Das Geheimnis der verdorrten Rosen - Paul Riedel - E-Book

Das Geheimnis der verdorrten Rosen E-Book

Paul Riedel

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Beschreibung

In einer Agentur für außergewöhnliche Fälle zu arbeiten, kann reizvoll klingen, wenn man als Arbeitssuchender eine solche Anzeige liest. Wie aufregend das wirklich sein kann, erfährt man zusam¬men mit Raphael in dieser skurrilen Ermittlung voller Zufälle und mit einem eigenartigen Boss, der sich lieber mit einem Hund anfreundet als mit seinem Mitarbeiter.

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Paul Riedel

Das Geheimnis der verdorrten Rosen

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Die Schatulle

Impressum tolino

Vorwort

ein Mystery-Roman von

www.paul-riedel.de

©Paul Riedel, München 2016

Printed in Germany

Umschlag: © Paul Riedel, München 2016

Lektorat: Michael von Sehlen

1. Auflage 2009

2. Auflage 2010

3., völlig neu bearb. Auflage 2016

Paul Riedel

Paul Riedel ist ein Name, der sich in meiner Familie seit mehreren Generationen wiederholt. Zwar könnte man vermuten, dass es dieser Familie an Phantasie mangelt, was die Namensvergabe der Neugeborenen anbelangt, aber kei­neswegs! Dies ist eine Familie, in der die Phantasie von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Von einem Kunsthistoriker zu einem Redakteur, weiter über einen technischen Zeichner und in der aktuellen Generation, das bin ich, zum Künstler und Informatiker. So sind die verschiedenen Paul Riedels der Kunst direkt oder indirekt treu geblieben. Da ich keinen Sohn habe, endet hier die Linie der Pauls, sofern meine Prophezeiung nicht von einer meiner Schwestern überraschenderweise korrigiert wird. Alle meine Vorfahren hatten ebenfalls ‒ neben der Kunst ‒ eine zweite Karriere.

Ich bin in Brasilien geboren und lebte dort viele Jahre, wobei ich eine auch ethnisch gesehen gemischte Erziehung genoss. Ausgehend von schwarzen Gettos, wo man Umbanda, dem heidnischen Glauben aus Brasilien mit seinen afrikanischen Wurzeln, folgte, über die italienische, streng katholische Lehre aus meinen neapolitanischen und umbrischen Ursprüngen mütterlicherseits heraus bis zu den lutherischen des Vaters entwickelte ich eine umfassende Vision von Glauben und Realität.

Lange ist es her, dass ich den Protagonisten dieses Romans kennen gelernt habe. Diese Zeilen zu schreiben, tröstet mich und lässt mich etwas in meinen Erinnerungen verweilen. Lieber hätte ich ihn noch an meiner Seite, aber dies ist eine andere Geschichte.

Wie alt ich bin und wie das Ganze geschah, werde ich hier zu erzählen versuchen.

Mein Name ist Raphael und in einer lange vergangenen Zeit war ich mitten in der Arbeitsmarktumstellung in Deutsch­land arbeitslos wie viele andere, und alle Optionen, die ich im Anzeigenteil der Zeitung zu lesen bekam, waren mehr als unbefriedigend.

Mit meinem Schulabschluss war ich für eine normale Arbeitsstelle überqualifiziert, für eine Stelle in meinem Beruf als Buchhalter schien es keine Nachfrage zu geben.

Einige der Interviewer der Arbeitsvermittlung meinten, ich sei für eine Stelle zu jung, andere meinten, ich sei zu alt, und wieder andere (in einer kontroversen Zeit der Emanzipation) suchten eine Frau, was mir zeigte, was chauvinistisch bedeutet ‒ wenn auch mit vertauschten Geschlechter­rollen.

Das Leben war mir zu langweilig, weshalb ich nach einer neuen professionellen Herausforderung suchte. Ich hatte keine Erfahrung als Selbstständiger und eine Partnerin oder Freundin hatte ich auch nicht und Aussichten auf eine solche schie­nen mir weiter entfernt, als mir lieb war.

Frauen schienen mich kaum wahrzunehmen. Damals wie heute hatte ich den Eindruck, in vieler Hinsicht für Frauen ziemlich uninteressant zu sein, aber dies kümmerte mich nach einer gewissen Zeit nicht weiter.

Eines Tages, unter dem sonnigen Himmel der Stadt, saß ich in meinem Lieblingscafé und bestellte einen Vanillekaffee. In meiner Stadt sind Service-Cafés die letzten Ressorts des Dienstes am Kunden. Die Ladenketten dagegen schienen den Kaffee in Tröge zu gießen und die Kunden wie Tiere daraus trinken zu lassen.

Die beißende Kälte war am Ende eines langen Winters eher erfrischend als kalt zu bezeichnen. Während die Bedienung sich ihren unsichtbaren Umhang mit einer eleganten Dre­hung umwarf und sich mit nach hinten geworfenem Kopf daran machte, die Bestellung an die Küche weiterzugeben, blickte ich mich unter den Gästen um.

Dabei fiel mir die Gästezeitung des Cafés fast auf meine Füße und ich blickte auf eine Anzeige, die unter einem runden Kaffeefleck kaum zu lesen war. Sie kam von einer Arbeits­agentur, die hoff­nungslose Fälle von unvermittelbaren Men­schen wie mich suchte.

Meistens wollten diese Institutionen Personen wie mich nur um ihr letztes Geld prellen. Etwas weiter unten im Kaffee­fleck­kreis las ich eine Annonce mit diskreter Gestaltung: „Sekretär in Vollzeit für ungewöhnliche Einsätze gesucht.“ Darunter waren die Kontaktdaten und der Name des Auftraggebers ersichtlich: F. D.

Ich wusste im Moment nicht, was ich davon halten sollte. Es schien mir interessant genug zu sein, aber wahrscheinlich meiner katholische Erziehung geschuldet, auch ein klein wenig zwei­deutig.

„Ungewöhnliche“ konnte vieles bedeuten, aber in meiner Situation hätte ich mich sogar als Türsteher in einem Freudenhaus besser gefühlt als ein Sozialhilfeempfänger. Ungewöhnlich hin oder her, es war in dieser Ausgabe wirklich wenig, was meinen Kühlschrank hätte füllen können, und ich zog, ergänzend zum Kaffeefleck, mit meinem Kugelschreiber einen Kreis um die Anzeige herum.

Die Bedienung stolzierte mit dem Tablett herum, stellte die Tasse mit einem leichten Klirren auf den Tisch und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich nickte und schlürfte aus meiner Tasse, die wegen der ausgedehnten Schau des Künstlers beim Stolzieren bereits anfing, kalt zu werden.

Ich fühlte mich damals, als hätte ich eine Kontaktanzeige aus der Sparte „Wiedersehen“ gelesen, und meinte, vielleicht wegen meiner Verzweiflung, dass gerade ich in der Anzeige gesucht wurde.

Ein wenig zweifelte ich an meiner Erziehung, oder war es aus Not heraus? Wie dem auch sei, ich ließ den Rest des Kaffees auf dem Tisch stehen und hoffte, meine Wohnung zu erreichen, bevor mein Magen ganz revoltieren würde.

Die Bedienung blickte mit Schroffheit auf das genau ab­gezählte Geld auf dem Tisch, was zu verstehen gab, dass sie das erhoffte Trinkgeld vermisste.

Zugegeben, dies war ein unübliches Verhalten für eine Bedie­nung und die hier herrschende Kultur, aber meine Laune und verfügbaren Mittel zwangen mich zu einem solchen Verhal­ten.

Zu Hause angekommen ermutigte ich mich, meine Socken und Unterhosen im Wäschekorb zu sortieren und einige meiner Schuhe in die passenden Schränke zu verweisen, und nur im Bademantel bekleidet fuhr ich meinen Computer hoch.

Mit einem Druck auf die Fernbedienung schaltete sich mein Radio an. Im Hintergrund lief ein Lied von Cole Porter, gesungen von einer sehr charmanten Chanteuse, und ich stellte mir eine Einladung zum Essen vor, zusammen mit einem Glas Sekt oder etwas dergleichen, alles bei stim­mungs­vollem Kerzen­licht.

Ich suchte meine Bewerbungsunterlagen aus dem ordentlich aufeinander geschichteten Stapel auf dem Biedermeiertisch zusammen, tippte ein Anschreiben und druckte alles auf einem farblich sehr warmen, seidenen Papier aus, das außer meinem Interesse an der Stelle auch meinen guten Geschmack kundtun sollte. Ich sandte für gewöhnlich meine Bewer­bungsunterlagen immer gut vorbereitet an die gewünschte Arbeits­stelle.

Zu dieser Zeit waren sich alle Personalberater einig, dass Bewerber diesen Ablauf respektieren sollten: anschreiben und die – meist verspätete – Absage abwarten. Jedoch die Neugier auf das Wort „Ungewöhnlich“ ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich habe nie verstanden, wie diese Faszination auf diese Anzeige entstanden war, aber im Laufe der vergangenen Jahre gab es dann vieles, was ich nicht erklären konnte. Dies war nur einer dieser ungeklärten Vorfälle.

Sollte ich diese Firma anrufen? Oder sollte ich sie nur anschreiben? – Meine Gedanken schwirrten im Kopf herum und mir schien, als würde ich mir wieder nicht zutrauen, mich auf eine außergewöhnliche Anzeige zu melden.

Trotz meiner Unschlüssigkeit schrieb ich einen weiteren Brief, worin ich meine Interessen und Hobbys preisgab und eine persönliche Note beifügte, bis ich mich schließlich selbst als außergewöhnlich interessant empfand.

Das bin ich auch heute noch!

Die Schatulle

Der Nachlass

Verlon ist ein ungewöhnlicher Name, aber kein anderer hätte für diesen Mann besser gepasst. Seine Nachbarn kannten ihn nicht und Besucher wurden dort nie gesehen.

Wenn er auf der Straße ging, bewegte er sich schnell, aber nicht grazil, sein Rücken war im Laufe der Jahre von seiner fast zwei Meter großen Statur gekrümmt worden und eine un­erklärliche Krankheit hatte bis auf die Knochen an seiner Figur gezehrt.

Einige weiße Haare zierten sein mit Altersflecken bedecktes Haupt und die Falten in seinem starren Antlitz waren nicht zu zählen.

Kinder mieden seine Nähe und in den Geschäften hat man ihn meistens vorgezogen, jedoch nur, um seinen Aufenthalt im Laden zu verkürzen. Insbesondere beim Metzger, wo die Metzgerin immer noch um ihren Mann trauerte und aus Bosheit Verlon den frühen Tod ihres Mannes anlastete.

Sein Haus war von Efeuranken überwuchert und nicht einmal biblische Missionare trauten sich, dort anzuklopfen. Das Tor war bestimmt seit dem Krieg nicht mehr gestrichen worden, und wenn doch, so war die Farbe wieder vollends ab­geblät­tert.

Hin und wieder kam ein starker Türke mit erstaunlich schönem Schnurrbart und mähte seinen Rasen, aber mehr Pflege wurde diesem Anwesen nicht zuteil. In all den Jahren fragte Verlon nie nach dem Namen des Gärtners. Man kannte ihn zwar als den Türken, aber eigentlich stammte er gar nicht aus der Türkei.

Verlons Einsamkeit und auch die abweisende Haltung gegen­über umliegenden Nachbarn trugen dazu bei, dass keiner sich darum kümmerte, was mit ihm geschah. Den einzigen Verdacht, dass er eventuell nicht im Haus sei, hatte der Postbote, als er wieder einmal einen Zettel mit der Auf­forderung, den Briefkasten zu leeren, anzuheften versuchte.

An jenem Tag Anfang des Jahres war es noch kälter als in der Vorweihnachtszeit und der Postbote sah es als seine Pflicht an, diesem Missbrauch des Postkastens ein Ende zu bereiten.

Er hatte nämlich viele Werbeprospekte zu verteilen und er fragte sich, wie es denn wäre, wenn jeder Einwohner sich weigerte, den Postkasten zu leeren. Wie sollte er seine Bürde loswerden?

Sein mehrfaches Klingeln blieb ergebnislos und der modern­de Geruch der erfrorenen Fauna um ihn herum machten es ihm nicht leichter, an der Tür zu verweilen. In all den Jahren, in denen er dort die Post ausgetragen hatte, war dieser Mann nie freundlich oder gar redselig gewesen, wie man es in der Region gewohnt ist. „Bestimmt kam er vom Norden“, murmelte der Postbote in seiner Ratlosigkeit und teilweisen Verärgerung, da ihm solche Personen niemals ein Trinkgeld oder gar Aufmerk­samkeit schenkten.

Er entschied sich, den Türklopfer einzusetzen. Er nutzte diesen meistens, wenn der Empfänger etwas unterschreiben musste oder wenn etwas Wichtiges zuzustellen war.

Ein bronzener Imp, eine Art kleiner Dämon oder Kobold, der in Grimoiren von Mystikern vorkommt, mit fleder­maus­ähnlichen Flügeln, mit einer übergroßen Faust, die auf eine Trommel zu schlagen schien, forderte den Besucher auf, seine andere Hand zu grüßen.

Eine fast lustige Form für ein so verlassenes Haus. Er empfand diesen Türklopfer als geschmacklos und wischte immer seine Hand ab, wenn er diese alberne Figur angefasst hatte.

Weil er erneut keinen Erfolg hatte, ging der Postbote auf eigene Verantwor­tung ums Haus herum, in der Absicht, den Übeltäter zur Rede zu stellen.

Er meinte etwas gehört zu haben, und wenn nicht ‒ er war sowieso zu früh mit seiner Runde. Seit einiger Zeit trug er mehr Werbung und Zeitungen als Post aus, was seine Arbeit auf eine Art erleichterte.

Er bemerkte einen Duft in der Luft. Ja, es musste einer von diesen neuen Raumdüften sein, die seine Frau auch kürzlich gekauft hatte. Rosen? Fragte er sich, aber etwas mischte sich noch darunter. Es mussten Nüsse oder etwas Asiatisches sein, was er nicht aussprechen konnte. Der Frost wurde heftiger und die Kälte drohte seiner Neugier ein Ende zu ma­chen, und so entschied er sich, seine Erkundung abzukür­zen.

Der Hof war leer und eine offene Tür war auch nicht zu sehen. Verunsichert bewegte er seinen Kopf von einer Seite auf die andere, denn er meinte etwas gehört zu haben, aber konnte nicht definieren, was es gewesen sein könnte.

Er setzte zur Rückkehr zum Tor an, als ein Windhauch seine Nase erreichte und er einen süßen Geruch wahrnahm: Rosenduft.

Er glaubte hinter sich einen Schatten gesehen zu haben und seine schlotternden Knie schienen mehr zu ahnen als er selbst. Es war schon lange her, dass er jung gewesen war, und ein Schlottern konnte vieles bedeuten, aber ihm war sofort klar, dass es nichts Gutes sein würde.

Aus seiner Erfahrung als Postbote wusste er, dass jeden Moment von irgendwoher ein zähnefletschender Hund auftauchen und ihm mehrfach drohen könnte. In seiner Karriere hatte er schon einige Bisse bekommen und ein paar hatten ihm sogar eine satte Entschädigung eingebracht, was ihn jetzt übermütig werden ließ.

Er war sich nicht sicher, aber das Gefühl, einen Hund zu spüren, wurde immer stärker, so dass er schneller zu gehen versuchte, aber nicht konnte. Er wollte zwar, aber sein Körper schien ihm nicht zu gehorchen.

Seine Beine bewegten sich zu langsam, und der Versuch, den Oberkörper stärker vorwärts zu bewegen, brachte ihn zu Fall. Ein peinlicher, wenn auch nicht lächerlicher Moment, dachte er. Beim Schnüffeln in einem fremden Haus erwischt zu werden. Er wollte nicht um Hilfe rufen, da sonst die Lage noch peinlicher hätte werden können. Aber jetzt waren seine Arme auch zu müde, um ihn hochzuhieven. Er entschied sich doch, Hilfe zu holen, aber er wusste nicht mehr, wo er sein Handy versteckt hatte, oder eigentlich wusste er auch nicht genau, ob er eines mitgenommen hatte.

Es kam ihm wie ein Moment der Desorientierung vor und er konnte sich nur kurz an seine morgendlichen Tabletten erin­nern und sich noch entsinnen, sie wie immer eingenom­men zu haben.

Sein Körper schien unter einem riesigen Fuß zerdrückt zu werden. Er spürte, wie immens harte Hufe seinen Ober­körper zu Boden zwangen. Er konnte sich noch etwas vor­wärts bewegen, aber dann verlor er die Motivation, dies weiterhin zu tun.

Warum er wegwollte, war ihm entgangen. Aber es war ihm kalt und seine Gedanken standen still, es schien, als würde er immer noch an einem Gedanken festhalten, aber welchem, das wusste er nicht mehr.

Bevor seine Augen wieder klarer wurden, hatte er einen kurzen Tagtraum. Darin verlangte er von dem Imp, den Briefkasten seines Herrn zu leeren, und dieser riss ein großes Streichholz aus seiner Tasche und zündete den Haufen Papier an. Er wollte protestieren, schüttelte deshalb seinen Kopf und war wieder wach und fast klar.

Er entschied, sich anschließend für den Tag krank zu melden. Es war ihm klar, dass Tagträume nicht normal waren, und zudem schmerzten seine Glieder. Er kam an das Tor und schloss den Riegel hinter sich.

Jetzt wusste er wieder, dass er ein Handy hatte, und er machte Meldung über den Briefkasten und meldete sich krank.

Ein einsamer Abschied

Ein Staatsbeamter öffnete das Haus im Beisein eines Poli­zisten in blauer Uniform, dabei stellte er einen modrigen Geruch fest.

Es schien, als wäre das Haus lange nicht mehr betreten worden und die Feuchtigkeit des Winters hätte bereits einige Schäden am Anwesen verursacht.

Die Kälte und die abgestandene Luft waren extrem unangenehm, was er bereits aus früheren Inspektionen in anderen Häusern kannte. Er ging sorgfältig einen Raum nach dem anderen durch und versuchte eventuelle Folgen der Vernachlässigung penibel zu protokollieren.

Am Fuß der Treppe angekommen, musste er sich für den Keller oder den zweiten Stock entscheiden und die Vorstel­lung, in einen noch kälteren Raum hineinzugehen, verhalf ihm, sich schnell für die zweite Möglichkeit zu entscheiden.

Im dritten Raum des Anwesens, im zweiten Stock, traf er auf das Schlafzimmer des Hausherrn. Er hob vorsichtig die schwere Bordeaux-Bettdecke vorsichtig hoch und stellte fest, dass nur ein Haufen Knochen darunterlagen, dabei ein Totenschädel mit zur linken Seite weit aufgerissenem Kiefer.

Es war zu vermuten, dass Verlon an irgendeinem Tag vor Winteranbruch gestorben war. Sein Körper wurde nun viel zu spät an einem kalten Januartag entdeckt. Das Haus bot jedem, der sich hineinbegab, einen düsteren Anblick.

Man konnte sich dort wie mitten in einer bizarren Erzählung eines paranoiden Schriftstellers fühlen. Es fehlte nur ein krächzender Raabe oder eine schreiende Eule und man hätte bis zum Mark seiner Knochen erzittern können.

Dunkle Polster und massives Mahagoniholz vermittelten dem Besucher den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Es war kaum zu glauben, dass noch so viele alte Sachen existierten.

Der Beamte musste einen Nachlassverwalter bestellen und noch am selben Tag viele Berichte schreiben. In dem Tumult, der sich in solchen Situationen meistens ergibt, meldet sich immer der eine oder der andere, der für gewöhnlich solche Gelegenheiten sucht, um an einen Extrabetrag heranzu­kommen.

Sein bester Mann war Ezio Rizzato. Ezio war italienischer Herkunft und traf weniger als eine Stunde nach dem gemeinsamen Telefonat ein. Bekleidung und Auftreten fielen mangels guten Geschmacks meistens zu seinem Nachteil aus.

Während der Leichenbeschauer und einige Beamten sich um die sterblichen Reste Verlons kümmerten, hörte man, wie Ezio an Hölzer klopfte und aufgeregt einige Anwesenden begrüßte.

Ezio zeigte sich beunruhigt über den Tod des alten Mannes, aber der Blick auf die Hinterlassenschaften brachte ihn schnell dazu, diese Unannehmlichkeit zu vergessen und sich eiliger, als der Schrecken des Todes in ihn gefahren war, um das Geschäftliche zu kümmern.

Seine Finger wählten auf seinem bereits sechs Jahre alten Handy flink die Nummer seines besten Geschäftspartners.

Die meisten seiner Kollegen waren mit dem Veräußern von altem Plunder bestens vertraut. Ezio dankte dem Beamten mit fast zu unterwürfigen Verbeugungen und wusste, dass in den nächsten Tagen eine kleine Zuwendung an ihn nicht unangebracht wäre.

Jeder erfüllte seine Aufgabe, wie es amtlich geplant und vorgeschrieben war, und nach nur einem Tag war es nur ein Haus, welches bald wieder leer sein würde. Tot und vergessen waren die Möbel und die Geschichte, hinter der sich ein Herr Verlon mit unbekanntem Nachnamen verbarg, genauso bedeutend wie ein Staubkorn in der Wüste.

Tage vergingen und ein weißes Blatt mit einem Standard­bericht gab bekannt, dass Herr Verlon Begowic, wie man aus seinen Papieren entnommen hatte, in Folge seiner Alters­schwäche gestorben und kein Erbschaftsverwalter eingetra­gen oder angemeldet war.

Kein Begräbnis und keine weinenden Nachkommen oder Verwandten, nur eine graue Pappschachtel, in der seine Knochen zu Staub verarbeitet worden waren, und ein mit dem Computer erstellter Aufkleber beendeten diese einsa­me Lebenslinie.

Plunder und Räuber

Nach zwei Monaten ergebnisloser Versuche, einen Erben oder Verantwortlichen für den Nachlass zu finden, war Ezio Rizzato mit dem Katalogisieren und Einpacken des Krempels beschäftigt, der sich ihm dort anbot. Nach seiner Einschät­zung war davon nicht viel zu gebrauchen oder gar interes­sant, außer vielleicht den Möbeln.

Das Bett und die Sessel würden sofort unter der Hand veräu­ßert werden können und die Bilder an der Wand waren schon für den Transport an den entsprechenden Abnehmer vorberei­tet.

An jenem Tag im Winter wollte er die Katalogisierung beenden und möglichst seinen Aufenthalt in diesem Haus beenden. Er fühlte sich in dem Haus unwohl und hatte das Gefühl, dass dort alles schimmeln und ihn mit allen mögli­chen Krankheiten anstecken würde.

Als er sich dem Haus näherte, sah er eine Dame in Dunkelblau an der Tür stehen, die ihm einem Zirkus ent­sprun­gen zu sein schien. Er erinnerte sich, eine solche Gestalt vor Jahren in einem Varietétheater auf dem Oktoberfest gesehen zu haben, und er musste fast einen Lacher unterdrücken.

„Sie wünschen?“, fragte Ezio unentschlossen. Der Januar war ein trauriger Monat und die Farben der Natur waren längst verblasst, aber diese Frau hätte sogar die Farben des Sommers grau erscheinen lassen. Nichts an ihr war gewöhn­lich oder gar passend. Sie war eine Mischung aus Groteske und Kitsch. Diese Art von Menschen gaben nur vor, etwas zu besitzen, denn sie waren meistens arm und nur neugierig und außer, dass sie seine Zeit beanspruchten, wäre kein Geschäft mit ihnen zu machen.

Nicht selten wollten solche Personen nur ausspähen, was es im Haus zu plündern gab, um später die Räuber aus ihrer Bande zu schicken.

„Ich hörte, dass es hier einiges zu verkaufen gibt. Ich wäre eventuell interessiert.“ Ihr etwas kitschiger Akzent war schlecht geübt und ihr Auftritt litt an einem Hauch von schlechter Dramaturgie. Die Tür des Hauses öffnete sich selbständig vom Wind und durch den Schwung klopfte die Hand des Imps an die metallene Trommel der Tür.

Es folgten vonseiten Ezios unendliche der Phantasie entsprungene Erzählungen über einen edlen Herrn, der ohne einen Erben verstorben war, mit Betonung auf „unter mysteriösen Umständen“, was Anlass zu weiteren Vermutungen geben sollte.

Ezio hatte zwar keine Ahnung, womit er dort handelte, aber ihm war eines klar: Wenn er Geld daraus machen wollte, musste alles besonders interessant klingen, sogar wenn die Einnahme in diesem Fall nicht sehr vielversprechend zu sein schien.

Er hätte gerne diese bronzene Figur eines Imps aus der Tür entfernt, jedoch jedes Mal hatte er vergessen, es zu tun. Bereits vier Schraubenzieher waren auf dem Tisch an der Tür gestapelt, aber nie hatte er diese Aufgabe zu Ende gebracht.

Er hofierte die Unbekannte und machte die Türen auf und zeigte besonders die kleinen Figuren aus Porzellan, welche zum geschätzten Budget der Dame passen könnten. Vorsichtshalber zählte er die Figuren beim Zeigen und noch einmal beim Verlassen des Raumes.

Alles schien die Dame nicht zu interessieren, nichts schien sie zu beeindrucken, bis sie das obere Geschoss erreichten. Ezio befürchtete bereits, hier erneut einen ergebnislosen Ver­such zu starten, machte dann aber er den zweiten Raum auf.

Er gefiel ihm nicht besonders und noch schlimmer war der süße Duft der Rosen, der aus dem Raum nicht weg­zubekommen war. Diesmal bemerkte er, wie der Raum etwas heller als sonst glänzte, und freute sich, dass die Augen der Dame ein besonderes Interesse für das zeigten, was sie dort erblickte.

Lange Verhandlungen waren nicht notwendig und fast im Nu waren sie sich einig. In einem Schrank waren eine Kiste mit eingravierten Blumen und Schriften verborgen. Er wollte zwar nur den Schrank verkaufen, aber es war eine gute Gelegenheit, weiteren Plunder loszuwerden. Er dachte erst, dies sei eine Schmuckschatulle, und es war ihm unklar, wie er sie bei der Hausinspektion hatte übersehen können.

Er suchte das Schloss und konnte keines finden. Er drehte die Schatulle und die Dame wurde auf ihrer Shoppingtour durch den Lärm, den der Inhalt bei den Drehungen und Wendun­gen in Rizzatos Händen machte, aufmerksam.

„Darf ich die Schatulle sehen?“ Sie vergaß jeglichen Akzent und jegliche Inszenierung. Sie war nur sie selbst, die die Hände wie nach etwas Wiedererkanntem streckte.

Ihre krakeligen Finger folgten den eingravierten Rosenstilen um die Schatulle herum und endeten an einem Geheim­knopf, der mit einem leichten Klick nachgab. Der Deckel sprang auf und gab einen noch heftigeren Geruch von altem, billigem Parfüm frei. Ezio bekam fast eine Vision von Bordellen und verruchten Bars, wo Freud und Leid Hand in Hand gehen.

Sie bewunderte einen kleinen Kessel und sonstige Utensilien in der Schachtel und stellte sich vor, wie gut sich das alles in ihr Vorhaben einfügen würde.

„Ich nehme die anderen Sachen doch nicht.“ Ezio Rizzato war in diesem Moment wütend und wollte seine italienische Herkunft in einem Wutausbruch voll zur Blüte bringen, als sie seinen möglichen Protest mit einem Satz stoppte:

„Ich gebe Ihnen dasselbe Geld nur für diese Kiste hier.“ Er dachte, nachdem darin keine Juwelen von dem alten Herrn gewesen waren, sei es besser, diese Kiste vielleicht für ihr Nähzeug zu verkaufen, als gar kein Geschäft zu machen.

Sie händigte ihm das Geld aus und schien wie weggetreten. Er verstand das nicht, aber das Geld war ihm sehr willkom­men und warum sollte er noch Fragen stellen? Sie schien mehr vom Geschäft zu verstehen als er selbst.

Er zählte das Geld und ohne auf ihn zu achten, drehte sich die Dame um und bewegte sich zur Treppe. Er wollte sie noch aufhalten und ihr noch etwas mehr aufschwatzen und vor allem wollte er sicher sein, dass sie ihm das Geld richtig gegeben hatte. Aber da vergaß er, wie weit er schon gezählt hatte, und musste wieder von vorne anfangen.

Er hörte, wie sich ihre langsamen Schritten nach und nach die Treppe hinunter bewegten und er war sich sicher, dass eine solch gebrechliche Frau nie imstande wäre, bis zur Tür zu kommen, bevor er das Geld gezählt hatte. So fing er wieder von vorne damit an. Er überlegte auch, wie viel Geld die Dame wohl in ihrer Tasche haben musste.

Er war sehr froh, sie wieder los zu sein, aber andererseits wollte er sie doch aufhalten, weil er ein größeres Geschäft witterte. Mit der Schachtel schien auch der Geruch, der vorher im Raum gelegen hatte, weg zu sein. Er schnupperte in den Raum und überlegte, ob er das Fenster öffnen solle, aber es war draußen sehr kalt. Er verlor sich in seinen Gedanken und wollte überlegen, was er gerade tat.

Er hörte jetzt, wie die Füße der Dame über den Flurboden schlurften, und er dachte, wie lange er doch dieses Geld bereits gezählt hatte, und sein Interesse an der Dame schien langsam zu verblassen. Er wusste seine Aufgabe für heute erfüllt zu haben und es war Zeit, an etwas anderes zu denken oder etwas anderes zu tun. Plötzlich fühlte er sich in eigen­artiger Weise an diesen Raum gefesselt. Er dachte nicht mehr an die Dame und fing wieder von vorne an, das Geld zu zählen.

Später, er wusste nicht mehr genau wann, war er wieder an der Tür des Hauses und blickte wieder auf den hässlichen Dämon aus Eisen und Bronze, der noch nicht von der Tür abgeschraubt worden war. An die Frau konnte er sich nicht mehr erinnern und ihr Besuch kam ihm wie im Traum erlebt vor. Nur eines wusste er: Mit dem ganzen Hausrat wollte er nichts mehr zu tun haben. Es war nur Plunder und sollte ausgeräumt werden.

Edles Blut

Marijke kam zu Hause an und ärgerte sich wieder einmal, diese Schatulle aus dem Nachlass für teures Geld gekauft zu haben. Mag sein, dass sie alt und besonders gut für ihr Geschäft war, aber diese Kiste stank. Wie hatte dieser miese Schlawiner es geschafft, sie zu überlisten und ihr solch einen Mist anzudrehen? Dieser Gedanke verfolgte sie und plagte sie nun jeden Tag, wenn sie nach Hause kam. Sie meinte, ihn anrufen zu müssen, aber sie kannte seine Telefonnummer nicht. Er kannte sie auch nicht, da war sie sich sicher, aber in dieser Sozialgruppe kennen sich irgendwie alle unter­einan­der.

Sie hatte keine Möglichkeit, das Geld wiederzubekommen. Sie hatte es schwarz gekauft, ohne Quittung, ohne jeglichen Nachweis. Was konnte sie noch tun?

An jenem Tag nahm sie die Schatulle und setzte sich auf einen etwas bequemeren Stuhl in ihrem Wohnzimmer. Sie über­legte, wie sie sie aufgemacht hatte.

Sie erinnerte sich nicht mehr genau, aber irgendwo war ein verborgener Knopf gewesen. Sie trug wieder keine Brille, weil das ihr Stolz verbot.

Sie bemühte sich, die passende Entfernung zur Front der Box herauszufinden, in der sie den Knopf finden könnte, aber versehentlich drückte sie dabei auf eine andere Stelle.

Der Deckel sprang auf und gab den Blick auf einen alten, kleinen Kessel frei, eine kristallene Kugel, etwa wie eine Sanduhr, jedoch mit einer roten Flüssigkeit darin, anstatt des gewöhnlichen Sandes, und ein Athame, ein zeremonielles Messer, das heidnische Priester meistens um den Gürtel trugen, jedoch ohne Schneide.

„Plunder!“, fluchte sie und hätte am liebsten alles über den Fenstersims hinausgeworfen. Aber sie wollte trotzdem einen Nutzen daraus ziehen. Es gab immer einen Dummen, der für solche Sachen etwas zahlte.

Der Deckel der Box quietschte beim Schließen ein wenig und sie tapste mit ihren krakeligen Fingern darauf herum. Plötz­lich öffnete sich ein Geheim­deckel und ein Manuskript kam zum Vorschein.

Sie versuchte es zu lesen, jedoch die Handschrift war sehr ornamentreich und erschwerte es, sie zu entziffern. Sie nahm ein Vergrö­ßerungsglas aus dem Obstkorb und folgte den Linien.

Sie las die ersten Zeilen, fand aber keinen Sinn darin. Es war offensichtlich eine Fremdsprache, und zwar eine, die sie nicht kannte. Die meisten östlichen Sprachen kannte sie bestens und auch etwas Spanisch, aber diese hier war anders. Viele r und viele w ‒ es musste etwas Griechisches sein, vermutete sie, eine Sprache, von der sie keine Ahnung hatte.

Sie war sehr konzentriert beim Lesen und doch merkte sie, wie es im Raum immer dunkler wurde. Es war ihr im Leben nichts mehr unheimlich oder konnte sie gar erschrecken.

Sie hatte das Alter erreicht, in dem die meisten Männer, die sie mal gekannt hatte, tot waren, und die meisten Frauen, die sie auch mal gekannt hatte, an Demenz litten, daher rechnete sie bald mit dem Tag der Abrechnung. Das Dunkle, das sie spürte, könnte ja auch von niedrigem Blutdruck herrühren, beruhigte sie sich.

Sie spürte, dass es draußen kälter wurde und sie sich bald nicht mehr würde bewegen können, da ihre Beine schon etwas schmerzten. So entschloss sie sich dazu, das Fenster zu schließen. Mit schweren Schritten und einem Stechen in der linken Hüfte erhob sie sich vom Sessel und hinkte bis zum Fenster. Sie schloss es und prüfte den Riegel nach. Es war ihr doch etwas mulmig und so ging sie ungeachtet der Schmerzen durch die Wohnung und schaute nach, ob alles in Ordnung war. Früher hatte sie zumindest ihren Basso, einen Mischling aus Dalmatiner und etwas anderem, dennoch treu und stark. Jedoch war der bereits drei Jahre zuvor gestorben und seither wollte sie keinen Ersatz mehr haben, weil sie befürchtete, einen neuen Hund nicht mehr überleben zu können.

Während sie sich in der Wohnung umschaute, merkte sie nicht, wie sich ein dunkler Staub oder Rauch um die Box im Wohnzimmer bildete. Mit ihren schlechten Augen hätten sogar tanzende Krabben aus der Box springen und den Cancan vorführen können und sie hätte es nicht bemerkt. Bei derart alten Gegenständen fiel auch die Menge an Staub nicht besonders auf. Anschließend ging sie schnell wieder zum Sessel und genoss die Ruhepause für ihre Hüfte.

Ihr ging durch den Kopf, dass ihre Familie alles im Krieg verloren hatte und sie nie einen Beruf erlernen oder gar irgendetwas Richtigem nachgehen hatte können, und jetzt stand sie hier in einer kalten vorübergehenden Wohnung und einer Box voller Plunder mit Nuss- und Rosen­geruch. Vorübergehend deshalb, weil sie ständig den Wohnsitz wechselte.

Sie wusste, dass die Schachtel nicht gewaschen werden konnte, und ließ sie daher nur auslüften, aber ob sie es noch erleben würde, dass diese Box nicht mehr so roch, dessen war sie sich nicht sicher.

Sie nahm wieder Platz und ging das Manuskript durch. Es war darin nichts Brauchbares zu lesen. Sie verstand kaum die Zahlen der Seiten, daher schloss sie wieder enttäuscht die Box und verteilte die daraus entnommenen Utensilien auf ihrem Tisch.

Sie musste nur auf den erstbesten Deppen warten und einfach eine Show abziehen. Sie war eine gute Mentalistin oder Mesmeristin, wie sie sich selbst bei Bekannten betitelte. Gräfin Marijke Solenya war mehr als ein selbsterfundener Titel, es war auch eine erfundene Tradition. Wann dieser betuchte Kunde kommen würde, das musste sie einfach abwarten. Jedoch schien er nicht lang auf sich warten zu lassen, weil in diesem Moment das Telefon klingelte. Eine Frauenstimme auf der anderen Seite gab zu verstehen, dass sie einen Termin für eine wichtige Angelegenheit benötigte.

„Ich schaue in meinen Terminkalender, wann ich Sie empfangen kann“, log sie in falschem Dialekt und blickte im Kalender vor sich auf den leeren Monat Februar.

Ojos de culebra

Das Leben kann schön sein, vor allem, wenn alles gelingt, was man tut. Mit diesem Gedanken wachte Hector, ein halber Zigeuner und ein halber Spanier, an diesem sonnigen Tag auf. Seine Genitalien schmerzten von der Über­beanspru­chung der letzten Nacht.

Er rollte aus dem Bett und beim Aufstehen betrachtete er seinen Körper im Spiegel.

Ja, sein Körper ist sehr schön!, dachte er ohne falsche Bescheidenheit. In den Swinger Clubs, die er über das Internet kennen gelernt hatte, war einiges rauszuholen. Die Männer waren meistens etwas bisexuell veranlagt und ihre Frauen wollten einen richtigen Mann für das Vergnügen. Er konnte Paaren das bieten, was sie sich voneinander immer gewünscht hatten.

In den letzten drei Jahren hatte er die deutsche Sprache gelernt und obwohl er sie besser sprechen konnte als viele andere Spanier, die in Deutschland zur Welt gekommen sind, pflegte er seinen kräftigen Akzent. Dies gefiel vor allem den Frauen und ließ sie noch großzügiger mit ihrer Zahlung werden. Sie alle schmolzen dahin, wenn er das Wort „Cojones“ aussprach und ihre Hände in seinen Schoß zwang.

Geld allein, das wusste er, war nicht alles, da er bereits über dreißig war und andere Jüngere ihm bereits das Publikum streitig machten.

Der Markt in dieser Branche war sehr kurzlebig und nicht jedes Paar oder jede Frau bezahlte für sein Schweigen frei­willig und ohne Widerstand.

Er kam meistens als Gast und verschaffte allen, Frauen und Männern, vermeintlich kostenloses Vergnügen, verlangte aber hinterher für seine Diskretion einen dezenten Obolus. Falls da das Wort Erpressung in einem Gespräch fiel, wusste er sich unglaublich schockiert zu geben.

Er schaltete die kleine Tischlampe neben dem Bett an und sah vergnügt zu, wie das Licht die kräftigen Konturen seines Körpers streichelte.

Er wanderte nackt wie er war durch die Wohnung und nachdem er sich lautstark auf der Toilette erleichtert hatte, schaute er seinen Kalender durch. Er stellte fest, dass er an diesem Tag einiges zu tun hatte. Unter anderem verdiente er sein Geld mit der Vermittlung seiner Mutter, die sich hin und wieder als Zigeunerin, Wahrsagerin, Hexe oder irgendetwas Esoterisches ausgab.

Er war in Südspanien ohne Vater bei der Mutter aufge­wachsen, einer in Polen geborenen Frau unbestimmter Herkunft. Sie war zu unattraktiv, um einem anderen Gewer­be nachzugehen, und daher kam sie auf die Idee, diese dramaturgische Show aufzubauen. Sie las den Personen die Zukunft, die sich eine wünschten, sie machte Be­schwörun­gen oder Liebestränke, die genauso wirkungsvoll waren wie All-you-can-eat-Diätpläne. Wichtig war die Zah­lung im Voraus.

Die Tatsache, dass sie keine Vorstellung von den Bräuchen der Zigeuner und erst recht keine Ahnung von Magie hatte, war ihr egal.

Hector und seine Mutter waren perfekt in dem, was sie machten, und lebten auch sehr gut davon. Das Gesetz stand meistens auf ihrer Seite und sie wussten alles perfekt zu planen. „Verliebte Frauen sind dumm“, sagte seine Mutter immer wieder und gerade solche brachte Hector gern um ihr Geld.

Sie würden nie erwischt werden, da kaum einer der Geprellten überhaupt auf den Gedanken kam, über den Tisch gezogen worden zu sein. Ein Volk ohne Glauben glaubt an alles, was man ihm auf­tischt.

Hector erzählte seiner Mutter keine Details, warum auch manche Männer ihm so hörig waren. Er sagte immer: „Es sind Freunde.“

In seinem Bekanntenkreis war zwar bekannt, dass manche Männer mehr als Freundschaft verband, jedoch sprach keiner darüber. Es war ein allgemeines, unausgesprochenes Geheimnis. Hector schämte sich und würde trotz aller Verdorbenheit das Thema niemals im Beisein seiner Mutter ansprechen.

Marijke hieß seine Mutter, aber in den verschiedenen Städten, wo sie bereits gewohnt hatten, war sie als Madame Zolah, Schwester Cylene oder sogar Wodianova, die All­wissende, bekannt. Derzeit machte sie nur wenige Geschäf­te, da ihr Sohn das meiste Geld verdiente und sie sich lang­sam in den Ruhestand begeben wollte.

An diesem Nachmittag sollte er seiner Mutter Geld vom letzten Geschäft überbringen und eine neue Bestellung einer verzweifelten Kundin aufgeben.

Der teuerste Zauber, den seine Mutter verkaufte, war der Geldzauber. Durch die ökonomische Krise am Anfang des Jahrhunderts ließ sich alles immer gut kombinieren: Geldnot und Verzweiflung. Er kam per Zufall auf die passende Klien­tin. Sie suchte nicht nach etwas Entspannung, aber nach bestimmte Leistungen, die er nur zusammen mit seiner Mutter erbringen konnte. Er war sehr glücklich über diesen Zufall.

Frauen oder Männer waren Hector verfallen und wurden ausgenommen, bis kein Geld mehr da war. In Geldnöten fragten sie Hector, was sie noch für ihn tun sollten, und da kam jedes Mal seine Empfehlung, sich bei seiner Mutter einen letzten Zauber zu bestellen.

Es würde Hector nicht im Traum einfallen, seine Mutter in diesen Fällen seine Mutter zu nennen. Sie war dann Gräfin Marijke Solenya oder sonst eine erfundene Person, die sie sich ausdachte. Nach der Abwicklung solcher wirkungslosen Maßnahmen wurden diese Personen mit einer traurigen Nachricht verabschiedet, indem Hector Frauen beichtete, eigentlich schwul zu sein, oder Männern das Gegenteil gestand, nun die Frau seines Lebens gefunden zu haben.

Ein solcher Prozess dauerte maximal sechs Monate ‒ dann machte er sich an das nächste Opfer heran. Egal wie, die Betrogenen waren um Geld und Herz gebracht und er machte sich vergnügt davon.

Seine Mutter war immer erfreut zu sehen, dass sie gute Kunden hatte und diese ihr keinen Ärger machten. Hector würde noch einen Kaffee aufsetzen und dann einige Einkäufe im Internet machen. Er bestellte gern und war bei den meisten Herrenausstattern der Stadt ein willkommener Gast.

Er drückte den Knopf des Kaffeeautomaten und mit lautem Knattern spritzte die duftende Brühe aus der Maschine direkt in die Klimt-Porzellantasse.

Er hatte zwar keine große Bildung genossen, aber nach und nach durch die verschiedenen Beziehungen eine breite Kunstkenntnis und einen auserlesenen Geschmack ausgebil­det.

Mit der Tasse in der einen und dem Kalender in der anderen Hand bewegte er sich zur Sonnenbank, die in einem der vormals als Gästezimmer dienenden Räume seiner Woh­nung stand.

Er war mit sich zufrieden und die dumme Frau, wie er sie beurteilte, hatte ihm sogar viel mehr Geld angeboten, als er wollte, verbunden mit der Bedingung, dass alles klappte, wie er ihr versprochen hatte. Dennoch fühlte er so etwas wie Angst, da diesmal sehr viel Geld im Spiel war. Aber wie könnte sie ihn bei der Polizei anschwärzen wollen, bei allem, was er über sie wusste? Er war ein Fuchs, er war schlau, er gewann immer. Seine egozentrischen Gedanken regten ihn so an, dass er dabei fast eine Erektion bekam.

Den Duft von Rosen mochte er überhaupt nicht, denn davon hatte er in den letzten Tagen zu viel gehabt. Dieser Duft erfüllte sein Gästezimmer und er machte schnell das Fenster auf. Er würde mit seiner Mutter wegen dieser Unachtsamkeit schimpfen. Er hatte sie mehrfach davor gewarnt, solchen Raumduft zu benutzen. Er war der Ansicht, dass nur billige Absteigen nach Rosen rochen. Er öffnete das Fenster und die Sonne kam ihm entgegen. Er spürte ihr Licht und ihre Wärme, die durch seine wolligen Brusthaare hindurch seine Haut streichelte.

Er setzte die Tasse achtlos auf den teuren Designertisch neben der Sonnenbank und schaltete das Radio an, stellte die Zeituhr der Sonnenbank auf zwölf Minuten ein und rieb sei­nen Körper mit einer Avocado-Bräunungslotion ein.

Er legte sich auf die Sonnenbank und zog die Klappe herunter. Das Radio gab einen fröhlichen Oldie mit karibi­schem Hintergrund von sich.

Er genoss die Musik, bis auf einmal Stille eintrat. Das Radio verstummte und gerade wollte er fluchen, als langsam ein Rauschen aufkam. Er fühlte, dass der Raum um ihn herum enger wurde und der Duft der Rosen ihn fast erstickte. Panik ergriff ihn und aus dem Radio sprach eine blecherne Stimme:

„Verdorre.“

Mama

Marijke wartete bereits seit zwei Stunden auf ihren Sohn. Wo trieb er sich herum? Sie fühlte sich seit dem vergangenen Mittwoch unwohl. Sie putzte seine Wohnung, obwohl er immer wieder etwas daran auszusetzen hatte, aber er bezahlte sie auch dafür.

Fünf Tage waren bereits vergangen, seit diese gesundheit­lichen Beschwerden angefangen hatten und sie ständig die Toilette aufsuchen musste.

Irgendetwas, was sie gegessen hatte, war nicht in Ordnung gewesen, aber sie war auch alt genug, um zu wissen, dass dies bei einer alternden Dame an der Tagesordnung war, wenn sie auch wusste, dass sie nicht eine normale, alte Dame war.

Die Schatulle aus Holz, die sie kürzlich erworben hat, brachte ihr Glück; denn seitdem hatte sie einiges verdient. Es schien, als würde es naive Menschen regnen, und sie kassierte erfolgreich für ihre Auftritte. Sie hatte bereits Geld auf die hohe Kante gelegt und seit einigen Monaten hatte sie durch einige Extraarbeiten sogar mehr als das gespart, was sie, bis sie das Zeitliche segnen würde, ausgeben konnte. Daher hatte sie dem Auktionator auch die teure, alte Apparatur abgekauft, allerdings schwarz.

Der ganze alte Kram passte ganz gut zu ihrer Vorstellung. Bisher hatte sie nur eine mit Wasser gefüllte Glaskugel benutzen müssen, anstelle einer echten Kristallkugel, passend dazu bekam sie sogar alte Anleitungen in altem Deutsch, die ihre Vorstellung noch glaubwürdiger gestalte­ten.

Sie wusste zwar nicht alles richtig zu lesen, aber ihr Akzent beim Vorlesen dieser Wörter versetzte leichtgläubige Kun­den in einen absoluten Rausch. Kunden ließen sich zu Zeiten des ökonomischen Umschwungs von ihrer Show gerne blen­den und ihre Vorführung war im Laufe der Jahre beinahe perfekt gewor­den. Wenn sie ein altes Buch aufschlug, mach­ten alle Kunden große Augen und wenn sie eine Trance vortäuschte, sie brauchte nur schwerer zu keuchen, zahlten sie ihr noch mehr.

Ihre Vorgänger in dieser Wohnung hatten eine perfekt abge­stimmte Kombination von Möbeln und Accessoires hinter­lassen. Offen­sichtlich waren beide in derselben Branche gewesen. Er besaß Pendel, Kristallkugel, Tarot-Karten und sogar wunderbare Runen. So etwas Exquisites!

Seit sie dies alles gekauft hatte, konnte sie sogar mehr für ihre Sessions verlangen. Jetzt fühlte sie sich wirklich erfolgreich.

Die vergangene Woche war für sie eine erfolgreiche Woche gewesen und sie fühlte, wenn alles nach ihrer Vorstellung verlaufen würde, wären sie und ihr Sohn bald reich, und zwar sehr reich. Ihre neue Sponsorin war gefährlich und gierig, eine gute Kombination für eine Närrin. Eine kleine Nutte war diese Frau, sie verkaufte ihren Körper und ihre Seele für das Vergnügen, an die Macht zu gelangen. Sie war rücksichtslos und sie hatte genauso wenig Gewissen wie sie selbst.

Eigentlich hätte sie dieses Mädchen sogar gerne zur Schwie­gertochter gehabt, sie wäre der passende Ersatz für sie in ihrem Familienunternehmen. Sie war vor vielen Jahren auch mal so gewesen, nur etwas weniger attraktiv, dies war ihr bewusst. Sie beneidete solche Frauen und konnte einen gewissen Hass nicht ganz verbergen. Wenn sie als junges Mädchen so viel Geld gehabt hätte, wäre sie auch schön gewesen, dachte sie bei sich.

Seit drei Monaten hatte sie mit ihrem Sohn diesen Auftrag geplant und genau zum abgesprochenen Tag war es geschehen. Sie glaubte nicht unbedingt an das Okkulte. Alles was die Esoterik bot, war ihrer Erfahrung nach absoluter Humbug, damit sie leichtgläubigen Menschen das Geld aus der Tasche ziehen konnte, und es war ein ertragreiches Geschäft.

Zufall war ein Faktor, der ihr diesmal sehr geholfen hatte. Zwar kam es so, wie es in der Séance versprochen worden war, aber das hatte sie wirklich nicht erwartet.

Es war Dienstagabend, als Hector mit einer neuen Flamme in ihr Haus gekommen war. Da diese Kundin sich die Allüren von Hector nicht mehr leisten konnte, war sie in die Not geraten, mehr Geld zu verdienen, aber sie wusste, wie sie viel Geld verdienen könnte, und wenn die Versprechungen von Hector etwas Wahres in sich bargen, wäre dies das perfekte Verbrechen.

„Gräfin Solenya“, so stellte sie sich damals vor, denn das war ihr aktueller Name.

- Ende der Buchvorschau -

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