Das geheime Band - Rachael English - E-Book

Das geheime Band E-Book

Rachael English

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Beschreibung

Nichts ist so unendlich wie die Liebe zwischen
Mutter und Kind ...


Seit fast 50 Jahren bewahrt die irische Krankenschwester Katie ein Geheimnis auf, gut versteckt im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks: eine Kiste mit Armbändern. Sie stammen von Babys, die in den 70er-Jahren gegen den Willen ihrer Mütter zur Adoption freigegeben wurden. Katie sieht die Zeit gekommen, Mütter und Kinder endlich wieder zu vereinen. Denn hinter jedem Armband verbirgt sich eine Geschichte voller Herzschmerz und Hoffnung, und jedes Kind hat ein Recht auf die Wahrheit. Aber ist Katie auch bereit, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen?

Ein zutiefst berührender Roman, inspiriert von wahren Ereignissen.

»Wunderschön, fesselnd und ehrlich.« Irish Independent

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Seitenzahl: 620

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Buch

Nach dem Tod ihres Mannes sieht die irische Krankenschwester Katie die Zeit gekommen, sich endlich ihrer Vergangenheit zu stellen. Seit fast fünfzig Jahren bewahrt sie ein Geheimnis auf, gut versteckt im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks: eine Kiste mit Armbändern von Babys, die in den Siebzigerjahren gegen den Willen ihrer Mütter zur Adoption freigegeben wurden. Unterstützt von ihrer Nichte Beth, will Katie möglichst viele Mütter und Kinder wieder vereinen. Die ersten Erfolge lassen nicht lange auf sich warten, und Geschichten voller Herzschmerz und Hoffnung kommen ans Licht. Doch noch ist Katie nicht bereit, ihr dunkelstes Geheimnis zu lüften …

Autorin

Rachael English ist eine irische Bestsellerautorin, Journalistin und Radiomoderatorin. Tausende Zuhörer kennen sie aus Irlands beliebtester Radiosendung »Morning Ireland«. Sie hat fünf Romane veröffentlicht und ist jetzt erstmals auch auf Deutsch zu lesen.

Rachael English

Das geheime Band

Roman

Aus dem Englischen von

Ann-Catherine Geuder

Die irische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Paper Bracelet« bei Hachette Books Ireland.

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Deutsche Erstveröffentlichung November 2021

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Rachael English

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: 1/3 U1 (Himmel): FinePic®, München;

2/3 U1 (Mädchen): Arcangel/JELENA SIMIC PETROVIC

Redaktion: Susanne Bartel

LS · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26825-1V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Eamon

Kapitel 1

Damals – Patricia

Sie schlichen durch die Dunkelheit wie Tiere, das Oberlicht über der Eingangstür die einzige Beleuchtung. Es sei sicherer so, sagte ihr Vater. Man könne nie wissen, wer sich draußen herumtrieb. Er drückte die Tür auf und spähte nach links und rechts. Die Sterne funkelten am Firmament, und der Mond hing wie eine Schiffsschaukel über der Straße. Es war kalt für April.

»Ich hoffe, es hat keinen Unfall gegeben«, sagte er.

»Er wird gleich da sein«, erwiderte ihre Mutter. »Um zehn, hat er gesagt. Es ist erst fünf nach.« Sie wandte sich gereizt um, ihr schmales Gesicht vor Unmut verzogen. »Bleib im Haus, Patricia. Nicht dass dich noch jemand sieht.«

Sie benutzten schon ihren neuen Namen, nannten sie so, wie sie in Carrigbrack heißen würde. Es sei nur zu ihrem Besten, betonten sie. So würde sie nicht zu viel von sich verraten. Und das war in dieser Situation entscheidend. Nur ein falsches Wort, und der Ruf einer jungen Frau wäre für immer ruiniert. Dann würde sie niemals einen respektablen Ehemann finden oder ein normales Familienleben führen. Sie wäre gebrandmarkt, wohin sie auch gehen würde, und kein guter Mann würde sein Ansehen durch eine Verbindung mit ihr beflecken.

Sie vermutete, dass es die Situation für ihre Eltern einfacher machte, wenn sie einen anderen Namen verwendeten. Es war nicht ihre Tochter, die Schande über sich gebracht hatte, sondern Patricia. Ihre Tochter war anständig. Sie sang im Chor und bestand jede Prüfung. Sie hielt sich an Regeln. Patricia hingegen war ein Flittchen.

Damit auch garantiert niemand etwas merkte, hatten sie sogar eine Perücke besorgt und sie angewiesen, sie aufzusetzen. Die langen schwarzen Haare stanken nach Plastik und Zigarettenrauch.

»Falls dich jemand mit Pater Cusack im Wagen sieht«, hatte ihre Mutter erklärt. »Wir wollen nicht, dass die Leute Fragen stellen.«

»Früher oder später wird sich schon jemand nach mir erkundigen. Was dann?«

»Wir werden ihnen sagen, dass du in England bist.«

»Was ist mit den Leuten von der Arbeit?«

»Denen sagen wir das Gleiche.«

Eine Zeit lang hatte sie die Wahrheit geleugnet. Sie hatte nichts gesagt, weil sie es sich selbst nicht eingestehen konnte. Dann hatte sie versucht, einen Handel mit Gott abzuschließen oder mit dem Universum oder mit was auch immer da draußen war. Lass es verschwinden, und ich werde mich ändern. Versprochen. Als sie es schließlich ihren Eltern erzählt hatte, war alles Schlag auf Schlag gegangen. Die Fragen, die Blicke, die zwischen ihnen hin und her flogen, das Weinen ihrer Mutter, die kontrollierte Wut ihres Vaters – sie hatte alles nur noch wie durch einen Nebel wahrgenommen. Inzwischen bedauerte sie, dass sie nicht weggerannt war. Sie hatte überlegt, mit dem Bus nach London zu fahren, aber dort kannte sie niemanden, und das wenige Geld, das sie gespart hatte, wäre schon bald aufgebraucht gewesen.

»Was haben wir falsch gemacht?«, fragte ihre Mutter immer wieder.

»Nichts«, sagte ihr Vater. »Manche Mädchen werden wegen ihrer schlechten Erziehung zu Flittchen, aber das haben wir uns nicht vorzuwerfen. Sie hat sich ihr Fehlverhalten selbst zuzuschreiben.«

Auch wenn ihre Eltern noch nie besonders gut darin gewesen waren, Zuneigung zu zeigen, war Patricia immer davon ausgegangen, dass sie sie liebten. Ihre Liebe hatte sich in Form von blank polierten Schuhen und einem neuen Mantel für die Schule gezeigt, von Abendessen, das auf dem Tisch stand, und von Ausflügen ans Meer. Im Vergleich zu anderen Eltern hatten ihre den Holzlöffel nur selten eingesetzt. Ab und zu redeten sie davon, welche Opfer sie für ihre Kinder brachten. Andere Mädchen mussten mit fünfzehn die Schule verlassen und ihr eigenes Geld verdienen. Patricias Eltern hingegen hatten es ihr ermöglicht, ihren Schulabschluss zu machen. Ab und zu sprachen sie darüber, dass Mädchen einem ständig Sorgen bereiteten. Patricia hatte noch Teile eines Gesprächs im Ohr, das ihre Mutter mit einer Nachbarin geführt hatte. »Bei Mädchen ist man immer ein wenig nervös. Mit Jungs hat man es leichter. Jungs sind unkomplizierter.«

Nach ein paar Stunden war die Wut ihres Vaters verraucht gewesen. Er verließ das Haus, nur um dreißig Minuten später mit dem Gemeindepfarrer zurückzukehren. Pater Cusacks weißes Haar war ordentlich frisiert, aber zu dünn, um seine rosafarbene Glatze zu verdecken. Tiefe Falten zerfurchten sein Gesicht, ähnelten Rissen in getrocknetem Schlamm. Ihre Eltern führten ihn in die gute Stube, wo er sich auf das braune Sofa setzte und sich eine Zigarette anzündete. Er nahm einen Zug, stieß langsam einen Rauchkringel aus und tadelte sie dafür, dass sie ihrer allseits angesehenen Familie eine solche Schande bereitete. Ansonsten schien er nicht sonderlich verärgert zu sein. Eher wirkte er wie jemand, der wusste, was zu tun war, weil er es schon unzählige Male getan hatte.

Patricia konzentrierte sich auf die Tapetenbahn in Grün und Orange, die sich hinter dem Pater von der Wand löste. Auf der Straße sprangen ein paar Mädchen Seil. Fröhlich sangen sie: »Henriette, gold’ne Kette, gold’ner Schuh, wie alt bist du?«

»Du bist jetzt neunzehn, oder?«, sagte Pater Cusack.

»Zwanzig, Pater.«

»Und in welchem Monat, denkst du?«

»Im fünften«, sagte sie und klang dabei gefasster, als sie sich fühlte. »Vielleicht auch im sechsten.«

»Also kommt das Baby wahrscheinlich im August. Sag, meinst du, der Vater könnte bereit sein, dich zu heiraten?«

»O Gott, nein. Ganz bestimmt nicht.«

»Still«, fuhr ihre Mutter sie an. »Du hast kein Recht, so zu sprechen.«

»Aber ich sage doch nur die Wahrheit.«

»Also schön«, ergriff der Pater wieder das Wort. »Ich denke, es wäre das Beste, wenn du in die Küche gehst und uns einen Tee machst.«

Sie lauschte vom Flur aus. Ihre Eltern waren leicht zu verstehen. Sie erzählten dem Geistlichen von Mike. Er hingegen sprach mit leiser, sanfter Stimme, sodass sie nur bruchstückhaft aufschnappen konnte, was er sagte.

»Eine zuverlässige Einrichtung«, hörte sie. Und dann: »die Moral«, gefolgt von »überraschend häufig« und »morgen«.

Die Mädchen draußen sangen inzwischen einen anderen Reim. »Wie viele Pferde steh’n im Stall …«

Später begleitete Patricias Mutter Pater Cusack zum Gemeindehaus, in dem es ein Telefon gab. Der Geistliche rief das Heim in Carrigbrack an und sprach mit einer Frau namens Schwester Agnes. Ihre Mutter kam zurück und wies sie an, was sie zu tun hatte.

»Pack einen kleinen Koffer«, sagte sie. »Du brauchst zwei Nachthemden, einen Waschlappen, eine Zahnbürste. Unterwäsche. Und robustes Schuhwerk. Pack keinen Firlefanz ein, keine Bücher oder Make-up.« Da die Mädchen eine Art Uniform trügen, brauche sie keine Wechselkleidung. »Deine eigenen Kleider werden dir eh nicht mehr lange passen«, hatte sie hinzugefügt.

Vierundzwanzig Stunden später standen sie nun im Flur und taten, als ergebe das alles einen Sinn. Die Atmosphäre war verpestet, Verbitterung und Enttäuschung hingen in der Luft.

Patricia presste sich die Finger auf die Stirn. »Was, wenn ich das Kind behalten will?«

Die Wut ihres Vaters flackerte erneut auf. »Bitte«, sagte er. »Wir können jetzt wirklich kein dummes Geschwätz gebrauchen.«

»Aber ich habe von Mädchen gehört, die ihre Babys behalten haben. In Dublin. Niemand hier muss davon wissen.«

»Es ist mir egal, was in Dublin passiert. Was falsch ist, ist falsch. Willst du etwa deine Mutter umbringen? Willst du das?«

Sie hätte ihm so vieles antworten können, aber wozu? Es hatte ja doch keinen Sinn. Sie war so schrecklich erschöpft. Um ihre Augen herum pochte ein dumpfer Schmerz, und etwas Schweres hatte sich auf ihre Brust gelegt. Außerdem fürchtete sie, dass sie wieder zu weinen beginnen würde, wenn sie weiterstritten. Und das wäre ein Fehler.

In diesem Augenblick hörten sie das Tuckern eines alten Hillman Minx. Ihr Vater öffnete die Tür gerade weit genug, um sich der Ankunft des Geistlichen zu vergewissern.

Er nickte Patricia zu. »Besser, du lässt ihn nicht warten.«

Sie zögerte, fragte sich, ob ihre Eltern sie zum Abschied küssen oder vielleicht sogar umarmen würden. Sie hoffte auf ein Zeichen, egal, wie klein, dass sie ihr vergeben würden. Als keiner der beiden Anstalten in der Richtung machte, griff sie nach ihrem Koffer.

»Dann geh ich jetzt«, sagte sie.

Ihre Mutter wandte sich ab. »So Gott will, sehen wir dich später im Jahr wieder.«

Kapitel 2

Heute – Katie

Katie Carroll saß auf der Bettkante. Jeden Tag saß sie an derselben Stelle und sagte dieselben Sätze, jeden Tag stand sie wieder auf und tat es nicht. Gab es vielleicht ein besonderes Wort, fragte sie sich, für diese eine Aufgabe, die man nicht erledigen konnte? Das beschrieb, wie der Verstand mit einem Mal zu Brei wurde und Arme und Beine sich weigerten zu funktionieren? Falls nicht, sollte sie eins erfinden.

Milchiges Sonnenlicht hing im Schlafzimmer. Dublin hatte einen ungewöhnlich heißen Sommer hinter sich. Mittlerweile waren die Temperaturen gesunken, aber tagsüber strahlte die Sonne noch immer vom Himmel. Irgendwo in der Nähe brummte ein Rasenmäher. In der Griffin Road kannte man keine ungepflegten Gärten.

Und es gab nicht nur eine Aufgabe, der Katie sich nicht stellen konnte, sondern dazu noch Hunderte von unbeantworteten Fragen. Seit zwei Monaten gingen sie ihr unaufhörlich durch den Kopf. Was wirst du jetzt tun? Ist das Haus zu groß für dich? Könntest du dir vorstellen, es zu verkaufen? Wie wäre es umzuziehen?

Margo hatte sich als Erste nach ihren Plänen erkundigt. Andere hatten es ihr gleichgetan. Es war schon merkwürdig: Während Katie die Nachfragen ihrer Freunde und Bekannten einfach ignorieren konnte, funktionierte das mit denen von Margo nicht. Es musste am Tonfall ihrer Schwester liegen, an dieser Mischung aus Mitgefühl und Herablassung, dass Katie ihr am liebsten eine dreiste Antwort entgegengeschleudert hätte. Zum Beispiel, dass sie mit dem Gedanken spielte, nach Thailand auszuwandern oder sich einen jungen Liebhaber zuzulegen. Natürlich hatte sie nichts dergleichen gesagt, sondern nur etwas gemurmelt von wegen: »Bin mir nicht sicher«, und: »Ich brauche noch Zeit.«

Es gab Momente, in denen sie es vergaß. Wenn sie sich über das knarrende Dielenbrett auf dem oberen Treppenabsatz ärgerte und dachte: Ich muss Johnny bitten, etwas deswegen zu unternehmen. Wenn sie sich im Bett umdrehte und erwartete, seinen warmen, seifigen Geruch einzuatmen. Wenn sie aufwachte und für einen Augenblick in ihrem Kopf alles leer war.

Das waren die kurzen Momente des Glücks, bevor die Wahrheit sich wieder ihren Weg in ihr Bewusstsein bahnte.

Die Leute – gut meinende Leute – behaupteten, ihr Verhalten sei normal. »Sei nicht so hart zu dir«, sagten sie. »Ehrlich, du hältst dich wacker. In Anbetracht der Situation.«

Letzteres bezog sich darauf, wie plötzlich Johnny verstorben war. Nach der Diagnose hatte er nur noch vier Monate gelebt. Als Krankenschwester wusste Katie, dass keine Krankheit so ungerecht war wie Krebs. Mit einer Diagnose konnte man ein Jahr später noch auf Lanzarote Urlaub machen und anderen von seiner Zeit im Krankenhaus erzählen. Mit einer anderen hatte man kaum noch Zeit, sich zu verabschieden. Sie sagte sich, dass das Sterben ihres Mannes nichts Außergewöhnliches gewesen war. Er war vierundsiebzig gewesen, nicht extrem alt, aber auch nicht mehr jung. Alt genug, dass sein Tod nicht als Tragödie galt.

Auf der Beerdigung hatte sie sich beherrscht. Sie war dazu erzogen worden, öffentlichen Trauerbekundungen zu misstrauen. Damals war das so üblich gewesen. War es nicht verrückt, dass eine neunundsechzigjährige Frau noch immer davon beeinflusst wurde, was man ihr als Kind beigebracht hatte? Aber so war es. Ehrlich gesagt wollte sie nichts lieber als allein sein. Oh, sie wusste, dass sie nicht undankbar sein durfte. Es war wunderbar, dass sich so viele Menschen die Mühe gemacht hatten zu kommen, dass sie ihr ihr Beileid aussprachen und nette Erinnerungen austauschten. Einige von denen, die extra aus ihrem Heimatort Danganstown angereist waren, hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Andere kamen sogar aus dem Ausland. Einer von Johnnys Neffen aus Madrid, Margos Tochter Beth aus London.

Im ersten Monat danach war Katie gut beschäftigt gewesen. Freunde hatten vorbeigeschaut, ihr Essen gebracht, sich mit ihr unterhalten und ihr Tee gekocht. Sie hatte Dankeskarten geschrieben und begonnen, sich mit dem vielen Papierkram auseinanderzusetzen. Aber die Leben der anderen gingen weiter. Selbst die engsten Freunde hatten irgendwann andere Prioritäten, andere Sorgen und Aufgaben.

Außerdem hatte sich Katie noch nie gerne auf andere verlassen. Schon früh hatte sie gelernt, dass dies in der Regel nur zu Enttäuschungen führte. Die meiste Zeit im Leben war ihr Johnny genug gewesen. Er hatte dasselbe über sie gesagt. Halb zufällig, halb absichtlich hatten sie sich einen überschaubaren Freundeskreis aufgebaut. Schon immer hatte sie ein Treffen in kleiner Runde dem Tamtam und Lärm größerer Veranstaltungen vorgezogen.

Jetzt war sie hier, wieder im Schlafzimmer, und die Säcke standen bereit. Sie musste nur noch Johnnys beste Kleidung zusammensuchen und dann zum Sozialkaufhaus bringen. Sie stand vom Bett auf, öffnete den Kleiderschrank aus Mahagoni und nahm ein hellblaues Hemd heraus. Doch anstatt es in einen Plastiksack zu tun, schmiegte sie ihr Gesicht in den Stoff. Für ein paar Minuten stand sie da, wippte auf den Fußballen auf und ab und spürte das vertraute Brennen hinter den Augen. Wie dumm von ihr! Die Kleidung war in gutem Zustand. Andere Männer hätten dafür Verwendung. Aber das Leben hatte Katie gelehrt, dass es einen großen Unterschied machte, ob man einfach nur begriff, wie dumm das eigene Verhalten war, oder auch etwas dagegen unternahm.

Sie legte das Hemd wieder in den Schrank zurück. »Ein andermal«, flüsterte sie. »Ein andermal, nicht jetzt.«

Die Trauer war unberechenbar. Meistens war Katie wie gelähmt vor Müdigkeit. Dann hätte sie sich am liebsten in ihrem Verlust verkrochen und in Ruhe getrauert. Doch manchmal verspürte sie auch eine pochende Wut. Sie war wütend auf die Nachbarn, weil sie Plattitüden sagten wie: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Sie war wütend auf Johnny, weil er sie verlassen hatte. Schließlich war sie glücklich mit ihrem gemeinsamen Leben gewesen – es hatte keine Notwendigkeit gegeben, irgendetwas daran zu ändern. Meistens jedoch war sie wütend auf sich selbst. Warum nur hatte sie nicht mitbekommen, dass etwas mit ihm nicht stimmte? Was war sie bloß für eine Krankenschwester! Warum hatte sie jahrelang ihre Energie darauf verschwendet, sich über unwichtiges Zeug Gedanken zu machen? Warum hatte sie nicht einfach das genossen, was ihr geschenkt worden war? Wenn diese Gedanken sie quälten, rannte sie durchs Haus wie eine Irre und hätte am liebsten laut herumgeschrien und auf irgendetwas eingeschlagen. Und dann wurde ihr mit einem Mal klar: Vielleicht verspürte sie ja gar keine Wut. Sondern Schuld.

Eine Weile grübelte sie darüber nach, bis ihr einer von Beths Lieblingssprüchen einfiel: Lass locker!

Anstatt den Kleiderschrank zu schließen, griff sie jetzt mit dem Arm tief hinein und holte einen Karton heraus. Früher mal war ein Paar Sandalen mit Korkabsatz darin gewesen. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Johnny sie nie besonders gemocht. Und auch bezüglich des gegenwärtigen Inhalts hatte er gemischte Gefühle gehabt. »Im Ernst, Kateser«, hatte er gesagt, »du würdest dich doch nur jedes Mal aufregen. Und überhaupt, die meisten dieser Frauen sind vermutlich längst gestorben.«

Sie glaubte nicht, dass das stimmte. Ja, die Frauen wären inzwischen alt, aber was bedeutete das schon? Schließlich war das Alter eine komplexe Angelegenheit. Wenn in den Nachrichten von einer Frau Ende sechzig die Rede war, stellte Katie sich immer eine verhutzelte Frau mit schlohweißem Haar, schlecht sitzendem Gebiss und beigen Kleidern aus knitterfreiem Stoff oder Tweed vor. Dieses Bild stammte noch aus ihrer Kindheit, als Menschen im Rentenalter mit einer Decke auf dem Schoß in einer Ecke saßen und vor sich hin welkten. Wobei Katie selbst nicht bereit war, diesem Bild zu entsprechen. Sie wollte nicht schrumpeln und verblassen. Selbst an ihren schlechtesten Tagen verzichtete sie nie auf Lippenstift und Mascara. Zwei Wochen nach Johnnys Tod hatte sie sich ihre blondierten Haarsträhnen auffrischen lassen. Vermutlich hätte ihm das gefallen.

Sie setzte sich wieder aufs Bett, nahm den Deckel vom Karton und betrachtete den Inhalt. Das Notizbuch und die zarten Armbänder aus einfachen Papierstreifen versetzten sie beinahe fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als sie angefangen hatte, in Carrigbrack zu arbeiten. Damals redeten die Leute kaum darüber, was dort geschah. Wenn, dann nur in Euphemismen. Carrigbrack war ein Heim für Mädchen, die »sich selbst in Schwierigkeiten« gebracht hatten, ein Ort, an dem sie »über ihr Fehlverhalten nachdenken« und »ihre Selbstachtung zurückgewinnen« konnten.

Das Notizbuch hatte einen fleckigen braunen Umschlag, und seine Seiten waren mit der Zeit spröde geworden. Katie öffnete es aufs Geratewohl. Die Schrift, mit Tinte, war klein und akkurat.

19. Oktober 1971. Junge, 2767 Gramm. Mutter, 19 J., aus Co. Limerick. Name: Goretti. Sagt, ihr Baby soll Declan heißen. Ihr Freund ist in Birmingham, sie will mit ihrem Baby zu ihm ziehen.

Die Jahre hatten Katies Erinnerungen sicherlich verzerrt, und doch sah sie die jungen Frauen und ihre Babys noch immer vor sich. Die »gefallenen Frauen«, wie manche sie zu nennen pflegten, als wären sie Figuren aus der Bibel oder einer Schmonzette. Womit auch immer Katie gerade beschäftigt war, ein Geräusch oder ein Geruch konnte sie urplötzlich in diese Zeit zurückkatapultieren. In die Zeit von Schlaghosen und Plateaustiefeln, Schwarz-Weiß-Fernsehen und Vietnam. Von kalkulierter Grausamkeit und unerwarteter Freundlichkeit. Noch immer hörte sie das einsame Schluchzen, das durch das Gebäude hallte. Roch Desinfektionsmittel und Corned Beef. Sah die feuchten Flecken an der Wand. Spürte die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit.

Auch an ihr eigenes Versagen erinnerte sie sich.

Ein Außenstehender könnte vermuten, dass Johnny ihr verboten hatte, etwas wegen der Papierarmbänder zu unternehmen. Doch so war es nicht. Johnny hatte sie beschützt, aber nicht kontrolliert. Ihre eigenen Ängste hatten sie gehindert. Und doch – sosehr sie auch versuchte, ihre Erinnerungen beiseitezudrängen, kamen sie doch immer wieder zurück. Wie ihre Kindheit in Danganstown und ihre Ehe mit Johnny war auch Carrigbrack Teil ihrer Geschichte. Und wenn die Geschichte jetzt enden würde, hätte sie nicht den Schluss, den sie sich wünschte.

»Carrigbrack?«, sagte Beth und kräuselte die Nase. »Ja, natürlich hab ich davon schon gehört. Das ist im Norden von Clare, in der Nähe vom Burren-Nationalpark. War da nicht ein großes Mutter-Kind-Heim?«

»Mmm. Nicht so riesig wie ein paar andere, aber für seine Zeit schon ziemlich groß.«

»Und was hast du da gemacht?«

»Ich war Krankenschwester«, sagte Katie und fuhr mit der Hand über den Rand des Schuhkartons.

Sie saßen in der Küche und tranken den Milchkaffee, den Beth in einem Café in der Nähe vom College in Drumcondra gekauft hatte.

Einen Monat nach Johnnys Beerdigung war Katies Nichte dauerhaft nach Irland zurückgekehrt. »Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich Dublin mag«, hatte sie erklärt. Einen Job bei einer Internetfirma hatte sie schon gefunden, eine bezahlbare Wohnung zu finden gestaltete sich wesentlich schwieriger. Erst einmal war sie bei alten College-Freunden in Stoneybatter untergekommen. Trotz des Altersunterschiedes hatten Beth und Katie einen guten Draht zueinander. Auch weil Beth, anders als ihre Mutter, kein Interesse daran zu haben schien, Katies Leben neu zu gestalten.

Ihr Kontakt war in den letzten Jahren eher sporadisch gewesen. Katie besuchte ihren Heimatort nur selten, aber ihre Nichte hatte sie immer gemocht. Beth war ein aufgewecktes und nicht gerade schüchternes Mädchen gewesen und voller Fragen zu Katies Leben in Dublin. Margo schien ausgelaugt von ihr gewesen zu sein. Aber welche Mutter einer Sechsjährigen war nicht fortwährend erschöpft?

»Musste man nicht Nonne sein, um in so einer Einrichtung wie Carrigbrack zu arbeiten?«, fragte Beth jetzt.

»Die meisten von uns waren es«, sagte Katie. »Nur zwei oder drei nicht. Wir waren einfach … nun, ich schätze, man könnte sagen, wir waren so etwas wie Aushilfen. Ich hatte damals gerade erst meine Ausbildung abgeschlossen.«

»Gab es denn keine anderen Jobs?«

»Kaum. Es war nicht leicht, Arbeit zu finden. Und außerdem war Carrigbrack ganz in der Nähe von zu Hause, nur dreißig oder vierzig Meilen von Danganstown entfernt.«

»Schon verstanden. Aber war es nicht seltsam, dort zu arbeiten?«

Katie begann, sich zu fragen, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, sich Beth anzuvertrauen. Für die Generation ihrer Nichte war alles schwarz oder weiß, unfassbar toll oder unentschuldbar. Die jungen Leute waren sich der Welt – und ihres Platzes in ihr – in einem Ausmaß sicher, wie Katie es nie vergönnt gewesen war. Dazu kam noch ihre direkte Art – ganz anders als die der älteren Generation, die immer versucht hatte, alles Unangenehme unter den Teppich zu kehren, den Schein zu wahren. Vermutlich war das sehr viel besser, dachte Katie. Trotzdem fiel es ihr manchmal schwer, mit Beths Freimütigkeit umzugehen.

»Ich hatte keine große Wahl«, erwiderte sie. »Mam und Dad haben von dem Job erfahren, und damit war es entschieden. Was ich wollte, spielte keine Rolle.«

»War es schlimm?«

»Wenn du wissen willst, ob es körperliche Züchtigung gab, dann lautet die Antwort Nein. Jedenfalls nicht offiziell. Trotzdem war es brutal. Von den jungen Frauen wurde erwartet, dass sie bis kurz vor der Geburt arbeiteten. Als Ort, an dem man glücklich war, würde ich das Heim nicht bezeichnen.«

Beth schüttelte den Kopf. »Was ich nicht kapiere, ist, warum alle diesen Mist so lange akzeptiert haben. Haben die Leute wirklich gedacht, dass es eine gute Idee ist, die eigene Tochter in eine solche Einrichtung abzuschieben?«

Katie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie wollte Beth nicht ausweichen, war aber auch nicht in der Lage, eine Antwort zu geben, die allen Aspekten ihrer Frage gerecht wurde. Sie holte tief Luft. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, wo fehlerhaftes Verhalten in Grausamkeit übergegangen ist. Die Leute damals hatten Angst. Angst vor der Kirche. Angst vor ihren Nachbarn. Angst davor, nicht mehr als anständig zu gelten.«

»Aber …«

»Ich glaube, du musst dir bewusst machen, dass die meisten Menschen damals ein ganz anderes Leben geführt haben als heute. Zu meiner Zeit war von Verhütung noch keine Rede. Du wurdest gewarnt, keinen Sex vor der Ehe zu haben. Hattest du ihn doch und wurdest schwanger, musstest du heiraten. Wenn das nicht ging, wurdest du weggeschickt, und das Baby wurde zur Adoption freigegeben. So war das damals, und auch wenn es verrückt klingen mag, haben die meisten Leute es doch akzeptiert.«

»Es klingt verrückt, weil es verrückt war. Total schwachsinnig.«

Katie zuckte bei Beths scharfem Tonfall zusammen und blickte in ihre Tasse. Einen Moment lang schwiegen beide. Auf der Straße genoss eine Gruppe Kinder einen der letzten Sommertage. Ihr Kreischen und Rufen durchbrach die Stille.

»Bitte entschuldige, Katie«, sagte Beth schließlich. »Es war falsch, dich so anzufahren. Ich finde es wirklich gut, dass du mir davon erzählst. Es kommt mir nur so schrecklich makaber vor, verstehst du?«

Katie lehnte sich zu ihrer Nichte hinüber und tätschelte ihr das Handgelenk. »Schon okay, Liebes. Ich will ganz sicher nichts schönreden. Makaber ist genau der richtige Ausdruck.«

»Also, was hat es mit dem Schuhkarton auf sich?«

»Nun, als ich in Carrigbrack gearbeitet habe, entschloss ich mich, die Geburten zu protokollieren.« Sie hielt inne, um den Deckel der Box abzunehmen und das Notizbuch hervorzuholen. »Wenn ein Baby auf die Welt kam, wurde darüber nicht weiter gesprochen. Es durfte nicht gefeiert werden, und auch sonst war es niemandem erlaubt, großes Gewese darum zu machen. Den Müttern wurde gesagt, sie sollten besser über die Sünde nachdenken, die sie begangen hatten und die sie nach Carrigbrack gebracht hatte. ›Je mehr ihr leidet, desto besser‹, sagte eine der Nonnen, Schwester Sabina, für gewöhnlich zu ihnen. Jedenfalls wusste ich inzwischen, dass den Müttern in den meisten Fällen nur eine begrenzte Zeit mit ihren Kindern vergönnt war, ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate. Dann wurde ihnen ihr Baby weggenommen. Einfach so.«

»Und die Mutter erfuhr nicht, wohin ihr Kind gegeben wurde?«

»Genau. In gewisser Weise war die Trennung für die Mutter umso schlimmer, je länger sie ihr Baby hatte behalten können. Denn auch wenn den jungen Frauen gesagt wurde, dass sie keine Bindung zu ihrem Kind aufbauen sollten, taten es die meisten doch.«

Katie stockte. Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Das Bild einer verängstigten jungen Frau, deren Sohn fünf Monate bei ihr in Carrigbrack geblieben war. Sie hatte ihn nicht hergeben wollen, war überzeugt davon gewesen, dass sie es schaffen würde, ihm eine gute Mutter zu sein. Doch dann, an einem regnerischen Freitagnachmittag, wurde er ihr weggenommen. Als sie begriff, dass sie ihn niemals zurückbekommen würde, legte sie sich auf den Boden und schluchzte laut vor Kummer.

Es war nur ein Bild. Eine Geschichte von vielen. Aber es war immer noch da.

Verwundert stellte Katie fest, dass ihre Augen feucht waren. »Bitte entschuldige. Kein Grund für mich, so rührselig zu werden. Darum geht es hier nicht.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Beth. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss. Also …«

»Du willst wissen, was es mit dem Notizbuch auf sich hat? Nun, damals habe ich beschlossen, jede Geburt aufzuschreiben – ein paar Informationen über die Mütter und ihre Babys. Und die hier habe ich auch aufgehoben.« Sie nahm zwei Papierarmbänder aus dem Karton. »Die Babys trugen sie zur Identifizierung. Wie du siehst, sind es bei Weitem nicht solche Hightech-Dinger, wie es sie heutzutage in den Krankenhäusern gibt. Nur ein Stück Papier mit dem Namen der Mutter, dem des Babys und den Daten.« Sie reichte ihrer Nichte eins der Armbänder.

»Junge. Eugene«, las Beth. »5. Januar 1972. 3231 Gramm. Mutter: Loretta.«

»Loretta war natürlich nicht ihr richtiger Name«, sagte Katie. »Im Heim hießen sie alle anders. Und eins kann ich dir sagen: Es wurde streng darauf geachtet, dass ausschließlich die falschen Namen benutzt wurden.«

»Eugenes Name wurde nach seiner Adoption bestimmt auch geändert«, meinte Beth und strich über die Schrift.

»Wahrscheinlich. Gott allein weiß, wo der kleine Kerl letztlich gelandet ist.«

»Aber wo auch immer er jetzt ist – er würde das Armband und deine Notizen sicher gerne haben wollen. Beides könnte ihm helfen, seine biologische Mutter zu finden.«

»Falls er das möchte. Aber vielleicht hat er das auch längst schon getan. Immerhin ist er jetzt sechsundvierzig, und Loretta dürfte an die siebzig sein.«

Beths runde blaue Augen glänzten. Nicht nur ihren kleinen Mund und die schmale Nase, auch die Augen hatte sie von ihrer Familie mütterlicherseits geerbt. Aber während Katie und Margo unter ihren eher flachen Gesichtern gelitten hatten, war Beth mit den markanten Wangenknochen ihres Vaters gesegnet. Jetzt, mit achtundzwanzig, sah sie aus wie eine verbesserte Ausgabe ihrer Mutter.

»Wie viele Armbänder hast du?«, fragte sie.

»Siebenundvierzig. Ich habe etwas mehr als ein Jahr in Carrigbrack gearbeitet, lange genug, um die Geburt von über fünfzig Kindern mitzuerleben. Es gab drei Totgeburten, und drei weitere Babys starben schon nach wenigen Tagen. Oh, und ein paar Armbänder sind mir aus verschiedenen Gründen durch die Lappen gegangen. Natürlich sollten wir sie nicht aufheben, und wenn meine Sammlung entdeckt worden wäre, hätte das ziemlichen Ärger für mich bedeutet.«

Als sie die toten Babys erwähnte, bemerkte Katie, dass Beth die Lippen aufeinanderpresste. Auch wenn die Sterberate höher gewesen war, als sie hätte sein sollen, so versuchte Katie sich doch mit dem Wissen zu trösten, dass es in anderen Heimen noch schlimmer zugegangen war. Und dennoch: In Carrigbrack war sie den Ansprüchen ihrer Ausbildung nicht gerecht geworden. Die jungen Frauen hatten unnötig gelitten, und sie hatte ihren Teil dazu beigetragen.

»Und du hast die Armbänder die ganze Zeit über aufbewahrt?«, fragte Beth.

»Na ja, ich habe sie mir zwar nicht tagtäglich angesehen, aber wegwerfen konnte ich sie auch nicht.«

Schon zu Schulzeiten war Katie geradezu peinlich organisiert gewesen. Ihre Hausaufgaben hatte sie immer pünktlich fertig gehabt, sodass ihre Mitschüler von ihr abschreiben konnten. Auch wenn es anderen merkwürdig erscheinen mochte, sie hätte diesen Karton voller Namen niemals entsorgen können.

Beth gab ihr das Armband zurück und nahm ein anderes aus der Box. »Mädchen. Jaqueline. 10. November 1971. 2834 Gramm. Mutter: Hanora Culligan«, las sie laut.

»Ich erinnere mich an sie. Du lieber Himmel, sie war erst vierzehn, und auch das nur knapp! Ihr richtiger Name war Christine. Chrissie. Sie war von einem Nachbarn vergewaltigt worden.«

»O Gott.« Beth wischte sich eine Träne weg. »Die Arme. Ich hoffe, sie hat danach trotzdem noch ein gutes Leben gehabt. Auch wenn sie einfach nur fertig gewesen sein muss, als sie Carrigbrack verlassen hat.«

»Man weiß es nicht. Ich bin immer wieder erstaunt, was Menschen überleben können. Vielleicht hat sie nach Carrigbrack auch nie wieder zurückgeschaut.«

»Glaubst du das im Ernst?«

»Ich bin mir nicht sicher. Aber zumindest würde ich es gern glauben.«

»Es wäre toll, das herauszufinden.«

»Das wäre es«, sagte Katie leise. Je länger sie darüber sprachen, desto mehr war sie von ihrem Plan überzeugt. Ja, es würde bestimmt nicht immer einfach sein. Manche der Geschichten wären sicherlich ziemlich aufwühlend. Vielleicht würde sie auch Menschen kontaktieren müssen, an die sie sich lieber nicht mehr erinnert hätte. Bisher hatte sie nur eine ungenaue Vorstellung davon, wie sie vorgehen würde, aber eins wusste sie ganz sicher: Wenn sie jemandem dabei helfen konnte, eine Tür zu öffnen, dann würde sie es tun. Sie lächelte Beth an. »Wie du schon gesagt hast, die Männer und Frauen, die in Carrigbrack geboren wurden, könnten dankbar für die paar Informationen darüber sein, wie ihr Leben begonnen hat.«

»Außer …« Beth zögerte.

»Sag schon.«

»Versteh mich bitte nicht falsch. Ich finde, das ist eine hervorragende Idee. Aber ich frage mich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist. Schau uns doch an. Schon wegen der paar Papierstreifen sind uns die Tränen gekommen. Ich kann mir gut vorstellen, wie Mam reagiert, wenn sie davon erfährt. ›Seid ihr verrückt?‹, wird sie sagen. ›Was müsst ihr euch solche Probleme aufhalsen, und das, wo Johnny gerade erst unter der Erde ist.‹«

»Dann sollten wir ihr nichts davon erzählen.«

»Damit hätte ich kein Problem, aber …«

»Es muss keine Probleme geben. Und was das Timing angeht … auch wenn ich diese Phrasen über den Tod immer gehasst habe, scheinen sie doch ein Fünkchen Wahrheit zu enthalten. Wenn jemand, der dir nahesteht, stirbt, fragst du dich ganz automatisch, wie viel Zeit dir selbst noch bleibt. Wenn ich es jetzt nicht tue, dann besteht die Gefahr, dass ich es später bereue. Einige der Beteiligten werden vielleicht nicht mehr viele Jahre leben. Und außerdem ist es ja nicht so, dass ich mich den Frauen aufdrängen will. Ich möchte einfach nur eine Anzeige in die Zeitung setzen und, wenn sich jemand daraufhin meldet, mit ihm oder ihr reden.«

»Mein neuer Job fängt erst in ein paar Wochen an«, sagte Beth. »So lange kann ich dir dabei helfen, wenn du willst.«

»Danke, Liebes. Das wäre schön.«

»Und wenn dich wirklich Leute kontaktieren, was dann?«

»Bekommen sie von mir alle Informationen, die ich zu ihrem Fall besitze, und das war’s dann. Glaub mir«, sagte Katie, »ich habe nicht vor, mich in das Leben anderer einzumischen.«

Kapitel 3

Katie

Beth war der Meinung, dass sie einen Beitrag über die Armbänder in einem Onlineforum zum Thema Adoption posten und eine extra dafür eingerichtete E-Mail-Adresse angeben sollten. Wenn jemand mehr Informationen wünschte, könnte er ihnen so eine Nachricht schicken.

Katie überzeugte die Idee nicht besonders. »Schau mich nicht so an, als würde ich hinterm Mond leben«, sagte sie. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass die Leute, die wir erreichen wollen, eher Zeitung lesen.«

»Mag sein. Aber eine Anzeige ist am Tag nach ihrem Erscheinen schon wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden. Ein Eintrag in einem Forum für Adoptionen wäre dagegen für unbegrenzte Zeit sichtbar. Ich verspreche dir, dass so mehr Leute davon erfahren. Zudem die richtigen. Denn mit einer Anzeige in die Zeitung läufst du Gefahr, dass zum Beispiel auch unsere Familie Wind davon bekommt. Und nach allem, was du gestern erzählt hast, denke ich, es wäre besser, den Ball flach zu halten. Oder nicht?«

»Meinen Namen hätte ich ja auch nicht in die Zeitung gesetzt. Ich hatte vor, mich als ehemalige Krankenschwester in Carrigbrack oder so zu bezeichnen.«

»Das spielt keine Rolle. Wenn zum Beispiel Mam die entsprechende Zeitspanne sieht, wird sie sich schon denken können, dass du dahintersteckst. Bei einem Beitrag in dem Forum ist die Gefahr, dass sie von unserem Projekt erfährt, viel geringer.«

»Na gut. Dann zeig mir mal das Forum, an das du gedacht hast, und ich überlege es mir.«

Beth lachte. »Du stellst dich vielleicht an.«

Sie saßen wieder in Katies Küche in Drumcondra. Vom Studentenheim abgesehen, reihten sich in der Griffin Road rote Backsteinhäusern aneinander. Ihre schmiedeeisernen Zäune glänzten, die Rosenstöcke waren akkurat gestutzt, und die Mülltonnen wurden an den richtigen Tagen raus- und wieder reingestellt. Katie und Johnny hatten Mitte der Siebzigerjahre die Nummer 89 gekauft. Mit einem Kredit über eine Summe, die jungen Leuten heute lächerlich niedrig vorkommen musste, die damals aber Katie dazu gebracht hatte, durch die noch leeren Räume zu stapfen und in einem Tonfall »dreißigtausend Pfund« zu murmeln, in dem heute jemand »eine Million Euro« sagen würde. Sie war hin- und hergerissen gewesen zwischen dem guten Gefühl der Sicherheit, ein solides Haus zu besitzen, und der Angst, vom Schuldenberg erdrückt zu werden.

Johnny war, wie es seine Art war, vollkommen locker damit umgegangen. Stück für Stück hatte er das Reihenhaus mit seinem handwerklichen Geschick in ein wahres Schmuckstück verwandelt. Die Möblierung war hingegen Katies Aufgabe gewesen. Sie hatte nicht gerade wenige Einrichtungsläden durchstöbert und Tapetengeschäfte, Auktionen und Lagerverkäufe besucht. Ansonsten hatte sie so lange jede freie Minute mit Streichen und Nähen verbracht, bis Nummer 89 genau ihren Vorstellungen entsprach. Sie erinnerte sich noch, wie ihr Mann ihr dabei manchmal eine Hand auf den Rücken gelegt und sie aufs Haar geküsst hatte. Sie hatten damals große Pläne gehabt.

Wenn sie sich jetzt umschaute, war ihr durchaus bewusst, wie veraltet die Küche inzwischen wirkte. Im Badezimmer war ein Fleck an der Wand, die Diele auf dem Treppenabsatz knarrte immer noch enervierend, und zwei Lichtschalter mussten repariert werden. Und ja, mit drei Schlafzimmern war das Haus zu groß für eine alleinstehende Frau. Dennoch war sich Katie einer Sache sicher: Sie würde nicht umziehen.

Sie rückte auf ihrem Stuhl näher an Beth heran und sah auf den Computerbildschirm. Geboren im Mai 1967 in Cork – hoffe, meine biologische Mutter zu finden, lautete die Überschrift eines Posts. Eine andere: Soll ich einen DNA-Test machen? Und eine dritte: Eine Nachricht an meine Tochter, geboren im Januar 1982 in Mayo.

Beth klickte den nächsten Beitrag an, in dem ein Mann namens Richie um Rat bat. Auf der Beerdigung seiner Mutter sei eine ältere fremde Frau aufgetaucht und habe sich weinend in die hinterste Kirchenbank gesetzt. Später habe sie die Familie angesprochen. Seine Mutter sei auch ihre biologische Mutter gewesen. Sie hätten einander wiedergefunden, aber die Frau hätte Angst davor gehabt, es ihrer eigenen Familie zu sagen. Als Beweis habe die Fremde Richie und seiner Familie eine Geburtsurkunde gezeigt. Mit dem Namen seiner Mutter. Allerdings hatte Mam einen Allerweltsnamen, schrieb Richie. Wie können wir sicher sein, dass diese Frau tatsächlich unsere Schwester ist?

»Mensch, Richie«, sagte Beth, »warum zweifelst du noch! Glaubst du vielleicht, die arme Frau heult aus Spaß auf der Beerdigung von einer Fremden rum?«

»Vielleicht solltest du ihm das schreiben«, meinte Katie. »Wenn auch ein bisschen diplomatischer.«

»Keine Sorge. Das haben schon ein Dutzend anderer Forumsmitglieder getan.«

»Du warst schon öfter auf der Website unterwegs, oder?«

»Und auf ähnlichen. Und mal ehrlich, ich bin stinkwütend. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es dermaßen schwierig ist herauszufinden, wer deine biologischen Eltern sind! Nicht nur schwierig – in manchen Fällen sogar schier unmöglich. Die Hälfte der Akten scheint merkwürdigerweise Bränden oder Überschwemmungen zum Opfer gefallen zu sein. Und wenn man den öffentlichen Weg geht, dauert alles eine halbe Ewigkeit. Monatelang steht dein Name auf einer Warteliste, und selbst dann besteht noch die Gefahr, dass nichts passiert. Kein Wunder, dass viele Leute die Sache selbst in die Hand nehmen.«

Katie sah, wie die Schultern ihrer Nichte sich verhärteten. Zum ersten Mal bekam Beth eine Ahnung davon, welche Auswirkungen die Sünden der Vergangenheit auf die Gegenwart hatten. Sie begriff, dass die Geschichte sich nicht auf Schwarz-Weiß-Filme und verblichene Polaroids reduzieren ließ. Diese Frauen, diese Mütter, sie waren keine Ausstellungsstücke in einem Museum.

»Seltsam, dass so viele Unterlagen fehlen«, sagte Katie. »Wenn ich mich richtig erinnere, wurde damals alles protokolliert und katalogisiert. Egal, ob es eine Babywindel oder ein Stück Seife war – alles wurde irgendwo aufgelistet.«

»Dann wirst du diesem Forum eine Chance geben?«, fragte Beth. »Bitte, bitte?«

»Na schön, du hast mich überredet. Aber wenn wir absehen können, dass es nicht funktioniert, machen wir es auf meine Weise.«

Beth grinste. »Ich verspreche dir, Katie, es wird funktionieren.«

Und so begannen sie. Während der Regen gegen die Fenster prasselte, feilten sie so lange an den Sätzen, bis beide mit dem Wortlaut des Posts zufrieden waren.

Sie wurden im Mutter-Kind-Heim Carrigbrack im County Clare zwischen Juli 1971 und Dezember 1972 geboren und anschließend zur Adoption freigegeben? Sie würden gerne mehr über die Umstände Ihrer Geburt erfahren? Falls ja, könnte ich Ihnen vielleicht behilflich sein.

Ich habe damals als Krankenschwester in Carrigbrack gearbeitet und die Armbänder aufgehoben, auf denen die Namen der dort zur Welt gekommenen Babys vermerkt waren. Ich besitze sie noch immer und außerdem einige Informationen über die damals jungen Mütter.

Selbst wenn Sie nicht Ihre biologische Familie finden wollen, freuen Sie sich vielleicht über ein Andenken an Ihre ersten Lebenstage.

Wenn Sie glauben, dass Ihnen dies helfen könnte, nehmen Sie bitte Kontakt zu mir auf. Meine E-Mail-Adresse lautet: [email protected].

Ich verspreche, Ihre Anfrage mit äußerster Diskretion zu behandeln.

Zu Geburten vor Juli 1971 und nach Dezember 1972 habe ich leider keine Informationen. Auch bin ich nicht in der Lage, weitergehende Fragen zur Organisation des Heims zu beantworten. Ich war nur eine Angestellte, keine der Nonnen, die Carrigbrack geleitet haben.

Viel Erfolg bei Ihrer Suche. Ich bin mit meinen Gedanken bei Ihnen.

»Das hätten wir geschafft«, sagte Beth ein paar Minuten später, während die Website neu lud und ihr Beitrag ganz oben erschien. »Bald werden die ersten Antworten und E-Mails eintrudeln, und dann können wir mit unserer Detektivarbeit beginnen. Wie Miss Marple und ihr Assistent. Aber natürlich ohne Leichen.«

»Ich habe es dir doch gestern schon gesagt«, Katie unterdrückte ein Lächeln, »dass es keine Detektivarbeit geben wird. Wenn mich jemand kontaktiert und ich helfen kann, werde ich das tun. Wenn ich mir sicher bin, dass dieser Jemand die richtige Person ist, dann stecke ich ihm sein Armband in die Post. Oh, und ich möchte dich doch darauf hinweisen, dass ich wesentlich jünger bin als Miss Marple.«

»Kritik angekommen.« Beth klemmte sich eine Strähne ihres langen blonden Haars hinter ein Ohr. »Kann ich dich etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Was hat Mam eigentlich damals von deinem Job in Carrigbrack gehalten?«

»Ich bin mir nicht sicher. Margo ist ja neun Jahre jünger als ich, sie war damals also erst dreizehn. Und unsere Eltern waren streng. Ich glaube nicht, dass sie eine eigene Meinung haben durfte.«

»Heutzutage würde sie das nicht davon abhalten, doch eine zu haben.«

Katie schwieg. Margo hatte tatsächlich zu allem eine Meinung. Als ihre Schwester noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte Katie sich liebend gern um sie gekümmert, wie um ein Püppchen. Doch mit der Zeit hatte ihr Interesse an Margo nachgelassen, und ihre Bindung war nie mehr so stark wie damals gewesen. Vielleicht hätte sich Katie mehr anstrengen sollen, um Margo zu verstehen, aber sie fürchtete, dass es dafür inzwischen zu spät war.

Mit zweiundzwanzig hatte ihre Schwester Con Linnane geheiratet, den ältesten Sohn des wichtigsten Landbesitzers in Danganstown. Sein Land war noch dazu gutes Land, keine sumpfigen Felder wie das von ihren Nachbarn, wo nur Kreuzkraut wuchs. Die Schnepfen, die man dort jagen konnte, waren das Einzige, mit dem das Land etwas zu einer ordentlichen Mahlzeit beisteuerte. Die Linnanes hatten sich ein kleines Herrenhaus hübsch hergerichtet und es mit Kindern gefüllt. In Anbetracht dessen, dass Beth das einzige Mädchen war, hatte Katie gedacht, Margo wäre über ihre Rückkehr nach Irland begeistert. Aber zwischen Mutter und Tochter schien es Schwierigkeiten zu geben. Am liebsten hätte Katie gefragt, was genau das Problem war, entschied sich aber dagegen. Auch, weil sie Beth über Margo und Carrigbrack nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Katies Erfahrung nach konnte zu viel Ehrlichkeit genauso gefährlich sein wie zu wenig.

Drei Tage lang geschah gar nichts. Wieder und wieder öffnete Katie ihren neu eingerichteten E-Mail-Account in der Hoffnung, dass jemand ihr geschrieben hatte. Einige der Forumsmitglieder hatten geradezu feindselig auf ihren Beitrag reagiert. Jemand wollte wissen, warum sie so lange gebraucht hatte, um ihre Hilfe anzubieten. Ein anderer hinterfragte die Gründe, aus denen sie in Carrigbrack gearbeitet hatte. In Großbuchstaben beschimpfte er sie als Kollaborateurin und Gehilfin der Grausamkeit. Hass tropfte aus dem Bildschirm.

Sie wollte sich erklären, doch Beth hielt sie zurück. »Damit fütterst du nur Trolle«, sagte sie.

Nicht zum ersten Mal musste Katie sie bitten, ihr zu erklären, was sie meinte.

Da ihr Posteingang leer blieb, verbrachte sie Zeit damit, im Forum Geschichten von Betroffenen zu lesen. Eine war trauriger als die nächste. Dann sah sie sich in anderen Foren um. Und begriff, dass man solche Seiten unbedingt meiden sollte, wenn es einem nicht gut ging. Zwar gab es im Adoptionsforum auch viel Mitgefühl, aber auf anderen Seiten war der Tonfall geradezu brutal. Politiker waren erbärmlich, Schauspieler talentfrei und die meisten Gegenden gefährlich. Das Land war kaputt und korrupt, und wenn man irgendetwas davon infrage stellte, war man ein Ignorant oder dumm.

In der darauffolgenden Nacht träumte sie von Carrigbrack. Es war einer dieser plastischen Träume, in denen jedes kleinste Detail vergrößert wurde und jede Szene echt wirkte, egal, wie unrealistisch sie eigentlich war. Schweißgebadet wachte Katie auf, das Nachthemd klebte ihr an der Haut.

Am Morgen war sie todmüde, ihr Kopf bleischwer. Jeder Schritt kostete sie Überwindung. Vielleicht war es ja falsch gewesen, dachte sie. Vielleicht hatte sie falsch gehandelt, nur um sich der Frage »Was wirst du jetzt tun?« nicht stellen zu müssen. Ja, sie brauchte eine Aufgabe, um ihre Tage auszufüllen – doch diese war nicht die richtige. Ob Beth ihren Beitrag wieder aus dem Forum löschen konnte?

Und dann traf sie ein.

Der Betreff der ersten E-Mail lautete: Über jegliche Hilfe dankbar.

Hi,

ich bin im Internet gerade auf Ihren Post gestoßen und hoffe, dass Sie mir weiterhelfen können.

Ich bin siebenundvierzig Jahre alt, und aus Gründen, die zu kompliziert sind, um sie hier zu erläutern, habe ich erst vor Kurzem erfahren, dass ich adoptiert wurde.

Wie sich herausgestellt hat, ist meine Geburtsurkunde gefälscht. Sie ist auf »Gary Winters« ausgestellt, aber das ist nicht mein ursprünglicher Name. Meine Adoptiveltern werden dort als meine biologischen Eltern aufgeführt.

Meine Adoptivmutter sagt, ich wurde in Carrigbrack geboren. Mehr wisse sie nicht.

Mein Geburtstag ist der 12. August 1971. Besitzen Sie ein Armband für einen Jungen, der an diesem Tag geboren wurde? Und erinnern Sie sich an irgendetwas von meiner Mutter?

Hoffnungsvoll, Ihr

Gary Winters

Co. Wicklow

Katie war so aufgeregt wie ein Kind beim Anblick eines Geschenks, mit dem es nicht gerechnet hat. Selbst wenn sie Beth bitten würde, den Beitrag zu löschen – Gary würde sie noch antworten. Kaum hatte sie ihm eine Mail geschrieben, meldete er sich bereits zurück.

Er schrieb, er sei es gewöhnt, dass es immer zu Komplikationen komme, aber diesmal sei er zuversichtlich, dass ihre Informationen von Bedeutung für ihn sein könnten. Wenn ich mich jetzt gleich in den Wagen setze, schrieb er, kann ich in weniger als einer Stunde bei Ihnen sein.

Katie rief Beth an, um sie um Rat zu fragen. Niemand ging ran. Sie schrieb ihr eine SMS, ließ es ein weiteres Mal bei ihr klingeln. Immer noch keine Antwort.

Zwanzig Minuten später rief Beth zurück. »Ich vermute mal, es gibt Neuigkeiten?«, sagte sie zur Begrüßung.

Während Katie ihr die E-Mail vorlas, murmelte ihre Nichte leise etwas vor sich hin. Als sie geendet hatte, sagte Beth: »Gary Winters? Der Gary Winters?«

»Sollte ich ihn kennen?«

»Nicht unbedingt, aber wenn er wirklich der Gary Winters ist, dann kennen ihn eine Menge Leute.«

Da Katie immer noch vor ihrem Laptop saß, gab sie »Gary Winters« bei Google in die Suchmaske ein. Ein Wikipedia-Eintrag und mehrere Fotos von einem tätowierten dunkelhaarigen Mann erschienen als Ergebnis. Auf den meisten Bildern war sein Oberkörper nackt.

»Oh«, sagte sie.

»Ist das der Richtige?«, fragte Beth.

»Er ist definitiv im gleichen Alter wie unser Gary. Außerdem«, sie öffnete den Wikipedia-Artikel, »steht hier dasselbe Geburtsdatum.«

»Wow.«

»Hast du morgen früh zufällig Zeit? Ich habe mich mit ihm verabredet.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«

»Doch, ich fürchte schon«, erwiderte Katie, die bereits bereute, aus einer Mischung aus Neugier und Höflichkeit auf Garys Bitte eingegangen zu sein. Sie hatte sich darauf eingestellt, dass in manchen Fällen ein Treffen notwendig sein würde, aber in diesem ganz speziellen befürchtete sie, dass es umsonst war. »Der Haken ist leider«, sagte sie, »dass ich meine Notizen und alle Armbänder bereits durchgegangen bin. Am 12. August 1971 hat es in Carrigbrack keine Geburt gegeben.«

»Okay«, sagte Beth. »Und das bedeutet …?«

»Dass ich entweder etwas übersehen habe oder irgendjemand hier nicht die Wahrheit sagt.«

Kapitel 4

Gary

Gary konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so nervös gewesen war. Als Black Iris in der Hollywood Bowl gespielt hatten und es sich angefühlt hatte, als ob sämtliche Weltstars backstage waren? Oder als sie am dritten Abend von Rock in Rio die Hauptband gewesen waren und sich zweihunderttausend Leute dicht an dicht vor ihnen drängten? Oder war es noch viel früher gewesen, als er seinen Eltern gesagt hatte, dass er das College verlassen würde, um stattdessen mit seiner Rockband auf Tour zu gehen?

Er griff nach einem Teelöffel, ließ ihn von einer Hand in die andere wandern. »Wissen Sie«, sagte er zu Katie, »ich muss ständig an diese Bilder denken, die ich im Fernsehen gesehen habe – Jungs und Mädchen in Erziehungsanstalten und dann dieser Ort in Galway, wo Babys in einer Klärgrube begraben wurden. Ich hatte damals ja keine Ahnung, dass ich Teil von alledem bin. Aber jetzt, wo ich das weiß, muss ich herausfinden, wer meine Leute sind.«

»Ihre Leute«, sagte Katie mit sanfter Stimme, als würde sie sich über seine Wortwahl wundern.

Gary war bewusst, dass er sich in ihren Ohren wie ein Amerikaner anhören musste. Er hatte so viele Jahre in den Staaten verbracht, dass er die Art und Weise, wie man in seiner Wahlheimat sprach, verinnerlicht hatte.

Katie war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Sie war alt, das ja. Aber nicht alt-alt. Er hatte sich eine beleibtere Matrone mit dicken Beinen und stahlgrauen Haaren vorgestellt. Jemanden, der einem Furcht einflößen konnte. Doch stattdessen hatte ihn eine kleine blonde Frau in beigefarbenen Hosen und mit einer marineblauen Jacke begrüßt. Es hatte ihn berührt, als sie sich selbst als Witwe vorstellte – als müsste sie sich noch vorsichtig an das Wort herantasten. Er vermutete, dass ihr Verlust noch frisch war. Auch hatte er nicht damit gerechnet, dass eine Art Assistentin bei dem Treffen dabei sein würde. Die Art, wie Beth und Katie gegenseitig ihre Sätze beendeten, ließ vermuten, dass sie einander besser kannten.

»Wir wissen, wer Sie sind«, hatte Katie gesagt, als sie sich von dem schwarzen Lesersessel erhob, um ihn zu begrüßen. »Ehrlich gesagt hat Beth mich erst aufklären müssen. Grunge als Musikrichtung ist an mir vorbeigegangen, aber wie es scheint, sind Sie damit ziemlich erfolgreich.«

Er war geschmeichelt, dass sie nicht in der Vergangenheit sprach. Black Iris hatten ihre Hochzeit in den Neunzigern gehabt – drei Billboard-Nummer-eins-Alben, neun Grammys, viermal auf dem Cover des Rolling Stone. Seit drei Jahren hatten sie nicht mehr zusammen auf der Bühne gestanden oder waren im Studio gewesen. Als er das Gresham Hotel betreten hatte und zur Bar gegangen war, hatten sich ein oder zwei Leute nach ihm umgedreht, aber selbst auf dem Höhepunkt des Ruhms hatte er selten für große Aufregung gesorgt. Schließlich war Anton der charismatische Frontmann, Ray der berühmte Gitarrist und Liamo der durchgeknallte Schlagzeuger. Gary spielte Bass, und wer erinnerte sich schon an den Bassisten – wenn es sich bei dem nicht gerade um Paul McCartney oder Phil Lynott handelte?

Obwohl Katie ihn vorgewarnt hatte, dass sie kein Armband von dem Tag seiner Geburt besaß, hatte ihn dies nicht allzu sehr entmutigt. Schließlich tauchten seine biologischen Eltern nicht mal auf der Geburtsurkunde auf – da überraschte es ihn nicht, dass auch das Geburtsdatum falsch war. Aber wenn er von Katie ihre gesamten Aufzeichnungen für Juli, August und September 1971 bekommen würde, wäre er mit Sicherheit in der Lage, seine Mutter zu finden.

Katie nippte an ihrem Tee. »Sie haben in Ihrer E-Mail geschrieben, dass Sie erst vor Kurzem erfahren haben, dass Sie adoptiert wurden. Das war bestimmt nicht einfach für Sie.«

»Am Anfang konnte ich es nicht glauben. Zumal ich wie der Rest meiner Familie aussehe. Ich habe zwei Schwestern – die biologischen Kinder meiner Eltern –, und wir alle haben dunkles Haar und braune Augen. Tja, wenn einem wieder und wieder eine Lüge aufgetischt wird, fällt es schwer, plötzlich etwas anderes zu glauben. Eine Zeit lang war ich wütend, doch irgendwann war keine Wut mehr in mir übrig. Jedenfalls kann ich mich über meine Kindheit nicht beklagen. Wir drei wurden alle gleich behandelt – gleich gut.«

Der Gedanke daran, dass seine Adoptiveltern freundliche, großzügige Menschen waren, hatte Gary geholfen, seine Situation zu akzeptieren. Er würde es niemals gutheißen, was sie getan hatten, aber er hatte genügend über schreckliche Kindheiten gehört, um dankbar für die Winters-Familie zu sein. Sein Bandkollege Ray hatte es nicht so gut gehabt, Prügel waren an der Tagesordnung gewesen. Dazu eine Mutter, die ihren Mann verteidigte, egal, wie er sich verhielt. Sich bei Ray über sein Schicksal zu beschweren wäre gewesen, als würde man über einen Papierschnitt im Finger jammern, während dem Typ neben einem eine Kugel in der Brust steckte.

»Ich hoffe, Sie verübeln mir die Frage nicht«, sagte Katie, »aber warum haben Ihre Eltern so lange gewartet, es Ihnen zu erzählen?«

Garys erster Impuls war, ihr etwas vorzulügen. Aber er hatte den Eindruck, Katie würde ihn durchschauen. »Das ist ein bisschen kompliziert. Mit Mitte dreißig war ich mit Posy Fuente zusammen. Vielleicht haben Sie …?«

»Sie ist Schauspielerin«, sagte Beth zu Katie.

Katie nickte heftig. »Ich weiß. Sie hat einen Preis beim Sundance Festival gewonnen.«

Gary bezweifelte, dass Katie Posys Name wirklich etwas sagte. Wahrscheinlich hatte sie nur gründlich recherchiert.

»Also«, sagte er, »Posy und ich haben eine Tochter. Allegra. Sie ist zehn. Ich sehe sie nicht so häufig, wie ich es gerne würde, aber … wir haben regelmäßig Kontakt. Und unseren Frieden miteinander gefunden, ihre Mutter und ich. Vor ungefähr einem Jahr bekam Allegra zum ersten Mal diese Krampfanfälle. Sie waren ziemlich schlimm, und die Ärzte konnten die Ursache dafür nicht finden. Also begannen sie zu recherchieren, ob es in Allegras Familie vielleicht einen Hinweis auf eine genetische Störung gab, die vererbbar war. Als sie in Posys Familie nichts finden konnten, wandten sie sich an mich. Ich wusste nichts von irgendwelchen Erkrankungen, fragte aber bei meinen Eltern nach. Anfangs waren ihre Antworten nur sehr vage. Sie wichen meinen Fragen aus und starrten auf den Boden. Ein oder zwei Wochen später hatte sich Allegras Zustand noch immer nicht gebessert, und die Ärzte waren genauso ratlos wie am Anfang. Damals war ich gerade in L.A. Also rief ich zu Hause an und sagte: ›Wenn ihr etwas wisst, irgendetwas, dann müsst ihr es jetzt sagen.‹ Daraufhin packten sie aus. Ich habe die Stimme meines Vaters noch im Ohr. ›Wir können es dir nicht sagen‹, erklärte er, ›weil wir es nicht wissen.‹«

»Wie geht es Allegra jetzt?«, fragte Beth.

»Inzwischen sehr viel besser, danke. Sie muss Medikamente nehmen und so, und Posy lässt sie nicht aus den Augen. Aber die Kleine macht das einfach toll.«

»Das ist gut zu hören«, sagte Katie. »Ich vermute, Sie haben noch immer nicht herausgefunden, ob die Krankheit vererbt wurde?«

Gary veränderte seine Sitzposition. Es kam ihm vor, als wären seine Beine zu lang für den Sessel. »Nein, aber jetzt ist etwas anderes fast noch wichtiger geworden. Ich will meine biologische Mutter finden, weil ich ihre Geschichte erfahren möchte. Ich muss wissen, warum sie mich nicht behalten hat. Ob es ihr gut geht. Ob sie jemals geheiratet hat und ich noch Brüder und Schwestern habe. Und ob sie irgendetwas braucht. Ich bin nicht gerade arm, ich könnte ihr helfen.«

»Verstehe«, sagte Katie und hielt das Teesieb über ihre Tasse. Es war schon eine Weile her, seit Gary für einen Tee lose Blätter statt Beutel verwendet hatte. »Und ich weiß auch, dass es sich für Sie wahrscheinlich so anfühlt, als hätte Ihre Mutter Sie nicht gewollt. Aber glauben Sie mir, damit liegen Sie falsch. Ich bin mir sicher, sie hat Sie sehr geliebt. Es waren die Umständen damals … Die jungen Frauen hatten keine Wahl. Es hört sich schrecklich an, aber ziemlich viele Mütter dachten tatsächlich, ihren Babys ginge es woanders besser. Man hat ihnen eingeredet, sie wären nicht in der Lage, ein Kind großzuziehen.« Katie stockte. Es fiel ihr sichtbar schwer, darüber zu reden.

Gary vermutete, dass es ihm ähnlich gehen würde, hätte er an einem so fürchterlichen Ort gearbeitet. Trotzdem tat ihr Trost ihm gut.

»Das ist noch nicht alles«, sagte Beth. »Ich habe ein bisschen recherchiert. Anscheinend gab es damals keine Unterstützung für alleinstehende Mütter. Keinen Penny. Wenn die Familie Ihrer Mutter nicht bereit war, sie zu unterstützen, besaß sie vermutlich kein Geld, mit dem sie Sie hätte durchbringen können.«

»Was für ein System«, warf Gary ein.

»Haben Ihre Eltern gesagt, warum sie Ihre Adoption so lange geheim gehalten haben?«, fragte Katie.

»Und ist es nicht ungewöhnlich«, fügte Beth hinzu, »eine Geburtsurkunde fälschen zu lassen?«

Gary gab der Kellnerin ein Zeichen, ihm einen Kaffee zu bringen. Sie würden noch eine Weile hier sitzen. »Nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht denken.« Er wandte sich Katie zu. »Als Sie in dem Heim gearbeitet haben, haben Sie da je mitbekommen, dass Geburtsurkunden ohne den Namen der biologischen Mutter ausgestellt wurden?«

Sie dachte eine Weile nach. »Nein, aber das muss nichts heißen. In Carrigbrack wurde viel verheimlicht. Die Mütter wurden gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sie sich verpflichteten, nie nach ihrem Kind zu suchen. ›Abtretungserklärung‹, so hieß das. Sie hatten keine Rechte, geschweige denn eine Lobby. Der nächste logische Schritt könnte gewesen sein, dass ihr Name auf der Geburtsurkunde nicht auftauchte.«

»Damit es so aussah, als hätte es nie eine Adoption gegeben«, sagte Beth.

Garys Caffè Americano wurde gebracht. Er nahm einen gierigen Schluck. »Und das ist mein Problem. Es gibt keine Aufzeichnungen. Anscheinend wurde die ganze Angelegenheit über eine Cousine meines Dads abgewickelt, eine Nonne. Meinen Eltern wurde so gut wie nichts erzählt, nur dass ich in Carrigbrack zur Welt gekommen war, bester Gesundheit war und meine biologische Mutter aus einer ›anständigen‹ Familie stammte. Was immer das heißen sollte.«

»Und …«, begann Katie.

»Entschuldigung. Sie wollten wissen, warum sie mir nicht die Wahrheit gesagt haben, als ich noch ein Kind war?«

»Ja.«

»Zuerst einmal waren sie gerade erst in eine neue Gegend gezogen, sodass sie niemandem etwas erklären mussten. Niemand stellte ihnen unangenehme Fragen, warum sie plötzlich ein Baby hatten. Außerdem waren sie davon überzeugt, das Richtige zu tun. Und sie hatten Angst, dass ich später von den anderen Jungs in der Schule gehänselt werden würde, wenn die wüssten, dass ich adoptiert worden bin.«

»Ich verstehe«, sagte Katie. »Und wenn diese Nonne mit Ihrem Vater verwandt war, ist vorstellbar, dass sie einen ganz besonderen Handel für Ihre Familie herausschlagen konnte.« Sie unterbrach sich und hob eine Hand an den Mund. »Bitte entschuldigen Sie, Gary. So, wie ich das gesagt habe, hört sich das an, als hätten Ihre Eltern ein gebrauchtes Auto gekauft oder eine Fuhre Heu.«

Gary musste lächeln. »Schon okay.«

»Hat Ihnen die Nonne denn irgendwelche Informationen geben können?«, fragte Beth.

»Sie ist vor zwanzig Jahren gestorben.«

»Oh.« Katie ließ ihre Finger an ihrer Teetasse entlangfahren. »Wissen Sie, ich helfe Ihnen wirklich gern, sofern ich kann. Aber ich frage mich: Sie sind doch ein bekannter Mann. Wäre es da nicht einfacher, mit der ganzen Sache an die Öffentlichkeit zu gehen? Erzählen Sie Ihre Geschichte in einer Talkshow, oder wenden Sie sich an eine Zeitung. Jeder würde sich doch über ein Interview mit Ihnen freuen.«

Katie war ganz schön schlau, ging es Gary durch den Kopf. Einen Augenblick lang dachte er nach. Im Hintergrund klimperte jemand auf dem Klavier. Kaufhausmusik. Das störte ihn nicht; jeder Musiker musste irgendwie Geld verdienen. Um Katie und Beth zu erklären, warum er nicht an die Öffentlichkeit gehen wollte, müsste er seine Lebensgeschichte erzählen. Er müsste ihnen deutlich machen, dass er sich in Kreisen bewegt hatte, in denen das Leben eine einzige Party war. Seit er mit neunzehn das erste Mal mit Black Iris nach Amerika gereist war, hatte er alle Klischees eines Rockstars ausleben können – und es in den meisten Fällen auch getan. Wie hieß es so schön in dem Warnhinweis zu Beginn seines Lieblingspodcasts über wahre Verbrechen? »Diese Story beinhaltet anstößige Sprache und erotischen Inhalt.« Zwei Jahrzehnte lang war er von einer Stadt zur nächsten gereist. Er war auf den besten Partys gewesen – und auch auf einigen der schlechtesten. Er hatte sämtliche Formen von Exzess kennengelernt, auf jedem Kontinent.

Er redete sich gerne ein, dass es ihm wesentlich besser ergangen war als den meisten anderen. Er war weder alkohol- noch drogensüchtig geworden. Sein Hirn hatte sich nicht verflüssigt. Und er litt auch unter keinen ansteckenden Krankheiten. Worunter er allerdings litt, war ein ziemlich verkorkstes Privatleben.

Aus seiner ersten Ehe mit einer Sängerin namens Lorena Sands waren zwei Söhne hervorgegangen. Sie waren inzwischen erwachsen, und er traf sie ab und zu. Zum Glück hatte seine zweite Ehe – mit dem Model Carly McCall – nicht lange genug gehalten, als dass sie Kinder bekommen hätten. Trotzdem hatte er noch einen Sohn, das Ergebnis einer Affäre mit einer Journalistin. Und dann war da noch Allegra. Auch wenn sie sechstausend Meilen entfernt lebte, hoffte er, dass er eine gute Beziehung zu ihr hatte. Mehr als zwanzig Jahre nach der Geburt seines ersten Kindes war er endlich dabei zu lernen, was es hieß, Vater zu sein.