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Sabine Ebert

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Beschreibung

Desillusioniert kehrt Marthes Sohn Thomas im Herbst 1191 vom Kreuzzug zurück. Doch auch in der Heimat findet er keinen Frieden, denn dort herrscht der grausame Albrecht über die Mark Meißen. Als dieser seinen Bruder Dietrich, an dessen Seite Thomas im Heiligen Land gekämpft hat, angreift, bleibt beiden keine andere Wahl, als erneut zu den Waffen zu greifen. Die Lage scheint aussichtslos, deshalb muss Dietrich ein Zweckbündnis mit dem Landgrafen von Thüringen eingehen. Dafür fordert dieser die Verlobung Dietrichs mit seiner Tochter. Ein hoher Preis, denn Dietrich liebt seit langem heimlich Marthes Tochter Clara…

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Sabine Ebert

Der Traum der Hebamme

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Desillusioniert kehrt Marthes Sohn Thomas im Herbst 1191 vom Kreuzzug zurück. Doch auch in der Heimat findet er keinen Frieden, denn dort herrscht der grausame Albrecht über die Mark Meißen. Als dieser seinen Bruder Dietrich, an dessen Seite Thomas im Heiligen Land gekämpft hat, angreift, bleibt beiden keine andere Wahl, als erneut zu den Waffen zu greifen. Die Lage scheint aussichtslos, deshalb muss Dietrich ein Zweckbündnis mit dem Landgrafen von Thüringen eingehen. Dafür fordert dieser die Verlobung Dietrichs mit seiner Tochter.

Inhaltsübersicht

MottoDramatis PersonaeLandkartePrologERSTER TEILHerbst 1191, einige Meilen vor WeißenfelsUngewissheitAnträgeAuf der Wartburg in EisenachFreiberg, Herbst 1191ZukunftspläneZur gleichen Zeit auf dem Meißner BurgbergZwischenfall in FreibergGeheime PläneWiedersehen in WeißenfelsDer AngriffDie FurtBelagertKriegsratGespräche in der NachtHerausforderungMutter und TochterGefangeneBrautschau in EisenachBelagertAlte FeindschaftenIm Lager des FeindesVor der SchlachtZWEITER TEILLeuchtfeuerEntscheidung in der EbeneNach der SchlachtSiegesredenKapitulationsbedingungenFriedensschwurBegegnungenOhne UmkehrAm nächsten MorgenWarnungenSturmzeichenRückkehrRacheAm nächsten Tag in FreibergDas Mädchen LuitgardDRITTER TEILApril 1192 in WeißenfelsNächtlicher BesuchFreuden und SorgenOktober 1192, Hoftag in NordhausenUltimatumDas Auge des KaisersZwiegesprächErste AngriffeAtempauseAm Salzigen See bei RöblingenDer Preis des SiegesFamilienratUnerwarteter BesuchGeständnisseFreiberg, 24. Juni 1195SchicksalsstundeGottes MühlenUnklare VerhältnisseWiedersehen in SeußlitzDie Saat des BösenErzwungene EntscheidungVIERTER TEILFrühjahr 1197 vor der Küste von AkkonDie Mahnung des KönigsDer VorschlagFrühjahr 1197 in FreibergGelb und GrünÜberraschungsgästeSommer 1197 vor AkkonDer Alptraum von JerusalemHochzeitsgästeAuf AbwegenNovember 1197 an der syrischen Küste1. Februar 1198 vor der Festung TibninAbschiedKriegsrat in WeißenfelsEntscheidung in FreibergEnde und AnfangNachwortHistorische KriminalfälleDanksagungGenealogische TafelnZeittafelGlossar
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Für meine Kinder Kerstin und Stefan,

meine »Fans der ersten Stunde«,

die nie daran gezweifelt haben,

dass ihre Mutter sogar einen Roman zustande bringt.

Was keine leichte Sache ist.

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Dramatis Personae

Aufstellung der wichtigsten handelnden Personen.

Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Weißenfels

Dietrich*, Graf von Weißenfels, jüngerer Sohn des verstorbenen Meißner Markgrafen Otto von Wettin*

Marthe, eine Hebamme und Kräuterkundige

Lukas, ihr Mann, Ritter

Thomas, Clara und Daniel, Marthes Kinder aus ihrer Ehe mit Christian

Änne, Claras Tochter

Norbert von Weißenfels*, Burgkommandant

Heinrich* und Conrad*, seine Söhne

Gottfried, Verwalter

Gertrud, seine Frau

Lisbeth, eine Magd

Ansbert, Pfarrer von Sankt Nikolai

Eisenach

Hermann*, Landgraf von Thüringen und Pfalzgraf von Sachsen

Jutta*, seine Tochter

Gunther von Schlotheim*, Truchsess

Heinrich von Eckartsberga, Marschall*

Burchard von Salza*, thüringischer Ritter

Hermann von Salza*, sein Sohn, ebenfalls Ritter

Bruno von Hörselberg, thüringischer Ritter

Paul, Lukas der Jüngere und Konrad, Söhne von Lukas

Freiberg (ehemals Christiansdorf)

Johanna, ebenfalls heilkundige Stieftochter von Marthe

Kuno, Johannas Mann, und Bertram, Wachen auf der Burg

Heinrich*, Burgvogt

Ida, seine Frau

Rutger, Ritter und Befehlshaber der Wachen

Jonas, ein Schmied und Ratsherr, und seine Frau Emma

Johann und Guntram, ihre ältesten Söhne

Karl, Schmied und Stiefsohn Marthes

Hans und Friedrich, ehemals Salzfuhrleute aus Halle

Peter, Großknecht und Anführer einer Bande junger Männer

Christian, Stallmeister auf der Burg, das erste in Christiansdorf geborene Kind

Anna, seine Frau, Peters Schwester

Sebastian, Pfarrer

Elfrieda, Witwe aus dem Bergmannsviertel

Meißen

Albrecht von Wettin*, Markgraf von Meißen, älterer Bruder Dietrichs von Weißenfels

Sophia von Böhmen*, seine Gemahlin

Elmar, Truchsess und Vertrauter Albrechts

Giselbert, Mundschenk und Ritter

Gerald, Marschall und Bruder von Lukas’ verstorbener erster Frau

Eustasius, Astrologe und Alchimist

Dittrich von Kittlitz*, Bischof von Meißen

Meinher von Werben*, Burggraf

Hochadel und Geistlichkeit

Kaiser Heinrich VI.*

Konstanze von Sizilien*, seine Gemahlin

Philipp von Schwaben*, sein Bruder

Richard Löwenherz*, König von England

Leopold V.*, Herzog von Österreich

Konrad von Wittelsbach*, Erzbischof von Mainz

Markward von Annweiler*, kaiserlicher Truchsess

Heinrich von Kalden*, kaiserlicher Marschall

Konrad von Querfurt*, Kanzler und Bischof von Hildesheim

Bernhard von Aschersleben*, Herzog von Sachsen, Bruder der Meißner Markgräfin Hedwig

Konrad von Wettin*, Graf von Rochlitz und Eilenburg und Markgraf der Ostmark, Vetter des Meißner Markgrafen Albrecht

Akkon

Heinrich von Champagne*, König von Jerusalem

Hugo von Tiberias*, sein Heerführer

Balian von Ibelin*, einer der engsten Berater des Königs

Amalrich*, König von Zypern

Heinrich Walpot*, Vorsteher der deutschen Spitalgemeinschaft

Graf Heinrich von Schwarzburg*, thüringischer Ritter

Notker, ein Mönch

Eschiva, eine junge Frau

Sonstige handelnde Personen

Hedwig*, Witwe des einstigen Meißner Markgrafen Otto

Raimund, Ritter im Dienste des Meißner Markgrafen

Elisabeth, seine Frau

Wito, Reitknecht in Raimunds Diensten

Lothar, Burgkommandant von Seußlitz

Ludmillus, ein Spielmann

Jakob, Ritter, Bruder von Lukas

Jakob der Jüngere und Luitgard, seine Kinder

Berthold,* Herr von Bertholdsdorf nahe Freiberg

Conrad*, Herr von Conradsdorf nahe Freiberg

Heinrich von Colditz*, kaiserlicher Ministerialer

Peter von Nossen*, meißnischer Ritter

Tammo* und Johannes*, seine Brüder

Boris von Zbor*, meißnischer Ritter slawischer Herkunft

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Prolog

Gehorsam war ihnen eingeprügelt worden, als sie noch Knechte waren; gehorsam zu sein, wurde ihnen gepredigt, als sie Bauern und später Stadtbürger wurden. Denn schließlich habe jeder seinen festen Platz in Gottes Ordnung der Welt.

Doch manchmal kann auch Ungehorsam erste Bürgerpflicht sein.

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ERSTER TEIL

Die Rückkehr

Herbst 1191, einige Meilen vor Weißenfels

Den halben Tag schon goss es in Strömen. Scheinbar gleichmütig lenkten die durchnässten Reisenden ihre Pferde den Pfad entlang, während der Wind ihnen den Regen ins Gesicht trieb. Von ihren Umhängen liefen Rinnsale, das Banner hing vor Nässe zusammengeklebt und schlaff herab, die Hufe ihrer Pferde ließen das Wasser von den Pfützen aufspritzen.

Schon lange hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Lediglich ein Räuspern oder ein Husten waren dann und wann zu hören.

Vor allem die beiden Reiter an der Spitze des kleinen Zuges – ein Graf von etwa dreißig Jahren und ein Ritter Anfang zwanzig, beide sonnenverbrannt und sehnig, mit ernsten, düsteren Mienen – wirkten ganz in Gedanken versunken.

Die Überlegungen des einen flogen voraus, was ihn wohl erwarten mochte, wenn er nach zweieinhalbjähriger Abwesenheit auf seine Ländereien heimkehrte.

Die Gedanken des Jüngeren hingegen waren ganz in der Vergangenheit gefangen – bei alldem, was er während des Kreuzzuges erlebt hatte, von dem sie gerade zurückkamen. Bei den Männern, die er sterben sah, unter ihnen sein bester Freund, und bei den unsäglichen Opfern, die dieser Kriegszug durch Verrat und unheilvolle Streitereien gekostet hatte.

Der Graf von Weißenfels drehte sich um und beorderte mit einer Geste den Anführer der Reisigen zu sich, die er unterwegs in seine Dienste genommen hatte.

»Drei Meilen voraus müsste ein Dorf mit einem Wirtshaus sein, sofern es nicht inzwischen niedergebrannt oder aufgegeben ist. Reite vor und kündige uns an. Das Essen soll bereitstehen, wenn wir kommen, die Pferde brauchen Hafer. Wir halten uns dort nur so kurz wie möglich auf. Ich will noch vor Anbruch der Dämmerung die Burg erreichen.«

Der Anführer verneigte sich und galoppierte ohne ein weiteres Wort davon.

Seine Männer hatten den Befehl gehört und blieben stumm. Es war sinnlos, zu hoffen, in der Schankstube die Kleider trocknen zu können, wenn sie sowieso gleich wieder hinausmussten. Und der Himmel sah nicht aus, als würde es heute noch zu regnen aufhören. Je kürzer die Rast, umso eher würden sie auf Dietrichs Burg Weißenfels ankommen und sich dort aufwärmen können.

Das Gasthaus an der Wegkreuzung existierte wirklich noch. Der Wirt, ein behäbiger Mann mit ruß- und fettverschmiertem Kittel, war trotz des Regens nach draußen gekommen, um die Gäste mit einer tiefen Verbeugung zu begrüßen. Wortreich beteuerte er, sie seien hier bestens aufgehoben und ein warmes Mahl vorbereitet.

Er gab seinen Stallknechten ein paar Befehle, dann schlurfte er zurück zum Haus und verharrte kurz unter dem Türbalken, um seine triefend nasse Bundhaube abzunehmen und auszuwringen.

»Ich bleibe bei den Pferden und habe ein Auge darauf, dass sie gut versorgt werden«, bot Thomas, der junge Ritter, dem Grafen an.

Der musterte seinen Gefolgsmann und Kampfgefährten kurz mit prüfendem Blick, stimmte aber mit einem Nicken zu. Den Jüngeren überkam wieder einmal das beunruhigende Gefühl, Graf Dietrich würde seine Gedanken lesen und die Beweggründe für das Angebot erkennen.

Die Pferde, die sie sich nach der Fahrt übers Meer von dem Sold gekauft hatten, den der französische König ihnen im Heiligen Land für ihren Einsatz bei der Belagerung und Eroberung Akkons gezahlt hatte, waren nicht so edel wie die, die sie üblicherweise ritten, jedoch unentbehrlich und völlig erschöpft. Die Pferdeknechte des Schankhauses gaben sich sichtlich Mühe, sie gut zu versorgen. Wahrscheinlich hofften sie auf diesen oder jenen Hälfling zusätzlich für ihre Arbeit.

Allerdings verspürte Thomas schon beim ersten Anblick des Wirtes Misstrauen. Vielleicht lag das auch daran, dass er überhaupt jegliches Vertrauen in die Welt verloren hatte.

Hauptsächlich aber wollte er allein sein und seine Gedanken sammeln, bevor sie heute Abend Graf Dietrichs Burg erreichten, zu der sie seit Wochen unterwegs waren. Sich wappnen für das, was ihn dort an schlimmen Nachrichten erwarten mochte.

Fern der Heimat, in Outremer, hatten sie vom Machtantritt des neuen Markgrafen von Meißen erfahren, Dietrichs älterem Bruder Albrecht von Wettin. Thomas wusste nicht, wie es seiner Familie seitdem ergangen war. Ob sie in Freiberg bleiben durfte oder vor dem blutrünstigen Herrscher fliehen musste, der schon Thomas’ Vater hatte ermorden lassen.

Wenn die Dinge schlecht verlaufen waren, würde er seine zwei Jahre jüngere Schwester in Weißenfels vorfinden. Ihr hatte Graf Dietrich auf seiner Burg Zuflucht versprochen. Vielleicht hatte sich sogar seine gesamte Familie dort in Sicherheit bringen können.

Aber wenn die Dinge ganz schlecht in der Mark Meißen standen, dann würde niemand von seiner Familie in Weißenfels auf ihn warten.

Dann waren alle tot. Und Thomas selbst hatte auch noch eine Todesnachricht zu überbringen: an die Eltern seines besten Freundes Roland. Diese bittere Pflicht konnte ihm keiner abnehmen. Auch wenn er den Hals riskierte, indem er Raimunds Ländereien in der Mark Meißen aufsuchte – er musste es tun.

Vermutlich war immer noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Albrecht von Wettin, der nunmehrige Herrscher der Mark Meißen, würde nicht vergessen haben, dass Thomas dem Kaiser die Nachricht überbrachte, wie er seinen Vater, den alten Markgrafen Otto, gefangen genommen hatte, um die Macht an sich zu reißen. Und noch weniger würde Albrecht ihm nachsehen, in die Dienste seines verhassten jüngeren Bruders getreten zu sein.

Dass sie auf Pilgerreise ins Heilige Land gewesen waren, würde weder Thomas noch Dietrich helfen, auch wenn Wallfahrer unter dem Schutz des Papstes standen. Kein Einziger der Kreuzfahrer war bis nach Jerusalem gekommen. Die wenigen vom einst viele tausend Mann starken Heerbann des Kaisers Friedrich von Staufen, die die Angriffe auf dem Marsch, die Hitze, den Weg durch die Steppe ohne Wasser und Nahrung und die Schlachten überlebt hatten, die nicht von Seuchen dahingerafft worden oder bei der fast zweijährigen Belagerung Akkons schlicht verhungert waren, folgten unmittelbar nach der Einnahme der Stadt ihrem Anführer Leopold von Österreich und kehrten zurück in die Heimat, weil der englischen König Richard den Herzog zutiefst beleidigt hatte.

 

Eine verschlafen wirkende Schankmagd kam in den Stall, sah sich suchend um, dann stakste sie auf den jungen Ritter zu, knickste und reichte ihm einen großen Becher Bier und eine Schüssel mit dampfend heißer Kohlsuppe, in der ein paar gräuliche Fleischbrocken schwammen.

Thomas schüttelte sein tropfnasses dunkles Haar und strich es zurück, ehe er beides entgegennahm. Er stellte die Suppe auf einem Querbalken ab und trank einen Schluck Bier, ohne auf den Geschmack zu achten. Die Knechte hatten den Pferden inzwischen Wasser gegeben und Hafersäcke umgebunden, ihnen die Sättel abgenommen und sie mit Stroh trockengerieben. Dann gingen sie nach einer Verbeugung vor dem Ritter hinaus. Thomas hörte noch, wie ihnen jemand über den Hof zurief, einer solle mehr Brennholz bringen und ein anderer zwei Eimer Wasser vom Brunnen holen.

Er lehnte sich an einen Pfosten und verlor sich in Erinnerungen, während die Suppe neben ihm erkaltete.

Ein leises Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken.

Mit ein paar gewaltigen Sätzen war er in der Ecke, in der er einen Schemen wahrgenommen hatte, riss den Mann hoch, der sich angeschlichen hatte, und wuchtete ihn gegen die hölzerne Rückwand des Stalls, die unter dem Aufprall erbebte.

»Was hast du hier zu suchen?«, brüllte er. Der zu Tode erschrockene Fremde umklammerte das Messer, mit dem er sich am Gurt des prächtigsten Sattels – dem Graf Dietrichs – zu schaffen gemacht hatte.

Ein gedungener Mörder!, war Thomas’ einziger Gedanke, als er bemerkte, dass der Gurt angeschnitten war. Plötzlich rauschte ihm wieder das Blut durch die Adern, wie auf dem Schlachtfeld sah er nichts weiter als das Gesicht des Mannes, den es zu töten galt. Er zog sein Schwert mit einer so schnellen Bewegung, dass der andere nicht fliehen konnte, holte aus und schlug ihm mit aller Wucht den Kopf ab.

Dann drehte er sich um, ohne noch einen Blick auf den enthaupteten Leichnam zu werfen, und ging zurück zu dem Pfosten. Keuchend von der Anstrengung sank er auf ein Knie. Nach einigen Atemzügen stemmte er sich wieder hoch und wischte die blutige Klinge mit einer Handvoll Heu ab.

Sein Geschrei war trotz des trommelnden Regens bis ins Gasthaus durchgedrungen; der erschrockene Wirt, der Anführer der Reisigen und fünf seiner Männer rannten herbei. Augenblicke später folgte ihnen Graf Dietrich mit langen Schritten.

»Dieser Kerl hat Euern Sattelgurt angeschnitten, mein Fürst!«, berichtete Thomas. Beschämt senkte er den Kopf. »Verzeiht meine Unbeherrschtheit. Ich hätte ihn fragen sollen, wer ihn geschickt hat.«

Der Graf betrachtete das abgemagerte, ernste Gesicht des jungen Mannes mit den umschatteten Augen.

»Für Eure Wachsamkeit danke ich Euch«, sagte er und wandte sich an den Wirt, der entsetzt auf den Leichnam starrte.

»Kennst du diesen Mann?«, fragte er streng.

Mit der Fußspitze stieß der Wirt gegen den Kopf des Toten, um einen Blick auf dessen Gesicht werfen zu können, und bekreuzigte sich. »Das ist einer von den Gesetzlosen, die hier die Wege unsicher machen. Seht, er hat das Henkersmal! Er sollte letzten Sommer gehenkt werden, weil er eine junge Frau und ihren Säugling erschlagen hatte. Doch der Strick riss, so kam er frei. Sicher wollte er die silbernen Beschläge stehlen.«

Nun sank der Wirt vor Dietrich auf die Knie und verschlang die schmutzigen Finger ineinander.

»Glaubt mir, ich habe nichts damit zu tun, edler Herr!«, barmte er. »Ich führe ein ehrliches Haus. Das wird Euch jeder in der Gegend bezeugen. Die Dörfler werden Euerm Ritter dankbar sein, dass er sie von einem der Unholde befreit hat, die das Land wie eine Plage überziehen.«

Ohne ein weiteres Wort wies Dietrich an, den Wirt für das Essen und die Versorgung der Pferde zu bezahlen, dann ließ er seine Männer wieder aufsitzen.

Einer der Reisigen tauschte den angeschnittenen Sattelgurt gegen einen anderen aus. Danach ritten die Männer erneut durch den strömenden Regen.

Die erkaltete Suppe blieb unbeachtet auf dem Balken stehen, bis einer der Knechte in den Stall huschte und sie gierig ausschlürfte.

 

Wie zuvor ritt Thomas an Dietrichs Seite, und abermals fiel kein Wort zwischen beiden. Als sie sich Weißenfels näherten, hatten sie Mühe, in dem dichten Regen die Umrisse der Burg zu erkennen.

»Sollte ich nicht lieber vorausreiten und nachschauen, ob Euch nicht Feinde oder eine Falle erwarten?«, fragte Thomas, bevor sie die Siedlung Tauchlitz unterhalb der Burg erreichten.

»Nein«, entgegnete Dietrich entschieden. »Ich werde mich weder verstecken noch heranschleichen, wenn ich endlich auf mein Land zurückkehre.«

Er war zweieinhalb Jahre fort gewesen und wollte jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Deshalb hatte er auch niemanden vorausgeschickt, der seine Ankunft ankündigte.

Thomas zwang nur mit Mühe eine Entgegnung hinunter. Nachdem Albrecht sich gegen seinen Vater erhoben hatte – was sollte ihn daran hindern, auch den jüngeren Bruder aus dem Weg zu räumen? Vielleicht hatte er Weißenfels inzwischen längst eingenommen?

Doch in diesem Punkt schien Dietrich entgegen aller Vernunft so stur wie sein Lehrmeister, Thomas’ Vater Christian, den dies das Leben gekostet hatte.

Also blieb dem jungen Ritter vorerst nichts weiter als ein stummes Gebet, dass sie diesen Abend überlebten und nicht unmittelbar den Feinden in die Hände gerieten.

Kein Mensch hielt sich bei diesem Wetter in den schlammigen, mit Pfützen übersäten Gassen von Tauchlitz auf, nicht einmal ein paar streunende Hunde ließen sich blicken. Lediglich ein Schwein wühlte im Unrat nach etwas Fressbarem, ohne die Schar der Ankömmlinge zu beachten.

In mäßigem Tempo ritten sie den Berg hinauf zum Burgtor. Dort hatten sich mehrere Wachen versammelt, um zu sehen, wer sich in Dämmerung und strömendem Regen mit unkenntlichem Banner näherte.

Der Wettiner gab seinen Begleitern das Zeichen zu halten und lenkte seinen Hengst nach vorn. Da erst erkannte ihn einer der Männer, der älteste von ihnen.

»Graf Dietrich! Gott sei gedankt, dass wir Euch hier wieder lebend und gesund begrüßen können! Willkommen daheim, Hoheit!«

Seine Stimme überschlug sich vor Freude bei diesen Worten. Gemeinsam mit den anderen kniete er nieder und senkte den Kopf.

Dietrich begrüßte die Männer der Wachmannschaft, und als er ihnen erlaubte aufzustehen, rannte der Älteste humpelnd los und rief über den ganzen Burghof: »Der Graf ist zurück! Graf Dietrich ist aus dem Heiligen Land zurück! Kommt und heißt Euren Herrn willkommen!«

Rasch füllte sich der Burghof trotz des Regens mit Wachen, Knechten, Mägden, Reisigen, die von allen Seiten herbeigerannt kamen, um das leibhaftige Wunder zu sehen.

Die meisten von ihnen knieten nieder und bekreuzigten sich, andere riefen erleichtert Segenssprüche. Die Stallburschen beeilten sich, den Weitgereisten aus dem Sattel zu helfen und ihnen die erschöpften Pferde abzunehmen.

Unruhig hielt Thomas Ausschau unter den vielen Menschen, aber er vermochte weder seinen Stiefvater noch seine Mutter zu sehen, auch keinen seiner jüngeren Brüder. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Und wo blieb Clara, seine Schwester? Er konnte einfach nicht glauben, dass alle gesund und am Leben waren.

Hatte Albrecht sie am Ende alle töten lassen? Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.

Dann entdeckte er Clara, die mit aufgewühlten Gesichtszügen auf ihn zulief. Es war für ihn so ungewohnt, seine jüngere Schwester mit Schleier und Gebende zu sehen, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte. Also hatte sie nach seiner Flucht geheiratet? War sie jetzt die Ehefrau dieses Reinhard, den er nicht ausstehen konnte, den jedoch sein Stiefvater für sie bestimmt hatte, weil er sie seiner Meinung nach am besten beschützen konnte? Aber wo steckte der? In weniger als einem Lidschlag schossen ihm diese Gedanken durch den Kopf, und schon wollte der alte Hass gegen Reinhard erneut in ihm aufwallen.

Doch dann sah er in Claras Gesicht und fühlte die gleiche Freude wie sie, als sie sich in die Arme fielen.

»Du lebst!«, rief sie glücklich. Einen Moment später löste sie sich vorsichtig von ihrem Bruder, wandte sich Dietrich zu und kniete mit gesenktem Kopf vor ihm nieder.

»Seid gegrüßt, Hoheit«, sagte sie leise mit merkwürdig flatternder Stimme, ohne den Blick zu heben. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir hier Schutz und Obdach gewährt habt.«

Dietrich schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken – und wenn er es tat, so gab er das nicht zu erkennen. Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, und sagte mit selten gewordenem Lächeln: »Ich freue mich, Euch zu sehen. Doch lasst Euch nicht aufhalten und heißt zuerst Euren Bruder willkommen. Er war in großer Sorge um Euch. Und ich war es auch.«

Mit einem Mal sehr ernst, wandte sich Clara wieder Thomas zu.

»Wo ist Roland?«, fragte sie. An der Art, wie sie ihn ansah, wusste er, dass sie die Antwort schon ahnte.

Clara schluchzte auf, als er nichts sagte, sondern sich seine Züge noch mehr verfinsterten.

»Ich soll dir von ihm Grüße ausrichten … Das waren seine letzten Worte … Er hat dich sehr geschätzt …«, brachte er mit Mühe heraus. Dabei zerriss ihn beinahe, was er nicht aussprechen durfte: Er hat dich geliebt, von ganzem Herzen geliebt, er wollte um deine Hand anhalten. Stattdessen mussten wir fliehen und dich diesem Reinhard überlassen. Auf diesem ganzen verfluchten Kriegszug dachte er an dich und hoffte, er könnte dich noch freien, wenn er zurückkehrt. Doch dann traf ihn ein Pfeil, als alles schon fast vorbei war, bei einem sinnlosen Scharmützel vor Akkon. Und seine wahren letzten Worte waren: Sag Clara nichts! Ich soll dir nicht verraten, wie sehr er dich geliebt hat, damit du nicht noch mehr um ihn trauerst …

Thomas zog seine Schwester an sich und hielt sie in seinen Armen, und er hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer dabei wem Halt und Stärke gab.

Nur nebenher bekam Thomas mit, dass sich Dietrich nach dem Befinden seiner Mutter erkundigte und jemand ihm mitteilte, die Fürstin Hedwig sei von Markgraf Albrecht auf ihren Witwensitz nach Burg Seußlitz geschickt worden. Doch sie sende regelmäßig Nachricht und sei bei guter Gesundheit.

»Wie geht es Mutter und Lukas? Und unseren Brüdern?«, fragte Thomas seine Schwester leise, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.

»Sie leben«, antwortete Clara zu seiner großen Erleichterung. »In Eisenach, in Diensten von Landgraf Hermann.«

Sie schniefte, wischte sich die Tränen unbeholfen mit dem Ärmel ab und löste sich aus der Umarmung. Wieder sah sie zu Graf Dietrich, der nahe genug stand, um diese Antwort mitbekommen zu haben.

»Euer Bruder wollte meinen Stiefvater und meine Mutter töten lassen. Es waren schreckliche Tage, doch gegen jede Hoffnung gelang ihnen die Flucht aus dem Kerker. Eure Mutter bat sie, sich Thüringen als Exil zu wählen. Sie sollen dort bei Landgraf Hermann Fürsprache einlegen, damit er Euch beisteht, falls Euer Bruder Euch angreift – was wir alle befürchten.«

»Wie ich sehe, gibt es Dringendes zu besprechen«, meinte Dietrich. Er winkte den untersetzten, graubärtigen Mann herbei, der ihm feierlich den Willkommenspokal überreicht hatte, und einen Hageren von etwa fünfzig Jahren mit dunkelbraunem Haar; der guten Ausrüstung nach wahrscheinlich der Befehlshaber der Burgbesatzung.

»Wünscht Ihr, dass Euch ein Bad bereitet wird?«, erkundigte sich der Graubart.

So verlockend der Gedanke für Dietrich war, im warmen Wasser von der langen Reise auszuruhen – das musste warten.

»Gehen wir in meine Kammer. Ich möchte von Euch zuerst die wichtigsten Dinge erfahren, die sich in meiner Abwesenheit zugetragen haben. Mein Ritter und seine Schwester sollen uns begleiten.«

Die kleine Gruppe überquerte den Burghof Richtung Palas, der sich in der Mitte des Felsplateaus befand, während immer wieder Leute vor Dietrich niederknieten und ihn willkommen hießen.

Auf etlichen Gesichtern stand unübersehbar die Frage, was aus all den Männern geworden war, die mit ihm ins Heilige Land gezogen waren. Doch diese Frage würde er erst nachher beantworten, vor allen in der Halle.

»Lebt Ihr hier unter Euerm wahren Namen?«, wandte sich Dietrich flüsternd an Clara. Mit Bedacht hatte er sie vor aller Ohren nur als »Schwester seines Ritters« bezeichnet. Sie hatten vor seiner Abreise durchaus die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie in Weißenfels unter falschem Namen Zuflucht suchen musste, um vor seinem Bruder sicher zu sein.

»Nur Euer Burgkommandant kennt meine wahre Herkunft«, berichtete Clara ebenso leise. »Er riet mir, hier bloß meinen zweiten Namen zu benutzen, Maria. Die anderen wissen lediglich, dass ich eine junge Witwe bin. Sie glauben, dass Fürstin Hedwig mich und mein Kind hierherschickte, damit ich nach dem Tod meines Gemahls etwas Ruhe und Abgeschiedenheit finde.«

Sie ist Witwe! Und sie hat ein Kind von Reinhard!

Thomas zuckte zusammen bei diesen Neuigkeiten. Dabei entging ihm, dass auch Dietrich Mühe hatte, jede Regung in seinen Gesichtszügen zu unterdrücken.

Ungewissheit

Hoheit, bitte erlaubt mir eine Frage«, begann der Anführer der Wachmannschaft, als sich Dietrich mit seinen ranghöchsten Gefolgsleuten auf der Burg sowie Thomas und Clara in sein Quartier zurückgezogen hatte. Der Raum erweckte nicht den Eindruck, als sei sein Bewohner jemals fort gewesen. Entweder war hier eine tüchtige Wirtschafterin am Werk, oder die Burgbesatzung hatte jeden Tag auf Dietrichs Rückkehr gehofft und alles dafür vorbereitet. Selbst ein Feuer brannte schon – eine Wohltat für die durchnässten Männer. Und auf dem Tisch standen appetitlich duftendes Brot und Schinken für den ersten Hunger, bis das Mahl unten in der Halle fertig war. Doch niemand nahm sich etwas davon; sie alle waren zu aufgewühlt, um jetzt essen zu können.

»Die Kämpfer, die mit Euch ins Heilige Land gezogen sind …?«, fuhr der Hagere zögernd fort, den Dietrich als Norbert angesprochen hatte. Seine Waffen und Kleidung waren ohne jeglichen Zierrat, doch von ausgezeichneter Qualität. Uneitel und vermutlich ein guter Kämpfer, überlegte Thomas, während er ihn musterte.

»… sind alle gefallen auf dem Weg nach Jerusalem – für Gott und das Wahre Kreuz, auch wenn wir die Heilige Stadt und die wichtigste Reliquie nicht erobern konnten«, antwortete Dietrich mit kaum verhohlener Bitterkeit. »Wir werden ihrer nachher beim Mahl und mit einer Messe gedenken.«

»Gott steh ihren Seelen bei!«, flüsterte Norbert und bekreuzigte sich. Nach einem tiefen Atemzug sagte er entschlossen: »Dann sollten wir dringend neue Kämpfer in Dienst nehmen. Hoheit, Ihr habt hier ein Dutzend Ritter und ebenso viele Sergenten unter Waffen, dazu zwei Dutzend Reisige und Bogenschützen und ein Dutzend Bürger, die Wachdienste versehen. Das würde für Friedenszeiten reichen. Aber Eure Mutter und auch vertrauenswürdige Quellen aus Meißen, Freiberg und Eisenach berichten uns, dass Euer Bruder einen Kriegszug gegen Euch plant. Er ist sogar früher aus Italien zurückgekehrt, wo er mit dem Kaiser weilte, um sofort nach Eurer Ankunft anzugreifen.«

»Die Kornlager und Speicher sind gut gefüllt«, versicherte der graubärtige Verwalter namens Gottfried. »Wir hatten zwei Jahre keine Missernte. Im Fall einer Belagerung können wir mehrere Wochen auf der Burg ausharren.«

Erneut meldete sich Norbert zu Wort. »Unter den Knappen sind einige, die durchaus das Zeug dazu hätten, in den Ritterstand erhoben zu werden.«

»Als Erstes müssen Boten ausgesandt werden«, befahl der Graf von Weißenfels. »Zu meiner Mutter, zu unseren Vertrauten in der Mark Meißen und ganz besonders dringend zu Lukas nach Eisenach. Wir müssen uns auf einen Angriff vorbereiten und vor allem herausfinden, wann genau die Gegner hier sein werden.«

»Sollen wir Verstärkung aus Eisenberg heranholen?«, schlug der hagere Burgkommandant vor. Das war ein Ort, der ebenfalls zu Dietrichs Besitz gehörte.

»Wir können keine Bewaffneten abziehen. Gut möglich, dass mein Bruder auch dort angreift«, entschied Dietrich.

Er hat sich verändert, dachte Clara, während sie den Mann unter gesenkten Lidern betrachtete, den sie liebte, seit sie ein Kind war, auch wenn sie stets gewusst hatte, dass es eine Liebe ohne Hoffnung war. Sein einst dunkles Haar ist von der Sonne geblichen, seine Züge wirken härter, kantiger … die Spuren der Entbehrungen und Verluste auf dem Kriegszug. Und wenn ihn auch Entschlusskraft auszeichnet, seit er dem Ritterstand angehört – nicht einmal mit der Wimper gezuckt hat er bei der Ungeheuerlichkeit, dass sein eigener Bruder Krieg gegen ihn führen will, kaum dass er aus dem Heiligen Land zurück ist! Oder rechnet er etwa längst damit, weil er sich keinerlei Täuschung über die Hinterhältigkeit und Gier seines Bruders hingibt?

Als hätte Dietrich Claras Gedanken erraten, richtete er nun seinen Blick auf sie. »Erzählt uns, was in Freiberg und Meißen vorgefallen ist!«

Sie fühlte sich ertappt und musste sich erst sammeln, um zu berichten, was sich seit Dietrichs Abreise zugetragen hatte: von dem Hin und Her auf dem Burgberg nach Markgraf Ottos Gefangennahme und Freilassung, von Albrechts merkwürdigem Betragen am Totenbett seines Vaters und davon, wie er völlig entfesselt vom Hoftag des Königs zurückkam, nachdem er mit der Mark Meißen belehnt worden war.

»Er raubte dreitausend Mark Silber vom Altar des Klosters bei Nuzzin, warf meinem Mann Verrat vor und köpfte ihn eigenhändig vor dem versammelten Hofstaat«, berichtete Clara stockend. »Dann befahl er Lukas’ Hinrichtung. In diesem Augenblick trat meine Mutter vor und verfluchte ihn. Euer Bruder befahl, sie und meinen Stiefvater in den Kerker zu werfen und so lange zu foltern, bis sie widerrufen würde.«

Claras Stimme erstickte, sie räusperte sich, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen, aber es war ihr unmöglich; der Schmerz erstickte jedes Wort in ihr.

Sie hat sich verändert, dachte Dietrich, während er die Augen nicht von Clara lassen konnte, obwohl eigentlich ihr Bericht all seine Aufmerksamkeit fesseln sollte. Natürlich … sie hat ein Kind geboren und ihren Mann verloren. Einen Mann, den sie offensichtlich zu lieben gelernt hatte.

»Euer Gemahl war von großem Mut«, sagte Dietrich leise. »So kannte ich ihn schon, als er noch unter dem Befehl Eures Vaters diente.«

Norbert, der Burgkommandant, sprang für Clara ein, die immer noch mit den Tränen kämpfte.

»Dieser jungen Frau gelang es, aus Freiberg zu entkommen. Als sie mir Euren Ring zeigte, sorgte ich hier für ihre Aufnahme und ihren Schutz.«

»Ich danke Euch dafür«, mischte sich Thomas ein, zwar ehrlich erleichtert, aber mit neu aufkommender Sorge. Die Art, wie dieser Norbert Clara ansah, machte ihn misstrauisch. War etwas zwischen den beiden?

Der Kommandant nickte ihm knapp zu, dann fuhr er, zu Dietrich gewandt, fort: »Wie es heißt, hat der Fluch der Herrin Marthe großen Eindruck auf Euern Bruder gemacht. Kurz darauf nahm er einen Astrologen in seine Dienste, von dem er sich zu jedem seiner Schritte beraten lässt. Dieser Mann hat inzwischen mehr Einfluss auf ihn als alle seine sonstigen Ratgeber.«

»Lässt sich dieser Astrologe kaufen? Weiß jemand, in wessen Interesse er meinen Bruder zu beeinflussen sucht?«, erkundigte sich Dietrich sofort.

»Wir werden versuchen, das herauszufinden«, versicherte Norbert überrascht, der anscheinend ein solches Vorgehen noch nicht in Betracht gezogen hatte.

Der Graf von Weißenfels stellte ein halbes Dutzend weiterer Fragen, dann entschied er: »Morgen werden wir prüfen, welche der Knappen wirklich schon das Zeug haben, in den Ritterstand erhoben zu werden. Bis die Boten mit frischen Nachrichten zurück sind, verstärken wir unsere Truppen. Verdoppelt die Wachen, alarmiert die Bewohner der umliegenden Orte!«

Der Burgkommandant und der Verwalter nahmen die Befehle mit einem knappen Nicken entgegen.

»Da wir noch nicht wissen, wann die Männer meines Bruders kommen und wie viele es sein werden, sollten wir uns damit beeilen, ihnen einen gebührenden Empfang vorzubereiten«, sagte Dietrich mit einem harten Lächeln und erhob sich. »Doch jetzt lasst uns hinuntergehen. Es ist bald Nacht. Alles andere soll warten bis morgen früh.«

Auf dem Weg in die Halle wich Thomas nicht von Claras Seite. Er legte ihr tröstend den rechten Arm um die Schultern, während seine linke Hand den Griff seines Schwertes umklammerte.

Niemals hätte er gedacht, dass ihre Ehe mit Reinhard einen solch schrecklichen Ausgang nehmen würde. Also hatte er ihm unrecht getan. Und mit maßlosem Zorn erfüllte Thomas, was er gerade über das Schicksal seiner Mutter und seines Stiefvaters erfahren musste.

Sollen sie nur kommen!, dachte er. Dann kann ich endlich für meinen Vater Rache nehmen!

Clara an seiner Seite schien seine düsteren Gedanken zu spüren. Und es schmerzte sie.

 

Unten in der Halle warteten die gesamte Burgmannschaft und das Gesinde auf den zurückgekehrten Herrn. Als Dietrich und seine Begleiter die Treppe herunterkamen, knieten sie vor dem Grafen nieder.

Statt sich an die hohe Tafel zu setzen, blieb Dietrich stehen und forderte die Versammelten mit einer Geste auf, sich zu erheben. Er griff nach seinem Becher und hielt ihn empor. Gewohnheitsmäßig warf er einen Blick zu seiner Rechten, wo früher der Kaplan gesessen hatte. Doch der Geistliche war vor einem Jahr gestorben, wie ihm der Verwalter mitgeteilt hatte, und solange der Herr der Burg nicht zurückgekehrt war und einen neuen aufnahm, gingen die Burgbewohner in die Kirche im Ort, um an den Messen teilzunehmen oder die Beichte abzulegen.

Dietrich sah die vielen Augenpaare, die sich auf ihn richteten, während völlige Stille in die Halle einkehrte.

»Trinken wir auf die Seelen der Männer, die vor zweieinhalb Jahren mit mir aufgebrochen sind und die ihr Leben für den Traum von Jerusalem gaben. Amen.«

Ein unterdrücktes Schluchzen war aus mehreren Reihen zu hören. Einige Frauen erfuhren auf diesem Wege die Bestätigung, dass ihre Männer, Söhne oder Väter nicht zurückkehren würden.

»Ihnen ist für ihr Opfer ewiges Seelenheil gewiss. Ich werde morgen mit jedem Einzelnen von euch, der einen Verwandten oder anderen geliebten Menschen verloren hat, darüber sprechen, wie es geschah.«

Der Graf von Weißenfels trank einen Schluck, dann sagte er mit Nachdruck: »Doch jetzt erfreut Euch des Friedens dieses Abends – solange er anhält. Mag sein, wir müssen uns morgen schon auf neue Kämpfe vorbereiten. Zuvor will ich zwei Menschen an meiner Seite würdigen, die hier in Weißenfels in höchsten Ehren gehalten werden sollen: Thomas von Christiansdorf und seine Schwester Clara Maria.«

Ein Raunen setzte unter den Weißenfelsern ein, doch Dietrich ignorierte es und sprach weiter. Sofort wurde es wieder still in der Halle. »Jetzt, da ich zurückgekehrt bin, darf ihre wahre Herkunft enthüllt werden. Ihrem Vater Christian verdanke ich meine Erziehung zum Ritter, sein Sohn kämpfte mit großem Mut an meiner Seite bei den Schlachten um Philomelion, Ikonium und Akkon. Schließt Bruder und Schwester in eure Gemeinschaft ein und bringt ihnen die Achtung entgegen, die sie verdienen.«

Auf Dietrichs Zeichen hoben auch die Menschen in der Halle die Becher und tranken ihm zu, dann setzten sie sich und begannen zu essen.

 

Als das Mahl schon eine Weile vorangeschritten war, schickte Dietrich Thomas unter einem Vorwand kurz hinaus und wandte sich an die junge Frau, die an seiner Seite saß.

»Clara, ich bitte Euch: Nehmt Euch mit all Eurer Klugheit und Heilkunst Eures Bruders an. Der Krieg verändert die Männer. Manchem verleiht er Furcht, anderen Mut. Er macht hart und bitter. Und mancher kehrt nie ganz aus dem Schlachtenwahn in die wirkliche Welt zurück.«

Zu lebhaft hatte er die heftige Reaktion des jungen Kampfgefährten im Stall des Schankhauses vor Augen.

»Der Krieg verändert auch die Frauen«, entgegnete Clara und sah ihm zum ersten Mal seit seiner Ankunft in die Augen, wenn auch nur kurz. »Sie müssen ihre Männer, Brüder und Söhne hergeben und sich allein behaupten, um die Kinder durchzubringen. Und falls ihre Männer, Brüder und Söhne zurückkehren, dann müssen sie mit deren Härte und Verbitterung leben, wenn sie es nicht schaffen, ihre Herzen wieder mit Liebe zu füllen.«

Betroffen verstummte Dietrich, bis er schließlich wehmütig sagte: »Ich habe Eure Gegenwart lange vermisst. Eure Gegenwart und Eure Klugheit.«

Es klang wie eine höfische Schmeichelei, doch jedes Wort war ernst gemeint. Einen Augenblick lang schwieg Clara.

»Sobald Ihr die Tafel aufhebt und es erlaubt, würde ich meinem Bruder gern seine kleine Nichte vorstellen«, schlug sie dann vor.

»Tut das!«, meinte Dietrich – auch wenn ihm der Gedanke einen Stich versetzte, dass dieses Kind von einem Mann gezeugt worden war, mit dem er trotz dessen tragischen Todes gern getauscht hätte.

 

Es war schon tief in der Nacht, als sich Thomas in Claras Kammer über die schlafende Änne beugte.

»Ganz die Mutter«, sagte er. Ein Anflug von Rührung flog über sein Gesicht und veränderte es völlig. Die Kleine – anderthalb Jahre alt, wie ihm Clara erzählt hatte – schlief tief und fest und ließ sich auch vom Licht der Kerze nicht stören, mit dem ihr Oheim ihre Züge beleuchtete. Das Mädchen wirkte friedlich und gesund, sogar in den Träumen behütet. Ihr Haar kräuselte sich an den Schläfen und wies den gleichen rötlichen Schimmer auf wie das ihrer Mutter und ihrer Großmutter.

Nur unter Mühen konnte sich Thomas davon abhalten, mit seinen schwieligen Händen über dieses winzige Gesicht zu streichen. So schwer es auch fiel, er wollte seine Nichte nicht aufwecken. Er und seine Schwester hatten in dieser Nacht noch viel miteinander zu bereden.

»Ich war mitten in den Wehen, als Daniel ins Haus gestürzt kam und rief, dass wir sofort aufbrechen müssen«, begann Clara zu erzählen, während sie ihn zur Bank zog und ihm einen Becher füllte. »Hartmut, der alte Waffenmeister, hatte unserem Bruder zur Flucht vom Meißner Burgberg verholfen. Daniel hielt sich mit seinen fünfzehn Jahren wie ein Mann. Du wärst stolz auf ihn gewesen. Und Vater auch.«

»Auf dich aber ebenso – in dem Zustand auf Reisen zu gehen!«, sagte Thomas ungläubig.

»Zur Welt kam sie mitten im Wald, dicht hinter Freiberg. Wir schlugen uns erst zu Rolands Eltern durch und dann hierher.«

Rolands Eltern. Es war, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt. Er musste Raimund und Elisabeth die Nachricht vom Tod ihres einzigen Sohnes überbringen.

»Hartmut half auch Mutter im Kerker und bezahlte dafür mit dem Leben.«

»Der unerbittliche alte Waffenmeister? Der uns Knappen so herumgescheucht hat? Das hätte ich nie von ihm gedacht«, murmelte Thomas.

»Ja. Und in unserem Haus sitzt nun ausgerechnet Randolfs Sohn und schindet die Leute.«

»Rutger?« Thomas richtete sich auf und ballte die Fäuste. Sein Todfeind machte sich in ihrem Haus breit? Er hatte diesen rothaarigen Hurensohn schon vor seinem Aufbruch zum Heerlager des Kaisers töten wollen. Doch Clara und auch Roland hatten damals seinen Hass gegen den Gleichaltrigen stets getadelt. Er dürfe die Feindschaft zwischen ihren Vätern, die mit einem Gottesurteil zugunsten Christians und also Randolfs Tod endete, nicht auf den Sohn übertragen.

»Rutger hat meinen Mann verraten und ihn Albrecht in Ketten zu Füßen geworfen, damit der ihm den Kopf abschlug«, fuhr Clara bitter fort. »Und er fesselte und knebelte unsere Mutter und stieß sie ins Verlies.«

Nach einem Moment der Stille sagte sie mit fester, ungewohnt harter Stimme zu Thomas’ Überraschung: »Ich will, dass du ihn dafür tötest!«

»Das werde ich«, versprach Thomas in beinahe unheimlicher Gelassenheit.

Dann zog er seine Schwester erneut an sich, um sie und sich zu trösten. Bis zum Morgengrauen saßen sie beieinander, Bruder und Schwester, zeigten sich die Narben, die sie davongetragen hatten, und erzählten sich gegenseitig von dem Leid, das ihnen und ihren Freunden widerfahren war.

Anträge

Am nächsten Morgen war Dietrich bereits früh auf den Beinen. Er musste sich von der Kampfbereitschaft der Burgbesatzung überzeugen, Botschaften verfassen, den Treueeid verschiedener Männer entgegennehmen und mit den Anführern der benachbarten Siedlungen Vorsichtsmaßnahmen besprechen.

Nachdem die wichtigsten Angelegenheiten geregelt und Aufgaben verteilt waren, ließ er die Angehörigen der Gefallenen zu sich rufen. Er berichtete über den Tod jedes Einzelnen, sprach den Hinterbliebenen Trost zu und versicherte, dass er für sie sorgen werde, auch wenn ihre Familien nun den Ernährer verloren hatten.

Nachdem der Letzte hinaus war, bat er Clara zu sich.

Als Albrecht in Meißen Clara allein zu sich befohlen hatte, da hatte ihr Herz gehämmert vor abgrundtiefer Furcht. Jetzt, allein mit Dietrich, klopfte es vor Verlegenheit und Sorge, weil ihre größte, unerfüllbare Hoffnung nun auch noch zu Grabe getragen werden würde.

»Ich möchte Euch in aller Form mein Beileid zum Tod Eures Gemahls ausdrücken«, sagte Dietrich nach einigen Momenten beklommenen Schweigens.

»Danke, Hoheit«, erwiderte Clara mit gesenkten Lidern.

»Trauert Ihr immer noch um ihn?«

»Ja«, sagte sie, und da sie seinen Blick auf sich wusste, fuhr sie nach einigem Zögern leise fort: »Unsere Ehe war aus der Not heraus geboren. Als mein Stiefvater mir mitteilte, wen er für mich zum Gemahl bestimmt hatte, war ich entsetzt; ich verachtete Reinhard, weil ich ihn für einen Gefolgsmann Randolfs und Eures Bruders hielt. Doch dann erzählte mir Lukas von ihm und ihrem geheimen Plan. Reinhard hat mich stets geschützt und am Ende sein Leben geopfert.«

Dietrich beobachtete Clara und versuchte, sich über seine Gedanken klarzuwerden.

Vor seinem Aufbruch ins Heilige Land hatten sie sich ihre Liebe zueinander gestanden – und beide wussten sie damals schon, dass es keine Hoffnung für diese Liebe gab. Auch wenn er nur der zweitgeborene Sohn eines Markgrafen war, stand es ihm nicht frei zu heiraten, wen sein Herz begehrte. Gerade weil er der zweitgeborene Sohn war – denn sein Bruder strebte schon seit langem danach, das gesamte Erbe ihres Vaters an sich zu reißen.

Doch während des Kriegszuges, in den dunkelsten Momenten, die er in der Fremde durchleben musste, hatte er sich geschworen, Clara zu seiner Frau zu machen, falls sie ihn noch wollte, ganz gleich, was es kosten und was der Rest der Welt dazu sagen würde. Im Krieg hatten viele Dinge für ihn eine andere Bedeutung angenommen, in Outremer hatte er die letzte Hoffnung in die Vernunft der Mächtigen verloren. Nach so viel Verrat, Dummheit und Gier wollte er einen Menschen an seiner Seite, dem er vollkommen vertraute und der ihm an Wärme zurückgeben konnte, was er auf den blutigen Feldern des Krieges verloren hatte.

Clara jedoch mied seinen Blick und schien mit jener längst vergangenen Episode abgeschlossen zu haben.

Er räusperte sich und ließ sie auch bei den nächsten Worten nicht aus den Augen.

»Mein Burgkommandant, ein verdienstvoller und ehrenhafter Mann, hat mich vorhin um die Erlaubnis gebeten, um Eure Hand anzuhalten. Und mit dem gleichen Anliegen trat wenig später sein ältester Sohn an mich heran. Wäret Ihr bereit, das Werben eines dieser beiden Männer anzunehmen?«, fragte er und hielt den Atem an.

Clara schien von dieser Eröffnung wenig überrascht. Hatten sich ihr beide Bewerber etwa schon erklärt?

»Norbert ist ein tapferer Mann. Jede Frau dürfte sich glücklich schätzen, von ihm auserwählt zu werden. Sein Sohn kommt ganz nach dem Vater. Bitte richtet beiden meinen Dank für die Ehre und Freundlichkeit aus, die sie mir erweisen. Doch ich kann nicht die Gemahlin des einen werden, ohne den anderen zu kränken. Außerdem habe ich ein Gelübde abgelegt …«

»Ihr wollt ins Kloster?«, fragte Dietrich erschrocken. Diesmal war er trotz seiner höfischen Erziehung unfähig, sein Empfinden zu verbergen. Sollte er sie ganz verlieren, sie nicht einmal mehr sehen dürfen? Jemand wie sie würde im Kloster zugrunde gehen oder zugrunde gerichtet werden!

»Nein«, antwortete Clara, immer noch mit gesenkten Lidern, während ihre Hände in den Falten des grünen Kleides Halt zu suchen schienen, das so gut zu ihren Augen und ihrem kastanienbraunen Zopf passte. Sie trug heute kein Gebende, sondern nur Schleier und Schapel über dem geflochtenen Haar.

»Ich habe geschworen – auch meinem toten Gemahl zu Ehren –, nicht noch einmal eine Ehe nur aus Gehorsamkeit und Pflichtgefühl einzugehen. Meine Mutter und mein Stiefvater werden es verstehen und für mein Auskommen als ehrbare Witwe sorgen.«

Das hoffte sie zumindest, auch wenn sie es kaum zu glauben wagte. Sie war noch nicht einmal zwanzig, und jedermann würde erwarten, dass sie bald wieder heiratete und ihrem neuen Gemahl Söhne gebar. Frauen in ihrer Lage durften nicht unverheiratet bleiben. Und Lukas hatte schon vor zweieinhalb Jahren energisch auf ihrer Vermählung mit Reinhard bestanden. Allerdings musste sie ihm nachträglich recht geben – ohne Reinhards Schutz wäre sie nach Lukas’ Gefangennahme vermutlich geschändet worden und längst tot.

Aus einem Impuls heraus wollte Dietrich einen Schritt auf sie zugehen und hielt sich gerade noch davon ab. Er hatte die Hand schon ein wenig gehoben, weil alles in ihm danach drängte, ihre Wange zu berühren, ihr Trost zu spenden, ihr erneut seine Liebe zu gestehen. Doch er zwang sich dazu, die Hand wieder sinken zu lassen.

»Meinem toten Gemahl zu Ehren«, hatte sie gesagt. Sie trauerte um Reinhard, durchlitt vielleicht Alpträume, in denen sie ihn wieder und wieder sterben sah. Bei der gleichzeitigen Werbung von Vater und Sohn – auch wenn es gute Männer waren – musste sie sich belauert fühlen wie leicht zu jagendes Wild. Und das waren junge, hübsche Witwen. Wie sollte er ihr da von Liebe sprechen, davon, dass er sie zu seiner Frau machen wollte? Sie würde ihn nur traurig ansehen, vielleicht sogar verächtlich, weil er etwas vorschlug, das undenkbar war, und weil es ihr so vorkommen müsste, als wolle auch er ihr nachstellen, kaum dass er das Burgtor durchritten hatte.

Clara bemerkte die unbedachte Bewegung und neigte ihm den Kopf ein wenig entgegen. Beinahe glaubte sie, seine Hand auf ihrer Wange zu spüren, auch wenn sie fünf Schritte voneinander getrennt waren. Wehmütig schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie es sein würde, von ihm berührt, in die Arme geschlossen zu werden.

Ich trauere um Reinhard aus tiefstem Herzen. Aber geliebt habe ich immer nur dich, dachte sie. Es ist unmöglich, dass wir heiraten, denn ich ahne, welchen Preis der Landgraf von Thüringen fordern wird, wenn du ihn um Beistand ersuchst. Doch ich wäre bereit, deine Geliebte zu werden und die Folgen auf mich zu nehmen – so groß ist meine Liebe. Ganz gleich, was die Leute dazu sagen. Nur kann ich mich nicht anbieten wie eine Hure, da ich nicht einmal weiß, ob du mich überhaupt noch willst. Der Krieg verändert die Menschen, du hast es selbst gesagt. Und wie es aussieht, musst du vielleicht morgen schon wieder in den Kampf ziehen. Dafür brauchst du all deine Kraft.

Sie öffnete die Augen, doch sie sah Dietrich nicht an, sonst hätte sie weinen müssen. Sie hatte so auf seine Rückkehr gehofft, ihr entgegengefiebert, dafür gebetet … aber jetzt war alles nur noch schwieriger und ihre kaum gefundene Ruhe dahin.

Dietrich riss sich zusammen, legte die verräterische Hand, die immer wieder nach oben zucken wollte, auf den Rücken, räusperte sich, um seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, und sagte mit so viel Zuversicht, wie er noch aufbringen konnte: »Ihr und Eure Tochter werdet hier unter meinem Schutz stehen, so lange ich lebe.«

Clara dankte ihm mit einem Nicken, verneigte sich und ging hinaus.

 

Thomas hatte nach einer Nacht mit nur wenig Schlaf von Dietrich den Befehl erhalten, zusammen mit Norbert, dem Burgkommandanten, auszuwählen, welche der älteren Knappen gut genug für eine Schwertleite waren. Also riefen sie die Burschen zusammen – der Regen hatte zum Glück aufgehört, aber selbst ein Wolkenbruch hätte sie nicht von ihrem Vorhaben abgehalten – und ritten mit ihnen zur Übungswiese unterhalb der Burg. Dort waren Turnierschranken aufgebaut, standen die Puppe aus Stroh, die sie mit der Lanze treffen sollten, und halbmannshohe Holzpfosten für verschiedene Übungen zum Kampf vom Sattel aus.

Zunächst wollte Thomas wissen, wie sich die Burschen mit dem Schwert schlugen. Die Knappen waren allesamt begierig darauf, sich vor dem jungen Ritter zu bewähren, der mit Kaiser Friedrich von Staufen aufgebrochen war, um Jerusalem zurückzuerobern, und der im Morgenland gegen die Sarazenen gekämpft hatte. Doch sosehr sie sich auch mühten – vor Thomas’ Augen fand keiner von ihnen Gnade.

»Zu schwach … zu langsam … zu ungeschickt«, bemängelte er nacheinander ihre Leistungen. Er wusste, dass er ungerecht war, dass die meisten von ihnen Beachtliches zeigten; Norbert und seine Männer hatten sie hart und gut ausgebildet.

Aber er hatte ständig die Knappen vor Augen, die während des Kreuzzuges gestorben waren, ohne dass er es verhindern konnte: elendig eingegangen an Seuchen, erschlagen oder verhungert.

Vielleicht würden sie schon in ein paar Tagen im Krieg gegen den rachsüchtigen Markgrafen von Meißen stehen. Und er wollte diese Jungen, die ihn mit bewundernden Blicken anstarrten, wenn er einen der Ihren mit einer einzigen schnellen Bewegung entwaffnete und zu Boden zwang, nicht so sterben sehen, wie sein Knappe Rupert gestorben war.

»Ihr seid recht schlecht gelaunt für einen Helden«, sagte eine der jungen Frauen zu ihm, die ihnen auf die Kampfwiese gefolgt waren, um das Spektakel anzuschauen. Sie war unbestritten die hübscheste; mit hellem Haar und strahlend blauen Augen, wenn auch sicher etwas älter als er. Nun lächelte sie ihn sogar an.

»Es ist wenig Heldenhaftes daran, ein halbes Jahr lang im Schlamm zu liegen und eine uneinnehmbare Stadt zu belagern«, wies er sie schroff zurück.

»Wollt Ihr nun Eure schlechte Laune durch übermäßige Bescheidenheit wiedergutmachen, mein Held?«, gab sie keck zurück. Die Mädchen, die sie begleiteten, kicherten, dann drehten sie sich um und schlenderten zur Burg.

Thomas fragte sich, ob es hier wohl Sitte war, dass die Weiber bei den Waffenübungen der Knappen zusahen. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie dies nur taten, um ihn zu beobachten, und insgeheim schon Rangeleien um seine Gunst angefangen hatten. Nachdem so viele Männer nicht aus dem Heiligen Land zurückgekehrt waren, gab es zu viele junge Witwen in Weißenfels und zu viele Mädchen ohne Vater.

Als sie von der Kampfwiese wieder hoch zur Burg geritten waren und er die Knappen mit einer mürrischen Bemerkung Norbert überlassen hatte, musste er feststellen, dass ihm die junge Frau bei den Ställen auflauerte.

»In den harten Zeiten des Krieges habt Ihr wohl zu lange die Schönheiten des Lebens entbehren müssen«, meinte sie, erneut lächelnd. »Doch das müsst Ihr jetzt nicht mehr.«

Sie streckte ihre Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. Er packte sie am Gelenk und drückte die Hand nach unten.

»Ihr wisst nicht, wovon Ihr sprecht. Und Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch einlasst!«, sagte er grob.

Ihr plumpes Angebot widerte ihn an – er selbst widerte sich an. Weil er nämlich sehr wohl überlegte, wie es sein würde, nach all den Entbehrungen, nach all dem Sterben, das er in den letzten zwei Jahren erlebt hatte, eine Frau zu nehmen, ihre Brüste zu berühren, ihre Schenkel zu spreizen, mit aller Kraft in sie einzudringen.

Weil er sich schämte, auch nur diesen Gedanken zu haben, da doch sein Freund und all die anderen Gefährten, die im Heiligen Land gestorben waren, nie wieder eine Frau liebkosen konnten.

Und weil ihm diese Gans, die keine Ahnung hatte von den schlimmen Dingen, die er in der Ferne erlebt hatte, fremder vorkam als all die Sarazenen, von deren Sprache und Gebräuchen er kein Wort verstand.

Sie schrie leise auf, weil sein Griff sie schmerzte, überwand jedoch schnell ihren Schreck und verzog schmollend den Mund. »Dann zeigt mir doch, worauf ich mich mit Euch einlassen würde!«

Später hätte Thomas nicht genau sagen können, wie er dorthin gekommen war, aber zielstrebig führte ihn die junge Frau in eine kleine Kammer, und ehe er sichs versah, hatte sie schon ihre Arme um seinen Hals geschlungen und küsste ihn.

Bereitwillig ließ sie sich auf das Bett sinken und zog ihn über sich. Er nahm sich nicht die Zeit, sie auszuziehen, sondern schob nur ihre Kleider nach oben. Hastig befreite er sein Glied aus der Bruche und stieß in sie hinein.

So lieblos hatte er noch nie eine Frau genommen. Statt Vergnügen oder Erleichterung fühlte er denselben Zorn wie tags zuvor, als er den Dieb enthauptet hatte.

Als er fertig war, verachtete er sich selbst dafür, was er gerade getan hatte.

»Versucht das nie wieder!«, fuhr er die Frau an, während er seine Bruche erneut mit dem Gürtel befestigte. Dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort.

Auf dem leeren Gang hielt er Ausschau nach einem Ort, wo er wenigstens eine Weile allein sein konnte. Er war viel zu aufgewühlt, um jetzt jemandem begegnen zu können. Schließlich verkroch er sich hinter einem Balken, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die Tränen zurückzudrängen – all die ungeweinten Tränen der Wut und der Trauer über seine toten Gefährten, über das Gefühl, verraten worden und im Stich gelassen zu sein von eitlen Königen, sein Entsetzen darüber, was seinen Eltern und seiner Schwester widerfahren war.

Er hatte seine Heimat und seine Freunde verloren – und nun auch noch die Selbstachtung, da er eben völlig die Beherrschung über sich verloren hatte.

Wehmütig dachte er an sein letztes Zusammensein mit einer Frau, vielleicht nur ein Traum im Fieberwahn … Ein schmales, zartes Gesicht, umrahmt von schwarzen Haaren, eine freundliche Stimme, die eine Sprache sprach, die er nicht verstand. Aber ihre Augen sagten ihm, was sie meinte: dass er ins Leben zurückkehren sollte. Sie war eine Heilerin, zweifellos, sie hatte den gleichen prüfenden, ins Innerste der Seele dringenden Blick wie seine Mutter und seine Schwester. Ihre zarten Berührungen hatten seine verborgensten Gefühle hervorbrechen lassen. Danach hatte er sich befreit gefühlt.

Doch jetzt fühlte er nur Scham.

Auf der Wartburg in Eisenach

Du lagst die halbe Nacht wach. Was ist los?«, fragte Lukas seine Frau, während er seinen Bliaut überstreifte. Sie durften sich nicht zur Frühmesse verspäten, doch diese Sache war ihm dringend. »Ist es so weit?«

Er ließ sie nicht aus den Augen und erforschte ihr Gesicht, während er mit tausendfach geübten Griffen seinen Gürtel anlegte und die Riemenzunge durch den Knoten zog, der das Ganze hielt. Dann fuhr er kurz mit den Fingern durch seine blonden Locken.

Marthe, zierlich und schmal, war bereits in ihr rostfarbenes, mit gewebten Borten verziertes Leinenkleid geschlüpft und flocht sich das kastanienbraune Haar. Doch nun hielt sie mitten in der Bewegung inne.

Sie lebten beide schon seit Wochen in diesem ungewissen Zustand des Wartens. Des Wartens darauf, dass eine Nachricht aus Weißenfels sie erreichte. Oder Nachricht über Weißenfels. Zu der Ungewissheit, ob Graf Dietrich, der in seiner Jugend ihr Schützling gewesen war, und ihr Sohn Thomas wohlbehalten aus dem Heiligen Land heimkehrten, kam die Sorge, ob es Krieg geben würde. Einen Bruderkrieg, den ein machtgieriger Herrscher vom Zaun brach, dessen Blutdurst sie beide schon grausam zu spüren bekommen hatten.

Doch Lukas kannte seine Frau gut genug, um nicht nur nach Boten Ausschau zu halten. Wenn Marthe die halbe Nacht lang gegrübelt hatte, dann höchstwahrscheinlich deshalb, weil eine Eingebung, ein Traum oder eine innere Stimme ihr gesagt hatte, dass die Dinge nun in Bewegung gerieten. Wären nicht seine Verpflichtungen am Hofe des Landgrafen von Thüringen, der sie nach ihrer Flucht aus Meißen in Dienst genommen hatte, würden sie beide längst in Weißenfels sein und dort irgendetwas unternehmen, statt hier vielleicht wertvolle Zeit zu vergeuden.

Marthe antwortete nicht, sondern flocht ein grünes Band in das Ende des Zopfes und griff nach dem Schleier, den sie als verheiratete Frau zu tragen hatte. Sie legte das fein gewebte Leinen über das Haar, setzte ein Schapel auf und versuchte, in dem kupfernen Spiegel herauszufinden, ob es richtig saß. Als Frau eines Ritters hatte sie Anspruch auf eine Magd, aber sie hatte das Mädchen sofort nach Lukas’ Frage hinausgeschickt. Das hier konnten sie nicht vor Zeugen bereden.

Sie brauchte noch einen Augenblick Zeit, bevor sie antwortete.

Ja, sie war die halbe Nacht lang wach gewesen, hatte gegrübelt und tief in ihr Innerstes gelauscht. Doch Lukas besaß weit mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten als sie selbst.

Seit sie – dreizehnjährig und mit nichts mehr, als was sie am Leibe trug – aus ihrem alten Dorf in Franken fliehen musste und sich dem Siedlerzug in die Mark Meißen anschloss, hatte es häufig Momente gegeben, in denen sie die Zukunft oder wenigstens ein Stück davon wie einen schnurgeraden Pfad vor sich sah. Aber immer noch sträubte sich etwas in ihr, solche Ahnungen leichtfertig für bare Münze zu nehmen. Wer wusste schon, woher sie kamen? Ob sie sich nicht irrte?

»Ich wünschte, ich könnte mir sicher sein«, sagte sie leise und blickte in Lukas’ blaue Augen. »Ist es nicht vermessen zu glauben, Gottes Plan erkennen oder gar durchschauen zu können? Mehr zu wissen als die anderen?«

Ganz zu schweigen davon, welche Gefahr es mit sich brachte, dieses Wissen – oder diese Ahnung – öffentlich preiszugeben. Als Heilkundige und Wehmutter zog sie ohnehin viel zu viel Misstrauen auf sich, auch wenn sie nun die Frau eines Ritters war. Es war gefährlich für eine Frau, in irgendeiner Weise aufzufallen.

Lukas zog mit leichtem Spott die Augenbrauen hoch. »Wie oft hattest du recht mit deinen Vorahnungen? Soweit ich mich erinnere, fast immer, nicht wahr?«

Nicht immer, dachte Marthe beklommen. Nicht damals vor zwei Jahren, als du dein Leben gewagt hast, um Freiberg einen Krieg zu ersparen. Ich sah schon das Bild vor Augen, wie jemand deinen abgeschlagenen Kopf als Beute trägt, auch wenn ich es dir nie erzählt habe. Doch es war wohl die Angst um dich, die dieses Schreckensbild hervorrief. Du hast überlebt, dem Allmächtigen und der Jungfrau Maria sei dafür gedankt. Ich hätte es nicht ertragen, noch einen Mann zu verlieren.

»Ja, wir sollten nach Weißenfels reiten, heute noch«, sagte sie schließlich. Und dann, nach einem tiefen Atemzug, viel entschlossener: »Du musst alles daransetzen, vom Landgrafen die Erlaubnis zu erhalten!«

»Und ich kann dir wohl nicht ausreden, mit mir zu kommen?«, erkundigte sich Lukas. »Gut möglich, ich reite geradewegs in einen Krieg oder zu einer Belagerung. Mir wäre wohler, du bliebst hier.«

»Es gibt keinen sicheren Ort für uns beide, das weißt du«, entgegnete sie. Sie griff nach seiner Rechten und presste sie an ihre Wange. »Ich fühle mich wohler, wenn du in meiner Nähe bist.«

Statt sie zu necken, genau dies seien die Worte, die ein Ritter von seiner Herzensdame zu hören wünsche, trat Lukas einen Schritt näher und schloss Marthe in seine Arme. Nur für einen kurzen Moment; das lärmende Treiben auf dem Hof kündete davon, dass die meisten Burgbewohner schon auf den Beinen waren.

Bedauernd löste er sich wieder von ihr, auch wenn er sie am liebsten noch einmal ins Bett gezogen hätte. »Komm, wir dürfen die Frühmesse nicht versäumen.«

Mit einem Anflug seiner üblichen Spottlust entfuhr ihm: »Wir brauchen wirklich Gottes Beistand und den sämtlicher Heiligen, um den Landgrafen noch umzustimmen.«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten wieder zurückgenommen. Zuallererst würde Marthe Gott um die glückliche Rückkehr ihres Sohnes bitten, um das Wiedersehen mit Thomas und mit Roland, dem einzigen Sohn ihres Freundes Raimund. Und er selbst sollte auch vom Allmächtigen besser Beistand in den bevorstehenden Kämpfen erflehen.

Dass der Thüringer Landgraf nur unter einer besonderen Bedingung bereit war, den Herrn des benachbarten Weißenfels zu unterstützen, gefiel Lukas ganz und gar nicht. Deshalb beschloss er, sein Morgengebet dieser Angelegenheit zu widmen statt seinem persönlichen Schlachtenglück.

Marthes Gedanken hingegen kreisten immer heftiger um einen Punkt, von dem sie Lukas nichts verraten würde.

Sie war sich sicher: Was nun geschehen würde, war der Beginn einer langen Reihe von Ereignissen, mit denen sich alles entscheiden würde. Alles, wofür sie gekämpft hatten und wofür ihr geliebter Christian gestorben war. Ob sich die Hoffnung der Siedler auf ein besseres Leben eines Tages erfüllen würde oder die dunklen Zeiten auf ewig andauerten. Und in ihr machte sich die Ahnung breit, dass es sie diesmal das höchste Opfer kosten konnte.

In ihren siebenunddreißig Lebensjahren war sie schon so oft tödlichen Gefahren entronnen, sie hatte so viel durchleiden müssen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt noch lebte und es ihr gutging. Manchmal war sie so verzweifelt gewesen, dass sie den Tod herbeisehnte. Ob sie ihm wohl gelassen genug entgegentreten konnte, wenn es so weit war? Oder ob sie doch mehr am Leben hing, als sie glaubte?

 

Ein Blick zum Himmel nach der Morgenmesse vertiefte Lukas’ Sorge. Dunkle Wolken dräuten über der Wartburg, auf einer Seite des Tales schien es bereits zu regnen. Da der Landgraf an diesem Tag zur Jagd reiten wollte, würde das seine Stimmung nicht gerade fördern. Und sein Entgegenkommen gewiss auch nicht.

Doch anscheinend hatte der Fürst den Befehl zum Ausreiten noch nicht widerrufen. Als Lukas und Marthe den langen, schmalen Burghof überquerten, um in den prachtvollen Saal zu gelangen, wo der Fürst und seine Ritter die Mahlzeiten einnahmen, waren die Stallknechte dabei, die Pferde der Jagdgesellschaft zu striegeln und zu satteln.

Das hieß, sie mussten sich beeilen, wenn sie Hermann noch vor dem Aufbruch sprechen wollten.

»Ich zerbreche mir schon den halben Morgen den Kopf darüber, wie ich meine Bitte begründen soll«, gestand Lukas. Sich auf Eingebungen seiner hellsichtigen Frau zu berufen, kam leider nicht in Frage.

Marthe verharrte einen Moment. Dann sah sie zum Tor, und Lukas folgte ihrem Blick. Hätte er je Zweifel gehabt an den Ahnungen seiner Frau – spätestens in diesem Augenblick wären sie verflogen. Denn er kannte den jungen Mann, der mit großen Schritten geradewegs auf sie zuhielt: Wito, einer der Reisigen seines Freundes Raimund von Muldental, der verwegenste und schnellste Reiter in dessen Diensten. Er musste wohl in der Stadt übernachtet haben und gleich bei Tagesanbruch losgeritten sein.

Voller Anspannung lief Lukas ihm entgegen.

»Du bringst wichtige Nachricht?«

Der junge Bote nickte wortlos und sah sich misstrauisch um. Er wirkte müde und ungewohnt düster; vielleicht war er sogar die Nacht lang durchgeritten. Sein hellbraunes Haar war verschwitzt, sein Gesicht voller Stoppeln. Es lagen fast einhundertfünfzig Meilen zwischen Raimunds Gütern im Muldental und Eisenach; Wito konnte in den letzten vier oder fünf Tagen kaum aus dem Sattel gekommen sein, wenn die Nachricht so dringend war, wie Lukas vermutete.

Der gesamte Hof der Hauptburg war mittlerweile voll von Menschen und Pferden. Rasch zog Lukas den jungen Reiter Richtung Mauer, wo sie bei dem Gedränge wenigstens nicht im Weg standen und überschauen konnten, wer in ihre Nähe kam. Marthe hastete ihnen hinterher.

»Der Markgraf von Meißen wird in spätestens vier Tagen seinen Bruder angreifen«, sagte Wito mit heiserer Stimme.