Das Geheimnis der Sprakkar - Eliza Reid - E-Book

Das Geheimnis der Sprakkar E-Book

Eliza Reid

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Beschreibung

Ein kraftvolles, atmosphärisch dichtes Porträt eines einzigartigen Landes, das zum Vorbild für uns alle taugt.

In den letzten zwölf Jahren stand Island im World Economic Forum’s Global Gender Gap Report immer auf Platz 1 der Liste jener Länder, die auf dem Weg zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau die entscheidensten Schritte unternommen haben. Warum erzielt Island solch beachtliche Fortschritte in diesem andauernden Kampf? Die Antwort darauf liefern die SPRAKKAR des Landes – dieses uralte isländische Wort meint außergewöhnliche, herausragende Frauen.

Die in Kanada geborene und aufgewachsene Eliza Reid, derzeitige First Lady Islands, interviewte Dutzende SPRAKKAR, um deren inspirierende Geschichten zu erzählen. Geschickt bindet sie ihre eigenen Erfahrungen als Zugezogene aus einer kanadischen Kleinstadt mit ein. Sie nimmt die Haltung ihrer zweiten Heimat gegenüber Frauen unter die Lupe, das tiefverwurzelte gesellschaftliche Gespür für Fairness sowie den Einfluss aktueller und historischer weiblicher Vorbilder. Wobei sie nicht verschweigt, dass es in punkto Gleichstellung selbst in Island noch Verbesserungspotenzial gibt.

Wie andere einflussreiche und progressive First Ladies vor ihr – Eleanor Roosevelt, Hillary Rodham Clinton oder Michelle Obama – nutzt Reid ihre Position, um der Welt das Beste an ihrer Nation zu vermitteln. Das Geheimnis der Sprakkar ist ein kraftvolles, atmosphärisch dichtes Porträt eines einzigartigen Landes, das zum Vorbild für uns alle taugt.

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Seitenzahl: 398

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Buch

Warum ist Island der beste Platz für Frauen weltweit? Was macht Islands Frauen so stark? Wo sind sie beispielhaft, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht?

In den letzten zwölf Jahren stand Island im World Economic Forum’s Global Gender Gap Report immer auf Platz 1 der Liste jener Länder, die auf dem Weg zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau die entscheidensten Schritte unternommen haben. Warum ist das so? Was machen die Isländer und Isländerinnen anders? Die Antwort darauf liefern die SPRAKKAR des Landes – dieses uralte isländische Wort ist die Bezeichnung des Landes für »außergewöhnliche, herausragende Frauen«.

Autorin

Die in Kanada geborene und aufgewachsene Eliza Reid, derzeitige First Lady Islands, interviewte Dutzende SPRAKKAR, um deren inspirierende Geschichten zu erzählen. Geschickt bindet sie ihre eigenen Erfahrungen als Zugezogene aus einer kanadischen Kleinstadt mit ein. Sie nimmt die Haltung ihrer zweiten Heimat gegenüber Frauen unter die Lupe, das tiefverwurzelte gesellschaftliche Gespür für Fairness sowie den Einfluss aktueller und historischer weiblicher Vorbilder. Wobei sie nicht verschweigt, dass es in puncto Gleichstellung selbst in Island noch Verbesserungspotenzial gibt. Dennoch gilt: Wie der Weg in eine gerechtere Gesellschaft aussehen könnte, dafür liefert dieses Land wunderbare und ermutigende Beispiele.

ELIZA REID ist Journalistin, Lektorin und Mitbegründerin des jährlichen Iceland Writers Retreat. Sie war Mitglied eines Ruderteams in Oxford, bereiste Russland und Zentralasien mit der Transsibirischen Eisenbahn und war für längere Zeit mit dem Rucksack in Südostasien unterwegs. Reid wuchs auf einer kleinen Farm in der Nähe von Ottawa in Kanada auf und zog 2003 nach Island – fünf Jahre nachdem sie ihren Mann kennengelernt hatte, Gudni Th. Jóhannesson.

ELIZA REID

DAS

GEHEIMNIS

DER

SPRAKKAR

Islands außergewöhnliche Frauen und wie sie die Welt verändern

Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane

SPRAKKAR

Altisländische Bezeichnung für außergewöhnliche oder herausragende Frauen.

Aussprache: SPRAH-kar

(Singular: sprakki)

INHALT

Liebe Leserinnen und Leser

Kapitel 1 – Immigrantin in Island

Kapitel 2 – Wer Eltern hilft, hilft uns allen

Eine Sprakki der Saga-Zeit, die Konventionen trotzte

Kapitel 3 – Stark unter Schwestern

Kapitel 4 – Sexualität ohne Stigmatisierung

Eine kompromisslose Sprakki des Mittelalters

Kapitel 5 – Ans Kapital kommen

Kapitel 6 – Von den Medien gehört und gesehen

Eine unerschrockene Sprakki und Naturschützerin

Kapitel 7 – In der Wildnis Harmonie finden

Kapitel 8 – Mit Kunst zur Gleichberechtigung

Sprakkar, die das halbe Land um sich scharten

Kapitel 9 – Keine Frau ist eine Insel

Eine Sprakki, die die gläserne Decke durchbrach

Kapitel 10 – Politik zu ihren Bedingungen

Kapitel 11 – Zum Greifen nah

Dank

Anmerkungen

LIEBE LESERINNEN UND LESER

Ich bin Existenzgründerin, Autorin, Vortragsrednerin, Mutter, Feministin, Immigrantin und mit dem Staatspräsidenten von Island verheiratet. Auch wenn es das offizielle Amt der »First Lady« nicht gibt, wird vom Partner oder der Partnerin des Staatsoberhaupts die Erfüllung gewisser Pflichten und Aufgaben erwartet oder sogar eingefordert. Auch deshalb werden meine öffentlichen Äußerungen oft analysiert, gelobt und kritisiert. Das war mir beim Schreiben dieses Buchs durchaus bewusst.

In Island ist die Rolle des Präsidenten oder der Präsidentin größtenteils, wenn auch nicht nur, symbolischer Natur. Es handelt sich um das Staatsoberhaupt. Das ist ein gewähltes Amt, und wer es innehat, besitzt ein Vetorecht in der Gesetzgebung und kann Einfluss auf die Bildung von Koalitionsregierungen nehmen. Geführt wird die Regierung allerdings von der Premierministerin oder vom Premierminister. Politische Entscheidungen im Tagesgeschäft obliegen Regierung und Parlament. Der Präsident (und ich als seine lautstarke Ehefrau) verfügen über keine politische Plattform und äußern uns nicht öffentlich zu Haushaltsangelegenheiten, Gesetzen oder der politischen Ausrichtung des Landes.

In vielen Staaten wird das Thema Geschlechtergerechtigkeit noch politisch diskutiert, und es wirkt sich auf Gesetze zum Gesundheits- oder Bildungswesen aus. Hier in Island wird allerdings nicht mehr darüber debattiert, ob Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ein wichtiges Ziel darstellt, sondern es geht darum, wie man sie am besten erreicht. Um die ehemalige amerikanische First Lady Hillary Rodham Clinton sinngemäß zu zitieren: Gender-Gerechtigkeit ist kein politisches Thema, sondern ein Menschenrecht. Daher denke ich auch nicht, dass dieses Buch politische Ansichten wiedergibt. Das überlasse ich den Politiker*innen.

Dieses Buch ist vielmehr Porträt eines Landes und seiner Menschen. Dafür habe ich Interviews mit meinen subjektiven Erinnerungen und Eindrücken kombiniert. Es möchte weder allumfassend noch unparteiisch sein. Weder haben Lobbys es gefördert noch PR-Leute ihm seine Substanz genommen. Ebenso wenig wurde es aufpoliert, um dem schönen Schein zu entsprechen, den zynische Geister vielleicht von jemandem erwarten, der den Beinamen »First Lady« trägt. Ich hoffe, dass es beweist, was für eine Gesellschaft wir gemeinsam erschaffen können, wenn wir darüber wachen, gleiche Chancen, gleiche Erfahrungen und gleichen Lohn für Menschen jeglichen Geschlechts zu garantieren.

Ein Hinweis zu den Schreibweisen: Im isländischen Alphabet gelten Vokale mit Akzent (á, í, ý usw.) als eigene Buchstaben mit eigener Aussprache. Ich habe das in diesem Buch beibehalten. Außerdem gibt es im Isländischen drei Buchstaben, die das Englische (genau wie das Deutsche, Anm. d. Ü.) nicht kennt: æ, das man »aye« spricht; ð, das wie das »th« in although gesprochen und von mir gewohnheitsmäßig oft durch ein »d« ersetzt wird; und þ, das man wie das »th« in think ausspricht und von mir, der Einfachheit halber, häufig durch ein »th« ersetzt wird. So schreibe ich beispielsweise den Namen meines Mannes Gudni und den einer Journalistin Thóra, auch wenn man sie im Isländischen Guðni und þóra schreibt.

Ihre Eliza Reid

KAPITEL 1IMMIGRANTIN IN ISLAND

Die Augen eines Gasts sehen klarer1

In Island gilt es als schlechtes Omen, einen neuen Job an einem Montag zu beginnen. Freitag ist akzeptabel, der erste Tag eines Monats sogar noch besser (sofern er nicht auf einen Montag fällt, natürlich). Wenn man eine wirklich erfolgreiche Karriere im Sinn hat, vermeidet man es jedenfalls, an einem Montag anzufangen.

Mein Berufsleben auf dieser Insel im Nordatlantik begann daher an einem Dienstag im Oktober. Und zwar an einem bewölkten mit steifer Brise, wie so viele Oktobertage hier. Da ich erst knapp sechs Wochen in Island lebte, kannte ich die Montagsregel noch nicht. Dafür war ich ganz wild drauf, in meinem neuen Job loszulegen. Als der CEO des kleinen Software-Start-ups, das mich als Marketingspezialistin eingestellt hatte, mir das Einstiegsdatum nannte, wäre es mir unangemessen vorgekommen, einen Alternativtermin vorzuschlagen. Schließlich durfte ich mich ohnehin glücklich schätzen. Ich hatte einen Job ergattert, bei dem ich an meine bisherigen Erfahrungen anknüpfen konnte. Und das in einem Land, dessen Sprache ich nicht beherrschte und wo ich außer meinem Verlobten und dessen Familie niemanden kannte.

Aus Liebe war ich 2003 im Alter von siebenundzwanzig nach Island gezogen. Bevor ich meinen späteren Ehemann Gudni Jóhannesson im Herbst 1998 kennenlernte, bestand mein ganzes Wissen über dieses Land darin, dass ich seine Flagge erkannte, es auf der Weltkarte fand und wusste, dass die Hauptstadt Reykjavík heißt. (Das verdankte ich übrigens den vielen Stunden, die wir in den 1980ern auf einem Commodore 64 Where in the World Is Carmen Sandiego? gespielt haben.) Allerdings wusste ich sogar 2003 noch nicht, dass Island als einer der besten Orte der Welt für Frauen galt. Und zwar weil ein einzigartiges Zusammenspiel aus Geschichte, Mentalität, Politik und Glück das Land mit den besten Chancen auf den ersten Platz in Sachen Gleichstellung hervorgebracht hat.

Gudni und ich lernten uns an der Graduate School der Universität Oxford kennen. Zwei ausländische Studierende unter vielen am St Antony’s, einem der Colleges von Oxford. Gudni war der erste Isländer dort. Einer von nur einer Handvoll Landsleute an der ganzen Universität. Als zweiundzwanzigjährige Kanadierin, die auf einer Hobbyfarm im Ottawa Valley aufgewachsen war, fand ich seine mir noch schleierhafte Nationalität spannend. Er war still, besaß viele Bücher, aber sonst kaum etwas, und er trank nicht mit ganz so großer Begeisterung wie all die anderen. (Damals dachte ich, das wäre typisch isländisch.) Er war auch groß und lässig, und er setzte cool, aber mit umwerfender Wirkung seinen staubtrockenen, selbstironischen Humor ein, der dem britischen in nichts nachstand.

Ich war erst wenige Monate vorher über den Atlantik nach England gekommen, nachdem ich in Kanada meinen Bachelor of Arts absolviert hatte. Die Graduate School diente mir als Ausrede, um ein neues Land kennenzulernen, mich weiter zu verschulden und weiter davor zu drücken, irgendwelche Entscheidungen im Hinblick darauf zu treffen, was ich mit meinem Leben eigentlich anfangen wollte. Meine Altersgruppe ließ sich grob in zwei Lager teilen. Die einen, zu denen auch ich gehörte, hatten ihr Leben lang nur gelernt und waren fleißig genug, um an einer der angesehensten Universitäten der Welt genommen zu werden. Aber unsere Zeit verbrachten wir längst nicht so konstruktiv. (Ich verpasste nie eine Pub oder Poker Night und machte mir beispielsweise nicht die Mühe, die gefragte Keynote des tschechischen Präsidenten Václav Havel zu hören, weil ich wusste, dass die Rede nicht prüfungsrelevant war.) Auf der anderen Seite gab es Studierende, die schon reifer waren. Viele hatten große Opfer gebracht, um nach Oxford zu kommen – Jobs gekündigt, mühsam gespart, ganze Familien auf den Kopf gestellt. Sie waren dort, um das Maximum aus dieser Erfahrung herauszuholen. Gudni besuchte natürlich nicht nur den Vortrag des ehemaligen Dissidenten aus der Zeit des Kalten Kriegs, sondern meldete sich auch als ehrenamtlicher Platzanweiser für die Veranstaltung. Immer las er, egal um welches Thema es ging, als Erstes das Inhaltsverzeichnis jedes Buchs. Um zu sehen, ob es darin ein Kapitel über Island gab. Aus der Zeitung schnitt er Artikel zu so unterschiedlichen Themen wie Historiografie oder Sportstars aus, die er in mehreren Mappen sorgsam aufbewahrte. Und zwar weil er sie irgendwann in ferner Zukunft für einen Artikel oder Vortrag brauchen könnte (das war vorausschauender, als der spätere Präsident damals ahnen konnte).

Wegen seines Verhaltens und der vereinzelten grauen Haare an den Schläfen hielt ich ihn für eine Spur älter als mich. Womöglich war er uralte sechsundzwanzig. Einmal, gegen Mitternacht auf einer Party in einer verrauchten, engen Kellerwohnung, wo ich versuchte, diesen faszinierenden, aber stillen Mann ein bisschen besser kennenzulernen, erwähnte er beiläufig, dass er beim Fall der Berliner Mauer im Grundstudium gewesen war. Ich besuchte 1989 noch die achte Klasse.

»Wie alt bist du denn?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass meine Schätzung etwas zu optimistisch gewesen war.

»I am thirrrty!«, sagte er lächelnd und rollte dabei das R, wie man es im Isländischen tun würde.

Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Das gibt’s doch gar nicht! Es war Mitternacht. Zwei andere Partygäste, die mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht mal den Namen des jeweils anderen kannten, knutschten in einer Ecke. Zigarettenqualm trübte die Luft. Niemand, der schon »thirrrty« war, würde sich jemals freiwillig so lange in dieser Umgebung aufhalten. Ich nickte, nippte an meinem Bier und wechselte das Thema.

»Und was treibst du so in den Ferien?«

Es war erst Mitte November, aber die Leute buchten schon Flüge, um am Ende des Semesters nach Hause zu fliegen.

»Ich werde meine Tochter besuchen«, erwiderte er so lässig, als wäre das eine totale Selbstverständlichkeit.

Um ein Haar hätte ich mein Bier rausgeprustet. Na klar machst du das. Wenn die Welt so aus den Fugen ist, dass ich um Mitternacht mit einem Mann flirte, der schon sein viertes Lebensjahrzehnt begonnen hat, dann ist es doch auch völlig normal, dass er ein Kind hat und eventuell eine hübsche, das R rollende nordische Familie zu Hause in Island. Selbst wenn er in den zwei Monaten, seit ich ihn kenne, kein Sterbenswort über sie verloren hat. Das war doch ziemlich viel Sand im Getriebe meines Flirts mit diesem Wikinger. Spiel ist aus, dachte ich, als wäre dieses Gespräch nur ein spontanes Eishockeyspiel am Straßenrand, wie man das in Kanada am Wochenende so macht. Und als wäre sein Privatleben nicht wichtiger als ein zufällig vorüberfahrendes Auto.

»Oh, natürlich. Und was ist mit ihrer Mutter?«, wagte ich mich weiter vor.

»Die besuche ich nicht«, antwortete er und hielt dabei meinen Blick fest.

Spiel geht weiter.

Gudni war der erste Geschiedene in meinem Freundeskreis. Die vierjährige Tochter hatte er bisher nicht erwähnt, weil im Spektrum von Smalltalk zwischen Studierenden, die sich gerade erst kennengelernt haben, keiner dran denkt, nach Kindern zu fragen, und er nicht der Typ war, der mehr Einzelheiten als nötig preisgab. In der so entscheidenden Dekade der Zwanziger hatte er seinen Master gemacht, war Vater geworden, hatte geheiratet, sich einvernehmlich wieder scheiden lassen und war nach England gezogen. Er war acht Jahre älter als ich. Das war damals mehr als ein Drittel meines Lebens, doch weil wir beide studierten, waren wir irgendwie trotzdem auf einer Ebene. Und er brachte mich zum Lachen.

Am Ende des Studienjahrs waren wir ein Paar. Achtzehn Monate später wohnten wir zusammen in einer kleinen Wohnung in Hampshire. Er schrieb seine Doktorarbeit in Geschichte fertig, während ich in Vertrieb und Marketing einer ziemlich schicken, zweihundert Jahre alten Firma arbeitete, in der man erst kürzlich aufgehört hatte, Frauen mit Mrs oder Miss anzusprechen. Stattdessen mit dem Vornamen. (Ms war anscheinend inoffiziell Geschiedenen oder Lesben vorbehalten.) Wochentags nahm Gudni oft die zweieinhalbstündige Fahrt mit Zug und U-Bahn auf sich, um das Public Record Office (heute: National Archives) nahe Kew, ein Stück außerhalb Londons, zu besuchen. Dort vertiefte er sich in Dokumente zu den britisch-isländischen Beziehungen. Ich half derweil beim Verfassen von Marketingbroschüren zur Erkennung gefälschter Pharmaka und Luxusprodukte. Außerdem korrigierte ich praktisch täglich nebenbei Leute, die wissen wollten, von wo in den USA ich käme. Abends bemühte ich mich, ein paar Sätze Isländisch zu lernen. Diese nordische Sprache hat sich in den ungefähr elf Jahrhunderten seit der Besiedelung Islands kaum verändert. Meine CD-ROM brachte mir so nützliche Sätze bei wie Wo ist der Bahnhof? (Dabei gibt es in Island keine Züge.) Oder: Wo ist der Strand? (Ein kleiner Teil des Landes grenzt an den Polarkreis.)

Ich hatte einen Plan … einen ungefähren Plan. Gudni bekäme seine Promotion, nachdem er die hunderttausend Wörter umfassende Dissertation über Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts im Nordatlantik fertig geschrieben hätte. Verständlicherweise wollte er anschließend auf die Insel zurück, wo er gerade so viel von der Kindheit seiner Tochter Rut verpasste. (Auch wenn sie uns regelmäßig besuchte und er den Großteil des Sommers mit ihr in Island verbrachte.) Wenn wir zusammenbleiben wollten, dann konnte das nur in Island sein oder nirgends. Zumindest bis sie erwachsen wäre. Und wenn ich mit Gudni käme, dann um zu bleiben. Ich würde mir dort eine eigene Existenz aufbauen müssen, um nicht bloß seine Partnerin zu sein. Es konnte kein Probelauf sein. Ich wollte unsere Partnerschaft nicht aufgeben, weil mich die Dunkelheit um zehn Uhr morgens im Dezember in die Verzweiflung trieb oder weil ich Unterhaltungen auf Isländisch bei Einladungen zum Abendessen nicht folgen konnte. Wenn das hier der große Auftritt meines Lebens würde, dachte ich, dann konnten wir ebenso gut auch gleich heiraten. Uns vor dem Gesetz zueinander bekennen – bis dass der Tod uns scheidet.

Also machte ich Gudni an einem sonnigen Märzwochenende einen Antrag. Das war nur ein paar Monate nachdem wir entschieden hatten, Großbritannien bald zu verlassen und gemeinsam ein neues Abenteuer in Island zu beginnen. Wir gönnten uns eine Auszeit, um im nördlichen Cornwall am Meer zu wandern. Er sagte Ja. Ich hatte eine Flasche Champagner in meinen Koffer geschmuggelt. Den tranken wir in unserem an die britische Sitcom Fawlty Towers erinnernden Bed & Breakfast. Anschließend feierten wir unsere Verlobung mit Fish and Chips zum Mitnehmen in diesem Dorf am Meer. Als Gudni am nächsten Tag mit seiner erfreuten Mutter telefonierte, meinte sie zu ihm: »Ich hoffe, du hast das gemacht, wie es sich gehört!« Die wahren Umstände der Verlobung gestand er ihr erst ein paar Monate später.

Ich überlegte mir, wenn ich schon auf diese ferne Insel ziehen würde, wo ich die Sprache nicht beherrschte und keinen Job hatte, dann konnte ich ruhig auch noch pleite sein und einen kompletten Neustart hinlegen. Also verkaufte ich die Aktien der Firma, für die ich gearbeitet hatte, und plante eine hunderttägige Reise. Ich würde zunächst mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland und Zentralasien fahren und am Ende sechs Wochen mit Rucksack in Südostasien unterwegs sein. Ganz allein.

Ich kam am 19. August 2003 in Island an, fast auf den Tag genau zehn Jahre bevor ich mein viertes Kind auf die Welt bringen sollte. Während ich aus einem Fünfzehn-Kilo-Rucksack gelebt, Mango-Lassis getrunken, Ritte auf Kamelen unternommen und unter Moskitonetzen geschlafen hatte, hatte Gudni seine Doktorarbeit eingereicht und eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem vierstöckigen Gebäude nahe der Universität mitten in Reykjavík gefunden. Rut, die inzwischen neun war, übernachtete jedes zweite Wochenende auf einem Ausziehsofa bei uns.

Ein paar Tage nach meinem Umzug entdeckte Gudni in der Lokalzeitung eine Stellenanzeige für Marketing bei einer Firma, deren Arbeitssprache Englisch war. Ich bekam den Job, und mein erster Arbeitstag war der besagte stürmische Dienstag im Oktober. Nach erst sechs Wochen im Land hatte ich also glücklicherweise einen guten Job, der uns finanziell über Wasser hielt. Gudni fand an der Universität eine Postdoc-Stelle, um weiter zu forschen. Ich begann zudem einen Isländisch-Intensivkurs mit acht Wochenstunden. Inzwischen hatte ich schon gelernt, dass ich meinen Regenschirm, unverzichtbares Accessoire in Großbritannien, endgültig wegpacken konnte, weil er dem Wind in Island nicht gewachsen war. Dafür kaufte ich mir einen Fahrausweis für den Bus, um zur Arbeit und wieder zurück zu kommen. (Meistens fuhr ich mit anderen Immigranten, älteren Mitbürgern, Schulkindern und Leuten, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Führerschein besaßen.) Ich genoss die langen herbstlichen Sonnenuntergänge in Faxaflói Bay und bestaunte nach dem Aufwachen den verschneiten, über der Stadt aufragenden Berg Esja.

So genoss ich die Hochphase zu Beginn des Kulturschocks, wenn alles noch neu und beglückend ist. Ja, ich war aus Liebe hergekommen, aber jetzt hatte ich bereits ein Einkommen, lernte die Sprache und begann, mir eine eigene Existenz in Island aufzubauen. Natürlich konnte ich ahnen, dass Momente kommen würden, in denen ich Geduld und Durchhaltevermögen brauchte, aber grundsätzlich würde es mir hier gefallen.

Start-ups sind oft von Männern dominiert, vor allem in der Softwarebranche. Als ich in jenem Herbst in die Firma kam, war ich die fünfzehnte Angestellte, aber erst die vierte Frau. Ehemalige Mitarbeiter von Icelandair hatten sie gegründet, und man designte Software für Fluglinien. Es war die perfekte Umgebung, um die ersten Schritte von der Ausländerin zur Isländerin zu tun. Ich stellte mich um – von Tee mit Milch auf starken schwarzen Kaffee, von Businesskostümen und High Heels auf Khakihosen und Baumwolltops. An jedem der kürzer werdenden Tage tolerierten die Kollegen mein Gegrummel über die bevorstehende winterliche Dunkelheit. Schließlich waren sie schon ihr Leben lang Einwohner der nördlichsten Hauptstadt der Welt. Und die verdankt ihrem Breitengrad extreme Schwankungen bei der Tageslichtdauer – praktisch vierundzwanzig Stunden Helligkeit im Juni, aber auch offiziellen Sonnenaufgang um 11:22 Uhr und -untergang um 15:29 Uhr am 21. Dezember. Den anderen war klar, wie viel schlimmer es noch werden würde (mit der Dunkelheit und dem Gegrummel!). Auch wenn ich noch nicht viel Isländisch konnte, wurde ich ins Team aufgenommen. Als eine von denen, die etwas Lustiges, Aufregendes, Neues machen. Ich war Nerd genug, um mit den Programmierern klarzukommen, lässig genug für die vielen Typen und jung genug, um am Freitagabend gerne noch was trinken zu gehen. Es gab eine kleine Küche, in der wir uns ein Mittagessen zubereiten konnten, und einen Raum, mit vielen Kissen und einem DVD-Player, in dem Mitarbeiter ihre Kinder an schulfreien Tagen lassen konnten. So etwas hätte es an meinem britischen Arbeitsplatz nie gegeben.

Unser CEO war eine der vier Frauen im Unternehmen. Ursprünglich kam sie aus dem Bankwesen, aber hier fungierte sie als CEO, CFO, Personalchefin und übernahm noch eine Reihe weiterer Aufgaben. Unter anderem informierte sie die Firmenleitung über alle Entwicklungen. Die traf sich alle paar Monate am Ende eines Arbeitstages im einzigen Konferenzraum. Dann tranken fünf Leute starken Kaffee und aßen süßes Gebäck.

Vorsitzende war eine Frau Ende dreißig namens Halla Tómasdóttir. Sie hatte einige Jahre in der US-amerikanischen Geschäftswelt verbracht. Schließlich war sie nach Island zurückgekehrt, um bei verschiedenen Firmen, unter anderem in der Finanzbranche, zu arbeiten und eine Familie zu gründen. Das erste Mal traf ich sie, als ich eine dieser Sitzungen mitbekam. Sie war gerade aus der Elternzeit für ihr zweites Kind zurück und leitete die Zusammenkunft, während sie das Baby stillte. In dieser testosterongeladenen Umgebung zuckte keiner mit der Wimper. Niemand machte einen »Scherz«, und mindestens ein männlicher Teilnehmer schaukelte später den Winzling auf seinem Schoß, während Halla einen Punkt auf der Tagesordnung ausführte.

Fast zwanzig Jahre später habe ich diese Momentaufnahme immer noch vor Augen. Ich war bereit, dunkle Winter, windiges Wetter und eine magere Auswahl von frischem Gemüse in den Geschäften auszuhalten, wenn diese Interaktion zwischen einer Mutter und ihrem Kind als natürlich und völlig unspektakulär in einem Business-Meeting stattfinden konnte. Ich war noch in den Zwanzigern, kinderlos, sorgenfrei, zufrieden und hatte wirklich Glück mit meinem Leben. Aber ich wusste auch, dass am Horizont schon die Erwartungen der Gesellschaft aufzogen, eine Familie zu gründen, an meiner Karriere zu arbeiten, etwas beizutragen und zumindest das zu erreichen, was gebildete Frauen der Mittelklasse im Normalfall so schaffen. Aber war es möglich, dass ich in einem Land gelandet war, in dem Frauen mit ein bisschen Glück alles haben konnten?

Am Ende eines Augusttages, knapp ein Jahr später – es könnte durchaus ein verflixter Montag gewesen sein –, wurde ich ins Büro der CEO gebeten. Ich bekam zu hören, dass die Firma sparen müsse. Die Kündigung traf mich völlig unvorbereitet. In den kommenden Monaten war Halla eine von vielen Menschen, die ich kontaktierte, während ich versuchte, mein Selbstbewusstsein zu stärken und einen neuen Job zu finden. Diese Herausforderung erwies sich bei meinem zweiten Versuch in Island als deutlich schwieriger. Im Laufe der Jahre blieben Halla und ich in losem Kontakt. Ich porträtierte sie beispielsweise, nachdem ich mich beruflich verändert hatte und als Journalistin für die Zeitschrift Iceland Review arbeitete. Und ich suchte auch ihren Rat, als eine Freundin und ich mit Iceland Writers Retreat unser eigenes Projekt starteten. Sie war immer ermutigend und hilfsbereit. Unsere Wege würden sich auch künftig kreuzen.

Als Kind lernte ich Flaggen und Hauptstädte auswendig und dachte, weil die Flaggen von Island und seinen nordischen Nachbarländern (Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland) so ähnlich aussehen, müssten sich auch die Bevölkerungszahlen dort ähneln. Ein paar Millionen wahrscheinlich oder sogar zehn Millionen. Tatsächlich hat Island eine der geringsten Bevölkerungszahlen unter den unabhängigen Staaten. Am Neujahrstag 2021 waren es gerade mal 368590.2 So gering, dass selbst das Runden zum nächsten Tausender ein Verfälschen der gesellschaftlichen Gegebenheiten bedeuten würde. Allein in der Zeit, seit ich in diesem Land lebe, ist die Einwohnerzahl um mehr als ein Viertel gewachsen.

Ländern mit weniger Einwohnern als Cleveland, Ohio, oder als das britische Bristol verzeiht man einen Kleinstaatenkomplex. (Ich bin in Kanada aufgewachsen, das trotz seiner Größe und Bevölkerung auch einen Kleinstaatenkomplex hat. Einfach aufgrund der Nähe zum so viel größeren Nachbarn im Süden. Von daher empfinde ich so eine Art natürliche Sympathie für diese Schwäche.) In Island macht sich der Kleinstaatenkomplex als Interesse daran bemerkbar, wie oft das Land in ausländischen Medien erwähnt wird. Oder daran, welchen Eindruck noch der unwichtigste Promi bei seinem Besuch hat. »Wie gefällt Ihnen Island?«, ist die wichtigste Frage, die man als Besucher zu beantworten hat. Man sollte mit ihr ähnlich vorsichtig umgehen wie mit der Frage: »Sehe ich darin fett aus?«

Wenn man so klein ist, tut man sich schwer, an die Spitze globaler Rankings zu kommen. Tatsächlich fällt Island oft von vorneherein aus der Wertung, weil die verfügbaren Daten nicht ausreichen. Wenn das Erreichen einer siebenstelligen Bevölkerungszahl noch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in der Zukunft liegt, dann ist der beste (und am häufigsten begangene) Weg, um im globalen Wettbewerb ein bisschen Nationalstolz zu zeigen, auf die Pro-Kopf-Statistiken zu schauen. Wir haben ein hohes BIP, investieren massiv in die Künste und tragen maßgeblich zur internationalen Entwicklung bei – pro Kopf gerechnet. Als Halldór Laxness 1955 den Literaturnobelpreis erhielt, wurde Island zum Land mit den meisten Literaturnobelpreisträgern – pro Kopf.3 (Sollten Sie noch nie von Halldór Laxness gehört haben, dann kränken Sie bitte keinen eingeborenen Isländer, indem Sie das zugeben.) Wir können es kaum erwarten, unsere erste olympische Goldmedaille zu erringen, um in der Pro-Kopf-Statistik der Sportevents an die Spitze zu springen. Und mit Sicherheit haben wir die meisten Pro-Kopf-Statistiken der Welt – pro Kopf gerechnet.

Es gibt allerdings ein paar Bereiche, in denen Island tatsächlich und bedingungslos Weltspitze ist. Noch dazu sind das Bereiche, die wirklich zählen. So lebe ich in einem der glücklichsten Länder der Erde. In Island herrscht, auch unter den OECD-Staaten, die höchste Akzeptanz für Homosexualität.4 Es ist das friedlichste Land, wozu zweifellos die Tatsache beiträgt, dass es über keine Armee verfügt.

Mit diesen und anderen Indizes zur Lebensqualität befinden wir Isländer uns in ständigem, freundlichem Wettbewerb mit den anderen nordischen Staaten. So sind alle fünf Nationen unter den Top Ten von Glück und Zufriedenheit. (Die USA, Großbritannien und Kanada spielen nicht so weit vorne mit, aber immerhin unter den Top Twenty.) Obwohl jedes der fünf nordischen Länder seine eigene Kultur, Geschichte und Sprache besitzt, teilen wir genug gemeinsame Werte und Beziehungen, sodass wir auf dem internationalen Parkett oft zusammenstehen.5 Insbesondere Island orientiert sich bei der eigenen Gesetzgebung oft an bereits existierenden Gesetzen seiner nordischen Nachbarn oder an der EU. Im Sport ist jedoch alles möglich. Und für Isländer gibt es kaum etwas Aufregenderes, als zuzusehen, wie eine unserer Nationalmannschaften Dänemark besiegt (das vom 14. Jahrhundert bis 1944 Island beherrschte6).

Vielleicht ist es die Gleichberechtigung der Geschlechter, die dieser Insel den entscheidenden Vorsprung bei der Lebensqualität verschafft. Eines der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, nämlich die Gleichheit der Geschlechter und Ermächtigung der Frauen, soll Diskriminierung beenden, geschlechterbedingte Gewalt und Gefährdung eliminieren und die weibliche Beteiligung am Arbeitsmarkt sowie Zugang zu Gesundheitsversorgung und Familienplanung gewährleisten. Eine Studie nach der anderen belegt, dass eine Gesellschaft umso glücklicher ist, die Lebenserwartung umso stärker steigt und es mehr Wohlstand für alle Bürger gibt, je gleichberechtigter die Geschlechter sind.7 Und zumindest nach Einschätzung des Weltwirtschaftsforums war Island in den letzten gut zehn Jahren regelmäßig das Land, das diesem Ideal am nächsten kam.8 In dem Ranking geht es darum, wie gut es Staaten gelungen ist, den Gender-Gap in den Bereichen bezahlte Arbeit, Bildung, Gesundheit und Politik zu schließen. Die übrigen nordischen Nationen sind uns entweder dicht auf den Fersen oder in einigen Punkten voraus.9 Aber einfach ausgedrückt ist Island nach diesen Maßstäben für Frauen der beste Ort des Planeten. Und sollte irgendein Land jemals in der Lage sein, Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, dann hat Island jedenfalls schon einen ausgezeichneten Vorsprung.

Als Gesellschaft ist Island bereits über den Tipping Point der Frage hinaus, ob Gleichberechtigung wichtig oder wertvoll ist. Es geht stattdessen darum, wie diese zu erzielen ist. Dementsprechend weist Island die höchste Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt auf. Alleinerziehende Eltern oder junge Mütter sind wenig bis gar nicht sozial stigmatisiert. Es gibt eine Polizeichefin, und die Landeskirche wird von einer Bischöfin geleitet. Bekanntermaßen wählte das Land als erstes in einer demokratischen Wahl 1980 eine Frau zum Staatsoberhaupt. 2009 hatte Island die erste offen lesbische Regierungschefin. Einige Jahre lang war Island der größte Beitragszahler von UN Women – nicht pro Kopf, sondern absolut. Das lag an der großen Zahl regelmäßiger monatlicher Spenden und an zahlreichen kreativen Fundraising-Kampagnen.

Isländer*innen, und ich zähle mich inzwischen zu ihnen, sind zu Recht stolz auf diese Errungenschaften. Aber wir wissen alle, dass noch eine Menge zu tun ist. Diese subarktische Insel ist kein Paradies für Frauen. Das Patriarchat ist stark und tief verwurzelt. So gibt es beispielsweise trotz eines Gesetzes zu Geschlechterquoten in Aufsichtsräten zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Buch schreibe, keinen weiblichen CEO in einem der Unternehmen, die an der Isländischen Börse gehandelt werden. Das Frauenhaus in Reykjavík ist oft komplett voll, und während der Corona-Pandemie nahmen die Anzeigen wegen häuslicher Gewalt zu. Wenn wir also das bisher Erreichte loben, sollte man das Wort aber nicht vergessen. Bewusstsein für die fortbestehenden Herausforderungen ist der erste Schritt, um diese zu meistern. Und das setzt nicht die beträchtlichen Fortschritte herab, die wir gemeinsam gemacht haben. Für mich als Immigrantin ist diese Normalisierung des Werts von Gleichberechtigung auf allen Ebenen der Gesellschaft so bemerkenswert – denn wie das isländische Sprichwort sagt, meine »Gästeaugen sehen klarer«.

Nachdem ich meinen Job verloren hatte, fiel es mir schwerer, diese »Gästeaugen«, die so selig beobachtet hatten, wie eine Frau während einer Sitzung der Firmenleitung ihr Baby stillte, wieder auf das Positive zu richten. Ich schrieb so viele Bewerbungen, wie ich konnte, aber weil ich die Sprache noch nicht richtig beherrschte, war es schwer, eine Vollzeitstelle zu finden. Um mich zu beschäftigen, bot ich der neuen englischsprachigen Zeitung Reykjavík Grapevine Ideen für Storys an und schrieb über Themen wie den Eurovision Song Contest, empfehlenswerte Friseursalons in der Hauptstadt und verfasste sogar Restaurantkritiken. (Letztere waren meine Lieblingsaufträge, weil ich dann gratis in schicken Lokalen essen konnte.) Daraus ergab sich ein Teilzeit-, aber immerhin fester Job als Journalistin für Iceland Review, das älteste englischsprachige Blatt des Landes. Dessen Team stellte auch Atlantica zusammen, damals das Bordmagazin von Icelandair. An meinen freien Tagen übernahm ich diverse Projekte als Freelancer, die meist mit dem Schreiben oder Korrekturlesen von englischen Texten zu tun hatten. So war ich, ein paar Jahre nach meinem beruflichen Tiefpunkt, meine eigene Chefin, arbeitete an Projekten, die ich liebte, reiste regelmäßig durch Island und zu den Destinationen von Icelandair in Europa und Nordamerika. Ende 2008 war ich derart ausgebucht, dass ich beschloss, für mein wachsendes Business eine eigene Firma zu gründen. Die ließ ich in der letzten Septemberwoche des Jahres ins Handelsregister eintragen.

Zehn Tage später waren die drei großen Banken Islands kollabiert, die Währung war abgestürzt, und das Land steckte in der bis dato schlimmsten Wirtschaftskrise, die man schlicht den Crash nannte. Island war eines der ersten und sichtbarsten Opfer der großen Rezession jenes Jahres. Obwohl ich, genau wie Zehntausende andere im Land, meinen Job verlor, wurden meine Aufträge als Freelancer mehr, weil Unternehmen unverzichtbare Aufträge von Festangestellten auf freie Mitarbeiter verlagerten.

Island erholte sich bemerkenswert schnell von der finanziellen Katastrophe, wozu in beachtlichem Umfang der enorm zunehmende Tourismus beitrug. Im Jahr 2015 war der Notkredit des IWF an den isländischen Staat komplett zurückgezahlt. Bilaterale Beziehungen zu Ländern, die von unserem Bankenbankrott in Mitleidenschaft gezogen worden waren, besserten sich wieder. Außerdem bekam das Land leicht deplatziertes Lob dafür, dass man einige Banker eingesperrt hatte. Insgesamt war es eine beachtliche Entwicklung – von der Katastrophe zum Wirtschaftswachstum. Auch ich fing mich in beruflicher Hinsicht wieder. Ich sollte das neue, stärker auf Island fokussierte Bordmagazin herausgeben, das Icelandair nun produzieren ließ. Ein paar Jahre später gründete ich mit einer Freundin ein Retreat für Leute, die das geschriebene Wort lieben, das Iceland Writers Retreat. Es ist inzwischen fester Bestandteil des isländischen Kulturkalenders.

In meinem Privatleben fühlte ich mich genauso begünstigt. Das lag zu keinem geringen Teil an der familienfreundlichen Politik, die in Island ganz normal ist. Gudni und ich heirateten 2004 und zogen in ein winziges, fast hundert Jahre altes gelbes Holzhaus im westlichen Teil des Zentrums von Reykjavík. Nur einen Steinwurf vom Meer entfernt (wobei man zugegebenermaßen in der Stadt, die großteils auf einer Halbinsel liegt, nie sehr viel weiter davon weg ist). Er bekam einen Lehrauftrag an der Universität, verlor ihn während des Crashs und fand schließlich eine befristete Stelle mit Aussicht auf Festanstellung am Lehrstuhl für Geschichte der Universität von Island. Gleichzeitig veröffentlichte er einige von der Kritik gelobte Bücher. Ich betätigte mich weiter als Reisejournalistin, war 2006 allein als Backpackerin in Westafrika unterwegs und schrieb darüber eine mehrteilige Serie für die hiesige Zeitung.

Einen Monat nach der Rückkehr von diesem Abenteuer war ich schwanger. Fast die ganzen kommenden acht Jahre würde ich schwanger oder stillend zubringen, weil vier Babys in Abständen von jeweils fast exakt zwei Jahren auf die Welt kamen. Das wäre kaum machbar und nicht einmal wünschenswert gewesen, hätte es nicht die großzügige finanzielle Unterstützung für Eltern gegeben, auf die Gudni und ich sogar als Freiberufler Anspruch hatten. Nicht zu vergessen die stark subventionierte Kinderbetreuung nach Ende der Elternzeit. Als mein jüngstes Kind, zugleich meine erste Tochter, mit ungefähr einem Jahr von 8 bis 16 Uhr zu einer geprüften Tagesmutter kam, bezahlten wir für sie den vollen Tarif, etwa vierhundert Dollar pro Monat. Das beinhaltete zwei warme Mahlzeiten plus Snacks. Dank der Geschwisterermäßigung bei der Stadt kostete der Kindergarten für ihren dreijährigen Bruder nur 25 Prozent vom bereits subventionierten Normaltarif und – abgesehen von den Kosten fürs Essen – gar nichts für unseren Fünfjährigen. Auch die Nachmittagsbetreuung des Ältesten, der damals die zweite Klasse besuchte, war gratis.

Glücklich, wenn auch übermüdet, stolperten Gudni und ich durch diese Jahre mit Kleinkindern, die geprägt waren von püriertem Essen, Stoffwindeln und kaputten Haushaltsgeräten. Nach einiger Zeit mit regelmäßigen, aber unsicheren Einkommen hatte er seinen Traumjob an der Universität ergattert. Ich leitete begeistert das Iceland Writers Retreat und schrieb selbst regelmäßig. Wir hatten uns auch mit der Tatsache abgefunden, dass das kleine gelbe Hundertzehn-Quadratmeter-Haus für unsere wilde Brut bald zu eng sein würde. Also nahmen wir eine zweite Hypothek auf für ein größeres, renovierungsbedürftiges Haus zehn Gehminuten entfernt. Nach dem Umzugsstress und der Verteilung aller vier Kinder auf verschiedene Schulen und Kindergärten fühlten wir uns angekommen und schworen uns, bis ins hohe Alter nicht mehr von dort wegzugehen.

Präsidentschaftswahlen finden in Island alle vier Jahre am letzten Samstag im Juni statt. Als 2016 ziemlich sicher war, dass der damalige dreiundsiebzigjährige Ólafur Ragnar Grímsson keine rekordverdächtige sechste Amtszeit mehr anstrebte, verkündete eine beachtliche Anzahl von Menschen, ihm nachfolgen zu wollen. Reykjavíks Gerüchteküche beschäftigte sich ausgiebig damit, die verschiedenen Verdienste der Anwärter zu vergleichen und zu prognostizieren, wer als Nächster ins Rennen einsteigen würde. Gudni war gerade dabei, ein Buch über die Geschichte des Präsidentenamts in Island zu schreiben. Daher wurde er oft gebeten, als neutraler Experte in Sendungen zu den politischen Fragen des Tages Stellung zu nehmen. Vielleicht, so spekulierte er hoffnungsvoll, würde man ihn sogar engagieren, um in der Wahlnacht die Ergebnisse zu analysieren.

Sein TV-Moment sollte jedoch etwas früher stattfinden. Am 3. April 2016 veröffentlichte ein Zusammenschluss mehrerer internationaler Medien die sogenannten Panama Papers. Darin ging es um Schwarzgeld von führenden Politikern und Wirtschaftsgrößen. Einer davon war der isländische Premierminister Sigmundur David Gunnlaugsson, dem früher zusammen mit seiner Frau ein Unternehmen gehört hatte, das auf den britischen Jungfraueninseln registriert war. Damit verstießen sie zwar nicht gegen geltendes isländisches Recht, doch da die Erinnerungen an Islands wirtschaftliche Turbulenzen noch frisch war, versammelten sich schon am nächsten Tag Protestierende vor dem Parlament, dem Althing.

Lokale Fernsehsender unterbrachen ihr Programm, um über die Demonstration und deren Bedeutung zu berichten. Würde der Premierminister zurücktreten? Würden andere Figuren des öffentlichen Lebens, die ebenfalls in den Skandal verwickelt waren, zurücktreten? Sah die isländische Verfassung irgendetwas vor? Konnte der Präsident aktiv werden und den Premierminister zum Rücktritt auffordern? Die Debatte verlangte nach einem Experten, um das Thema allgemeinverständlich zu erläutern. Einem Experten, der keiner politischen Partei nahestand.

So war am 4. April Gudni Jóhannesson, Geschichtsprofessor, fünffacher Vater und Spezialist für das Thema Präsidentschaft, zusammen mit anderen im Fernsehen zu sehen, um sechs Stunden lang die gegenwärtige Situation zu kommentieren.

Danach begann unser Telefon zu läuten.

Plötzlich war klar, dass dieses zwar hauptsächlich repräsentative Amt gemäß der Verfassung gewisse Befugnisse umfasste, mit denen sorgsam umgegangen werden sollte. Und obwohl bereits einige fähige Leute ihre Absicht zu kandidieren erklärt hatten, sahen viele diesen bedachtsam sprechenden, kenntnisreichen Mann und kamen zu dem Schluss, dass er vielleicht der rechte Mensch zur rechten Zeit für diesen Job wäre. Innerhalb von Tagen wurde aus ein paar E-Mails, Facebook-Nachrichten und Anrufen von fremden Leuten ein beständiger Strom. All diese Leute ermutigten Gudni, den Schritt zu wagen, den er bis dahin nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte – die Kandidatur für ein politisches Amt.

Sechs Wochen vor der Wahl, an meinem vierzigsten Geburtstag, mit mir und den fünf Kindern an seiner Seite, gab Gudni in einem vollen Konzertsaal seine Präsidentschaftskandidatur bekannt.

Da kein Amtsinhaber im Rennen war, strebten mehr Menschen denn je die Präsidentschaft an. Neun sammelten genügend Nominierungen im ganzen Land, um es auf den Wahlzettel zu schaffen. Unter den neun waren vier Männer, von denen wiederum drei gemäß den Umfragen stabil mit über 10 Prozent Stimmenanteil rechnen konnten. Alle Frauen bis auf eine kamen in den Umfragen nicht über 1 Prozent. Diese Ausnahme, die landesweit kaum bekannt war, als sie Ende März ihre geplante Kandidatur verkündete (die Wahl war auf den 25. Juni angesetzt), aber in den Umfragen kontinuierlich zulegte, bis sie am Ende Zweite hinter Gudni wurde, war ausgerechnet Halla Tómasdóttir. Die ehemalige CEO und Leitungsmitglied der Firma, bei der ich in meinem ersten Jahr in Island gearbeitet hatte. Die kleine Tochter, die sie damals gestillt hatte, war inzwischen ein Teenager.

Halla und ich trafen uns in jenen hektischen Wochen einige Male, aber es blieb trotz des Wahlkampfs immer freundlich. (Zufällig kannten Gudni und ich noch einen weiteren vorne mitmischenden Kandidaten gut: den Schriftsteller Andri Snær Magnason.) Manchmal fühlt sich das Leben in Island an, als würde man in einem weitläufig verstreuten und natürlich fantastischen Dorf wohnen. Da schien es nur passend, Wahlkampf für das höchste Amt gegen Kandidaten zu führen, die sogar ein Neuling wie ich schon seit einigen Jahren kannte.

Mein Leben veränderte sich unwiderruflich, als Gudni am 25. Juni 2016 die Präsidentschaftswahl mit 39,1 Prozent der Stimmen gewann, während Halla mit 27,9 Prozent auf Platz 2 kam. Er trat das Amt am 1. August an. Nachdem wir im Wahlkampf kreuz und quer durchs Land gereist waren, Kundgebungen besucht, Hände geschüttelt, Cremetörtchen probiert und dazu schwarzen Kaffee getrunken hatten, hatte ich schon eine Ahnung davon, was nun kommen würde.

In den fünf Wirbelwindwochen zwischen Wahl und Amtseinführung befanden wir uns in einer Art Schwebezustand. Wir gaben unsere bisherigen Jobs auf (oder zumindest er seinen), unser Zuhause und unsere Anonymität. Und das für eine Zukunft, die wir bisher nur aus dem Fernsehen und aus Zeitungsartikeln kannten. Unser Wahlkampfteam hatte seinen Job erledigt, also dafür gesorgt, dass sein Kandidat die meisten Stimmen bekam. Das Personal des Präsidentenbüros, dass auch dem neuen Amtsinhaber zur Verfügung stand, arbeitete noch nicht für uns. In jener Zeit absolvierten wir Dutzende Interviews und beantworteten sonstige Anfragen der Medien, vermieteten unser Haus, fanden neue Schulen für die Kinder, beschlossen, dass wir für den Privatbereich der großen Präsidentschaftsresidenz neue Möbel brauchten, und bemühten uns, die Kinder auf die bevorstehenden Veränderungen vorzubereiten.

Damals machte ich, genau wie heute, mit meiner eigenen Arbeit weiter. Auf Isländisch nennt man mich forsetafrú, was man mit »Frau des Präsidenten« übersetzen würde. Niemand schlug mir das Wort »forsetamaki« – Ehepartnerin des Präsidenten – vor. Auf Englisch nennt man mich meist First Lady, weil das ein leicht verständlicher Begriff ist. Der impliziert es zwar, bezeichnet mich aber nicht ausdrücklich als »Frau von«.

Es ist eine Tatsache, dass First Lady kein Job ist. Es gibt dafür kein Gehalt, kein dazugehöriges Personal, kein Budget für Kleidung, keine Rente. Ich wurde in diese Position nicht gewählt. Trotzdem hilft mir das Präsidentschaftsbüro, Flüge und Termine zu organisieren, an denen ich (natürlich nur in meiner Funktion als First Lady) teilnehme. Ich habe meine eigenen Visitenkarten, Briefpapier und ein kleines Büro im Hauptquartier des Präsidenten, wenn ich dort arbeiten wollte. Es ist eine ungeheure Ehre und ein Privileg für mich, und ich gebe jeden Tag mein Bestes, um dem Land, das mich quasi adoptiert hat, in dieser Funktion zu dienen.

Die Rolle ist mit Erwartungen verbunden. Viele davon passen eher in eine Zeit, als Männer das Rampenlicht exklusiv für sich beanspruchten und die Frauen »hinter ihnen standen«, um die Kapriolen ihrer Ehemänner zu unterstützen. Seit der Unabhängigkeit des Landes von Dänemark 1944 bin ich erst die sechste First Lady. Die ersten drei in der Zeit bis 1980 waren allseits respektierte Damen, die eine für ihre Zeit sehr traditionelle Gattinnenrolle spielten. Normalerweise traten sie öffentlich nicht in Erscheinung und fungierten nur als wohlfrisierte Co-Gastgeberinnen bei großen Empfängen oder Staatsbesuchen. Und während der sechzehnjährigen Amtszeit von Islands bisher einziger Präsidentin gab es keinen Gemahl.

Als dann 1996 Ólafur Ragnar Grímsson Präsident wurde, nahm sich seine beliebte Frau, Gudrun Katrin Thorbergsdóttir, verschiedener Themen wie der Prävention von Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen an und erntete dafür viel Anerkennung. Nur zwei Jahre nach Amtsantritt ihres Mannes erlag Gudrun Katrin einem Krebsleiden.

Fünf Jahre später heiratete Ólafur Ragnar seine zweite Frau, Dorrit Moussaieff. Sie war wie ich im Ausland geboren und aufgewachsen, hatte eine spontane, offene Art und war in Island beliebt. Während ihrer Zeit als First Lady arbeitete sie weiter für das Schmuckunternehmen ihrer Familie mit Sitz in London. In den späteren Amtsjahren ihres Mannes verbrachte sie viel Zeit außerhalb Islands.

Auch ich habe meine eigenen Projekte weiterverfolgt, etwa das Schreiben dieses Buchs und die Leitung meiner Firma. Warum sollte ich mir auch einen neuen Job besorgen, nur weil mein Mann in seinen gewählt wurde? Diese Entscheidung führte zu einigen öffentlichen Diskussionen, doch das überwältigende Feedback ist positiv. Im progressiven Island, wo das Streben nach Gleichberechtigung normal ist, soll die Partnerin des Staatsoberhaupts selbstverständlich ihre eigenen Vorhaben verwirklichen.

Angefangen bei meinen schon erwähnten frühen Erinnerungen an Frauen, die gelassen in traditionell männerdominierten Bereichen tätig waren, über das Gebären von vier Kindern in weniger als sechs Jahren bis hin zur Gründung meiner eigenen Firma am Vorabend einer verheerenden Wirtschaftskrise – ich habe das Privileg genossen, als Frau im wahrscheinlich gleichberechtigtsten Land der Welt zu leben. Seit noch nicht ganz so langer Zeit habe ich gelernt, meine unerwarteten Möglichkeiten als First Lady zu nutzen. Und zwar indem ich mithelfe, die Erwartungen an eine überkommene Rolle zu modernisieren, und indem ich Stimme und Perspektive einer weiteren Immigrantin in den Kampf um Gleichheit einbringe.

Tatsächlich ist dieses Buch in vielerlei Hinsicht mein Liebesbrief an Island. An dieses reizvoll unperfekte Land, an eine Gesellschaft, die ständig daran arbeitet, sich zu verbessern, wo leidenschaftliche Debatten geführt werden, uns aber im Krisenfall Solidarität und Mitgefühl auffangen. Ein Land, wo Frauen darauf beharren, nach Gleichberechtigung zu streben und wo die meisten von uns sich fast immer in diesem Bestreben unterstützt fühlen. Ein Liebesbrief an ein Land, das ich stolz mein Zuhause nenne, wo ich als Entrepreneurin erfolgreich bin und gelernt habe, meine Stimme zu nutzen, nachdem das Schicksal mir die entsprechende Bühne zu Verfügung gestellt hat. Ein Land, von dem ich glaube, dass unsere heutigen Errungenschaften für künftige Generationen sogar eine Zukunft mit noch mehr Gleichberechtigung bewirken werden. Ein Land, das Menschen auf der ganzen Welt als Inspiration dienen wird.

Doch meine eigene Geschichte genügt nicht, um ein vollständiges Bild der Freuden und Herausforderungen einer weiblichen Existenz auf dieser Insel im Nordatlantik zu liefern. Ich wollte erkunden, was genau an der isländischen Gesellschaft den Lebensumständen von Mädchen und Frauen so zuträglich ist – und im Zuge dessen auch denen von Männern, Jungen und nonbinären Menschen. Diese Erkenntnisse lassen sich mit Sicherheit auch an anderen Orten anwenden, um Menschen in Vancouver oder Vermont, in Dundee oder Dallas zu inspirieren.

Reichen die Zutaten für diesen Erfolg in die Zeit der epischen Familienfehden zurück, die in den jahrhundertealten Sagas erzählt werden? Darin kommen zahlreiche hartnäckige Frauen vor. Oder gehen sie auf die jüngere Vergangenheit zurück, als 1980 mit Vigdís Finnbogadóttir das weltweit erste demokratisch gewählte weibliche Staatsoberhaupt an die Macht kam? Ist es eher eine Frage der von der Regierung erlassenen Maßnahmen, etwa massiv subventionierter Kinderbetreuung und Elternzeit für beide Elternteile? Oder sollten wir uns fragen, warum diese Gesellschaft auf neue Gesetze drängt, wie die Festschreibung der Rechte von Transmenschen und Nonbinären? Was ist mit der liberalen Haltung gegenüber Alleinerziehenden und gegenüber Sexualität im Allgemeinen oder einer breiter angelegten Definition von Maskulinität? Wie viel können wir der kleinen, geschlossenen, familienorientierten Gesellschaft zuschreiben, in der jeder Mensch beruflich eine Menge verschiedener Dinge können muss, damit ein funktionierendes Land daraus wird? Und was dürfen wir vom jüngsten Einfluss der Migrant*innen lernen, die neue Erfahrungen und Hintergründe mit nach Island bringen, hier aber auch vor ganz eigenen Herausforderungen stehen?

Mit Sicherheit haben die unabhängigen, standhaften, entschlossenen Frauen, die diese Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte prägten, deren Nachfahrinnen bis heute inspiriert. Nicht zuletzt ihr Selbstvertrauen und die Überzeugung, dass jede von uns daran mitwirken kann, das Zusammenleben zu verbessern. Island ist eine Nation des Geschichtenerzählens, und viele Isländer*innen sind aufgewachsen mit Geschichten von Heldentaten der Frauen in den Sagas, vom Mut derjenigen, die Revanche einforderten, und vom Durchhaltevermögen derjenigen, die für ihre Prinzipien kämpften.

Für dieses Buch habe ich mit Dutzenden außergewöhnlicher Frauen in Island gesprochen. Diese Sprakkar, um eine uralte isländische Bezeichnung zu verwenden, stammen aus allen Altersgruppen und Schichten in den verschiedensten Regionen. Viele von ihnen führen ein unauffälliges Leben, doch ihre Erfahrungen helfen gleichwohl, eine Gesellschaft zu porträtieren, die sich Geschlechtergerechtigkeit zum Ziel gesetzt hat und danach strebt, diese weiter zu verbessern. Es sind Frauen wie du und ich, Frauen, wie wir sie kennen. Zusammen ergeben sie das Bild eines Landes, in dem Gleichberechtigung greifbarer nahe ist – quälend kurz vor Erreichen einer undefinierten Ziellinie. Dennoch gibt es auch hier noch oft demoralisierende und schädliche Rückschläge. Ob First Lady, Schafzüchterin, Migrantin, Fußballstar, Comedian, Bürgermeisterin oder Sexualberaterin – wir sind alle Isländerinnen, die unsere Erfahrungen und Erkenntnisse darüber teilen, was dieses Land für so viele zu einem Ort der Gleichberechtigung macht. Und wir verraten, wie sich die Sprakki, die in jeder von uns steckt, fördern und voranbringen lässt. Sodass wir alle, egal wo wir leben, dazu beitragen können, Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu verwirklichen.

KAPITEL 2WER ELTERN HILFT, HILFT UNS ALLEN

Die Rosine am Ende des Hotdogs1

Als ich 2016 First Lady von Island wurde, stellte ich mich zahlreichen Interviewanfragen aus meiner kanadischen Heimat. Es war ja gelinde gesagt unwahrscheinlich, dass ein Landei aus Ontario Gattin des Staatsoberhaupts eines Landes wird, das Tausende Kilometer entfernt liegt. Ich war so aufgeregt (und bin es bis heute!), diese Rolle zu übernehmen, und so begeistert, dass ich vor den Zuschauern und Hörern jenseits des großen Teichs gern mit meiner Wahlheimat angab.

Unvermeidlich kamen in den verschiedenen Interviews ähnliche Themen zur Sprache. Die seltsamste Frage, die ich erschreckend regelmäßig zu hören bekam, war: »Hätten Sie sich, als Sie auf einer Hobbyfarm im Ottawa Valley aufwuchsen, jemals vorstellen können, eines Tages First Lady von Island zu werden?« Es dauerte ein paar solcher Interviews, bis ich begriff, dass das nie als rhetorische Frage gemeint war.

In meiner Jugend schmiedete ich überhaupt keine langfristigen Pläne. Und schon gar nicht hatte ich vor, das künftige Staatsoberhaupt eines Landes zu heiraten, über das ich fast nichts wusste. Ich wollte an die Uni gehen und irgendwas in Richtung Gesellschafts- oder Geisteswissenschaften studieren. Außerdem wollte ich ein bisschen was von der Welt sehen, einen Job finden, der mich forderte, und bei all dem meinen Spaß haben. Ehe und Kinder waren damals noch kein fester Bestandteil meiner Lebensplanung.

Ich war nicht grundsätzlich gegen die Idee. Aber ob ich heiraten wollte, würde davon abhängen, ob ich jemanden kennenlernte, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Kinder zu bekommen sollte voraussetzen, dass erwähnter Partner auch dahinterstand und alle Umstände dafürsprachen.

Genauso wenig wie den Umzug nach Island und die Rolle der First Lady hätte ich mir jemals vorstellen können, in knapp sechs Jahren vier Kinder zu kriegen und die Stiefmutter eines weiteren zu werden. Aber so ist eben das herrlich unvorhersehbare Leben.

Wäre ich in Kanada geblieben, hätte ich mich wohl nicht als so gebärfreudig erwiesen. Aber in Island schien es irgendwie so einfach, ein Kind zu haben – und dann noch eins, noch eins und noch eins. Hier ist die komplette, von Hebammen durchgeführte pränatale Betreuung kostenlos. Sogar die geringen Gebühren, die sonst bei Arztbesuchen und Behandlungen anfallen, gibt es nicht. Mein Mann und ich nahmen uns jeweils mehrere Monate Elternzeit, in denen wir Unterstützung vom Staat erhielten. Als wir in unsere Vollzeitjobs zurückkehrten, wurden die Kinder zunächst von geprüften Tagesmüttern betreut, später besuchten sie einen Kindergarten, der nur fünf Minuten zu Fuß entfernt lag. Beides wurde von der Stadt Reykjavík massiv subventioniert. Angesichts eines solchen Systems mussten wir die Entscheidung über die Größe unserer Familie nicht primär von finanziellen Überlegungen abhängig machen.