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Das Geheimnis der Hebamme E-Book

Sabine Ebert

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Beschreibung

Lassen Sie sich entführen ins Sachsen des 12. Jahrhunderts … Das Deutsche Reich unter Kaiser Barbarossa: Weil sein Sohn tot geboren wurde, will Burgherr Wulfhart der jungen Hebamme Marthe Hände und Füße abschlagen lassen. Nur mit knapper Not gelingt ihr die Flucht aus ihrem Dorf. Um zu überleben, schließt sich das Mädchen einer Gruppe Siedler an, die ostwärts in das heutige Sachsen ziehen, um sich in dem noch unerschlossenen Gebiet ein neues, freies Leben aufzubauen. Angeführt werden sie von dem edlen Ritter Christian, der sofort von Marthe fasziniert ist. Doch ihre Schönheit und ihre besondere heilende Gabe haben auch die Aufmerksamkeit von Randolf erregt, Christians erbittertstem Feind. Da wird in Christians Dorf Silber gefunden … Das Geheimnis der Hebamme von Sabine Ebert: Historischer Roman im eBook!

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Sabine Ebert

Das Geheimnis der Hebamme

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Lassen Sie sich entführen ins Sachsen des 12. Jahrhunderts.

Das Deutsche Reich unter Kaiser Barbarossa: Weil sein Sohn tot geboren wurde, will Burgherr Wulfhart der jungen Hebamme Marthe Hände und Füße abschlagen lassen. Nur mit knapper Not gelingt ihr die Flucht aus ihrem Dorf. Um zu überleben, schließt sich das Mädchen einer Gruppe Siedler an, die ostwärts in das heutige Sachsen ziehen, um sich in dem noch unerschlossenen Gebiet ein neues, freies Leben aufzubauen. Angeführt werden sie von dem edlen Ritter Christian, der sofort von Marthe fasziniert ist. Doch ihre Schönheit und ihre besondere heilende Gabe haben auch die Aufmerksamkeit von Randolf erregt, Christians erbittertstem Feind. Da wird in Christians Dorf Silber gefunden.

Inhaltsübersicht

Dramatis Personae

Prolog

ERSTER TEIL

1167 in Franken

Die Flucht

Zur gleichen Zeit auf dem Burgberg in Meißen

Unterwegs

Der Fluch

Der Zweikampf

Die Warnung

Der Überfall

Die Würze des Lebens

Der Dunkle Wald

ZWEITER TEIL

Audienz beim Markgrafen

Hedwigs Söhne

Das Mahl in der Halle

Die alte Muhme

Ausgeliefert

Riskantes Bündnis

Die Hochzeit

Unglückliche Heimkehr

Vertrauliche Gespräche

DRITTER TEIL

Mai 1168

Zurück auf dem Burgberg

Unter Verdacht

Schnelle Entscheidungen

Unterwegs zum Kaiser

Juni 1168, Hoftag in Würzburg

Feine Fäden

Getrennte Wege

Bertholds Dorf

Zukunftspläne

Die Jagd

VIERTER TEIL

April 1169

Randolfs Einzug

Neuankömmlinge

Vorzeichen

Blutgericht

Gefangen

Todesbotschaften

Auf der Suche

Burg Landsberg bei Leipzig

Befreit

Die Nacht

Abrechnung

Die Entscheidung

Heimkehr

Nachbemerkung

Glossar

Bonusmaterial

Leseprobe »Der Silberbaum. Die siebente Tugend«

Dramatis Personae

Aufstellung der wichtigsten handelnden Personen. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

 

Bewohner von Christiansdorf

Marthe, eine junge Hebamme und Kräuterkundige

Christian, Ritter im Dienste des Meißner Markgrafen Otto von Wettin und Anführer der Siedler*

Lukas, sein Knappe

Jonas, der Schmied, und seine junge Frau Emma

Hildebrand, der Dorfälteste, seine Frau Griseldis und sein Sohn Bertram

Guntram und seine Frau Bertha

Wiprecht, ein Witwer, mit seinem Sohn Karl und den Töchtern Marie und Johanna

Grete, eine alte Witwe, mit ihren Söhnen Martin und Kuno

Kaspar und Hiltrud

Gernot, ein Köhler

Bartholomäus, der Dorfpfarrer

Bergmeister Hermann und seine Tochter Gertrud

Hartwig, von Randolf eingesetzter Verwalter des Herrenhofes

 

Meißen

Otto von Wettin, Markgraf von Meißen*

Hedwig, seine Gemahlin*

Albrecht* und Dietrich*, ihre Söhne

Gerung, Bischof von Meißen*

Hermann, kaiserlicher Burggraf*

Randolf, Ottos mächtigster Vasall und erbitterter Feind Christians

Giselbert, Ekkehart und Elmar, Randolfs Freunde

Raimund, Ritter im Dienste Ottos und Freund Christians

Elisabeth, Raimunds Frau

Richard und Gero, Freunde Christians

Arnulf, Waffenmeister im Dienste Ottos

Aloisius, Astrologe

Susanne, Magd im Dienste Hedwigs

Josefa, eine weise Frau

Oda, geheimnisvoller Gast an Ottos Hof

 

Hochadel und Geistlichkeit

Kaiser Friedrich von Staufen, genannt Barbarossa*

Beatrix von Burgund*, seine Gemahlin

Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern*

Mathilde*, seine Gemahlin

Albrecht der Bär, Markgraf von Brandenburg*, Vater von Hedwig und erbittertster Gegner Heinrichs des Löwen

Ottos Brüder Dedo von Groitzsch*, Dietrich von Landsberg, Markgraf der Ostmark*, Graf Friedrich von Brehna* und Heinrich von Wettin*

Konrad*, Sohn Dietrichs von Landsberg

Erzbischof Wichmann von Magdeburg*

Rainald von Dassel*, langjähriger Kanzler und Vertrauter des Kaisers und Erzbischof von Köln

Ludwig der Eiserne*, Landgraf von Thüringen

Christian von Oldenburg*

 

Weitere handelnde Personen

Wulfhart, Burgherr von Marthes Heimatdorf

Irmhild, seine junge Frau

Oswald und Ludolf, bewaffnete Knechte Wulfharts auf der Suche nach Marthe

Friedrich und Hans, Salzfuhrleute aus Halle

Ludmillus, ein fahrender Sänger, und sein Begleiter Hilarius

Berthold* und Konrad*, die Herren der Nachbardörfer von Christiansdorf

Prolog

Vor vielen hundert Jahren schien das Leben fest gefügt. Jeder hatte von Geburt an seinen Platz auf Erden. Doch plötzlich gerieten die Dinge in Bewegung. Wer sich den Siedlerzügen in den Osten anschloss, hatte die Chance auf ein neues, besseres Leben.

Der Preis dafür war hoch. Die Wagemutigen, die mit wenig Habe aufbrachen, mussten alle Brücken hinter sich abbrechen und ins Ungewisse ziehen. Durch dunkle Wälder, in unbekannte Lande, weiter weg, als sie das Ende der Welt wähnten. Was sie am Ziel erwartete, wussten sie nicht. Nur eines: Nicht jeder würde es erreichen.

Doch viele Tausende wagten es. Und Unerwartetes geschah.

ERSTER TEIL

Der Siedlerzug

1167 in Franken

Mach schon, prügle sie, bis sie Gehorsam gelernt hat«, forderte Ludolf wutschnaubend seinen älteren Begleiter auf. Oswald, der Anführer der schwer bewaffneten Knechte von der Burg, hatte bereits die rechte Faust geballt. Doch noch musterte er eher mit Staunen und grimmiger Belustigung das zierliche Mädchen mit dem kastanienbraunen Zopf, das vor ihm stand.

Noch nie hatte es jemand gewagt, sich ihnen zu widersetzen – und schon gar kein Weibsbild. Die hier war ja außerdem fast ein Kind und reichte ihm nicht einmal bis an die Schulter. Er hätte ihr mit einem einzigen Hieb seiner mächtigen Faust das Kinn zerschmettern oder die Nase zertrümmern können. Nur würde er damit seinem Herrn schlecht dienen. Der brauchte das aufsässige Weibsstück unversehrt – vorerst.

Marthe, um die sich der ganze Ärger drehte, war so verzweifelt, dass sie vollkommen vergaß, wie gefährlich es war, sich mit den zwei im ganzen Dorf gefürchteten Raufbolden anzulegen.

»Seht ihr nicht, dass sie stirbt? Ich kann jetzt nicht weg«, rief sie außer sich und wandte sich ab, um in der Kate wieder nach der todkranken Serafine zu schauen, ihrer Ziehmutter und weisen Frau des Dorfes.

Nun flammte auch in Oswald Zorn auf. Wenn dieses dreiste Ding meinem Herrn erst einmal gedient hat, werde ich ihr schon Gehorsam beibringen, dachte er wütend. Einen köstlichen Moment lang stellte er sich vor, wie sie wimmernd vor ihm auf dem Boden lag und um Gnade bettelte.

Er packte Marthe grob am Arm, zerrte sie aus der winzigen Hütte am Waldrand und brüllte: »Du kommst jetzt mit, du Missgeburt, oder du kriegst die Peitsche zu spüren! Wenn die Alte nicht kann, musst du eben dem Erben des Burgherrn auf die Welt helfen.«

 

Oswald, dessen linke Gesichtshälfte von einer schlecht verheilten Narbe entstellt war, saß auf, zerrte das Mädchen unsanft vor sich aufs Pferd und ritt scharf an.

»Mutter Fine!«, schrie Marthe Hilfe suchend und wollte sich noch einmal umdrehen. Doch Oswald hielt sie fest umklammert und trieb sein Pferd Richtung Burg.

Sie ritten rasch durch den kalten, regnerischen Märzmorgen. Ludolf, stämmig und mit strähnigem hellen Haar, hatte noch Marthes Korb mit Salben und Tinkturen geholt und folgte nun dicht hinter ihnen.

Marthe fror. Ihr Körper schmerzte von den Kanten des hölzernen Sattels und vom groben Griff des dunkelhaarigen Reiters, der nach Bier, Zwiebeln und Schweiß roch.

Bald ließ Oswald seine rechte Hand über ihren filzigen Umhang wandern. Das Mädchen erstarrte vor Schreck. In ihrer Angst zog sie das Pferd so heftig an der Mähne, dass es scheute und Oswald beide Hände brauchte, um es wieder unter Kontrolle zu bringen.

Hastig drehte sie sich zu ihm um. »Können wir nicht wenigstens im Dorf Bescheid sagen, damit Pater Johannes zu meiner Mutter geht? Ihr wollt doch nicht, dass sie ohne Absolution stirbt und im Höllenfeuer brennen muss?«

Ludolf schloss zu ihnen auf. »Was will die Kleine? Zärtlicher umfasst werden?«, rief er anzüglich grinsend herüber. Die Bewegung des anderen war ihm nicht entgangen.

»Nein, ’nen Priester für die alte Hexe. Als wenn die nicht sowieso schnurstracks in die Hölle fährt.« Oswald lachte boshaft.

Schlagartig wurde das Gesicht seines jüngeren Begleiters ernst. »Damit ist nicht zu spaßen. Mit dem Höllenfeuer nicht und auch nicht mit der Alten. Am Ende legt sie noch einen Fluch über dich.«

»Sie ist keine Hexe. Sie ist eine weise Frau, die nie jemandem etwas Böses tun würde. Bitte, lasst sie nicht allein sterben!«, flehte Marthe.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, brummte Oswald und rieb mit dem Handrücken über die gezackte Narbe in seinem Gesicht. »Aber meinetwegen. Im Dorf soll jemand den Priester losschicken.«

Erleichtert atmete Marthe auf. Pater Johannes würde Serafine beistehen. Und Oswald hatte aufgehört, nach ihrer Brust zu tasten. Seine Rechte hielt sie nun wieder mit hartem Griff umklammert.

 

Ein paar Hühner stoben laut gackernd beiseite, als die zwei Reiter durch das Dorf unterhalb der Burg preschten. Während sie an einem alten Mann vorbeiritten, der versuchte, ein mageres Schwein vom Weg zu treiben, brüllte Ludolf: »Du da! Lauf zum Priester und schick ihn zu der alten Wehmutter. Die liegt im Sterben.«

Der Alte blickte ängstlich auf. Aber als Marthe ihm nachschaute, sah sie erleichtert, dass er in Richtung der hölzernen Kirche humpelte.

In scharfem Galopp ritten die Männer durch das Burgtor und grüßten mit lässiger Handbewegung die Wache.

Oswald stieß Marthe vom Pferd und saß ab. Er warf die Zügel einem Stallburschen zu und schickte Ludolf auf die Suche nach dem Verwalter.

Mit einem Blick erfasste das Mädchen das übliche Durcheinander auf dem schlammigen Burghof. Schweine suhlten sich in einer Lache, gleich neben den Ställen lag ein riesiger Misthaufen, aus der Küche drang wüstes Geschrei, neben dem verwitterten Brunnen lagen herausgebrochene Steine.

Am Schandpfahl hing ein Mann bewusstlos in Stricken. Sein Rücken war von Peitschenhieben zerfetzt und blutverkrustet. Marthe wusste, wer der Unglückliche war. Im Dorf hatte sich am Vortag in Windeseile herumgesprochen, dass der Burgherr einen der armen Bauern für ein Strafgericht auf die Burg schaffen ließ. Oswalds Werk, erkannte sie beklommen angesichts des blutig geschlagenen Rückens. Jeder im Ort wusste, dass der Narbengesichtige ein krankes Vergnügen dabei empfand, die Peitsche zu schwingen. Seine Grausamkeit wurde nur von der des Burgherrn übertroffen.

Als ob die Bauern ihre Schulden schneller zahlen könnten, wenn er sie zu Tode prügelt, dachte sie bitter.

Sie unterdrückte den Impuls, zu dem Unglücklichen zu laufen und ihm zu helfen. So etwas wurde auf der Burg nicht geduldet. Wenn die Dunkelheit hereinbrach, würde sie versuchen, ihm wenigstens etwas Wasser zu bringen.

Ein Schmerzensschrei gellte aus den oberen Fensterluken des Bergfrieds.

»Hörst du, die Herrin braucht deine Hilfe«, knurrte Oswald.

Marthe schwieg.

Sie war nicht nur deshalb besorgt, weil dies ihre erste Entbindung ohne Serafines Hilfe sein würde. Ihre Lehrmeisterin hatte angesichts der fortschreitenden Krankheit darauf bestanden, dass Marthe auch allein Fiebernde behandelte und Kinder auf die Welt holte. Aber bisher war Fine immer dabei gewesen und hatte darauf geachtet, dass ihre junge Nachfolgerin alles richtig machte.

Doch Irmhild, die zarte Frau des Burgherrn, hatte noch nie ein gesundes Kind geboren. Bei einer Fehlgeburt und einer Totgeburt waren Serafine und Marthe schon an ihrer Seite gewesen. Jetzt kam sie vor der Zeit nieder, drei Monate zu früh nach Marthes Rechnung.

 

Wieder gellte ein Schrei über den Burghof.

Der Verwalter näherte sich Marthe und Oswald. Er war ein übellauniger Mann, dessen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht fast verschwanden. Sein dunkelblaues Übergewand war aus feinem Stoff, aber verschlissen und verschmutzt.

»Was bringt ihr da? Wo ist die alte Wehmutter?«, fragte er den Reisigen unwirsch.

»Die liegt im Sterben – nichts zu machen.« Bedauernd hob Oswald die Arme. »Da haben wir die junge mitgebracht.«

Der Verwalter musterte die zierliche Marthe.

»Du hast doch selbst noch kein Kind geboren – wie willst du da eines auf die Welt holen?«, fragte er abfällig.

»Ich werde mich bemühen, Herr«, antwortete sie so ruhig sie konnte. »Aber es ist noch viel zu früh für die Geburt eines gesunden Kindes. Vielleicht wäre es besser, eine erfahrene Wehmutter von weiter her zu holen.«

»Hat dir niemand Benehmen beigebracht?«, fauchte der Verwalter. »Auf die Knie! Die Frau hat zu schweigen und den Blick zu senken.«

Wie soll ich erkennen, was den Menschen fehlt, wenn ich sie nicht einmal anschauen darf?, dachte Marthe grimmig, während sie gehorchte. Dabei könnte ich schwören, dass deine Galle bald überläuft. Du solltest weniger üppig essen! Doch sie schwieg wohlweislich. Widerworte wurden nicht geduldet. Für ihren Rat hätte sie statt Dank nur Prügel bekommen.

Kalt betrachtete der Verwalter das kniende Mädchen, bis er ihr schließlich mit einem Wink bedeutete, aufzustehen und ihm zu folgen.

Die Halle war düster, eiskalt und rußgeschwärzt. In einer Ecke rauften ein paar Hunde. Burgherr Wulfhart saß allein am Tisch, vor sich Becher und Krug. Den Kopf auf einem Arm gestützt, blickte er nur kurz auf und starrte dann wieder ins Leere.

»Mein Herr, dieses junge Ding hier wird Eurer Gemahlin beistehen«, sagte der Verwalter ehrerbietig.

Schnell schob er Marthe nach vorn, die pflichtgemäß vor dem Ritter auf die Knie sank.

Wulfhart starrte sie aus glasigen Augen an.

Er ist schon am frühen Morgen betrunken, erkannte Marthe sofort und blickte schaudernd zu Boden. Ihr war, als könnte sie das Böse, das von Wulfhart ausging, um ihn wabern sehen.

»Du willst dich aufs Kinderholen verstehen? Wie alt bist du?«, raunzte Wulfhart.

»Beinahe vierzehn, Herr«, sagte Marthe und hielt den Blick starr nach unten auf die verdreckten Binsen gerichtet, die den Boden der Halle bedeckten. Genau wusste sie ihr Alter nicht; sie war eine Waise. Vor zehn Jahren hatte ein Haufen Gesetzloser Marthes Eltern totgeschlagen und die Schafe geraubt, die sie für den Burgherrn hüteten. Serafine, die bei der Schäfersfrau frische Kräuter hatte eintauschen wollen, entdeckte die Bluttat und fand die völlig verstörte Marthe in einem Gebüsch versteckt. Sie nahm sie bei sich auf und brachte ihr mit der Zeit alles bei, was sie selbst als Heilkundige wusste.

»Verzeiht, mein Herr, in der Kürze der Zeit konnten wir keine andere Wehmutter auftreiben«, beeilte sich der Verwalter hinzuzufügen und breitete bedauernd die Arme aus.

Aus den Räumen über ihnen hallte erneut ein Schrei.

Wulfhart blickte träge auf. »Mach, dass das Gejammer ein Ende hat, und verhilf mir endlich zu einem Sohn!«, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme. Dann plötzlich beugte er sich vor und brüllte: »Und sieh zu, dass es diesmal einer wird und nicht wieder so eine tote Missgeburt! Sonst lasse ich dir Hände und Füße abschlagen!«

Der Verwalter zerrte Marthe hoch und schob sie hinaus.

»Du hast gehört, was der Herr gesagt hat. Er pflegt seine Versprechen zu halten.«

»Ja, Herr«, antwortete Marthe kreidebleich.

Daran hatte sie keinen Zweifel.

 

Beklommen kletterte Marthe die Stufen zum Zimmer der jungen Burgherrin hinauf.

Die Kammer war abgedunkelt, wie bei einer Entbindung üblich, stickig und voller Rauch.

Irmhild lag wimmernd unter dicken Decken und Fellen auf ihrer Bettstatt, umgeben von mehreren Frauen, die Marthe ebenso skeptisch wie neugierig ansahen. Am Fenster stand der verlegen dreinblickende Burgkaplan, ein hagerer alter Mann mit eisgrauem Haar.

Rasch entschied Marthe, was zu tun war.

»Dies hier ist Frauensache. Seid so gut und lasst die Herrin nun allein, Vater. Aber ich bitte Euch, helft ihr mit Euren Gebeten«, sagte sie. Der Kaplan nickte, murmelte einen Segensspruch und verließ sichtlich erleichtert die Kammer.

»Wie geht es Euch?«, fragte das Mädchen freundlich die zarte junge Frau mit dem aschgrauen Gesicht.

»Hilf mir – es zerreißt mich fast! Wo ist Serafine?«, stöhnte Irmhild.

Marthe überging die Frage. Sie sprach ein kurzes Gebet, dann schob sie die Felle beiseite, mit denen die Kreißende zugedeckt war, und untersuchte sie mit sanften, aber geschickten Händen. Serafine hatte ihr beigebracht, den geschwollenen Leib genau von außen zu erkunden. »Nur mit äußerster Vorsicht darf man mit der Hand in den Leib der Gebärenden gehen«, hatte sie ihr immer wieder eingeschärft. »Das meiste, was du als Wehmutter wissen musst, kannst du auch so erkennen.«

Wenn sie unter sich waren und Heiltränke brauten, hatte die alte Fine oft von Hebammen berichtet, die den Frauen schlimme Verletzungen zufügten, indem sie die Hand zu tief in den Unterleib bohrten oder die Scheidenöffnung auseinanderrissen, um dem Kind den Weg zu öffnen. Serafine gehörte zu den Kundigen, die auch von außen ein Kind im Mutterleib drehen konnten, wenn es nicht richtig lag, und hatte dieses Wissen an Marthe weitergegeben.

»Das Kind will vor der Zeit kommen. Die Geburt ist nicht mehr aufzuhalten«, sagte Marthe schließlich leise. Sie deutete auf die frischen Blutergüsse, mit denen Irmhilds Gesicht und Körper übersät waren. »Was ist Euch zugestoßen?«

Wulfharts Frau ließ den Kopf sinken. »Ich bin gestürzt.«

Marthe sprach nicht aus, was offensichtlich war. Sie durchsuchte den Korb, den Ludolf ihr gebracht hatte, und schickte eine Magd nach frischem Wasser und reinem Gänsefett. Dann führte sie mit einer der Frauen Irmhild zum Gebärstuhl.

»Ihr werdet es schaffen«, versuchte sie die verängstigte Burgherrin zu beruhigen, die nur wenige Jahre älter war als sie.

Unter den misstrauischen Blicken der Frauen wusch sie sich Hände und Arme.

Schnell war ihr klar geworden, dass Wulfhart auch diesmal vergeblich auf einen Erben hoffte. Das Kind kam viel zu früh. Wahrscheinlich war es bereits tot. Verdorbenes Fruchtwasser hatte das Laken durchnässt.

Doch sie sagte Irmhild vorerst nichts davon, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. Dass sie wieder keinen Erben zur Welt brachte, würde der jungen Frau nur neue Schläge einbringen. Vielleicht verstieß Wulfhart sie auch und schickte sie in ein Kloster. Aber vermutlich würde Irmhild lieber dort leben als weiterhin ihrem gewalttätigen Mann ausgeliefert zu sein.

Wie sie sich allerdings selbst vor dessen Zorn retten sollte, davon hatte Marthe keine Ahnung.

 

Es würde noch mindestens einen halben Tag dauern, bis das Kind kam. Die Frauen in Irmhilds Kammer – ein paar ältere Gevatterinnen, die Marthe nicht kannte, die Kammermägde und die Frau des Burgverwalters – genossen das Ereignis mit der dafür üblichen Mischung aus Aufregung, Sorge und Mitgefühl. Eine Geburt bedeutete eine willkommene Abwechslung im eintönigen Leben der Frauen. Nur die Frau des Verwalters betrachtete Irmhild in unbeobachteten Momenten mit offenkundiger Häme. Bald kam auch die Amme, die so unplanmäßig früh aufgetrieben werden musste, und setzte sich stumm in eine Ecke.

Marthe machte der Kreißenden Umschläge aus Frauenmantelkraut und Gundelrebe, rieb ihr sanft Rücken, Bauch und Schenkel und sprach ihr immer wieder Mut zu.

»Es kommt zu früh, nicht wahr?«, flüsterte die Burgfrau zwischen den Wehen. »Dabei habe ich doch alles getan, was möglich war. Immer wieder gebetet und das hier getragen.«

Mit fahriger Bewegung holte sie einen Beutel unter dem Kissen hervor. »Die Kranichkralle hat mir meine Mutter für eine leichte Entbindung vererbt. Und die Maulwurfspfote soll Glück bringen und den künftigen Erben schützen. Ein sehr heiliger Mann hat sie mir verkauft.«

Marthe erinnerte sich noch genau an den Händler, der im vorigen Sommer durchs Dorf gezogen war und den Bauersfrauen wortreich seine Waren angepriesen hatte: Liebestränke, unfehlbare Mittel gegen Herzenskummer, Frauenleiden und Unfruchtbarkeit. Wahrscheinlich hatte er auf der Burg bessere Geschäfte gemacht. Sie hegte starke Zweifel an der Wirksamkeit von Maulwurfspfoten und getrockneten Käfern, aber das sagte sie nicht. Irmhild brauchte jetzt alle Kraft, die sie aufbringen konnte.

»Ihr seid noch jung und werdet starke Söhne bekommen«, versuchte Marthe die verängstigte Frau zu trösten, während sie ihr mit einem feuchten Tuch die Stirn kühlte. »Ihr müsst nur Eurem Herrn zu verstehen geben, dass er Euch mehr schonen muss, wenn Ihr guter Hoffnung seid.«

Irmhild senkte den Blick und blieb stumm.

 

Nachdem ein halber Tag verstrichen war, stieß die Burgherrin einen handgroßen Fötus aus, der offensichtlich schon einige Zeit tot war. Es war ein Junge. Irmhild sank kraftlos zurück und begann am ganzen Leib zu zittern.

Mitleid durchflutete Marthe – und Furcht. Wulfhart würde ihr die Schuld geben und seine Drohung wahr machen.

Von der zu Tode verängstigten Irmhild war kein Beistand zu erwarten. Wenn Wulfhart kam, um einen Schuldigen zu suchen, würde nichts und niemand Marthe vor ihm schützen.

Die Vorstellung, wie Oswalds Axt niederfuhr und ihr Hände und Füße abschlug, wurde auf einmal übermächtig.

Herr, vergib mir, flehte Marthe stumm, während sie das Totgeborene wusch und in ein Leinentuch wickelte. Ich muss hier weg – so schnell wie möglich.

Doch zuerst musste sie etwas Zeit gewinnen. Noch konnte sie Irmhild nicht im Stich lassen.

»Es ist noch nicht vorbei. Die Herrin braucht eure Gebete. Jetzt sofort!«, herrschte sie die wehklagenden Frauen an, die zu ihrer Überraschung und Erleichterung niederknieten und zu beten begannen.

Gebete können nicht schaden, dachte Marthe. Vor allem aber halten sie vorerst die Frauen davon ab, die schlechte Nachricht von dem tot geborenen Erben aus dem Raum zu tragen.

»Ich werde den Kaplan holen«, sagte sie, nachdem sie Irmhild von der Nachgeburt entbunden und versorgt hatte.

Noch ehe jemand etwas sagen konnte, war sie bereits zur Tür hinausgehuscht. Sie lief die Stufen hinunter, überquerte den Burghof und fand schließlich den hageren Geistlichen, der ihr besorgt entgegensah. »Die Herrin bittet Euch, zu ihr zu kommen. Sie braucht Eure Hilfe«, sagte sie.

Der Kaplan eilte sofort los.

Seine Gegenwart wird Irmhild vor Schlägen bewahren, hoffte Marthe. Dem Vernehmen nach war der Kaplan der Einzige, der es gelegentlich wagte, dem jähzornigen Wulfhart Einhalt zu gebieten.

Sie lief über den Burghof zum Tor, so schnell sie konnte, ohne aufzufallen. Der Pfahl war inzwischen leer. Wahrscheinlich steckte der Geschundene jetzt im Verlies. Oder war er tot?

»Was ist los, wohin so eilig?«, fragte der Wachsoldat, der missmutig am Tor lümmelte. Aus dem Wachhaus drangen klappernde Geräusche und das laute Gejohle seiner Kameraden beim Würfelspiel.

Marthe blickte kurz hoch zu der schmalen Fensterluke, hinter der Irmhilds Kammer lag. Jeden Moment konnte von dort jemand brüllen: »Haltet die Hexe fest und werft sie ins Verlies!«

Mit so viel Munterkeit in der Stimme, wie sie aufbringen konnte, wies Marthe ihren Korb vor. »Ich gehe ein paar Kräuter pflücken, um der Herrin die Geburt zu erleichtern. Frisch wirken sie am besten.«

Mit hämmerndem Herzen wartete sie auf die Reaktion des Wachpostens. Würde er sie passieren lassen? Nur ein paar Schritte noch, und sie wäre vorerst in Sicherheit. Oder sie würde Wulfharts blutiger Rache ausgeliefert sein und sterben.

Doch der Soldat wedelte nur mit der Hand. »Dann beeil dich! Unser Herr erwartet seinen Sohn schon ungeduldig.«

Marthe huschte aus dem Tor und ging schnell, aber ohne zu rennen, auf den Wald zu, der zweihundert Schritte vor der Burg begann.

Mit jedem Augenblick wuchs ihre Angst. Bitte lass sie noch nichts merken, flüsterte sie vor sich hin, während ihre Bewegungen immer steifer wurden. Sie atmete stockend, in der Erwartung, einen todbringenden Pfeil sirren zu hören, der sich zwischen ihre Schulterblätter bohrte.

Als sie endlich außer Sichtweite der Torwache war, rannte sie im Schutz der Bäume Richtung Dorf und versteckte sich in einem Gebüsch am Weg.

Die Flucht

Der Regen hatte aufgehört, doch nun blies ein eisiger Wind. Es dauerte nicht lange, bis sich Marthes Befürchtung bestätigte. Oswald und Ludolf kamen aus der Burg geprescht, hielten erst kurz auf den Wald zu, wendeten dann und ritten ins Dorf. Von dem Versteck aus konnte das Mädchen hören, wie Ludolf brüllte: »Wer hat die junge Wehmutter gesehen?«

Starr vor Angst wartete Marthe, was geschehen würde. Doch die Antworten der Dorfbewohner schienen nicht nach Ludolfs Geschmack auszufallen. Er versetzte einer alten Frau, die ängstlich den Kopf geschüttelt hatte, einen Schlag mit der Faust, so dass sie in den Schlamm stürzte. Dann ritten die beiden Reisigen davon.

Marthe wusste nun, woran sie war. Im Schutz der Bäume bewegte sie sich vorsichtig in Richtung ihrer Kate. Oswald und Ludolf würden bestimmt dort auf sie lauern.

Ob Pater Johannes noch da war?

Sie war sicher, dass ihre Ziehmutter nicht mehr lebte. Irgendwann während ihrer Bemühungen um Irmhild hatte diese Gewissheit plötzlich ihr Innerstes durchflutet. Doch nach einem Schreckensmoment hatte sie diesem Gefühl nicht nachgegeben und sich wieder auf die Gebärende konzentriert. Trauern konnte sie erst später.

Marthe kam auf dem vor Nässe rutschigen Boden nur langsam voran. Außerdem durfte sie nicht gesehen werden. Vielleicht würden die Dorfbewohner sie nicht verraten, doch sie wollte niemanden in Gefahr bringen. Und sie musste damit rechnen, dass die Reiter zurückkehrten.

 

Auf halbem Weg sah sie Itta, die Frau des Alten, den Ludolf zu Pater Johannes geschickt hatte. Als sie sich ihr in der Hoffnung auf Neuigkeiten zeigte, hastete Itta ihr entgegen und krallte die Hand in ihre Schulter.

»Du darfst nicht weiter. Sie brennen eure Kate nieder«, stieß sie hervor. Marthe starrte sie entsetzt an.

Schwer atmend berichtete Itta. Als sie von ihrem Mann gehört hatte, dass Fine im Sterben lag und Marthe von Oswald auf die Burg gebracht wurde, war sie aufgebrochen, um selbst nach der weisen Frau zu sehen. Sie hatte Fines Hand gehalten, bis Pater Johannes kam und die Sterbesakramente erteilte.

Doch wenig später waren der Narbengesichtige und Ludolf hereingestürzt, hatten den Priester aus dem Haus geschickt, Itta beiseite gestoßen und alles in der Kate kurz und klein gehauen. »Weil sie dich nicht fanden, schlugen sie auch noch auf die Tote ein, Gott strafe sie für diese Missetat«, ächzte Itta und bekreuzigte sich schaudernd. »Dann haben sie eure Kate angezündet. Geh nicht weiter, sie sind bestimmt noch dort.« Sie zögerte. »Wir könnten dich bei uns verstecken.«

Doch Marthe spürte Ittas Angst.

»Ich kann nicht ins Dorf. Sie werden nach mir suchen.«

Die Alte verbarg kaum die Erleichterung darüber, dass ihr halbherzig gemachtes Angebot nicht angenommen wurde. »Was wirst du tun?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht … Mich verstecken.«

Itta umarmte sie heftig. »Gott segne dich!«

Dann drehte sie sich um und lief Richtung Dorf.

Marthe aber konnte nicht anders. Was sie erfahren hatte, war so ungeheuerlich, dass sie es trotz ihrer Furcht mit eigenen Augen sehen musste.

Vorsichtig und mit zittrigen Beinen schlich sie Richtung Kate.

 

Von weitem schon roch sie den Rauch, dann hörte sie ein lautes Krachen und Prasseln. Vor dem dichten Buschwerk in der Nähe ihrer Hütte hielt das Mädchen inne.

»Wenn wir schon die Hexe nicht verbrennen können, dann wenigstens ihr Haus«, ertönte Oswalds Stimme.

Vorsichtig zwängte sie ihren Kopf noch ein Stück weiter durch die Äste.

Der Anblick ließ ihren Atem stocken. Die Hütte stand lichterloh in Flammen. Ein paar verkohlte Dachbalken stürzten gerade in das Innere der brennenden Kate, aber das Poltern war in dem Fauchen und Funkengeprassel kaum zu hören. Oswald und Ludolf genossen den Anblick lachend aus sicherem Abstand auf ihren unruhig tänzelnden Pferden.

Marthe unterdrückte mühsam den Impuls, zur Kate zu rennen und den Leichnam herauszuziehen. Wenn Fine verbrannte, konnte sie nicht auferstehen am Tag des Jüngsten Gerichts!

Doch sie konnte nichts tun. Oswald und Ludolf würden sie töten – das war alles, was geschehen würde, wenn sie jetzt aus ihrem Versteck lief.

Wie gebannt starrte sie auf die Flammen, während sich das schaurige Bild in ihr festbrannte. Zum zweiten Mal sah sie ihr Zuhause in Feuer aufgehen, ohne etwas davon retten zu können – nicht die kargen Vorräte, die ihnen nach dem strengen Winter noch geblieben waren, nicht die getrockneten Bündel Heilpflanzen unter dem Dach, die sorgsam zubereiteten Salben und Tinkturen.

Zum zweiten Mal hatte sie die Mutter verloren.

 

Ich kann hier nicht bleiben! Hämmernd jagte dieser Satz wieder und wieder durch Marthes Kopf. Wulfhart würde sie verfolgen, bis er sie gefunden hatte und seine grausige Drohung wahr machte.

Doch wohin konnte sie fliehen? Wovon sollte sie leben? Sie hatte keine Familie, keine Verwandten, die sie bei sich aufnehmen würden.

Jede weise Frau musste damit rechnen, irgendwann einmal nach einem Misserfolg erschlagen oder verjagt zu werden. Nicht umsonst lebten sie etwas außerhalb des Ortes – eine Vorsichtsmaßnahme der Dörfler gegen den bösen Blick und anderes Unheil, das sie den Heilkundigen nur zu gern zuschrieben.

Aber in einem fremden Dorf würde ihr niemand trauen.

Tiefe Hoffnungslosigkeit erfüllte Marthe, als sie ihre Zukunftsaussichten überdachte: allein und hungernd durch die Fremde zu irren, als Heimatlose erschlagen zu werden oder als Hure zu enden. Oder alles zusammen, dachte sie verzweifelt. Die Ersten, denen ich über den Weg laufe, werden mich zur Hure machen und dann erschlagen, noch bevor ich Zeit habe, zu verhungern. Ich kann auch gleich zum Sterben hier liegen bleiben. Sie kroch wieder tiefer in das Gestrüpp zurück und verbarg den Kopf in den Armen. Wellen von Angst fluteten durch ihren Körper, bis sie am ganzen Leib zitterte.

Doch während Marthe in ihrem Versteck kauerte und darauf wartete, dass Oswald und Ludolf wieder zur Burg ritten, nahm ein Gedanke Form in ihrem Kopf an.

Sie fürchtete sich vor dem, was zu tun war. Aber sie wollte es wagen. Sie wollte leben.

Entschlossen wischte sie sich das tränennasse Gesicht mit dem Ärmel ab. Leise schlich sie zurück und schlug dann einen großen Bogen. Als sie außer Sichtweite der Berittenen war, begann sie zu rennen, weg von dem Dorf.

 

Marthe lief, bis ihr die Seiten wehtaten und sie kaum noch Luft bekam. Sie hielt kurz inne, bis ihr Atem etwas ruhiger wurde.

Die Spur, nach der sie gesucht hatte und der sie nun folgte, war deutlich zu sehen. Wagenräder hatten tiefe Furchen in den feuchten Boden gegraben. Marthe ging nicht auf dem Weg, sondern dicht daneben zwischen den Bäumen, um selbst keine Spuren zu hinterlassen und nicht gesehen zu werden.

Sie lief, so schnell sie in ihrer Erschöpfung konnte. Das Haar klebte an ihren Schläfen, der Zopf hatte sich beinahe aufgelöst. Der Korb mit den Kräutern und Tinkturen schlug bei jedem Schritt an ihr Bein, das schon beinahe gefühllos geworden war. Ein paar Mal war sie auf nassen Blättern ausgerutscht und gestürzt. Doch jedes Mal quälte sie sich wieder hoch. Sie war sicher, wenn sie auch nur einen Moment länger liegen blieb, würde sie nicht wieder aufstehen.

Als die Dämmerung einsetzte, wurde ihr immer banger ums Herz.

Was, wenn sie diejenigen nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichte, nach denen sie suchte? Schließlich wusste jeder, wie gefährlich es war, nachts im Wald unterwegs zu sein. Selbst wer den wilden Tieren, bösen Geistern oder Räubern entging, lief immer noch Gefahr, in der Finsternis über eine Wurzel zu stolpern und sich das Genick zu brechen.

Bald hatte Marthe jedes Gespür für Zeit und Richtung verloren und nur noch einen Gedanken: unbedingt die zu finden, nach denen sie suchte, ehe sie im Dunkel die Spur verlor und schutzlos die Nacht im Wald verbringen musste.

 

Die Bäume hoben sich schwarz gegen den dunkelblauen Himmel ab, als sie endlich in einiger Entfernung vor sich ein Licht flackern sah.

Erleichtert blieb Marthe stehen. Das mussten sie sein. Ein Tross von Bauern, die nach Osten ziehen wollten.

Ein fremder Ritter hatte ihnen weit weg von hier Land versprochen, für das sie auf zehn Jahre keine Abgaben zahlen mussten, wenn sie es urbar machten. Das hatte auch in Marthes Dorf den ganzen Winter über für viel Aufregung gesorgt. Die Verlockung war groß, sich auf den gefahrvollen Weg ins Unbekannte zu machen, um der drückenden Not und der Willkür Wulfharts zu entkommen.

Doch von den Siedlern, die seit Generationen immer wieder gen Osten aufbrachen, hieß es nicht ohne Grund: »Der Erste hat den Tod, der Zweite die Not, der Dritte das Brot.«

Und konnte man dem Fremden trauen? Die Dorfbewohner hatten Marthe erzählt, dass er ein rechter Finsterling sei. Er mache wenig Worte und lächle nie. Sie selbst hatte ihn nur ein einziges Mal von weitem gesehen. Doch Jonas, der Sohn des Schmieds, und die rotblonde Emma aus ihrem Dorf hatten beschlossen, sich dem fremden Ritter anzuschließen. »Er wird ein besserer Herr als Wulfhart sein«, hatte Emma voller Hoffnung gesagt, als sie der nur zwei Jahre jüngeren Marthe von ihren Plänen erzählte.

Vor ein paar Tagen war der Tross in einem weiter südlich gelegenen Ort aufgebrochen und hatte am Vortag unterhalb der Burg Rast gemacht. Und an diesem Morgen mussten Jonas und Emma mit ihnen fortgezogen sein.

 

Marthe atmete die kalte Luft bis tief in den Bauch und versuchte, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen.

Sie war ganz allein, hatte weder Schuhe noch Umhang, geschweige denn Saatgut oder Vieh, nicht einmal etwas zu essen für den langen Weg. Warum sollten die Siedler sie mitnehmen?

Aber ihr blieb keine Wahl. Sie musste es einfach schaffen.

Sie wischte ein paar feuchte Blätter vom Rocksaum, löste ihren zerzausten Zopf und strich mit den Fingern ihr Haar glatt.

Sie wollte sich den Rastenden offen auf dem Weg nähern. Doch im letzten Moment überkamen sie Zweifel. Wenn das Wulfharts Männer waren, die dort lagerten? Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, schlich sie von einem Baum zum anderen.

Marthe war auf dreißig Schritt an das Feuer herangekommen, als sie spürte, dass jemand in unmittelbarer Nähe war. Sie blieb stehen, straffte sich und sagte leise, aber deutlich: »Ich komme allein und bitte um Euren Schutz!«

Wie aus dem Nichts tauchte neben ihr der fremde Ritter auf, den sie im Dorf gesehen hatte, das blanke Schwert in der Hand. Er war groß und schlank, mochte Mitte zwanzig sein und trug ein Kettenhemd. Dunkle Haare fielen ihm auf die Schulter. Sein Gesicht war scharf geschnitten und wirkte so düster, als würde es kein Lächeln kennen.

Mit fließender Bewegung steckte der Ritter das Schwert in die Scheide. »Wie hast du mich bemerkt? Ich habe kein Geräusch gemacht«, fragte er mit einer kaum wahrnehmbaren Spur von Staunen.

Marthe wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. So wiederholte sie nur: »Herr, ich bitte um Euren Schutz.«

Das Gesicht des Fremden blieb ernst, aber seine Stimme klang nun freundlicher. »Schutz wovor oder vor wem? Ein junges Mädchen, das sich sogar nachts in den Wald wagt, scheint nicht sehr ängstlich zu sein.«

Marthe beobachtete ihn vorsichtig. Wie viel durfte sie ihm sagen?

Er ist wachsam, mutig und voller Trauer, dachte sie und fragte sich im gleichen Augenblick, woher sie das wissen wollte.

Sie entschloss sich, ihr Schicksal in die Hände dieses Mannes zu legen, und holte tief Luft.

»Warte«, unterbrach er sie nach einigen Sätzen.

Der Ritter holte ein Feuereisen aus dem Beutel an seinem Gürtel, entfachte mit geübten Griffen ein kleines Feuer und bedeutete ihr, sich ihm gegenüber zu setzen.

Er will mein Gesicht sehen, während ich erzähle, dachte Marthe und begann, stockend zu berichten.

 

Christian, Ritter im Dienste des Meißner Markgrafen Otto von Wettin und künftiger Lehnsherr der Siedler, beobachtete das Mädchen aufmerksam. So ausgefallen ihre Geschichte auch klang – er glaubte ihr aufs Wort. Er hatte Wulfhart bei seinem Antrittsbesuch auf der Burg kennen gelernt und auch bei den Dorfbewohnern genug gesehen und gehört. Die Grausamkeit des Burgherrn, die Rohheit seiner Soldaten und die Unnachgiebigkeit, mit der er auch nach den Missernten der letzten Dürrejahre die Abgaben eintreiben ließ, hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Die Ländereien waren heruntergewirtschaftet, die Höfe ohnehin längst zu klein, um eine ganze Familie zu ernähren. Weiter unter den Söhnen aufgeteilt werden konnten sie nicht; die Jüngeren mussten sich beim ältesten Bruder als Knecht verdingen.

Auf die nach eigenem Land hungrigen nachgeborenen Söhne hatte auch sein Herr gesetzt, als er ihn nach Franken schickte, um Siedler anzuwerben. Markgraf Otto herrschte über ein weites Gebiet in den Ostlanden jenseits der Saale. Doch das war zu großen Teilen von dichten Wäldern bedeckt. Abgesehen von wenigen größeren Ortschaften, lebten dort zumeist nur einige halbherzig konvertierte heidnische Slawen. Hier und da stand eine schwach besetzte Burg, um das Land gegen die Böhmen zu befestigen. Es fehlte an Menschen, die es urbar machten, Dörfer errichteten, Wege instand hielten und den Zehnten zahlten.

Die offenkundige Misswirtschaft in Wulfharts Dörfern hatte Christian die Aufgabe leichter gemacht, Männer und Frauen für den gefahrvollen Marsch in die Ferne zu gewinnen.

Dieses Mädchen hier braucht und verdient Schutz, dachte er.

Schmal und abgehetzt, wie sie vor ihm saß, wirkte sie zerbrechlich. Ob sie stark genug für die Plagen und Gefahren des Weges sein würde?

 

Als Marthe ihre Geschichte beendet hatte, schaute sie auf. Dabei traf ihr Blick so unverhofft den des Ritters, dass sie sich bis ins Innerste erschüttert fühlte.

In den dunklen Augen des Fremden spiegelte sich der Schein des Feuers wider. Doch merkwürdigerweise machte ihr dieser fast dämonisch wirkende Anblick keine Angst. Sie erahnte eine verborgene Leidenschaft hinter der beherrschten, strengen Miene.

Mit einem Mal verstand sie, was Fine gemeint hatte, wenn sie sagte: »Die Augen sind das Tor zur Seele.«

Hastig senkte sie die Lider, um ihre Verwirrung zu verbergen.

»Werdet Ihr mich mitnehmen, Herr? Darf ich mich dem Zug anschließen?«, fragte sie bange.

»Du hast keine bösen Zauber und unheilvollen Künste verwendet?«

»Beim Seelenheil meiner toten Eltern – nein«, antwortete sie ernst. Der Ritter stand auf und trat das kleine Feuer mit einer leichten Bewegung aus.

»Unser Marsch ist nicht ungefährlich. Und das Leben wird nicht einfach sein, wenn wir erst angekommen sind. Das musst du wissen«, sagte er. Dann bedeutete er ihr, ihm zu folgen, und ging zu den Leuten, die um das große Feuer lagerten.

 

Ein mit Dolch und Speer bewaffneter Blondschopf von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren kam ihnen entgegen und musterte Marthe kurz. »Wen bringt Ihr da, Herr?«

»Wir bekommen Zuwachs«, entgegnete der Ritter. »Übernimm die Wache.«

»Wie Ihr wünscht, Herr.« Der hoch aufgeschossene Junge nickte und zog in die Richtung, aus der sie kamen.

Sein Knappe, erinnerte sich Marthe. Die Dorfbewohner hatten auch erzählt, dass er weitaus umgänglicher und redseliger als sein Herr war.

Am Feuer lagerten – umgeben von etlichen Kindern – mehr als ein Dutzend zumeist junger Männer und Frauen, unter denen Marthe auch Emma und Jonas erkannte.

»Das ist Marthe«, sagte der Ritter knapp. »Sie will mit uns ziehen und bittet um Schutz vor Wulfhart.«

Emma blickte verblüfft auf. Rasch ging sie zu Marthe und zog sie an sich. »Was ist passiert?«

»Fine ist tot. Und Wulfharts Wachen haben unsere Kate niedergebrannt, weil Irmhild wieder ein totes Kind geboren hat«, antwortete Marthe mit zugeschnürter Kehle. Erneut stiegen die schrecklichen Bilder in ihr auf. Sie kam sich plötzlich sehr allein und hilflos vor.

»Sind sie hinter dir her?«, fragte eine griesgrämig wirkende ältere Frau aufgebracht. »Dann droht uns allen vielleicht noch Ärger. Und du hast nichts? Wie stellst du dir das vor? Wovon willst du leben, wenn wir angekommen sind?«

Die Stimme der Fremden wurde immer schriller, während sie sprach.

»Das ist Griseldis, die Frau des Ältesten«, raunte Emma leise. »Lass dich nicht einschüchtern.«

Marthe schluckte. »Unsere weise Frau hat mir beigebracht, was sie wusste. Ich kann euch helfen, wenn ihr Fieber bekommt oder sich jemand verletzt. Ich kann eure Kinder auf die Welt holen. Den Sohn, den du trägst.«

Alle blickten erstaunt zu Marthe. Geradezu fassungslos aber reagierte die von Kummer gezeichnete Frau, zu der sie die letzten Worte gesprochen hatte. Während ihr Mann erst verblüfft hochschaute und sie dann unbeholfen umarmte, stammelte sie: »Woher weißt du …? Ich bin mir doch selbst noch nicht sicher.«

Marthe trat verlegen von einem Bein aufs andere. Sie hatte es nicht gewusst, bevor sie es aussprach, und nicht die geringste Ahnung, woher dieses Wissen kam. Aber sie war sich völlig sicher.

Sie erwiderte nichts und zuckte nur mit den Schultern. Erschöpfung und Müdigkeit schienen plötzlich ihre Glieder bleiern schwer zu machen.

»Ich kenne sie gut, sie hatte eine erfahrene Lehrmeisterin und wird uns nützlich sein«, setzte sich Emma für sie ein.

»Eine Heilkundige und Wehmutter dabeizuhaben wäre gut, auch wenn du mir noch etwas jung dafür scheinst«, meinte ein kahlköpfiger Mann mit rundem Schädel, der neben Griseldis saß. Er sprach, ohne hochzublicken, sondern stocherte mit einem Ast in der Glut des Feuers, so dass hellrote Funken aufstoben. »Aber wir werden dich durchfüttern müssen. Und unsere Vorräte sind knapp. Keiner weiß, wie lange wir unterwegs sein werden. Und was wird, wenn wir angekommen sind? Eine Familie wird dich aufnehmen müssen. Oder du heiratest …«

»Das wird sich finden, wenn es soweit ist«, unterbrach ihn der dunkelhaarige Ritter. »Als Waise hat sie Anspruch auf unseren Schutz. Falls Wulfhart Reiter ausschickt, die nach ihr suchen, werdet ihr schweigen. Ihr selbst wollt seiner Willkür nicht mehr ausgeliefert sein. Also nehmt sie mit und überlasst alles weitere mir.«

Der Ritter erhob sich abrupt und ging in die Richtung, in die er seinen Knappen geschickt hatte.

Schweigen legte sich über die Runde am Feuer. Marthe betrachtete nacheinander die Gesichter.

Ein jäher Schmerz zuckte durch ihre rechte Schläfe.

Mit einem Mal war ihr, als ob eine Stimme in ihrem Kopf erklang: »Drei werden sterben, und einer wird uns alle ganz furchtbar verraten.«

Dann sah sie den Boden auf sich zukommen.

Zur gleichen Zeit auf dem Burgberg in Meißen

»Er hat was?!« Wutentbrannt fegte Markgraf Otto, ein breitschultriger Mann um die fünfzig Jahre mit grauen Schläfen und kantigem Kinn, Pergamentrollen und Trinkgefäße vom Tisch. Ein Krug krachte zu Boden und zerschellte, ein Becher rollte scheppernd hin und her. Als das Geräusch endlich verstummt war, herrschte für einen Moment Grabesstille in der mit prächtigen Wandbehängen geschmückten Halle.

Der Bote trat von einem Bein aufs andere und überlegte missmutig, was seiner Gesundheit zuträglicher wäre: die Nachricht zu wiederholen oder zu schweigen.

Wie von selbst richtete jedermann im Saal den Blick auf Hedwig, die Gemahlin des Markgrafen. Ritter, Bedienstete und Geistliche – sie alle erwarteten, dass die schöne Fürstin wieder einmal eingreifen und den schuldlosen Überbringer der schlechten Neuigkeit vor Ottos Zorn retten würde.

Lediglich der unglückliche Bote wagte nicht, in Richtung der blonden Markgräfin zu blicken. Er wusste nur zu gut, dass sich Hedwig schon zu viele Feinde gemacht hatte, weil sie sich oft in Ottos Geschäfte einmischte und der – ansonsten ein energischer Herrscher, der keinen Widerspruch duldete – ihr nicht etwa Einhalt gebot, sondern in vielen Fällen auf seine kluge junge Frau hörte. Im Moment aber, so fand der Bote, wäre etwas Einmischung nicht schlecht, selbst wenn sie von einem Weib kam. Doch diesmal blieb Hedwig stumm.

So rang er sich durch, die Nachricht zu wiederholen. »Bischof Gerung hat Lokatoren ausgesandt, um flämische Siedler zu holen.«

Er verneigte sich und trat schnell zwei Schritte zurück.

Otto ließ seine Faust auf den Tisch krachen. »Dieser Bastard von einem Pfaffen!«

»Mäßigt Euch, Ihr sprecht von einem Mann der Heiligen Mutter Kirche«, warf todesmutig einer der Geistlichen ein, die in der Halle standen.

Mit Unheil kündender Miene stürmte der Markgraf auf den Kirchenmann zu. Der zuckte, rührte sich aber nicht von der Stelle. Otto blieb einen halben Schritt vor ihm stehen, zog seine buschigen schwarzen Brauen zusammen und blickte ihm drohend in die Augen. »Wenn er so heiligmäßig ist, Euer Bischof, sollte er sich dann nicht besser um die Seelen sorgen, was seines Amtes ist?«, höhnte er mit immer lauter werdender Stimme. »Warum kümmert er sich nicht lieber um die Bekehrung der heidnischen Slawen, von denen es hier schließlich noch mehr als genug gibt?!«

Der Markgraf stapfte zurück zu seinem reich verzierten Stuhl und ließ sich schwer darauf sinken.

»Ich weiß nicht, wer alles noch nach meinem Land giert, nur weil es noch nicht ausreichend besiedelt ist«, knurrte er. »An den Grenzen strecken Ludwig von Thüringen und der Magdeburger Erzbischof die Hände danach aus. Der Kaiser lässt im Pleißenland ein Reichsterritorium errichten. Als ob er nicht genug damit zu tun hätte, endlich die Lombarden zu bezwingen! Und wenn ich nicht mit seiner liebreizenden Tochter verheiratet wäre, würde auch noch Albrecht der Bär seinen Hunger mit meinem Land stillen wollen.«

Er sandte ein grimmiges Lächeln in Hedwigs Richtung.

Die neigte mit betont liebenswürdigem Lächeln den Kopf. »Mein Vater, der Markgraf von Brandenburg, wird Euch stets ein treuer Verbündeter sein, mein Gemahl.«

Otto schnaubte. »Das will ich auch hoffen. Wer braucht noch Feinde an den Grenzen, wenn er genug in allernächster Nähe weiß!«

Hedwig wusste nur zu gut, warum die Nachricht den Markgrafen so aufgebracht hatte.

Ottos Vater Konrad von Wettin war der mächtigste Fürst östlich der Saale gewesen. Doch als er vor zehn Jahren sein Erbe unter den fünf Söhnen aufteilte, hatte Otto als Ältester mit der Mark Meißen zwar das bedeutendste Gebiet bekommen, war jedoch weit vom einstigen Einfluss seines Vaters entfernt. Mit einer energisch vorangetriebenen Besiedlung konnte er seinen Machtbereich ausdehnen. Und dabei wollte ihm der ehrgeizige Bischof von Meißen wieder einmal zuvorkommen.

Es ist überall das Gleiche, dachte Hedwig. Bischöfe und Fürsten, Päpste und Kaiser – sie alle streiten um ihre Einflussgebiete.

Beschwichtigend legte sie eine Hand auf Ottos Arm und wies mit der anderen auf den Boten. »Lasst den Bedauernswerten gehen, bevor er noch vor Angst im Boden versinkt.«

Otto schickte ihn mit mürrischer Miene und einer knappen Handbewegung fort.

»Wenn Gerung wirklich Siedler aus Flandern kommen lassen will«, sprach Hedwig ruhig weiter, »werden sie lange unterwegs sein. Wer weiß, ob seine Werber überhaupt Erfolg hatten. Ihr habt Eure Lokatoren nach Franken gesandt, mein Herr und Gemahl. Die Ersten werden längst mit ihren Bauern auf dem Weg hierher sein.«

Sie lächelte breit. »Gibt es schon Nachricht von Christian? Wäre es nicht unziemlich für eine Dame, würde ich wetten, dass er von allen, die Ihr ausgesandt habt, als Erster mit einer ganzen Kolonne Siedler eintrifft.«

Zehn Schritte vom Grafen entfernt verzog ein hünenhafter Ritter mit weißblondem Haar das Gesicht.

»Mir scheint, dein treuester Feind kommt gerade wieder einmal zu mehr Ehren, als er wert ist«, raunte ihm einer der drei ebenso kostbar gekleideten Ritter zu, die mit ihm in einer Gruppe standen. Die anderen grinsten hämisch, nur der Hüne blickte wütend vor sich hin.

»Ja, und es sieht aus, als hätte er endlich einmal Glück bei den Damen«, fügte ein Zweiter hinzu und begann, über seinen eigenen Witz wiehernd zu lachen, während der Weißblonde ihn böse anfunkelte.

Sie hatten Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch zu ihrem Glück betrat in diesem Moment der Haushofmeister den Saal und sorgte für Ablenkung.

»Ein Bote mit einem Brief des Markgrafen Albrecht von Brandenburg«, meldete er und ließ einen staubbedeckten jungen Mann ein, dem man ansah, dass er einen Gewaltritt hinter sich hatte.

»Oh, von meinem Herrn Vater«, sagte Hedwig erfreut und klatschte in die Hände. »Die Familienneuigkeiten werden uns aufheitern, mein Gemahl.«

Sie blickte Otto so viel sagend in die Augen, dass der seinen Zorn für den Moment beiseite schob, tief durchatmete und dann einen Mundwinkel zu einem kalten, kaum sichtbaren Lächeln verzog.

 

Tatsächlich erwartete Otto Nachrichten aus Brandenburg, die ihn aufheitern würden. Doch um Familienklatsch – wie Hedwig zur Täuschung der Anwesenden behauptet hatte – ging es dabei ganz und gar nicht. Mit dem Brief erhoffte er neue Einzelheiten zu erfahren über die Revolte der sächsischen Fürsten gegen den Mann, der sie alle immer wieder herausgefordert und tödlich beleidigt hatte: Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern.

Der in Braunschweig residierende Welfe Heinrich war der mächtigste und am meisten gehasste Mann unter den Edlen des Kaiserreichs. Dass Heinrich über zwei Herzogtümer herrschte, sicherte ihm beinahe ebenso viel Einfluss wie dem Kaiser. Er gebärdete sich wie ein König, wenn Kaiser Friedrich von Staufen, den die Lombarden wegen seines roten Bartes »Barbarossa« nannten, in Italien war. Und dort war der Kaiser die meiste Zeit. Die bevorstehende Hochzeit des Braunschweigers mit der kleinen Mathilde, der Tochter des englischen Königs Heinrich Plantagenet und dessen Gemahlin Eleonore von Aquitanien, würde seine Position noch stärken und seinen Machtanspruch vermutlich ins Unermessliche wachsen lassen.

Doch der Kaiser schien sich an dem Gebaren des Welfen nicht zu stören, der sein Vetter und einst selbst aussichtsreicher Anwärter auf die Krone gewesen war, solange ihn dieser auf seinen Italienfeldzügen mit einem großen Heer unterstützte. Wie oft auch der Löwe rücksichtslos das Recht brach und sich fremdes Land aneignete, Friedrich Rotbart entschied zu seinen Gunsten und schenkte den Klagen der Fürsten keine Beachtung. Deshalb schlossen sich immer mehr Edle zu einem Bund gegen den Welfen zusammen: Sachsen von der Nordsee bis zum Harz, seine Widersacher vom Südwesten bis zum Südosten des Kaiserreiches.

Otto hatte lange gezögert, sich den Verschwörern anzuschließen, deren Anführer Hedwigs Vater war. Er war vorsichtig, wenn es um riskante Auseinandersetzungen ging. Doch vor ein paar Monaten war der Moment gekommen, wo er sich dieser Sache nicht mehr entziehen konnte, wollte er nicht das Gesicht vor seinem mächtigen Schwiegervater verlieren. Albrecht der Bär, ein Kampfgefährte von Ottos Vater, hatte einst das ihm verliehene riesige Herzogtum Sachsen an Heinrich abtreten müssen und gehörte zu den erbittertsten Feinden des Löwen.

Wegen der drohenden Revolte hatte Heinrich seine Teilnahme am vierten Italienzug des Kaisers abgesagt. Doch kaum war das kaiserliche Heer fortgezogen, begann die Rebellion gegen den Löwen. Kurz vor Weihnachten hatte Albrecht der Bär gemeinsam mit dem Landgrafen von Thüringen Heinrichs Festung Haldensleben nahe Magdeburg belagert, wenn auch ohne Erfolg. Was immer der alte, kampferprobte Bär nun gegen seinen Erzfeind plante, Otto und seine Brüder würden diesmal dabei sein.

 

Der Markgraf räusperte sich. »Familiennachrichten … Ihr habt ja so Recht, meine Liebe! Gebt mir den Brief. Und ihr da verschwindet!«

Mit einer Handbewegung verscheuchte Otto den Boten, die Diener und die Geistlichen und wandte sich dann an den weißblonden Ritter.

»Mein geschätzter Randolf, sucht mit Euren treuen Freunden nach meinem Bruder und kommt gleich zu mir, wenn Ihr ihn gefunden habt. Bringt auch den wackeren Arnulf mit.«

Der Hüne verneigte sich knapp und verließ mit seinen drei Begleitern die Halle.

Draußen packte er einen vorbeihuschenden Pagen am Arm, der so heftig erschrak, dass er den Inhalt seines Kruges über die eigenen Schuhe schwappen ließ.

»Tölpel!« Der Ritter versetzte dem Pagen eine gewaltige Ohrfeige. »Wo ist der Graf von Groitzsch?«

Der Junge fing an zu stammeln: »Gerade von der Jagd zurück …«

»Du gehst sofort zu ihm und sagst, der Markgraf will ihn sehen! Danach setzt du dich erneut in Bewegung und schickst mir Arnulf!«

Der Page verneigte sich und rannte los.

Der Ritter schaute kurz dem Jungen nach. Dann führte er seine Begleiter zu einer freien Stelle, wo sie nicht zu belauschen waren.

»Verdammt soll Christian sein«, zischte er. »Erst sah es so aus, als ob dieser Bastard mit seinem Auftrag endlich aus meinem Gesichtskreis verschwinden würde – und nun gelangt er vielleicht sogar noch zu Ehren! Eine Schande für den ganzen Stand. Nächstens wollen noch Bettler und Bauerngesindel Ritter sein.«

Der Feiste, der in der Halle so wiehernd gelacht hatte, versuchte, Randolf zu beschwichtigen. »Wozu regst du dich auf? Dieser Dahergelaufene muss mit seinem Bauernpack lange durch den Wald. Und da kann viel passieren. Wenn nicht, können wir immer noch ein bisschen nachhelfen …«

Ein böses Grinsen überzog das Gesicht des Hünen. »Wahrscheinlich müssen wir das nicht einmal – bei dem, was man von der Wegstrecke hört!«

»Freut mich, dass du die Dinge wieder nüchtern siehst. Der Kaiser will ein Gesetz erlassen, nach dem bald nur noch in den Ritterstand erhoben werden darf, dessen Vater und Großvater schon von edlem Geblüt waren. Dann wird es solchem Gesindel unmöglich, sich unter unseresgleichen zu mischen. Vergiss den Habenichts! Wenn er unterwegs nicht umkommt, erschlägt ihn das Bauernpack nach der Ankunft, weil es nichts zu fressen hat. Und nun komm, wir haben Wichtigeres zu tun.«

Doch der Dritte in der Gruppe, ein Ritter mit sorgfältig gekämmtem rötlichem Haar und grünem Bliaut, hielt die anderen zurück. »Findet ihr nicht auch, dass die schöne Hedwig ein auffälliges Interesse an Christian zeigt?«, fragte er und zog viel sagend die Augenbrauen hoch.

Der Feiste winkte ab. »Wer hier etwas gegen Hedwig sagt, der ist ein toter Mann. Otto lässt nichts auf sie kommen.«

»Wie kann man einem Weib nur so verfallen?«, gab der Rothaarige zurück und senkte die Stimme. »Deshalb sollte er umso empfänglicher sein, wenn ihm klargemacht wird, dass hier die Minne zu weit geht.«

»Sie ist mit Sicherheit klug genug, ihrem Mann nicht untreu zu werden«, knurrte Randolf.

»Vielleicht. Aber ob Otto darauf wirklich vertraut?«, fragte der Rothaarige mit durchtriebenem Grinsen. »Allein der Verdacht dürfte reichen, um den Hungerleider in Ungnade fallen zu lassen. Wir müssen nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.«

 

Als die Halle sich geleert hatte, entrollte Otto gespannt das Pergament.

»Lass sehen, mein Lieber«, meinte Hedwig und las über seine Schulter – ein Verstoß gegen die Sitten, den Otto kaum wahrzunehmen schien.

Sie schwieg lange. Dann mahnte sie leise: »Wenn der Italienfeldzug des Kaisers nicht glücklich verläuft, wird sein Zorn über uns hereinbrechen wie das Strafgericht Gottes. Er wird uns die Schuld geben, weil sich Heinrich unseretwegen nicht dem kaiserlichen Heer angeschlossen hat.«

»Soll er doch!«, brauste Otto auf. »Erinnere dich nur an den Hoftag letzten Sommer auf Boyneburg. Erzbischöfe und Markgrafen haben vor dem Kaiser Klage geführt gegen den Welfen – und nichts ist geschehen. Der Verräter war nicht einmal gekommen, um Rede und Antwort zu stehen. Wir machen uns zum Gespött, wenn wir das hinnehmen.«

»Also ist es entschieden. Gott steh uns bei!«, sagte Hedwig leise.

Stumm warteten sie, dass die Gerufenen kämen.

 

Wenig später betrat eine Gruppe gut gerüsteter Männer die Halle. Allen voran stapfte Dedo von Groitzsch, der jüngere Bruder des Markgrafen, ein Mann von gewaltigem Körperumfang. Ihm folgten Randolf mit seinen drei Freunden sowie Arnulf, ein gestandener Kämpfer, der schon unter Ottos Vater erfolgreich Truppen in die Schlacht geführt hatte. An der linken Hand fehlten ihm zwei Finger, die Gicht machte ihm das Gehen schwer, aber er galt als listenreich und erfahren im Kampf wie nur wenige.

Otto erhob sich und hielt das Pergament hoch.

»Meine Getreuen! Christian von Oldenburg hat einen weiteren großen Sieg gegen den Löwen errungen und Bremen erobert!«

Jubelrufe ertönten. Die gescheiterte Belagerung von Haldensleben war ein herber Schlag gewesen, doch ausgerechnet der Oldenburger hatte bereits wenig später einen unerwarteten Sieg gegen Heinrich errungen und die stark befestigte Burg Weyhe gestürmt. Nun also auch Bremen.

»Die Bürger von Bremen haben ihn freudig in ihrer Stadt aufgenommen«, fuhr Otto fort. »Und beim nächsten Gerichtstag muss Heinrich die Burg Haldensleben an den Erzbischof von Magdeburg übergeben.«

Wieder erklangen begeisterte Rufe, doch der Markgraf brachte die Männer mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Noch ist es nicht so weit. Heinrich wird sich nicht kampflos ergeben. Er lässt seine Schlupfwinkel befestigen, hat ein Heer aufgestellt und das Land schon bis vor die Mauern Magdeburgs verwüstet. Das bedeutet, wir müssen unseren Verbündeten zu Hilfe eilen.«

»Endlich!«, dröhnte Dedo. »Meine Männer warten schon darauf nach diesem langen, öden Winter.«

Otto hatte mit keiner anderen Reaktion gerechnet. Aber eine besondere Neuigkeit hatte er noch aufgehoben.

»Dann wird Euch freuen zu hören, dass unsere Allianz einen neuen, mächtigen Verbündeten bekommen hat: Rainald von Dassel, den Erzbischof von Köln.«

Diese Ankündigung sorgte für einen Moment atemloser Stille, bis die Anwesenden aufgeregt durcheinander zu sprechen begannen.

»Der Kanzler und Vertraute des Kaisers!«

»Der Einzige, dem der Kaiser vorbehaltlos traut!«

Ihm und seiner Gemahlin Beatrix von Burgund, dachte Hedwig bei sich.

Da Rainald mit dem Kaiser nach Italien gezogen war, würde er von dort aus agieren, berichtete Otto und wandte sich dann an seinen Bruder. »Du, Dedo, wirst umgehend abreisen müssen, um in deiner Grafschaft alles Nötige zu veranlassen.«

»Aber du schickst mich doch nicht vor dem Mahl aus dem Haus«, tönte der fette Graf von Groitzsch.

Die Umstehenden lachten.

»Wie könnte ich?« Als Nächstes wandte sich Otto dem alten Kämpen zu. »Arnulf, reitet zu Markgraf Albrecht und bietet ihm Hilfe an, um auszukundschaften, wo wir den Löwen am empfindlichsten treffen können.«

Der Listenreiche legte die Hand aufs Herz und verneigte sich.

»Und Ihr, Randolf, stellt mir wieder eine große Zahl Berittener?«

Der Hüne trat einen Schritt vor. »Selbstverständlich, mein Fürst! Ich werde sofort alle Vorbereitungen treffen.«

Diese Entwicklung der Dinge hatte seine Laune erheblich verbessert. Sosehr Otto auch die Besiedlung des Landes am Herzen lag – was war schon ein Haufen zerlumpter Bauern gegen die Schar gut gerüsteter Männer, die er dem Markgrafen stellen konnte?

Schließlich winkte Otto einen schwarz gewandeten Kahlkopf mit fingerdünnem Kinnbart heran, der die ganze Zeit fast unbemerkt in einer Ecke gesessen hatte und mit der Wand hinter sich wie verschmolzen schien.

»Aloisius, befragt die Sterne, welches die beste Zeit für unser Vorgehen ist.«

»Wie Ihr wünscht, mein Herr!«

Der Hagere verneigte sich tief vor dem Markgrafen und verschmolz wieder mit seiner Ecke.

Zuvor aber tauschten er und Hedwig einen kurzen Blick aus, der einem aufmerksamen Beobachter verraten hätte, dass beide sich inbrünstig hassten.

»Gut, gut«, meinte Otto. »Begebt Euch ans Werk.«

 

»Begleitet Ihr mich auf einen Trunk in unser Gemach, mein Gemahl?«, fragte Hedwig, als die Männer die Halle verlassen hatten.

Otto sah überrascht auf. Mit vieldeutigem Lächeln ergriff er ihre Hand, küsste sie und folgte wortlos.

Hedwig scheuchte die Mägde und Gesellschafterinnen nach draußen, als sie die Kemenate betraten, und setzte sich.

Otto lehnte sich lässig an die Tür, verschränkte die Arme und sah sie spöttisch an. »Was hast du auszusetzen, meine Liebste?«

Hedwig ging nicht auf seinen Ton ein. »Findest du es wirklich klug, diesen Scharlatan dabeizuhaben, wenn es um vertrauliche Botschaften geht?«

»Ich weiß, dass du Aloisius nicht ausstehen kannst, meine Teure, aber er ist kein Scharlatan, sondern ein hochgelehrter Mann. Du nimmst ihm bloß übel, dass er deinen Lieblingssohn für besessen erklärt hat.«

»Dietrich ist nicht von Dämonen besessen. Er ist doch noch so klein. Wie kann dieser Sterndeuter solch ein Urteil über ihn fällen?«

Nun verschränkte sie die Arme vor der Brust und blickte Otto provozierend an. »Wann ist zum letzten Mal eine seiner Vorhersagen eingetroffen?«

»Ich kann mich an keine erinnern, mit der er Unrecht gehabt hätte.«

»Weil er sie so abfasst, dass man alles mögliche hineindeuten kann! Und er wird dir wieder sagen, dass die Sterne raten, die nächste Schlacht am Dienstag nach Vollmond zu schlagen. Das tut er jedes Mal.«

Hedwig stand auf, schenkte Wein ein und reichte Otto einen Becher. »Lass uns nicht streiten. Aber ich traue diesem Menschen nicht. Und du solltest es auch nicht.«

Nachdenklich trank sie einen Schluck und stellte ihren Becher ab. »Wie willst du eigentlich den Krieg gegen den Löwen begründen?«

Otto kniff kurz ein Auge zu und lächelte durchtrieben. »Vielleicht mit unserer Treue gegenüber dem Kaiser?«

Nun lag doch Spott in Hedwigs Stimme.

»Das klingt seltsam aus dem Munde eines Mannes, der Jahre gewartet hat, bis er endlich seinem Kaiser den Lehnseid leistete, und der zu Hoftagen nur anreist, wenn es sich wirklich nicht umgehen lässt.«

»Mein Bruder Dietrich ist mit dem Kaiser nach Italien gezogen und auch Dedo ist viel bei Hofe. Das sollte wohl reichen«, knurrte Otto und lachte dann kurz auf. »Ich kann ja schlecht öffentlich zugeben, dass ich viel lieber den gottesfürchtigen Rotbart auf dem Kaiserthron sehe, weil der sowieso die meiste Zeit in Italien beschäftigt ist, als den unberechenbaren Löwen. Schlimm genug, dass wir zwei Päpste haben – wir brauchen nicht auch noch zwei Kaiser. Wenn aber die zwei mächtigsten Männer im Reich einträchtig zusammenhalten, macht das uns andere Fürsten zu Schwächlingen.«

Hedwig drehte gedankenversunken an einem Ring, den ihr Otto geschenkt hatte. »Dass Rainald von Dassel die Allianz anführt, wird uns über jeden Zweifel erheben.«

»Du bist ein verdammt kluges Weib.«

»Und du sollst nicht fluchen, mein Herr und Gemahl.«

»Ach was. Ich hab genug Pfaffen hier auf dem Burgberg, die das für mich ausgleichen werden … Rainald ist ein gefährlicher Mann. Aber was immer er auch an Ränken ersonnen hat, er hat dabei nie gegen die Interessen des Kaisers gehandelt.«

Hedwig zog eine Augenbraue hoch. »Was glaubst du: Warum führt er die Allianz an?«

»Der Welfe hat sich zu oft mit der Kirche angelegt«, gab Otto zurück. »Spätestens seit dem Streit um Freising …«

Die Markgräfin nickte versonnen. Vor zehn Jahren hatte Herzog Heinrich die Zollstation des Bischofs von Freising zerstört, um ein Stück flussaufwärts an der Isar eine eigene zu errichten. »Aber gelohnt hat es sich für ihn«, gab sie zu bedenken.

»Die neue Zollstation bringt Heinrich fette Pfründe«, knurrte Otto. »Wie man hört, blüht und gedeiht dieses Munichen … Jemand muss Heinrich Einhalt gebieten.«

»Schließlich wollen wir doch nicht, dass einmal der Tag kommt, an dem der gesalbte Kaiser vor seinem Vasallen niederkniet, um ihn zum Waffendienst zu bitten?«, zitierte Hedwig ironisch einen berühmt gewordenen Ausspruch des Markgrafen.

Nun lachte Otto und ging mit einem Funkeln in den Augen betont langsam auf seine Frau zu.

»Ich liebe es, mit dir über diese Dinge zu plaudern. Das ist … so anregend …«

Hedwig musterte ihren Mann. Sie kannte diese Stimmung und genoss sie.

Als sie dem mehr als zwanzig Jahre älteren Meißner Markgrafen anvermählt worden war, hatte sie selbstverständlich auf diese Entscheidung keinen Einfluss gehabt. Die Hochzeit war abgesprochen worden, um die Rivalität zwischen den einstigen Kampfgefährten Konrad von Wettin und Albrecht dem Bären zu beenden. Sie war zutiefst erschrocken und hatte heimlich geweint, als sie hörte, wem ihr Vater sie zur Frau geben wollte.

Doch kurz vor der Hochzeit hatte ihre Großmutter Eilika sie beiseite genommen und ihr ganz unverblümt eine Lektion erteilt, die der künftigen Braut die Sprache verschlug und ihre Wangen zum Glühen brachte.

»Wenn du die Gunst deines Mannes auf Dauer erringen willst, zeige dich in der Brautnacht züchtig und unerfahren, wie du bist, aber danach nie wieder«, hatte die von vielen gefürchtete Eilika geraunt, die sich ihr Leben lang erfolgreich gegen Adlige und Geistliche durchgesetzt hatte. »Und dann vergiss, was die Kirchenmänner verlangen: dass die Frau sittsam still unter ihrem Mann zu liegen und ihn zu erdulden hat. Gib ihm das Gefühl, ein wilder Stier zu sein, der dein Blut schon mit einem Blick zum Wallen bringt – und er wird Wachs in deinen Händen sein!«