Das Gefühl von Unendlichkeit - Austin Taylor - E-Book

Das Gefühl von Unendlichkeit E-Book

Austin Taylor

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Beschreibung

Ein zärtlicher wie erschütternder Roman über die Nuancen der Liebe und ihre Vergänglichkeit

Es fühlt sich an wie ein Urknall, als Zoe im Vorlesungssaal von Harvard auf den charismatischen Jack trifft. Von einer Sekunde auf die andere verändert sich alles, Zoe ist wie elektrisiert, wenn sie zusammen sind. Tagsüber führen sie einen spielerischen Wettkampf um die Anerkennung ihrer Professoren, nachts diskutieren sie in tiefgehenden Gesprächen ihre Ideen und Träume. Schnell entwickeln sie Gefühle füreinander. Als sie eine Entdeckung machen, die nicht nur die Welt der Chemie, sondern auch das ganze Land in Aufruhr versetzt, werden Zoe und Jack von einer Welle aus Anerkennung und Erfolg mitgerissen. Doch der steigende Druck stellt ihre Liebe auf eine harte Probe. Und als Jack droht, daran zu zerbrechen, muss Zoe alles, woran sie je geglaubt hat, infrage stellen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Schon als kleines Mädchen ist Zoe eine Überfliegerin. Wenn ihr Vater seine Studenten zum Abendessen nach Hause bringt, folgt sie jeder Diskussion mühelos. Ihren Schulabschluss absolviert sie mit Bestnoten, für ihr Chemiestudium bekommt sie einen Platz an der renommierten Harvard Universität. Dort begegnet sie in einer Vorlesung Jack. Jack, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, sich an die Eliteuni gekämpft und einen Job im angesehenen Chemielabor von Professor Li ergattert hat. Jack, der für Zoe Konkurrent und Verbündeter zugleich wird – und noch viel mehr.

In nächtelangen Diskussionen fordern sie sich gegenseitig in ihren Forschungen, Ideen, Träumen und Zielen heraus. Gemeinsam scheint alles möglich. Und tatsächlich machen sie eine Entdeckung, die alles verändert: Sie knacken den Code der menschlichen Zellen, die fürs Altern verantwortlich sind. Von einem Tag auf den anderen werden sie von Investoren mit Geld überschüttet und emporgerissen auf einer Welle es Ruhms. Bis der Druck unerträglich wird. Und auf einmal alles, das Zoe etwas bedeutet, auf dem Spiel steht: ihre Werte, ihre Träume und ihre Gefühle für Jack.

Ein fesselnder Roman über eine große Liebe und die Frage, was wir bereit sind zu opfern, um unsere Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

AUSTIN TAYLOR

DAS GEFÜHL VON UNENDLICHKEIT

Aus dem Amerikanischen von Babette Schröder

Die Originalausgabe Notes on Infinity erschien erstmals 2025 bei Celadon Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2025

Copyright © 2025 by Austin Taylor

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München unter Verwendung von Shutterstock.com (Designcreate)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33091-0V002

www.heyne.de

Für JMT und NEA. Danke.

Zoe umklammert den Rand des Frisiertischs und starrt in den Spiegel. Ihr Haar ist okay, aber das Make-up ist ruiniert – sie muss jemanden bitten, das in Ordnung zu bringen. Das konnte sie noch nie selbst.

Die Tränen sind versiegt. Ein schöner Spiegel, denkt sie. In den Rahmen sind Zweige, Blätter und Früchte geschnitzt. Hinter sich sieht sie die Garderobe. Altes Harvard, dunkles Holz und Buntglasfenster. Es erinnert sie an ihr Elternhaus. Auf dem niedrigen Tisch stehen kleine Flaschen San Pellegrino in einem Eiskübel, an dessen Außenseite Kondenswasser hinabrinnt. Sie hört die Stimme ihrer Mutter: Stell was drunter, bevor es Flecken gibt. In der geschliffenen Glasvase sind Blumen arrangiert. Lilien, ein Symbol für das Leben. Da hielt sich wohl jemand für besonders clever.

Zoe versucht sich zu erinnern, wie sie das früher hingekriegt hat. Lächelt ihr Spiegelbild an. Hebt das Kinn. Hört auf zu lächeln, schließt die Augen, zieht die Wangen ein, schüttelt den Kopf. Öffnet die Augen und versucht es erneut. Besser. Sie spricht die ersten Sätze. »Mein Name ist …« Sie hält inne, räuspert sich. »Hallo. Mein Name …« Sie schüttelt den Kopf und kneift sich in die Nasenwurzel. »Vielen Dank, dass ich hier sein darf. Es ist schön, zurück zu sein.«

Pause für Applaus.

Doch sie beginnt zu lachen, hebt die Brauen, kann nicht damit aufhören. Ist das nicht alles, was sie sich je gewünscht hat? Sie presst sich eine Hand auf den Mund. Der manische Blick in ihren Augen könnte Belustigung ausdrücken, aber auch Angst, Entsetzen – oder Hysterie, meldet sich eine vernünftigere Stimme in ihrem Hinterkopf. Sie kann nicht aufhören, sich in die Augen zu schauen, in die Augen eines in die Enge getriebenen Tiers. Einer Laborratte, die man gerade am Schwanz gepackt hat.

Es spielt keine Rolle, ob sie sich daran erinnert, wie sie das früher hingekriegt hat. Jene Zoe, die alte Zoe, gibt es nicht mehr.

Unsicher geht sie drei Schritte rückwärts und stößt gegen die Wand. Ein leises Klopfen an der Tür. »Ms Kyriakidis, ist alles in Ordnung?« Das muss jemand von Harvard sein; ihre eigenen Leute wüssten, dass sie sie in Ruhe lassen sollen.

Sie schluckt schwer, räuspert sich. »Nur eine Sekunde.« Die Stimme gehört einer Frau, aber die Augen im Spiegel sind die eines Kindes. Eines Kindes, das als Bittsteller zurückgekehrt ist, nicht als Gott.

Sie lässt sich an der Wand hinuntergleiten und zieht die Knie an die Brust. Wenn meine Eltern nicht draußen wären, denkt sie, dann vielleicht. Und Alex. Und Jack. Und Professorin Hall, die mir per Mail gratuliert hat und sich freut, meinen Vortrag zu hören.

»Zoe, fünf Minuten.« Es ist Phoebe, sie klingt leicht gestresst.

Sie steht auf und reißt die Tür auf. »Tut mir leid, mir war schlecht, ich muss …« Aber Phoebe hat es bereits gesehen und tippt auf ihrem Handy. Binnen Sekunden kommt eine Frau mit einer kleinen Tasche angerannt. Phoebe wirft Zoe einen strengen Blick zu, dann eilt sie aus dem Raum. »Hier«, sagt die Frau, »wischen Sie es ab, ich fang einfach noch mal von vorn an. Sie haben schöne Haut, da muss man nicht viel machen.«

Zoe lacht. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Und es stimmt. Früher war Zoes Haut wunderschön, jetzt ist sie blass und durchscheinend, unter den Augen violett. Seit Monaten schon. »Zu dumm«, sagt sie, »dass ich das nicht selbst kann. Meine Mutter wäre entsetzt.« Sie flüchtet sich in die Dunkelheit hinter ihren Augenlidern, während die Frau mit gelassenen, weichen Strichen Concealer, Eyeliner und Mascara aufträgt. Früher war es ihr unangenehm, wenn jemand ihr Gesicht berührte, doch jetzt wirkt das Ritual beruhigend auf sie.

Dann sagt sie »Danke«, und sie meint mehr als »Danke, dass Sie mein Make-up in Ordnung gebracht haben«, sie meint »Danke, dass Sie mir meine Maske wieder aufgesetzt haben«, »Danke, dass Sie nicht gezuckt haben, als Sie gesehen haben, was sich dahinter verbirgt«, und die Frau nickt. »Bereit?«, fragt sie, und Zoe sagt: »Nur noch einen Moment«, lächelt und wartet, bis die Frau gegangen ist. Dann zieht sie eine kleine Flasche aus der Tasche, lässt drei, nein, vier Pillen in ihre Handfläche gleiten, nimmt sie alle auf einmal, schluckt sie trocken herunter.

Sie verlässt die Garderobe und schließt sorgfältig die Tür. Als die Frau sie den Flur hinunterführt, hört Zoe, dass sie etwa in der Mitte der Einführung sind, ihr bleibt also noch etwas Zeit.

Jemand kommt und klemmt ihr ein Mikro an. Hebt sanft ihr Haar, um das Kabel hinter ihr Ohr zu führen.

Die Frau sagt: »Sie sehen toll aus«, und klopft ihr auf die Schulter.

Als sie die Bühne betritt, wird es still. Wie immer hört sie die Stimme ihrer Mutter: Kopf hoch, Schultern zurück. Das honigfarbene Holz des Sanders Theatre leuchtet im gedämpften Licht des Kronleuchters. Jeder Platz ist besetzt. Zoe blickt zur gewölbten grünen Decke hinauf, gebaut, um Worte ins Publikum zu tragen. Spürt das Mikrofon an ihrer Wange, das darauf wartet, ihre Worte zu verewigen. Einen Moment lang denkt sie, dass sie es nicht schafft. Nicht noch mal. Es fühlt sich so an, als würde sich etwas – eine Schlange, natürlich eine Schlange – um ihren Hals winden und ganz langsam zudrücken.

Doch dann räuspert sie sich, und der Druck lässt nach. Und sie schaut ins Publikum und sieht die auf sie gerichteten Gesichter, sie sind so jung. Und sie lächelt und weiß, dass es ihre Augen erreicht. Sie hebt eine Hand. »Hallo, vielen Dank, dass ich hier sein darf. Es ist schön, zurück zu sein.« Beifall. Sie verschränkt die Hände, beugt sich leicht vor und neigt den Kopf, deutet eine Verbeugung an. »Mein Name ist Zoe Kyriakidis.« Sie hebt das Kinn und blickt in den Zuschauerraum. »Und ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.«

EINS

GENESIS

In der Biologie ist man jedoch bislang auf nichts gestoßen, das die Unausweichlichkeit des Todes zwingend nahelegt. Mir will daher scheinen, dass er keineswegs unvermeidlich und es lediglich eine Frage der Zeit ist, bis die Biologie entdeckt, was diese Misslichkeit verursacht.

RICHARD P. FEYNMAN, VOMVERGNÜGEN, DINGEZUENTDECKEN

1

In der organischen Chemie gibt es zwei Arten von Erstsemestern. Die einen kommen zehn Minuten zu früh und sitzen in der zweiten Reihe, ein Notizbuch in der Hand, falls der Professor vor dem offiziellen Beginn der Stunde schon irgendetwas von sich gibt. Die anderen kommen vier Minuten zu spät, ungeduscht und unrasiert, ohne Tasche und ohne Notizbuch, und lassen sich auf einen Platz am Ende des Gangs fallen.

Zoe war sehr darauf bedacht, weder zur einen noch zur anderen Gruppe zu gehören. Und darum fiel ihr Jack auf, der ebenfalls keiner von beiden angehörte, nur vielleicht eher unabsichtlich.

Ob unrasiert oder nicht, konnte sie nicht erkennen, aber er war groß, hatte widerspenstiges dunkles Haar und lehnte beim Gehen leicht nach links. Für die zweite Kategorie war er eigentlich zu früh, dennoch schien er eher da hinzupassen. Doch dann setzte er sich vorne neben einen älteren Typen in einer abgewetzten Lederjacke, vermutlich der Lehrassistent. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorn. Vielleicht war er selbst auch ein sehr junger Lehrassistent. Er hatte ein Notizbuch herausgeholt – woher, wusste sie nicht, er hatte keinen Rucksack dabei –, aber den Tisch nicht ausgeklappt. Linkshänder, erkannte sie, als er einen billigen Kugelschreiber zwischen den langen Fingern drehte. Er lehnte sich vor, schrieb etwas in das Notizbuch, das er auf sein Knie legte, und Zoe begriff, warum er einen schiefen Gang hatte.

Der Professor, der spät dran war, stellte Lederjacke als Ben, Leiter der Lehrassistenten, vor. Linkshänder war also Student.

Während der Vorlesung ruhte Zoes Aufmerksamkeit teils auf der Tafel und teils auf den Notizen von Linkshänder. Er hatte eine Linie in der Mitte der Seite gezogen und zu Zoes Beunruhigung direkt unter den vorherigen Notizen zu schreiben begonnen, anstatt eine neue Seite anzufangen. In der linken Spalte schien er sich Stichpunkte zum Unterricht zu notieren, in der rechten skizzierte er eine Art Versuchsaufbau.

Als Professor Norton seinen Vortrag beendet hatte, hob Linkshänder zögernd die Hand.

»Jack?«

Zoe merkte auf. Der Professor kannte ihn mit Namen?

»Könnten Sie die Rolle der Chiralität bei der Organokatalyse genauer erklären?« Die Vorlesung hatte das Lewis-Säure-Base-Konzept zum Thema gehabt.

Professor Norton brummte, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Ein chiraler Katalysator ermöglicht die gezielte Wahl eines Enantiomers für Ihr Produkt.«

»Das verstehe ich, aber ich habe über superaktive chirale Transitionsmetallkatalysatoren gelesen und konnte nicht ganz folgen.« Professor Norton lachte! »Das würde den Rahmen der Vorlesung sprengen. Wenn Sie darüber sprechen möchten, kommen Sie in meine Sprechstunde.«

Jack nickte. Zoe spürte einen Anflug von Eifersucht.

»Übrigens«, sagte Professor Norton, als die Leute zusammenpackten. »Meine Sprechstunde ist immer donnerstags direkt nach der Veranstaltung. Falls Sie andere Termine haben, verschieben Sie sie.« Die Klasse lachte nervös.

Zoe hatte nicht vorgehabt, die Sprechstunde zu besuchen. Sie war zu dem Einführungskurs gezwungen worden – »etwas für Anfänger«, hatte sie ihrem Bruder am Telefon erklärt. Doch ihr Berater hatte gesagt, wenn sie nicht wie alle anderen im zweiten Studienjahr Organik belege, fehlten ihr die nötigen Punkte für den Master in Chemie. Dabei war Norton ein Experimentalphysiker, beschäftigte sich mit der Entwicklung von Medikamenten. Er hätte genauso gut in der Pharmaindustrie arbeiten können. Zoe hingegen interessierte sich für die Theorie. Es gab keinen Grund, warum sie ihn beeindrucken sollte. Seit sie sich in Harvard beworben hatte, wollte sie mit David Li zusammenarbeiten, einer Koryphäe auf dem Gebiet der theoretischen Neurowissenschaft. Sie war noch nicht an seiner Assistentin vorbeigekommen, aber sie hatte von jemandem gehört, der gehört hatte, dass ein Student aus dem Abschlusssemester in seinem Labor arbeitete, also blieb sie hartnäckig.

Und doch saß sie immer noch auf ihrem Platz, als nur noch Professor Norton, Jack und eine weitere junge Frau übrig waren.

»Also gut«, sagte Professor Norton und klopfte mit seinem Ordner auf den Tisch. »Ihr drei?«

Sie verließen den Hörsaal und stiegen ins Innere von Mallinckrodt. Das 1929 erbaute und in den Siebzigerjahren renovierte Chemiegebäude traf genau die schäbige Mitte zwischen ehemaligem Prachtbau und neuem Glanz. Sie stiegen eine schlecht beleuchtete Treppe in ein Stockwerk hinunter, von dessen Existenz Zoe nichts gewusst hatte, und durchquerten das gesamte Gebäude, bis sie zu einem weiteren Treppenhaus gelangten.

»Ich hoffe, niemand hat ein Problem mit Treppen«, bemerkte Professor Norton auf halber Höhe. Während sie, wie Zoe annahm, durch den dritten Stock gingen, kamen sie an verglasten Laboren voller maskierter Forschender mit extradicken, ellenbogenlangen blauen Handschuhen vorbei. Über ihnen schlängelten sich Rohre wie Unkraut an der Decke entlang. Kurz darauf bogen sie scharf rechts ab, dann scharf links und erreichten zwei heruntergekommene Fahrstühle. Sie runzelte die Stirn. Der Aufzug pingte, und rasselnd öffneten sich die Türen.

In Professor Nortons Büro legte Jack sein Notizbuch hin, holte denselben durchsichtigen Kugelschreiber wie vorher heraus und begann ihn wieder zwischen den Fingern zu drehen. Zeige- und Mittelfinger, Mittel- und Ringfinger, Ringfinger und Daumen und wieder zurück. Zoe fragte sich, was passieren würde, wenn er einen Fehler machte, stellte sich vor, wie der Stift über den Tisch und direkt in Professor Nortons Auge flog, wo er wie in einem alten Zeichentrickfilm aus der Augenhöhle ragte.

Zoe blickte hoch in Jacks Gesicht und stellte fest, dass er sie ansah. Seine Augen waren verblüffend, blassblau, mit langen, geraden Wimpern. Es verwirrte sie, dass jemand, den sie auf den ersten Blick nicht für sonderlich attraktiv gehalten hatte, so schöne Augen haben konnte. Jack forderte sie mit einem Kopfnicken auf, den Anfang zu machen.

Zoe räusperte sich, merkte, dass sie keine Frage vorbereitet hatte. »Mich würde die Antwort auf die Frage zur Katalyse interessieren, die … tut mir leid, ich weiß deinen Namen nicht«, sagte sie und gab vor, sich nicht zu erinnern.

»Jack.«

»… die Jack gestellt hat.«

»Wunderbar.« Professor Norton stand auf, nahm ein Stück Kreide und ging zur Tafel hinter ihm. »Wie Sie wissen, gibt eine Lewis-Base« – er drückte so kräftig mit der Kreide auf die Tafel, dass weißer Staub herunterrieselte – »ein Elektronenpaar ab, um das Elektrophil zu aktivieren. Und eine chirale Lewis-Base …«

Der Stift in Jacks Fingern verschwamm. Eintönig erzählte Professor Norton etwas von Liganden, steuerbarer Reaktivität, Aktivierung von inaktiven Bindungen, Katalysatorstabilität.

»Kann man auch eine chirale Brønsted-Säure als Ligand verwenden? Anstelle einer Lewis-Base?«, warf Jack ein. Zoe blinzelte, versuchte zu folgen.

Professor Norton legte den Kopf schief. »Interessant. Ich … ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher. Das ist nicht mein Gebiet. Aber ich glaube nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit elektronenarmen Liganden eine stabile Komplexverbindung bilden kann.«

Jack nickte und machte sich eine Notiz.

»Ist das für Ihre Arbeit mit David relevant?«

Das soll wohl ein Witz sein, dachte Zoe. David Li?

»Nein, nein. Ich war nur neugierig.«

Professor Norton nickte und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. »Ladys?«

Zoe schwieg.

»Äh …« Die andere Frau beugte sich vor. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ganz verstanden habe, wie man bei der Resonanzstruktur, die wir heute besprochen haben, zu einer Doppelbindung kommt?«

»Sie, wie ist Ihr Name?«

»Zoe.«

»Zoe, können Sie ihr helfen? Ich muss kurz was klären, ich bin gleich wieder da.«

Basiswissen. »Zeig mal.« Zoe nahm das Papier. Jack hatte schon wieder sein Notizbuch auf dem Knie und zeichnete etwas mit langen, scharfen Strichen. Sie überlegte kurz und erklärte es ihr Schritt für Schritt.

»Ergibt das Sinn?«

»Ja, vielen Dank!« Nervös stopfte das Mädchen das Papier in ihre Tasche und stand auf. »Ich gehe jetzt«, erklärte sie überflüssigerweise. Zoe sah ihr hinterher. Jack schenkte ihr keine Beachtung.

Zoe wartete darauf, dass er etwas sagte, aber er zeichnete einfach weiter. Als die Seite voll war, blätterte er um, drehte das Notizbuch und begann eine neue Skizze. Zoe durchsuchte ihre Notizen nach einer Frage, die sie Professor Norton stellen könnte, wenn er zurückkehrte.

Schließlich knickte sie ein. »Ich dachte, der Student, der für David Li arbeitet, ist im letzten Jahr.«

»Mm?« Er sah auf.

»Bist du … im letzten Jahr?«

»Nein.«

Zoe nickte.

Er sagte nichts weiter, widmete sich wieder seinem Notizbuch.

Sie tat, als würde sie auf ihre Uhr sehen, und packte ihre Sachen zusammen.

»Bis dann«, rief er, als sie gerade durch die Tür trat.

»Bis dann.«

Punktestand: 1:0.

2

Organische Chemie wurde zu einem Spiel. Zoe bereitete die abgehobensten theoretischen Fragen vor, die sie im Seminar stellen konnte, machte sich mit höchst ungewöhnlichen Versuchsaufbauten vertraut, in dem Wissen, dass Jack eine Frage dazu stellen würde, nur um mit einer Anschlussfrage auftrumpfen zu können. Sie investierte viel zu viel Zeit in die Veranstaltung. Anfangs hatte sie noch überlegt, ob auch Jack das Ganze als Spiel betrachtete. Er wirkte unbeteiligt, doch er brachte sich immer ein, meldete sich mit zwei Fingern und stellte irgendeine langatmige, aber brillante Pseudofrage. Und sie tat dabei genauso abwesend, das gehörte dazu. Natürlich spielte er mit, das war für jeden offensichtlich. Die übrigen Kursteilnehmer verfolgten das Geschehen leicht genervt und ließen es über sich ergehen. Sogar Professor Norton war allmählich von der Nummer gelangweilt.

Aber das Duell bereitete ihr unerwartetes Vergnügen.

Und auch wenn sie es nie zugeben würde, lauerte im Hinterkopf der Gedanke, dass er sie vielleicht Li vorstellen würde, wenn sie ihn beeindruckte.

Am Tag der ersten Zwischenprüfung war Zoe nicht nervös. Aufgrund ihres Spiels war sie übervorbereitet. Sie saß auf ihrem gewohnten Prüfungsplatz, einem anderen als im Seminar, rechts am Gang, etwa in der Mitte, und behielt die Türen im Blick, gespannt darauf, wann Jack eintreffen und wo er sich hinsetzen würde.

Doch er erschien nicht. Der Lehrassistent Ben kam mit einem Stapel Prüfungsbögen herein, die er um zwei Minuten nach austeilte, und Jack war immer noch nicht da. Beinahe hätte Zoe Ben gefragt, wo er sei, konnte sich jedoch gerade noch beherrschen. Fein säuberlich trug sie ihren Namen auf der Vorderseite des Prüfungsbogens ein und unterschrieb den Ehrenkodex.

»Okay, ihr könnt loslegen.« Papierrascheln. Die Luft schmeckte nach Angst.

Zoe blickte zur Tür und zögerte, bevor sie den Test aufschlug. Sie war für Fairplay.

Die erste Frage war schwierig, sie blätterte weiter, übersprang dann auch die zweite. Sie fühlte sich unausgeglichen und blickte immer wieder auf die Uhr. Fünfzehn nach. Achtzehn.

Gerade starrte sie wieder zur Tür, als sie aufging und Jack hereinkam. Er hatte nicht mal den Anstand, gehetzt zu wirken. Als sich ihre Blicke trafen, meinte sie um seinen linken Mundwinkel ein leichtes Lächeln zu sehen. Er nahm sich einen Prüfungsbogen vom Tisch, ging den Gang hinauf und setzte sich irgendwo hinter sie.

Zweiundzwanzig nach. Wenn du diese Prüfung versaust, weil du dich von seinen Spielchen ablenken lässt, hast du deine Zeit verschwendet. Sie stand auf und bedeutete dem Lehrassistenten, dass sie zur Toilette musste, legte ihr Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch und verließ den Hörsaal. Ihr Lieblingstrick während einer Klausur, damit sie sich wieder konzentrieren konnte. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Türöffnungen eine besondere Wirkung auf das Gehirn haben, sie sind wie ein Reset-Schalter. Vielleicht vergaß man deshalb manchmal, was man wollte, wenn man in ein anderes Zimmer ging. Als sie wieder den Hörsaal betrat, hatte sie Frage zwei bereits gelöst und wusste ungefähr, wo sie bei Frage eins ansetzen musste.

Sie wurde in letzter Minute fertig, überzeugt, eine glänzende Arbeit abzugeben. Wie um einen Juckreiz zu befriedigen, erlaubte sie sich, nach hinten zu sehen. Doch Jack war schon weg.

Sie hatte nicht darüber nachgedacht, wie sie einen möglichen Gleichstand ihres Spiels verhindern könnte. Jack schon. Durch die Zeit.

Widerwillig korrigierte sie die Anzeigetafel. Punkt für Jack.

In der nächsten Stunde war er nicht da.

Er war noch nie zu spät zu einer Vorlesung gekommen. Um Viertel nach wusste sie, dass er überhaupt nicht aufkreuzen würde.

»Fragen?«, erkundigte sich Professor Norton, nachdem er die ersten beiden Tafeln gefüllt hatte. Sie überlegte kurz, aber ohne ihr Zielpublikum kam es ihr dumm vor. Stattdessen spielte sie mit ihrem Stift, drehte ihn auseinander, zog die Feder heraus, setzte sie wieder ein und schraubte ihn zusammen.

»Zoe? Keine?« Professor Norton wirkte amüsiert.

Sie errötete. »Na ja, ich hab mich gefragt …«, begann sie. Nichts zu fragen, wäre noch peinlicher gewesen.

Sie sank gegen die schmuddelige Polsterung des Klappstuhls, befolgte nicht eine der wichtigsten Regeln ihrer Mutter: Sitz gerade. Sei stolz darauf, eine große Frau zu sein. Sie spürte eine nervöse Unruhe in ihrer Brust. Der Unterricht war unerträglich langweilig.

Am nächsten Dienstag bekamen sie ihre Tests zurück. Zoe hatte die Bestnote, aber sie freute sich nicht so wie sonst.

Als sie in den Sonnenschein hinaustrat, der sich in den Laborfenstern spiegelte und sie blendete, fragte sie sich, ob er den Kurs abgebrochen hatte. Das war dumm, schalt sie sich, es war egal, sie hatte andere Ziele, wichtige Ziele. Und auf die konnte sie sich viel besser konzentrieren, wenn sie sich nicht mehr mit einem lächerlichen Wettstreit aufhielt. Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und erstellte noch im Gehen eine Liste von Professoren, die sie wegen eines Laborjobs kontaktieren wollte. Das hätte sie schon vor Wochen tun sollen. Aus Gewohnheit setzte sie David Li auf Platz eins, strich seinen Namen dann wieder durch. Wenn er sie nicht wollte, ging sie eben woandershin.

Ohne auf die Straße zu achten, überquerte sie die Oxford Street, und ein Auto kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen.

Das ist ein Zebrastreifen, dachte sie.

»Blöde Schlampe!«, schrie ein Mann auf der anderen Straßenseite.

Sie beachtete ihn nicht. Als sie das große Backsteintor mit der Aufschrift Enter to Grow in Wisdom durchschritt, blickte sie an ihrer Kleidung hinunter, registrierte ihren kurzen Rock. Zuerst dachte sie, dass sie ihn nicht mehr tragen sollte, dann, dass sie ihn weiter tragen sollte, dann, dass sie vielleicht produktiv über das Problem des richtigen Erscheinungsbildes nachdenken sollte.

3

»Ich hab einfach das Gefühl, es wäre gut, es jetzt hinter sich zu bringen. Solange meine Kurse noch leicht sind«, sagte Sophia. Zoe saß mit zwei von ihren drei Mitbewohnerinnen im Gemeinschaftsraum ihrer Erstsemester-Wohnung. Gabby war freitagnachmittags immer bei ihrer Arbeitsgruppe.

»Aber du hast noch nicht Organik zwei belegt«, sagte Hanna und blickte von den Hausaufgaben auf, die sie auf ihrem Schoß balancierte.

»Ich mach das einfach im Selbststudium.«

»Das … ist Wahnsinn«, erwiderte Hanna. »Du musst masochistisch veranlagt sein.«

Zoe trank lächelnd aus ihrer Wasserflasche.

»Wie lange dauert das noch mal?«

»Fünf Jahre.« Sophia lehnte sich zurück und brachte ihren Schreibtischstuhl in eine halb liegende Position.

»Was, wenn du dir eine Auszeit nehmen willst?«

Sophia machte ein empörtes Gesicht. »Eine Auszeit vor einem Medizinstudium von vielleicht neun Jahren? Ich meine, hoffentlich neun Jahre.«

»Oder«, bot Zoe an, »du könntest dir das ganze Medizinstudium schenken.« Sie lachte schon, bevor Sophia die Arme hochreißen konnte. »Ich mein ja nur, es ist eine Option.«

»Selbststudium Organik zwei«, murmelte Hanna wieder, »ich kann nicht mal regulär Organik eins studieren.«

»Ich bin tatsächlich gerade mit meinen Übungsaufgaben für Organik fertig.«

»Toll, machst du das dann für mich?« Sie warf Zoe ein paar zerknitterte Papiere zu, die Heftklammer oben links war herausgerissen. Zoe nahm den Kugelschreiber, mit dem sie herumgespielt hatte, und löste die Aufgabe. Dann warf sie Hanna die Papiere wieder hin.

»Du bist so nervig.«

»Gern geschehen.«

Zoe zögerte. »Apropos Organik, kennt ihr jemanden namens Jack?«, fragte sie dann.

Hanna streckte sich auf dem kleinen Sofa aus und ließ den Kopf über die Armlehne hängen, wobei ihr hellblondes Haar fast den Boden berührte. »Nope.«

Zoe wandte sich an Sophia.

»Hm.« Sophia sah sie neugierig an. »Stehst du auf ihn?«

Wie hatte sie das nur aus zehn Worten heraushören können? »Nein«, antwortete Zoe zu schnell und ärgerte sich, weil sie unaufrichtig klang, obwohl es der Wahrheit entsprach. Jack war nicht ihr Typ. »Ganz und gar nicht. Er war nur in meinem Kurs für Organik und ist nicht mehr aufgekreuzt.«

»Vielleicht hat er den Kurs aufgegeben?«

»Ja, hattest du schon Zwischenprüfung?«, fragte Hanna.

»Gerade erst, aber die hat er auf keinen Fall vergeigt. Er konnte …« Mit mir mithalten, wollte sie sagen, aber sie wollte nicht eingebildet klingen. »Wahrscheinlich war er der Klügste im Kurs.«

»Du stehst also doch auf ihn«, stellte Sophia triumphierend fest.

»Nein, echt nicht, Leute.« Zoe schloss für einen Moment die Augen, ärgerte sich, weil sie rot wurde. »Wir hatten nur einen … freundschaftlichen Wettbewerb laufen. Nach dem Motto, wer ist der größere Nerd? Für alle anderen war es ziemlich nervig, glaube ich. Aber deshalb hab ich mich gefragt, warum er nicht mehr in die Vorlesung kommt. Das ist alles.«

»Oder er hat die Zwischenprüfung mit Bravour bestanden und beschlossen, dass er für den Rest des Kurses nicht mehr erscheinen muss«, überlegte Sophia.

Zoe nickte und lehnte den Kopf an die Wand. Daran hatte sie nicht gedacht.

Sophia räusperte sich leise. »Ich weiß, wer er ist.«

»Ach?« Zoe versuchte, locker zu klingen. Denn, verdammt, das war sie schließlich auch.

»Jack Leahy. Er war letztes Jahr mit mir in LS50.« Das hieß, er war im zweiten Studienjahr.

»Wusstest du, dass er mit David Li zusammenarbeitet?«

»Interessant.« Sophia strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie hatte braunes, mittellanges Haar, das sie immer fest hinter beide Ohren steckte. »Ich dachte, der legendäre Student in Lis Labor wäre einer aus dem Abschlussjahrgang.«

»Offenbar nicht.«

»Er ist klug, aber so beeindruckend fand ich ihn nun auch wieder nicht. Er wirkte, als hätte er seine eigenen Dinge im Kopf, weißt du? War nicht sonderlich interessiert.« Sophia sah Zoe mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hätte nicht gedacht, dass er dein Typ ist.«

Zoe lachte. »Was genau ist mein Typ?«

Sophia schüttelte mit einem schwachen Lächeln den Kopf. »Ach, keine Ahnung. Er jedenfalls nicht.«

Seit sie aufs College ging, hatte Zoe keinen Freund mehr gehabt. Und, wenn sie ehrlich war, auch davor nicht. Beides war nicht sonderlich ungewöhnlich: Viele Harvard-Studentinnen waren bei Studienbeginn noch Jungfrau, und die meisten begannen erst im zweiten oder dritten Jahr ernsthaft zu daten.

Bei Sophias Bemerkung fiel ihr allerdings Danny ein. Auch wenn sie schon länger nicht mehr an ihn gedacht hatte, erinnerte sie sich natürlich noch an seinen Nachnamen: Hess. In ihrem Kopf hatte sie immer wieder »Zoe Hess« wiederholt, als wäre es ein Zauberspruch, mit dem sie ihn dazu bringen könnte, über die Tatsache hinwegzusehen, dass sie sechzehn und er Mitte zwanzig war. Er sollte sie über die Schulter werfen und mit ihr durchbrennen. Seltsam, wie jemand, an den man monatelang jeden wachen Moment gedacht hatte, mit einer Sehnsucht, die zum Teil der eigenen Identität geworden war, irgendwann ganz aus dem Gedächtnis verschwinden konnte.

Er war einer von vier jungen Männern gewesen, die während des Sommers mit ihrem Vater zusammengearbeitet hatten. Und da junge Männer dazu neigten, deutlich mehr Platz als nötig einzunehmen, schienen die vier plus ihr Vater plus ihr Bruder das ganze Wohnzimmer auszufüllen. Da war kein Platz für Zoe geblieben.

Abends waren sie mit Zoe und ihrer Mutter dann zu acht, so viele Stühle, wie an den Esstisch passten.

Den größten Teil ihrer Kindheit hatte Zoe beim Abendessen eingequetscht zwischen zwei fremden Männern gesessen. Ihre Mutter glaubte, dass man am Tisch unterschiedliche Menschen zusammenbringen sollte, und ihr Vater, dass man Kinder wie Erwachsene behandeln sollte. Seit seiner ersten Stelle am MIT, als Zoe noch ein Baby war, hatte er seine Studierenden abends zum Essen eingeladen. Und wenn er nur Forschungsgelder für einen hatte, lud er auch noch die seiner Kollegen ein. Im Sommer war es ruhig auf dem Campus, und die Doktoranden kümmerten sich nur um ihre Forschung. »Wie in alten Zeiten«, schwärmte Zoes Vater dann immer, »vor diesem ganzen Lehr- und Vorlesungsunsinn, als die Wissenschaftler sich noch selbst beim Denken zuhören konnten und sich Zeit zum Reden nahmen«, und die Männer lachten. Vielleicht würde sie sie jetzt auch eher als Jungen bezeichnen, dachte Zoe amüsiert.

Als sie noch klein war, sechs oder sieben Jahre alt, und sich zum Essen über den Tisch beugen musste, unterhielten sie sich buchstäblich über ihren Kopf hinweg. Manchmal antwortete sie mit hoher Kinderstimme auf eine der rhetorischen Fragen oder Vorschläge ihres Vaters. »Deine Argumentation klingt nicht schlüssig« oder »Hast du das nachgerechnet, Daddy?« Alle fanden das ganz bezaubernd. Die Männer klatschten mit ihr ab, und sie grinste über beide Ohren, bis ihre griechische Nase und die griechischen Augenbrauen das einzig Gerade in ihrem Gesicht waren, beides eigentlich zu groß für ihren kleinen Kopf.

Mit elf oder zwölf waren die Sommer von einem vagen Gefühl ständiger Verlegenheit geprägt: dem Unbehagen, nicht zu wissen, wer man eigentlich war. Doch an den Wohnzimmerseminaren ihres Vaters nahm sie immer teil und begann in der Schule Physik zu lernen. Die Ideen, die durch den Raum schwirrten, als hätten sie ein Eigenleben, faszinierten sie. Als sie alt genug war, um zu verstehen, woran er forschte, arbeitete er an der Quantenfeldtheorie. Dann folgte eine Phase der Rebellion, ein paar Sommer, in denen sie Physik blöd und ihren Vater überbewertet fand und weder mit ihm noch mit seinen Studierenden etwas zu tun haben wollte. Die meisten Abende verbrachte sie damals bei den anderen Kindern, übte »Ja, Ma’am« und »Nein, Ma’am« und »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, und der südländische Charme ihrer Mutter aus dem Mund eines schlaksigen Mädchens mit olivenfarbener Haut und wirrem schwarzen Haar wirkte entwaffnend. Und dann wurde sie sechzehn, und da war Danny.

In dem Jahr hatte sie ihren ersten richtigen Mathekurs belegt, lineare Algebra, weshalb sie sich sehr erwachsen fühlte. Sie war aber auch durch die Führerscheinprüfung gefallen, weshalb sie sich zugleich wie ein dummes, eingesperrtes Kind vorkam. Sie randalierte im Haus (einem restaurierten, vierstöckigen viktorianischen Haus im Zentrum von Cambridge, Eigentum des MIT, das ihnen so lange zur Verfügung gestellt wurde, wie ihr Vater beeindruckend und begehrt war. Ein Segen nach einer Reihe von Zweizimmerwohnungen, die von Postdoc-Stipendien bezahlt worden waren), knallte Türen und Schränke zu und nervte, bis ihre Mutter sagte: »Schatz, jetzt benehmen wir uns wieder«, und ihr Vater: »Wenn du deinen Führerschein hättest machen wollen, hättest du besser fahren sollen.« Ihr Bruder Alex hatte nichts gesagt, weil er wusste, dass es dafür noch zu früh war. Später bot er ihr Fahrstunden an, weil sie eigentlich Freunde waren, auch wenn er ihr fast immer das Gefühl gab, nur Anhängsel zu sein.

Als Danny eintraf, hatte sie auf der Couch gesessen. Er kam zu früh, ihre Mutter war noch in der Küche mit dem Abendessen beschäftigt, und ihr Vater arbeitete oben in seinem Büro.

»Kannst du aufmachen, Zoe?«, rief ihre Mutter, und Zoe stieß die Luft durch die Nase aus, warf ihr Handy auf die Couch und stakste zur Tür. Sie öffnete sie schwungvoll, lehnte sich gegen den Rahmen und schob die Hüfte vor. Sie maß eins fünfundsiebzig. Danny, der auf der Stufe unter der Türschwelle stand, befand sich genau auf Augenhöhe, was bedeutete, dass er knapp eins neunzig war. (Kopfrechnen stellte für Zoe keine Herausforderung dar.)

»Kann ich dir helfen?«, fragte sie, während sie ihn musterte.

»Das hoffe ich doch. Ich bin zum Abendessen eingeladen. Bei Professor Kyriakidis?« Den Namen hatte er geübt. Sie betrachtete ihn. Blondes, etwas längeres Haar, zerzaust, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen, als würde er ein Lachen unterdrücken. Sie blinzelte.

»Äh, ja. Das ist mein Vater.« Sie öffnete die Tür, um ihn hereinzulassen, und erblickte hinter sich ihre Mutter.

»Zoe! Was war das denn für eine Begrüßung? Hallo, ich bin Mrs Kyriakidis. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Wie war Ihr Name?«

Dannys Lächeln kroch wie eine Überraschung über sein Gesicht, auf seinen Wangen erschienen Falten, er kniff die blauen Augen zusammen, und um Zoe war es geschehen. »Danny. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Kyriakidis. Und Ihre Schwester?«

Sie lachte, genau wie er es beabsichtigt hatte, und Zoe errötete noch mehr.

»Tochter«, korrigierte Zoes Mutter ihn, »seien Sie nicht albern. Sie hat die Haare von ihrem Vater. Und die Manieren auch.«

Am liebsten wäre Zoe im Boden versunken und nie wiederaufgetaucht. »Zoe«, brachte sie hervor, »schön, dich kennenzulernen.«

»Ebenso, Zoe.« Danny nickte und blickte ins Haus. »Es riecht großartig!«

»Oh! Sie sind reizend.« Zoes Mutter streckte den Arm aus und bat ihn herein. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Als sie beim Abendessen zwischen zwei Männern in den Zwanzigern saß – keiner von ihnen war Danny –, fühlte sich Zoe äußerst unwohl, ihr war heiß und elend. Jedes Mal, wenn einer von ihnen auf dem Tisch nach dem Salz oder einer der Platten griff und sie dabei versehentlich mit dem Ellbogen berührte, wich sie zurück und entschuldigte sich.

Wenn sie dachte, Danny würde es nicht merken, beobachtete sie ihn. Sie sah, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer beim Kauen bewegten, und in seinem Arm, wenn er einen Teller oder eine Gabel nahm. Er trug ein weißes, abgetragenes Hemd, gegen das seine Haut karamellfarben wirkte. Wie sie erfuhr, war er zu Besuch aus Stanford, und ihr Vater hatte ihn neben Alex gesetzt, der im nächsten Jahr selbst nach Stanford gehen würde. Sie unterhielten sich bereits angeregt über die Forschung auf dem Campus, die besten Bars und die Professoren, mit denen man sich anfreunden konnte. Zoe brannte innerlich vor Eifersucht.

Als sie ihrer Mutter beim Tischabräumen half, hob er den Blick und lächelte sie an – »Danke, Zoe« –, und am Ende hatte sich das elende Abendessen doch noch gelohnt. In der Küche musste sie sich einen Moment sammeln, und ihre Mutter tat so, als würde sie es nicht bemerken.

Am nächsten Morgen wachte sie um fünf Uhr nach einem erschreckend realistischen Traum von Danny auf. Ihr war heiß, sie schwitzte, und die frische Junibrise wehte ihr sanft die Haare aus dem Gesicht. Wieso hatte sie sich in diesem Traum nur so gut an sein Aussehen erinnern können?

Sie streckte sich, spürte ihren Körper vibrieren wie eine überspannte Saite. Dann zog sie ihren Laptop vom Schreibtisch auf ihr Bett, setzte sich auf und suchte seinen Namen. Acht Veröffentlichungen, bei dreien wurde er als erster Autor genannt. Sie klemmte den Laptop zwischen die Knie und begann zu lesen.

In den nächsten Wochen schlich sie sich immer ins Arbeitszimmer ihres Vaters, wenn er Pause machte, wie er es nannte, beziehungsweise in einem weniger frenetischen Tempo arbeitete, wie andere es beschreiben würden. Sie bat ihn, ihr verschiedene Forschungsgebiete zu erklären, und bemühte sich halbherzig zu verschleiern, dass sie sich nur für Themen interessierte, die mit Dannys Interessengebieten zu tun hatten. Für ihren Vater, der sich nur am Rande für die Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen interessierte, reichte das völlig aus.

Sie sorgte dafür, dass sie immer unten auf der Couch saß, wenn Danny kam – immer zu früh, damit er noch plaudern und in der Küche helfen konnte. Für ihre Mutter, die sich außerordentlich für die Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen interessierte, war das wahrscheinlich eine willkommene Abwechslung.

Danny streifte an der Tür die Schuhe ab, Teva-Sandalen oder Turnschuhe, und lief in hochgekrempelten Kakihosen barfuß durchs Haus. Er trug nie Socken, und Zoe fand seine Knöchel (schlank, mit hellblondem Haar) und die langen Füße (mit Bräunungsstreifen, die sich beim Gehen bewegten) unerträglich anziehend.

Er und ihr Bruder schlossen schnell Freundschaft, und als Alex ihr Fahrstunden anbot, schaltete sich Danny sofort mit einem Gegenangebot ein – »Autofahren lernt man nicht in der Familie« –, woraufhin Zoe sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte und zugleich wie auf Wolken ging.

Nach dem Essen lauschte sie im Treppenhaus, wie Gläser klirrten und Whiskey eingeschenkt wurde. Natürlich hatte sie selbst schon mal Whiskey getrunken – die meisten Eltern ihrer Freundinnen hatten einen gut gefüllten Spirituosenschrank. Sie merkten zwar, wenn etwas fehlte, regten sich aber nicht auf, besser, die Kinder probierten es zu Hause aus. Zoe konnte sich gut vorstellen, wie er auf Dannys Lippen schmecken würde.

Es dauerte Wochen, bis sie den Mut aufbrachte, sich zu ihnen zu gesellen. Als sie den Männern eines Abends nach dem Dessert ins Wohnzimmer folgen wollte, rief ihre Mutter sie zurück.

»Zoe, könntest du mir bitte helfen, den Tisch abzuräumen?«

»Alex muss nicht helfen.«

»Alex hilft beim Eindecken.«

Das stimmte, aber vor dem Essen gab es auch nichts zu verpassen. Zoe sammelte die mit leuchtend violetten Resten eines Blaubeerkuchens verschmierten Teller ein, stellte sie klappernd in die Spüle und schlich dann ins Wohnzimmer. Dort angekommen, hielt sie inne und schaute sich verstohlen nach einem Platz um, an dem sie nicht im Weg war.

»Meine Zoe! Was brauchst du?«, fragte ihr Vater, als er sie bemerkte, und sie verschluckte sich beinahe an ihren Worten.

»Ich wollte nur zuhören.«

»Die kleine Maus kommt endlich zu uns, anstatt sich im Treppenhaus zu verstecken?«, fragte Danny, und Zoe wurde knallrot. Es kostete sie all ihre Beherrschung, nicht aus dem Zimmer zu stürmen, und ihr Bruder erbarmte sich schließlich und setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an seinen Sessel gelehnt. Er redete einfach weiter, während sie wie eine Prinzessin über ihm hockte. Es hätte nicht schlechter laufen können, aber sie war hier. Ihr brach der Schweiß aus. Wenn sie jetzt nichts sagte, wäre alles umsonst. Als das Gespräch auf Dannys Arbeit kam, räusperte sie sich und trug vor, was sie vorbereitet hatte – eine Lücke, die sie in einem seiner Aufsätze entdeckt hatte, und ein Experiment, das sie dafür geeignet hielt. Danny lächelte sie an und nickte, und sie dachte, dass sie etwas beigetragen hätte, bis ihr Vater sich zu Wort meldete.

»Darauf haben wir ihn schon hingewiesen, und Danny hat sich ziemlich gut verteidigt.«

Niemand hielt es für nötig, sie darüber aufzuklären, worin seine Verteidigung bestanden hatte. Als sie zu Danny blickte, sprach er bereits mit jemand anderem.

Demütigung: rein, heiß, furchtbar. So stark, dass sie sie nach all diesen Jahren immer noch spürte.

Damals stellte sie sich nackt vor den Spiegel und betrachtete sich. Kleine Brüste, schmale Hüften, aber eine neuerdings schmale Taille. Die Schlüsselbeine, die gerade vom Babyspeck befreit waren, bildeten saubere Flächen unter ihrem Gesicht, das jetzt groß genug für ihre Augen, die Nase und Augenbrauen war und eher dramatisch als lächerlich wirkte.

An manchen Tagen hielt sie sich für eine Frau, an anderen hoffnungslos für ein Kind.

Danny schien sich nicht an die Episode nach dem Essen zu erinnern, Zoe wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. In den Fahrstunden, die er ihr gab, war sie schweißgebadet, biss die Zähne zusammen und trat viel zu fest auf die Bremse, während er lachend auf dem Beifahrersitz saß. »Zoe, Kleine, du musst dich entspannen. Bleib ganz locker.«

Als er Cambridge am Ende des Sommers verließ, umarmte er sie und ihren Bruder zum Abschied, sagte zu Alex, er werde ihn bald wiedersehen, und zu Zoe mit einem Lächeln in der Stimme: »Vergiss nicht zu schreiben.« Sie war auf ihr Zimmer gegangen, hatte masturbiert, dann geweint und die letzte Woche vor Schulbeginn niedergeschlagen im Bett gelegen, während die heiße Augustsonne durchs Fenster schien. Natürlich hatte sie ihm nicht geschrieben.

Sie schüttelte den Kopf und dachte darüber nach, wie lächerlich sie sich verhalten hatte. Sie fragte sich, was Danny heute von ihr halten würde. Ob sie für ihn immer noch ein Kind wäre. Ob sie am Ende immer noch ein Kind war.

4

Ein paar Wochen später traf sie Jack wieder. Sie war auf dem Weg zu einer Abendveranstaltung, halb neun im Science Center, und er lief über den Yard. Es war dunkel, früher Schnee sprenkelte das bräunliche Gras.

Die Kombination aus Körpergröße und Linksneigung war unverkennbar. Als er näher kam, sah Zoe, dass er einen abgenutzten Militärparka trug, dunkelgrün mit vielen Taschen, dazu die übliche abgenutzte Jeans und abgetragene Stiefel. Er war immer blass, aber heute sah er erschöpft aus, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

Zoes Interesse war geweckt. Sie steckte die Hände in die Taschen. Er sah sie nicht an. Wollte sie wirklich diejenige sein, die den ersten Schritt machte? Falls nicht, würde sie vielleicht nie wieder mit ihm sprechen. Was …

»Jack?«, sagte sie, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Er blieb stehen, sie standen sich gegenüber. Zoe verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. »Zoe.«

»Was machst du … hast du Organik sausen lassen?«

»O nein«, antwortete er, »ich hatte nur viel zu tun.«

»Oh.« Also hatte ihm das Spiel nicht so viel Spaß gemacht wie ihr. Vielleicht hatte sie sich das Ganze nur eingebildet. Sie war froh, dass es dunkel war, denn sie spürte, wie sie rot wurde.

»Wie ist es gelaufen?«

»Gut, gut.« Langweilig, ohne dich, dachte sie, aber natürlich konnte sie ihm das nicht sagen.

Er strich sich eine Locke aus dem Gesicht.

»Warum hattest du denn so viel zu tun?«

»Ach, ich war im Labor. Etwas aufwendige Experimente, viel Hin und Her zu späten Uhrzeiten.« Er deutete mit dem Kopf hinter sich.

Sofort dachte sie, dass er in die falsche Richtung zeigte. »Ist David Li nicht am Wyss-Institute?«

»Äh, ja, stimmt.«

Zoe sah ihn an.

»Tja, also, ich sollte was essen«, sagte er.

»Okay.« Sie wünschte, ihr würde etwas Interessantes einfallen, etwas Lustiges oder Kluges, das seine Aufmerksamkeit weckte, um die Oberhand zu gewinnen. Aber ihr fiel nichts ein.

Er lächelte schwach, dann ging er. Anstatt die Wege zu benutzen, lief er einfach geradeaus, hinterließ eine Reihe dunkler Abdrücke auf dem gefrorenen Gras.

Sie wünschte, sie hätte den Punktestand auf Papier festgehalten, dann hätte sie es jetzt zerknüllen können.

Sie schwor sich, dass die Geschichte mit Jack vorbei war, was auch immer das gewesen sein mochte. Von nun an würde sie sich ihm gegenüber genauso abweisend verhalten wie gegenüber jedem anderen Studenten, der sich in Lis Labor eingeschlichen hatte.

Doch am nächsten Tag, als sie zu Organik kam, saß er auf dem Platz neben ihr. Er lächelte schwach und hob zum Gruß die linke Hand von seinem Notizbuch.

Er spielt mit mir, dachte sie.

Sie setzte sich und wartete, dass er etwas sagte. Er roch nach Rauch.

Doch er sagte nichts. Ein paar Minuten zu spät schlenderte Professor Norton herein und nahm die Kreide in die Hand. Jack und Zoe schwiegen, lehnten sich in entgegengesetzte Richtungen und machten Notizen.

Es war Donnerstag, nach der Vorlesung würde eine Sprechstunde stattfinden. Zoe fragte sich, ob Jack hingehen würde. Wenn sie den ersten Schritt machte, würde er ihr dann folgen? Und würde sie es tun, wenn er den ersten Schritt machte?

Nein, das war lächerlich. Sie packte ihre Sachen und ging nach draußen. Jack klemmte sein Notizbuch unter den linken Arm und folgte ihr.

»Holst du dir was zu essen?«, fragte er.

»Ja.«

»Nach dir.« Er deutete mit dem Kopf die Straße hinunter zum Yard, auf die River Houses und Mensen dahinter.

Beim Gehen schob er die Hände in die Hosentaschen, und sie fragte sich, was er dachte, und wünschte, die Antwort würde sie nicht so sehr interessieren. Im Strom der entgegenkommenden Studierenden sprang ihr Blick zu einzelnen Gesichtern. Momentaufnahmen: Ein Lachen, ein geistesabwesender Gesichtsausdruck, ein lächelnder Blick auf ein Handy, eine angewiderte Miene, eine Hand, die sich ein Handy vors Gesicht hielt, das verwischte Bild eines Kopfes, der sich wegdrehte.

»Also.« Sie wollte ein Gespräch anfangen, doch sie dachte an die Lektionen ihrer Mutter über Small Talk, und es gelang ihr nicht, das Schweigen zu brechen. Dann blickte sie ihn an. »Welche Forschung nimmt dich so ein, dass du vergisst, wo dein Labor ist?«

Er lachte schnaubend. »Gentherapie.«

»Welche Art von Gentherapie?«

»TERT.«

»Anti-Aging?«

Er nickte. »Genau.«

Im zweiten Studienjahr an etwas arbeiten, das mit ziemlicher Sicherheit innerhalb von zwei Jahren zur Gründung eines Start-ups führen würde? »Ziemlich cool.«

Er nickte. »Wohl schon, ja.«

Sie zögerte einen Moment und räusperte sich. »Vermutlich angewandte Forschung?«

»Ja. David … na ja, du weißt, wie erfolgreich er mit Start-ups ist.«

»Es gibt also ein Start-up.«

Jack legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. »Angewandte Forschung eben.«

»Wirst du dort mitarbeiten?«

Er zog die Augenbrauen hoch und zuckte erneut mit den Schultern.

»Willst du dein Studium abbrechen, um dort zu arbeiten?«

Schließlich lachte Jack. »Hartnäckig.«

»Ziemlich«, erwiderte Zoe lächelnd.

»Woran arbeitest du?«

»Oh.« Zoe verzog den Mund. Sie wollte nicht zugeben, dass sie keine Laborerfahrung hatte, schon gar nicht ihm gegenüber. Sie setzte eine freundliche, neutrale Miene auf. »Momentan an nichts. Ich spiele ein paar Optionen durch«, sagte sie. Das heißt, bis vor drei Wochen war ich so versessen darauf, mit deinem Projektleiter zusammenzuarbeiten, dass ich mich geweigert habe, andere Optionen in Betracht zu ziehen.Leider hat er überhaupt kein Interesse an mir, und darum bin ich jetzt aufgeschmissen.

»Wirklich?« Er klang ehrlich überrascht. Sie hatten das Science Center und die Foodtrucks passiert, waren an Pizza und Sandwich essenden Touristen vorbei durch eines der Tore gegangen und befanden sich nun im Yard. Es war ein düsterer Tag, und der graue Himmel ließ den roten Backstein bräunlich wirken.

»Warum?«, fragte sie forschend.

»Ach, ich wollte nur …« Er hob die Augenbrauen und zog einen Mundwinkel hoch, als wäre er erwischt worden. »Was interessiert dich?«

»Na ja«, antwortete sie, »auf der Highschool hab ich mich hauptsächlich für Quantenphysik interessiert.« Quantencomputer, um genau zu sein, denn damit hatte sich Danny in Verbindung mit der Arbeit ihres Vaters in der Quantenfeldtheorie beschäftigt. »Jetzt interessiere ich mich mehr für Biochemie, besonders Neuro. Das Verständnis der neuronalen Aktivität.«

»Dann interessierst du dich für Davids andere Projekte.«

Jetzt war Zoe verlegen. Und er war mit David Li per Du. »Wer interessiert sich nicht mindestens für eins von Davids Projekten?«

Jack nickte nur. Sie hatten den Yard fast durchquert, waren an Wigglesworth Hall vorbei, hatten durch das Tor dahinter die Mass. Ave. erreicht. »Okay, Zoe«, sagte er. Sie sah ihn an. Er hatte noch immer die Hände in den Hosentaschen und erwiderte ihren Blick nicht, doch er verzog leicht die Mundwinkel, als würde er ein Lächeln unterdrücken. »Was ist das Bewusstsein?«

Sie lachte überrascht auf. »Keine Ahnung. Deshalb will ich ja in der Neuro arbeiten. Das ist das nächste … das ist der Ozean der Humanbiologie.«

»Fünfundneunzig Prozent unerforscht.«

Sie gab die Frage zurück. »Was glaubst du, ist die Natur des Bewusstseins?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite in der Anti-Aging-Forschung. Ich hab keine Ahnung.«

»Die Gebiete sind in gewisser Weise verwandt.«

Er legte den Kopf schief und blickte die Holyoke Street hinunter. Zoe fragte sich, ob sie ihn beleidigt hatte. Von einer Feuerleiter über ihr fiel ein feuchtkalter Tropfen auf ihr Ohr. Sie zuckte zusammen und wischte ihn reflexartig fort.

Sie erreichten die Seitentür von Lowell House. »Hier wohne ich«, erklärte Zoe. Vermutlich war er im Winthrop oder Eliot untergebracht, zwei der anderen Wohnhäuser, die hinter dem Lowell lagen. Sie überlegte, was sie sagen konnte, damit das Gespräch nicht versiegte. »Sehen wir uns Dienstag?«

Er nickte, winkte verlegen und machte kehrt. Zoe sah ihm hinterher, die Hand an dem schmiedeeisernen Tor, das immer schwerer wurde. Er muss im Adams wohnen, dachte sie.

Er griff in seine Tasche, zog einen viereckigen Gegenstand heraus, fummelte daran herum und steckte sich etwas in den Mund. Vielleicht einen Kaugummi. Auf der leeren Straße wirkte seine Gestalt ziemlich dramatisch: Der lange Parka flatterte um seine Beine, während er sich leicht nach vorn lehnte, auf seinem Kopf der dichte Lockenschopf.

Und überhaupt, dachte sie, hat er mich gerade nach Hause begleitet?

5

»Ich bin froh, dass Sie sich gemeldet haben«, sagte Professorin Hall am Ende ihres Treffens. Professorin Hall war außerordentlich beeindruckend. Sie war die erste weibliche Chemieprofessorin in Harvard und arbeitete in der Quantenphysik, einer durch und durch männerdominierten Domäne. Vermutlich war sie genauso cool wie Li, aber sie hatte vor ein paar Wochen umgehend und persönlich auf Zoes Anfrage reagiert und ihr angeboten, bei einem Treffen über eine mögliche Laborarbeit zu sprechen. »Bevor ich Sie gehen lasse, sollte ich Ihnen sagen, dass ich mit Lawrence geredet habe«, einer von Zoes Professoren aus dem letzten Jahr, »und er hat in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt.«

Es fühlte sich gut an. Vielleicht war sie doch begehrt. Dann schlug Professorin Hall das rechte Bein über das linke, legte die Hände um das rechte Knie. »Ich glaube, Sie würden sehr gut in mein Labor passen«, sagte sie, »ich lege großen Wert auf die Förderung vielversprechender junger Frauen.«

Es hätte sich gut anfühlen können, tat es aber nicht. Es fühlte sich wie Betrug an.

Für Zoe war Wissenschaft ein Jungensport. Wie Fußball. Alle Wissenschaftler, die ihr Vater mit nach Hause brachte, waren Männer, und so war die Arbeit untrennbar mit Männlichkeit verbunden. Mit Angeberei, mit den Besonderheiten männlicher Freundschaft und den damit einhergehenden Vorstellungen von Brüderlichkeit und Hierarchie; dass man beim Abendessen das Doppelte seines Körpergewichts verschlang, weil man so in die Arbeit vertieft gewesen war, dass man den ganzen Tag nichts gegessen hatte; dass man etwas vernachlässigt wirkte, unrasiert, erschöpft und etwas ungelenk, als würde man sich nicht für gesellschaftliche Umgangsformen interessieren; all das zeigte, dass man sehr hart arbeitete, tiefgründige Gedanken hegte und keine Zeit für zarten, glänzenden Frauenkram hatte. Natürlich empfand sie es als ungerecht, dass ihr Bruder sich in diese halb wilden Gruppen einfügen durfte – noch dazu ermutigt wurde. Ihre Mutter zwang ihn zwar, sich die Haare zu waschen, aber seine Stimme durfte rau und laut sein, seine Kleidung zerknittert und ausgebeult, sein Verhalten seltsam. Das galt nicht für Zoe.

Allerdings hatte man ihr nie gesagt, Wissenschaft sei nichts für sie. Als ihr Vater ihrem Bruder am Küchentisch schriftliche Division und Multiplikation beibrachte und die zwei Jahre jüngere Zoe neugierig dabei zusah, hob er sie auf seinen Schoß, drückte ihr einen Bleistift in die Hand und freute sich, weil sie es schneller begriff als Alex. Beide Kinder waren hochintelligent – oder zumindest so erzogen –, und es ging nie darum, welches Kind schlauer war. Es ging nur darum, dass Zoe nicht nur klug sein, sondern auch harmlos erscheinen sollte. Was, ihrer Ansicht nach, Alex mehr Raum gab, zu brillieren.

»Ich habe einen meiner Postdoktoranden gebeten, Ihnen anschließend eine Führung zu geben«, fuhr Professorin Hall fort. Sie war eine der bestgekleideten Chemieprofessorinnen, die Zoe je gesehen hatte, in einem blaugrauen Hosenanzug, dessen Blazer über der Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls hing. »Ich glaube, Sie könnten sich besonders für das Tunneleffekt-Projekt interessieren, das ich erwähnt habe.«

»Das wäre fantastisch, vielen Dank«, sagte Zoe.

Die Sekretärin zeigte Zoe, wo sie auf den Postdoc warten sollte, und Zoe versuchte, die gemeine Stimme in ihrem Hinterkopf zum Schweigen zu bringen. Vielleicht brauchst du ja tatsächlich ein bisschen Hilfe. Vielleicht ist das Problem nicht, dass Wissenschaft ein Jungensport ist. Sondern dass du nicht gut genug spielst.

Der Postdoc kam heraus, und Zoe stand auf und streckte ihm die Hand hin. Währenddessen summte das Handy in ihrer Hosentasche. Ein kleines Vibrieren, das sie dazu bringen würde, einen anderen Weg einzuschlagen.

Sie las die Benachrichtigung nach dem Rundgang, als sie mit der Tasche über der Schulter in der Garderobe stand. Es war 17:16 Uhr.

David Li. Betreff: Termin. Hätten Sie um 18 Uhr Zeit für ein kurzes Gespräch?

Auf dem hohen Glasgebäude stand nicht einmal Wyss, nur die Adresse, 3 Blackfan Circle. Sie steckte die Bluse ordentlich in die Hose, glättete ihr Haar, hoffte, dass sie nicht aussah, als wäre sie quer über den ganzen Campus gelaufen, um den Shuttle nach Longwood zu erwischen, holte tief Luft und betrat die Lobby.

Die Empfangsdame war höflich und gab sich unbeeindruckt, selbst als sie die E-Mail von Professor Li vorzeigte. Sie forderte Zoe auf, Platz zu nehmen, während sie seine Assistentin anrief.

»Er erwartet Sie in ein paar Minuten«, erklärte sie, als sie auflegte. »Jemand kommt Sie abholen.«

Zoe nickte. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten, schalt sich für ihre Nervosität, versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Die Decken waren doppelt oder sogar dreifach so hoch, mit riesigen digitalen Bildschirmen, auf denen Artikel und Pressemitteilungen über die Arbeit vom Wyss eingeblendet wurden. Zoe konnte sie aus dieser Entfernung nicht lesen, sah nur die inszenierten Fotos von lächelnden, perfekt frisierten Menschen hinter kunstvoll verschwommenen Kolben und Petrischalen. Noch nie hatte sie eine Wissenschaftlerin gesehen, die bei der Arbeit so fröhlich oder so perfekt geschminkt war. Für wen waren diese Bilder?

Um 17:58 Uhr stieß eine streng aussehende blonde Frau die Tür zur Lobby auf. »Zoe?«, fragte sie, und Zoe schoss sofort hoch, lächelte breit, streckte ihre Hand aus.

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Professor Lis Assistentin«, stellte sich die Frau vor und berührte nur flüchtig Zoes Hand, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und Zoe hinein führte.

Professor Li erwartete sie in einem gläsernen Konferenzraum. Zoe sah von außen, dass bereits jemand auf ihrer Seite des Tisches mit dem Rücken zu ihr saß. Groß, lockiges Haar, auf den linken Ellbogen gestützt, Stift in der linken Hand, der über den Mittel- zum Zeigefinger wanderte, dann unter dem Mittelfinger zum Ringfinger. Ein nicht identifizierbares, unangenehmes Gefühl ließ sie erröten.

Lis Assistentin öffnete die Tür und führte Zoe herein. »Zoe Kyriakidis«, sagte sie, und Professor Li, der auf der anderen Seite des Konferenztischs saß, stand auf und beugte sich vor. Zoe schüttelte ihm die Hand und betrachtete sein tiefschwarzes Haar und sein glattes Gesicht, das legere T-Shirt und die Jeans, sein lockeres Auftreten und die leuchtenden Augen. Für zweiundfünfzig sah er unglaublich jung aus, er konnte für Anfang dreißig durchgehen – wie sollte es auch anders sein?

Sie setzte sich, als Professor Li sich setzte, und sah zu Jack hinüber, der sich nicht gerührt hatte. Er nickte ihr zu und tippte mit dem Stift auf sein aufgeschlagenes Notizbuch.

»Zoe, schön, Sie kennenzulernen.« Professor Li sprach wie ein Radiomoderator.

»Ich freu mich auch«, antwortete sie. Wieder hatte sie die Worte ihrer Mutter im Ohr: Kopf hoch, Schultern zurück, lächeln. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf.

»Jack spricht in den höchsten Tönen von Ihnen.« Professor Li legte die Fingerspitzen aneinander und stützte die Ellbogen auf den Glastisch.

Zoe errötete. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, Jack saß direkt neben ihr und lachte verlegen. »Danke.«

»Könnten Sie kurz zusammenfassen, woran in meinem Labor gearbeitet wird? Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie keine technischen Einzelheiten wissen – und natürlich auch keine geheimen –, aber bitte geben Sie mir einen allgemeinen Überblick. Als wäre ich, sagen wir, ein Doktorand in einer verwandten Wissenschaft, vielleicht Ingenieurwesen, vielleicht am MIT.«

Zoes Magen krampfte sich zusammen. Sie hätte ihn vertrösten und sich erst vorbereiten sollen. Dass Jack mitbekam, dass sie sich nicht vorbereitet hatte, machte es noch schlimmer. Dann fasste sie sich, atmete tief durch, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und legte los.

»Das ist nur eine grobe Darstellung. Professor Li betätigt sich auf verschiedenen Gebieten der Anti-Aging-Forschung, darunter TERT sowie Gene, die mit einer verlängerten Lebensspanne in Verbindung stehen. Die Arbeit an TERT scheint klinisch am vielversprechendsten. Sie basiert auf dem Wissen, wie verheerend die Verkürzung von Telomeren ist – sie erhöht beispielsweise das Risiko für Herzerkrankungen.« Sie zögerte, dann fuhr sie engagiert fort. »Sein Labor ist dafür bekannt, im Geheimen bahnbrechende, neue Technologien zu entwickeln und dann äußerst erfolgreiche Start-ups zu gründen.«

Zoe hielt kurz inne. Sie konnte nicht zugeben, dass sie alle seine Arbeiten über TERT gelesen hatte, denn dann wäre Jack sofort klar gewesen, dass sie wissenschaftliches Stalking betrieben hatte. Aber ein gewisses Fachwissen zu demonstrieren, war die Peinlichkeit doch allemal wert, oder?

»Seine letzte Arbeit hat beeindruckend gezeigt, dass CMV – ein besonders viraler Überträger – sich besonders gut zur Übertragung von TERT und FST eignet. Beide haben die Lebensdauer von Mäusen um … wenn ich mich richtig erinnere« – sie wusste, dass sie sich richtig erinnerte – »etwa vierzig Prozent verlängert. Sein Forschungsgebiet«, sie überlegte, wie sie es ausdrücken sollte, »das mich vielleicht am meisten interessiert, ist die angewandte künstliche Intelligenz. Er verwendet neuronale KI-Netzwerke, um biologische, neuronale Netzwerke und Denkprozesse nachvollziehen zu können.« Sie räusperte sich. »Er ist auch …«

»Das genügt«, unterbrach Li. »Woran arbeiten Sie gerade?«

»Ich arbeite gerade in keinem Labor. Ich habe mich einige Zeit mit verschiedenen Bereichen vertraut gemacht, ich komme gerade aus der Hall…«

»Ich meine, woran arbeiten Sie gerade?«

An nichts, dachte Zoe, ich bin im zweiten Studienjahr, ich weiß absolut nichts, geschweige denn genug, um selbst an etwas zu arbeiten. Aber das war nicht die Antwort, die er hören wollte. »Mich interessiert der Gedanke, dass wir neuronale Netzwerke mithilfe von KI-Proxys besser verstehen können. Ich glaube, irgendwann werden wir begreifen, dass ihre Funktionsweise die Antwort auf unser Bewusstseinsproblem ist.«