haar leuchtete, und immer trug sie frische Farben. Während sie den Absatz eines ihrer jadegrünen Schuhe in den Rasen bohrte, blickte sie fragend auf ihren Mann.

James hatte sich das Haus schon von innen angesehen und nun sagte er, ganz wie David es erwartet hatte: »Es ist eine gute Kapitalanlage.«

»Ja«, sagte David.

»Und nicht zu teuer. Vermutlich, weil es den meisten Leuten zu groß ist. Ich setze voraus, dass der Inspektionsbericht in Ordnung war?«

»Ja«, sagte David wieder.

»In diesem Fall werde ich die Hypothekenschuld übernehmen. Wie lang ist der Abzahlungszeitraum?«

»Dreißig Jahre«, sagte David.

»Bis dahin bin ich wahrscheinlich tot. Na ja, ich habe euch ja eigentlich nichts Rechtes zur Hochzeit geschenkt.«

»Du wirst Deborah auch so viel geben müssen«, bemerkte Jessica.

»Wir haben in all den Jahren schon sehr viel mehr für Deborah getan als für David«, erwiderte James. »Außerdem können wir es uns ja leisten.«

Jessica lachte und zuckte die Achseln. Es handelte sich in der Hauptsache um ihr Geld. Diese Leichtigkeit in Geldsachen kennzeichnete ihr gemeinsames Leben, das David innerlich ablehnte und dem er die Knauserigkeit des Oxforder Haushalts vorzog, obwohl er dieses Wort nie laut ausgesprochen hätte. Das Leben der Reichen bestand für ihn aus Geltungssucht und Oberflächlichkeit, aber nun war er drauf und dran, sich ihnen zu verpflichten.

»Und wie viele Kinder habt ihr eingeplant, wenn man fragen darf?«, forschte Jessica. Sie ähnelte einem schlanken Wellensittich, der sich auf den feuchten Rasen vor Harriets und Davids Haus verflogen hatte.

»Viele«, sagte David.

»Viele«, sagte Harriet.

»Na, besser ihr als ich«, sagte Jessica, und damit verließ Davids anderes Elternpaar den Garten und bald darauf England, beides mit Erleichterung.

In den nächsten Monaten betrat Harriets Mutter Dorothy die Szene. Weder Harriet noch David fiel es auch nur im Traum ein zu sagen oder zu denken: »O Gott, wie grässlich, dauernd die Schwiegermutter auf dem Hals zu haben.« Denn aus ihrem Wunsch nach einer großen Familie folgte logischerweise, dass Dorothy immer zur Stelle sein würde, um ihrer Tochter zu helfen, auch wenn sie gelegentlich auf ihr eigenes Leben pochen sollte. Dorothy war Witwe, und ihr eigenes Leben bestand hauptsächlich darin, ihre drei Töchter umschichtig zu besuchen. Das alte Elternhaus war verkauft, und sie hatte nun eine kleine, nicht besonders hübsche Wohnung. Doch war es nicht ihre Art, sich zu beklagen. Als ihr die Größe und die Möglichkeiten des neuen Hauses aufgegangen waren, blieb sie einige Tage lang schweigsamer als gewöhnlich. Es war ihr nicht leichtgefallen, drei Töchter großzuziehen. Ihr Mann war Industriechemiker gewesen und hatte nicht schlecht verdient, aber viel hatten sie nie zurücklegen können. Dorothy wusste, was eine Familie kostete, selbst eine kleine.

Sie versuchte ein paar Andeutungen in dieser Hinsicht zu machen, als sie eines Abends zu dritt beim Essen saßen: David, Harriet, Dorothy. David war gerade erst nach Hause gekommen, der Zug hatte Verspätung gehabt. Die Fahrten von und nach London waren kein Vergnügen, genauer gesagt, eine Belastung für alle, besonders natürlich für David, denn er brauchte täglich zweimal fast zwei Stunden, um zur Arbeit und zurück zu kommen. Das würde einer seiner Beiträge zur Erfüllung ihres Traums werden.