Das geflügelte Herz - Birgit Zorer - E-Book

Das geflügelte Herz E-Book

Birgit Zorer

4,9

Beschreibung

Ferienlaune ist es, was die Autorin in die großartige Kulisse eine Sommercamps in den französischen Bergen treibt. Doch der leichthin geplant Trip wird zum richtungsweisenden Erlebnis: In 2000 Meter Höhe begegnet sie dem bedeutenden Sufimeister Pir Vilayat I. Khan. Behutsam und geduldig geht der Lehrer auf die individuellen Bedürfnisse seiner christlich erzogenen Schülerin ein und führt sie zum Vertrauen in die eigene innere Führung. Das Buch schildert eindringlich den ganz persönlichen Prozess einer Heilwerdung und tiefen spirituellen Erfahrung. Aber es ist auch die Geschichte einer Liebe zu einem großartigen Menschen, der den sufischen Weg des Herzens zeigt.

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für meine Tochter Ruth

INHALT

Leitmotiv

Invocation

Das Lager der Adler

Pirs Erscheinen im Camp

Das 2. Retreat

Träume

Der Traum im "Camp des Aigles“

Schwester Jacobea

Die erste Einweihung

Astrologie

Die Karten lügen nicht

Einheit

Die zweite Einweihung

Die Kosmische Feier

Sarah war keine Heilige

Khanun Jamil wa-l-'Ikram

Der Ton

Ein Prüfungstraum

Mystik

Die Falkenpfeife

Samadhi

Zwei Geigen (Gedicht)

Korrekturen

Schloss Wachendorf

Das Traum-Bild

Todtmoos

Khumb Mela

Pir als Rishi

Pir als König

Der göttliche Kuss

Schatten und Licht (Licht-Schatten)

Mein Engel

Die Verbeugung

Der göttliche Blick

Gedicht: Shanaz

Schattenkonfrontation

1.Brief an Pir Vilayat

Das Gelübde

Satori

Der Auferstehungsleib

Der Gralsweg

Der Falken- Traum

Hochmütiger Drache wird zu bereuen haben

Cuxhaven

Tränen

Einweihung des Universel

Der Tempel

"Gipfelerfahrung"

Einheitserfahrung II

Verherrlichung

Freundschaft ist ...

Zweifel und Antwort

Tabula rasa

2. Brief an Pir Vilayat

Abschied

Kreativität

Die Quest

Nachwort

: Mein Lehrer

Literaturhinweise

Adressen

Leitmotiv: Der Spiegel

Wenn ein Sufi-Meister eine Schülerin wirklich angenommen hat, sie zum Lehrling und Gesellen macht, dann gibt er weniger eine Lehre, er gibt sich selbst. Er "poliert das Herz" (Suhrawadi) der Berufenen und macht es zu einem "Spiegel", damit Licht das Licht spiegelt, das Herz die Welt. Bei der Lektüre dieses Buches wird man darum immer wieder auf das Symbol des Spiegels stoßen: als Metapher in den Gedichten, häufiger aber in der Weise der Begegnungen.

Pir spiegelte auch meine inneren Prozesse der Idolisierung und der Abwehr gegenüber dem gleißenden Licht der Wahrhaftigkeit, eine der Haupttugenden, die es auf diesem Weg des Herzens zu entwickeln gilt.

Der Lehrer lehrt durch sein vorbildhaftes Wesen. Er schafft die Gelegenheit für Erlebnisse der Reinigung und Selbsterkenntnis, welche die Schülerin mitfühlender und weiser werden lassen, bis sie eines Tages - nach der Konfrontation und Annahme ihrer dunklen Seite, mit der sie nun in wissender, humorvoller Beziehung steht - stark genug ist, ihrerseits zu "spiegeln".

"Herr, Du kommst in der Gestalt

des Heiligen auf die Erde,

um den Menschen zu erlösen.

Geliebtes Ideal, zeig Dich mir

in Menschengestalt!"

Pir-o-Murshid Hazrat I. Khan

Toward the One

The Perfection of Love, Harmony, and Beauty

The Only Being

United with all the Illuminated Souls

Who form the Embodiment of the Master

The Spirit of Guidance

„Wenn du Gott oder den Lehrer suchst, so sei versichert, dass sie auch dich mit einer Sorgfalt suchen werden, die größer ist als du dir jemals vorstellen kannst.“

(Ramana Maharshi)

Das Lager der Adler

Kopfschüttelnd stehe ich mit meinem Weltreisegepäck in karstiger Landschaft. Die "Téléférique de la Flégère" hatte mich in 2000 Meter Höhe gebracht und war wieder hinuntergerasselt, dem Touristenparadies Chamonix entgegen. Kein Schild weist den Weg ins "Camp des Aigles", der spirituellen Sommerschule des Sufi-Ordens des Westens.

Linde, eine österreichische Freundin, hatte geschrieben: Ich fahre im Sommer in ein Sufi-Camp. Es nennt sich "Lager der Adler" und befindet sich oberhalb von Chamonix. Komm doch mit!

Die geborgte Nepal-Treck-Ausrüstung und lange Semester-Ferien erlauben es, mich auf vier Wochen Zelt-, Berg- und Meditationserfahrung einzurichten. Mit meinem bis unters Dach beladenen alten VW-Käfer hatte ich am Vortag nach zwölf Stunden Fahrt eine Bergsteigerunterkunft bei Chamonix erreicht und war bei Sonnenaufgang einer Welt der Gletscher, türkisfarbenen Seen und des ewigen Schnees entgegengeschwebt.

Nun stehe ich ratlos auf der Plattform der Bergstation. Da entdecke ich auf einem Granitfelsen ein Zeichen: ein geflügeltes Herz, darüber einen Pfeil, der geradewegs in den Himmel zu weisen scheint. Während ich überlege, welche Gepäckstücke ich vorläufig zurücklasse, greifen zwei Paar Hände zu und ein unbeschwertes junges Pärchen trägt mir gut gelaunt meinen schweren Koffer und die prall gefüllte Reisetasche in das noch einige hundert Meter weiter und höher gelegene Lager.

Erschöpft lasse ich meine Zeltausrüstung auf den Boden gleiten. Ich habe nicht mehr die Kraft sie die letzten ausgehauenen Stufen ins Camp zu tragen und schleppe mich zu einer verfallen wirkenden Steinkate, in der ich den "Empfang" vermute. Es ist die Campküche und hier erhalte ich eine erste Tasse heißen Getreidekaffee, an dessen reizlosen Geschmack ich mich noch werde gewöhnen müssen.

Im Schutz und Halbdunkel des Esszeltes beobachte ich das Treiben im Lager, das sich vorwiegend auf einem großen quadratischen Platz vor der Steinhütte abspielt. In seiner Mitte die schwarzen, kohligen Reste einer riesigen Feuerstelle. Ein exotisch aussehender Hippie schmiedet geflügelte Herzen aus Silber, das Symbol des Sufi-Ordens. Auf einer Holzplattform macht ein zartgliedriger Jüngling schwebende Tai Chi-Übungen; skandinavische Wikingertypen, Riesen mit blonden Zöpfen und verfilzten Bärten, zimmern und reparieren an alten Armeezelten, in denen gegessen und geschlafen wird.

Kaum jemand trägt Schuhe. Wohin ich blicke, dunkelbraune bis schwarze Füße und bunte Kleiderfähnchen.

Neben mir wird gedeutet: "Kein Wunder, du hast Jupiter auf der Sonne, du bist ja geradezu disponiert, einem geistigen Lehrer zu begegnen!"

Habe ich nicht auch Jupiter neben der Sonne in meinem Horoskop?

Am Abend wird ein riesiges, loderndes Lagerfeuer entzündet. Man tanzt ekstatisch zu wilden, schnellen Geigenrhythmen einer Chinesin, zum Handtrommel-Tamtam eines älteren Amerikaners, der sich piratengleich ein rotes Tuch um seine weißen Haare geschlungen hat. Ich bezweifle, dass ich mich jemals in dieser Blumenkinderwelt heimisch fühlen werde und baue mein Zelt gar nicht erst auf. Morgen werde ich wieder abreisen.

Nach einer schlaflosen Nacht im Gemeinschaftszelt warte ich am nächsten Tag Lindes Ankunft ab, um ihr meinen Entschluss mitzuteilen. Ein junger, abreisefertiger Berliner hält mich davon ab. Er überlässt mir seinen Zeltplatz oberhalb des Camps zwischen liegengebliebenen Schneefetzen und blühenden Alpenrosen und beharrt: "Warte doch erst einmal ab, bis Pir Vilayat wiederkommt. Mach' ein Retreat1 mit ihm. Dann entscheide!"

Das Sufi-Camp bietet ein vielseitiges Programm: Hatha-Yoga, Unterricht in der althebräischen Kabbalah, Sufi-Tänze, Mantrensingen und in dieser Woche: tägliche Unterweisungen in den tibetischen Buddhismus durch Lama Chime Rinpoche. Seine humorvolle, jungenhafte Art zu unterrichten gewinnt sofort die Sympathie der TeilnehmerInnen und die erste Woche im Adlerlager verfliegt wie ein Tag.

Am Ende der Unterweisungen bietet Lama Chime Interessierten eine Transmission an, eine Übertragung von geistiger Energie. Ich erlebe, wie ein Seminar-Teilnehmer nach dem andern mit beglücktem Gesicht das kleine, weiße Zelt verlässt, in dem sich der Tibeter befindet.

Meine Erwartungen sind hochgespannt, habe ich doch zuvor das I Ging2 gefragt, was das für mich bedeuten wird und 57. Das Sanfte, der Wind erhalten: Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen; man bemüht Priester und Magier in großer Zahl. Kein Makel. Kein Anfang, aber ein Ende. Überprüfe, welche Richtung der Besserung einzuschlagen ist.

Erst eine Woche später werde ich wissen, welche Richtung ich einschlagen werde. Vorerst fiebere ich der Begegnung mit Lama Chime entgegen. Als ich dann aber das Innere des Zeltes betrete, weicht die erregte Stimmung einer kühlen Beobachtungshaltung. Ich registriere nüchtern die brennende Kerze in der Mitte des kahlen Raumes, sehe den Lama mit geschlossenen Augen im Halbdunkel sitzen, knie vor ihm und schließe ebenfalls die Augen. Weil ich nicht so recht weiß, was nun geschehen soll, leiere ich in Gedanken vorbereitete Wünsche:

Ich möchte eine gute Christin sein.

Ich möchte die Menschen lieben können.

Ich möchte wissen, worin meine Aufgabe in diesem Leben besteht.

Ich möchte weitergeben, was immer ich erhalte.

Tiefes Schweigen, in dem ich versuche, mich auch von Wünschen frei zu machen; dann höre ich "Peace and confidence with you." Die Stimme des Lama klingt von weit her. Ich schlage die Augen auf und blicke geradewegs in die nun geöffneten des tibetischen Lehrers. Ein Gefühl der Freundschaft keimt in mir auf, doch der junge Lama scheint zugleich in unendliche Ferne gerückt, als hätte gar kein Seelenkontakt stattgefunden.

Lama Chime Rinpoche verneigt sich mit dem Zeichen des Abschieds; ich erwidere und verlasse mit hängenden Flügeln und den schweren Schritten der Enttäuschung das Zelt. Linde eilt auf mich zu und berichtet von den "wunderbaren Schwingungen", die auf sie übertragen worden waren. Der Lama hatte zu ihr gesagt: "Du hast es verstanden." Ich bin todunglücklich bei dem Gedanken, dass dieser wunderbare Mensch, ein reinkarnierter Lama, mich nicht zu erreichen vermochte. Sollte mir gezeigt werden, dass dies nicht meine religiöse Orientierung, nicht mein Weg ist?

Ich frage das I Ging. Die Antwort deutet vielleicht auf Pir hin, den ich erst am nächsten Tag kennen lernen werde: 19. Die Annäherung: Herablassung eines Höheren gegen die Tieferstehenden. Der Weise ist unerschöpflich in seiner Bereitschaft die Menschen zu belehren.

Gemeinsame Annäherung. Heil! Alles ist fördernd. Da man sich in der Lage befindet, von oben her zum Herbeieilen angeregt zu sein und da man in sich selbst die Stärke und Konsequenz besitzt, die keiner Warnung bedarf, so hat man Heil. Auch die Zukunft braucht einem keine Sorgen zu machen. Alles ist fördernd. Darum wird man rasch und brav und kühn die Lebenswege wandern.

1 Retreat: Rückzug aus dem Alltag, um spirituelle Anweisungen zu erhalten bzw. Übungen zu machen

2 I Ging: 4000 Jahre altes chinesisches Weisheits- und Orakelbuch

"Der sanft wehende Wind

entfacht die Flamme in meinem Herzen"

(Hazrat I. Khan)

Pirs Erscheinen im Camp

Ich hatte keine Vorstellung: weder vom westlichen Sufitum3 noch von seinem Lehrer Pir3 Vilayat Inayat Khan, als ich im Sufi-Lager eintraf. Ich wusste nichts über Pir, ob er Europäer, Inder, Araber oder Perser ist. Ich hatte nicht danach gefragt, war ich doch einzig in diese Höhe gereist, um eine ungewöhnliche Zeit in einer ungewöhnlichen Umgebung zu verbringen.

Meine Enttäuschung über die scheinbar wirkungslose Transmission bei Lama Chime sitzt so tief, dass ich am liebsten abfahren möchte, doch die Neugier auf den Pir ist stärker. Der Sufi-Lehrer war für eine Woche nach Abode/ USA geflogen und wird nun zurückerwartet, um erst ein deutsch-, dann ein englisch-französischsprachiges Retreat zu leiten.

Niemand spricht hier vom "Meister", wie ich das von Schülern indischer Gurus gewohnt war, die ich bisher kennen gelernt hatte. Niemand raunt: "Der Meister hat gesagt...", "Der Meister wird bald eintreffen." Es heißt schlicht: "Pir kommt."

Und plötzlich ist er da. An einem Montagmorgen sehe ich ihn auf das weiße Rundzelt zugehen. Ein König! In rostfarbenem Wollgewand, auf dem Kopf einen hohen Derwischhut, langes grau-weißes Haupt- und Barthaar, in das seitlich drei schmale Zöpfe geflochten sind. Eine Erscheinung aus einem orientalischen Märchenbuch: vornehm und von edler Schönheit.

Ich kann mich des starken Vorbehaltes nicht erwehren, der in mir aufsteigt: Einen solchen Menschen habe ich noch nie gesehen. "Er wird sehr eitel sein", argwöhne ich und beginne sofort Wachposten zu beziehen.

Pir lässt eine Wasserschale herumreichen. Die Retreatteilnehmerlnnen reinigen sich symbolisch, indem sie ihre Hände eintauchen und ihre Gesichter benetzen. Dann spricht Pir ein Gebet und zieht mit dem kleinen Trupp Waghalsiger, Neugieriger, Wissensdurstiger - überwiegend junge Leute - durch Nebelschwaden hindurch in ein noch höher gelegenes Lager. Es besteht aus einem winzigen Küchenzelt, einer grobgezimmerten Toilette - zwei runde Löcher dicht nebeneinander in einem Brett - und einem Armeezelt, in dem wir bei Regenwetter unterrichtet werden. Aber in dieser ersten Woche des deutschen Retreats haben wir herrliches Wetter.

Ich bin ununterbrochen am Mitschreiben, was Pir uns vermittelt über alchemistische Prozesse der Psyche und Übungen, die einen ständigen Perspektivenwechsel voraussetzen. Ich erfahre in dieser Weise von den unterschiedlichen Schwerpunkten der esoterischen Lehren der Weltreligionen und wenn ich auch vorerst wenig verstehe, spüre ich doch mit jeder Faser meines Wesens, dass ich mich "zu Hause" fühle: ganz dicht unterm Himmel.

Über uns kreisen Adler, Murmeltiere zwitschern, Legionen von Grillen wippen auf den Alpenblumen und harten Grashalmen. Um uns das majestätische Massiv des Mont Blanc mit seinem Hofstaat, vor uns ein Fürst, für mich ein Weiser aus einem "fernen Land", der uns einführt in ein Wissen, das mich fasziniert, dem ich atemlos lausche.

Immer wieder unterbricht Pir seinen Vortrag und schickt uns zur Meditation in die felsige Landschaft, wo wir in uns hineinlauschen sollen. Aber das mächtige Rauschen des nahen Gletschers ist stärker und die wirbelnden Gedanken: "Unglaublich; ich bin hier und erlebe etwas ganz Seltenes, Wunderbares. Ich weiß noch nicht genau, was es ist, aber ich bin überglücklich."

Mein Argwohn Pirs Schönheit gegenüber ist verflogen. Bisher glaube ich aus seinem Mund nicht einmal das Wörtchen "ich" vernommen zu haben. Er spricht voll tiefer Bewunderung von den großen Meistern und Stiftern der Weltreligionen und von seinem Vater Pir-o-Murshid Hazrat Inayat Khan.

Und mir wird bewusst: Pir hat "es"! "Es" ist genau das, was ich möchte. Noch kann ich diesem "Es" keine bestimmte Qualität zuordnen, dennoch bin ich sicher: "Das" ist es, und er hat "es"!

Die Woche des deutschen Retreats, in der nur Pir spricht, verfliegt gleich einem kurzen, intensiven Traum. Wir steigen wieder hinab zum Lager, dessen Geräusche: Lachen, Singen und Musizieren wie durch Schleier zu uns gedrungen war.

Dann heißt es: "Wer will, kann zum Darshan4 in Pirs Höhle kommen", und so stehe ich zur frühen Morgenstunde vor zwei riesigen Granitblöcken, die ein gewaltiges Naturereignis zusam-men geschoben hat, so dass sie eine Höhle bilden. Ich öffne eine kleine Holztür, die gleich wieder hinter mir zufällt und stehe im Dunkeln! Ein schmaler, immer enger werdender Gang führt hinab ins Finstere, geradeaus und weiter nach unten. Es ist, als ob ich beim Hindurchzwängen an den engen Stellen des Ganges die "Maske" abstreife und "nackt" vor etwas noch Unbekanntes treten werde. Dann kommt eine Schrecksekunde lang ein Moment, wo alles beobachtende Denken stockt. Die Felswände zu beiden Seiten scheinen sich beklemmend zusammenzuschieben.

Entsetzt und mit der Kraft der Angst ersticken zu müssen, zwänge ich mich durch einen schmalen Spalt. Da gibt der Gang mich frei, und ich stolpere in eine halbdunkle, grottenartige Höhle, die teilweise mit einer Zeltplane überdacht und umschlossen ist. Ich schaue nach links und erblicke Pir, der von einem hellen Strahlenmantel umgeben ist:

"Christus! Schönheit!"

Während ich, auf einer lockeren Felsenplatte stehend, mit zusammengelegten Händen eine recht ungraziöse Verbeugung zustande bringe, spricht mich Pir auf Deutsch an: "Du bist es!" Er lächelt und weist auf einen mit Fell belegten Stein vor sich. Ich hocke mich recht unglücklich mit gespreizten Beinen auf die niedrige Bank und sprudele kurzatmig und mit klopfendem Herzen hervor: „Please, give me a mantra5 I want to go the ‘broad way’”.6

Pir: "Ja, das ist Ihr Weg. Aber Sie brauchen viel inneren Frieden. Sie sind äußerst sensitiv und leiden sehr an der Umwelt, am Egoismus und der Rohheit der Menschen. Sie müssen die innere Einsamkeit suchen."

Bei diesem Gespräch erzähle ich Pir von meinem Studium, dass ich Kinder therapieren möchte, dass ich eine gute Christin sein möchte, dass mir aber alle Religionen gleichwertig sind. Pir gibt mir ein Wazifa5, das eine bestimmte seelische Qualität in mir wecken soll, die mir auf meinem Weg helfen wird und weist mich darauf hin, dass ich auf keine bestimmte Religion festgelegt sein muss. Die Religion des zukünftigen Menschen wird seine Gottverwirklichung sein.

Die beglückendsten Augenblicke sind die Momente des sich gegenseitigen Anlächelns. Ich vor Freude, er voller Liebe. Mein Herz singt! Und mein "Danke", begleitet von einer tief empfundenen Verbeugung vor ihm, ist von bisher nie erlebter Verehrung.

Wie "auf Wolken" schwebe ich aus der Höhle ins Freie und die Nachwirkung des Darshans ist, dass ich spontan andere, mir fremde Menschen im Camp umarme.

Die Hochstimmung hält leider nicht sehr lange an bzw. ich habe keine Gelegenheit, sie richtig auszukosten, sie nachklingen zu lassen. Das Aufheben des Schweigegebotes bewirkt ein Übersprudeln an Mitteilsamkeit. Das recht laute Leben im Camp und das mit Gier verschlungene Abendessen lässt in mir bald ein Gefühl der Erschöpfung und eine unerwartete Niedergeschlagenheit aufkommen.

Anhang zu "Pirs Erscheinen im Camp"

Der Sufismus entwickelte sich um die erste Jahrtausendwende vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Islam im Vorderen Orient.

„Eine besondere Ausprägung fand der Sufismus im Iran und in unter persischem Einfluss stehenden Gebieten. Dort entstand um 1100 und in den folgenden Jahrhunderten eine bedeutende sufische Literatur, die um das Geheimnis der absoluten Liebe kreist. (...)

Das Element reiner Gottesliebe – einer Liebe, die nicht nach Lohn und Strafe fragt – wurde von einer Frau, Rabi'a von Basra (gest. 801), eingeführt und blieb für die weitere Entwicklung des Sufismus zentral."

(A.Schimmel "Lexikon der Religionen")

Das System, das Pir Vilayat vertritt, verkündet die vollkommene geistige Freiheit der Person, fern von Dogmen und Institutionen und erstrebt ein universales, alle Konfessionen transzendierendes Erlebnis der Einheit mit dem Göttlichen.

Das Symbol des Sufi-Ordens des Westens ist das geflügelte Herz, denn der Weg des Sufi ist der Weg des Herzens. Es vereint die beiden Flügel Frieden und Freude, Leere und Fülle.

Pir Vilayat Inayat Khan, Sohn eines indischen Mystikers und einer Amerikanerin, stammt aus einer berühmten indischen Musikerfamilie. Sein Vater Hazrat Inayat Khan verließ seine Heimat im Auftrag seines Lehrers und gründete 1910 den Sufi-Orden des Westens, um den universalen Kerngedanken sufischer Mystik im Abendland zu verbreiten.

Pir Vilayat, 1916 in London geboren, wuchs in Suresnes bei Paris auf, studierte in Oxford und an der Sorbonne Psychologie, Philosophie und Komposition. Er folgte dem Wunsch seines früh verstorbenen Vaters und übernahm 1956 die Leitung des Sufi-Ordens.

Die Anrede Pir heißt: der Ältere und deutet auf einen Lehrer, der in der Lage ist mit seinen Kräften SchülerInnen auf dem Weg zur Selbst- bzw. Gottverwirklichung beizustehen.

Jeden Sommer findet im Tessin das Sommercamp statt, in dem auch Lectures von Schulen anderer geistiger Richtungen gegeben werden. Es wird nach dem Tod von Pir Vilayat nun von seinem Sohn Pir Zia Inayat Khan geleitet.

3 Sufitum/Pir: siehe Ende des Kapitels

4 Darshan: Persönliches Gespräch mit dem Lehrer

5Mantra/Wazifa: heiliges Wort, das spirituelle Kraft besitzt

6 the broad way: alle Religionen umfassend

"Unter dem Himmelsgewölbe sowie auf der Erde können für dich auch reine Freunde erscheinen, aber du hast mit einem alten Freund etwas vereinbart; erinnere dich an diese Vereinbarung!"

(Rumi)

Das zweite Retreat

Trotz meines plötzlichen Stimmungstiefs und der heraufziehenden Schlechtwetterfront am bisher wolkenlosen Himmel, beschließe ich noch eine weitere Woche zu bleiben, um am zweiten und letzten Retreat teilzunehmen, das von Pir in englischer und französischer Sprache geleitet wird.

Gleich am ersten Tag bricht das Unwetter los. Es gießt in Strömen und es wird blitzartig kalt. Dichtgedrängt sitzen wir in dem kleinen alten Armeezelt, die nassen Schuhe und Jacken um zwei Propangasöfen ausgebreitet und warten auf Pir. Dieser erscheint in einem dunkelgrünen Gummianzug, als sei er gerade vom Fischfang und von hoher See heimgekehrt. In Kürze verwandelt er sich wieder in den verehrungswürdigen Lehrer und beginnt sofort mit den Unterweisungen. Diesmal legt er eine besondere Betonung auf die Übung der Lichtmeditation und lehrt uns das Eintauchen in ein Lichtmeer, das dem sichtbaren Licht des Sternenhimmels zugrunde liegt und die Möglichkeit, sich selbst als "das Licht, das sieht" zu erleben. Auch, die Sterne nicht mehr als Kugeln physischen Lichtes zu betrachten, die die Manifestation eines dahinter verborgenen, unsichtbaren Lichtes sind, sondern als Erzengel mit einem leuchtenden Bewusstsein. Diese ungewohnte, aus der zarathustrischen Religion stammende Betrachtungsweise des Alls als ein von geistigen Wesenheiten beseelter Kosmos, ist mir aus der anthroposophischen Lehre vertraut und befremdet mich daher nicht.

Und während wir eine Woche lang den schlimmsten Unbilden des Wetters ausgesetzt sind, der Sturm unsere winzigen, geduckten Campingzelte, sogar das große Rundzelt aus den Verankerungen gerissen hat und wir kaum noch über trockene Kleidung verfügen, meditieren wir unverdrossen auf Licht, unsere Aura, besuchen wir innere Lichtwelten.

Als zum Ende des Retreats der Donner verklungen ist, die Stürme sich legen und der Regen aufgehört hat, sind wir noch vollzählig, fallen uns - nach Aufhebung des Schweigens - in die Arme und feiern ein wirbelndes, jubelndes Fest um ein hoch loderndes Lagerfeuer.

Jeder Retreatteilnehmer hat danach noch einmal die Gelegenheit zu einem Darshan bei Pir. Und es heißt: "Pir gibt Einweihung."

Im "seelischen Gepäck" habe ich Ingrid mitgebracht, Patientin einer Psychiatrischen Abteilung der Frankfurter Uniklinik. Ich hatte mich dort während eines Praktikums mit dieser hochdifferenzierten Persönlichkeit angefreundet, deren Diagnose mit "Schizophrenie" etikettiert war. Aber es stellte sich nach etwa einem dreiviertel Jahr heraus, dass ich den Anforderungen einer solch fordernden freundschaftlichen Beziehung nicht gewachsen war. Als hätte er meine seelische Belastung hellsichtig erfasst, hatte Pir in einem Vortrag das "Helfen" zum Thema gemacht:

"Wie wichtig ist es zu überblicken, wann es für einen Menschen ratsamer ist, sich selber zu helfen. Wie wunderbar aber ist es, in der Hilfe für einen Menschen Qualitäten zu entwickeln, die sonst brach gelegen hätten. Haben Sie aber auch den Mut zu dem Eingeständnis, wenn Sie keine weitere Hilfe leisten können, weil es über die eigenen Kräfte geht, so dass Sie sich fast wünschen das Leid des anderen auf sich zu nehmen, um ihn endlich davon zu befreien, ehrlicherweise auch, um sich von dem anderen Menschen zu befreien."

Genau das waren meine Gedanken gewesen, die ich mit mir herumschleppte, nun sprach Pir sie aus! Ich will die Möglichkeit zu einem Gespräch mit Pir nutzen, um mit ihm über meine unglückliche Freundschaftsbeziehung zu sprechen. Ingrid war mir in der Nacht zuvor im Traum erschienen, hatte mir weinend Vorwürfe gemacht und mich immer wieder gefragt, warum ich mich derart von ihr zurückziehe. Ich bin ihr auch im Traum ausgewichen und habe mich einer Erklärung entzogen. In einem zweiten Traum träumte ich, dass ich im Besitze ihres Ausweises bin, der in einer schwarzen Hülle steckt. Wir wollen durch eine Art Passkontrolle, aber Ingrid wird die Ein- oder Ausreise verweigert. Es sei zu früh. 7

Zwar schreckt mich der Gedanke an eine Wiederholung des "Initiationsweges" durch den steinernen Geburtskanal sehr, aber ich will nicht ohne einen Rat nach Hause fahren. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass Pir den Darshan in den vorderen Teil der Höhle verlegt hat, der nun beleuchtet ist. Beim Hineinschlüpfen in die Grotte höre ich Pir leise singen. Ich verbeuge mich mit vor dem Gesicht zusammengelegten Händen und setze mich in eine kleine Nische ihm gegenüber. Pirs weißes Haar und das ockerfarbene wollene Gewand heben sich farblich eindrucksvoll von der grauen Felswand ab.

Pir: "Wie schön, dass Sie noch geblieben sind. Welch eine Veränderung! Welch ein Licht! Jetzt strahlen Sie."

Ich erzähle von Ingrid. Plötzlich empfinde ich mein Fragen als überflüssig bzw. bereits beantwortet, und so erhalte ich nach verständnisvollem Zuhören auch nur den Rat, bald ein Gespräch mit der Freundin herbeizuführen. 7