Das Geheimnis der Winterschläfer - Lisa Warnecke - E-Book

Das Geheimnis der Winterschläfer E-Book

Lisa Warnecke

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Beschreibung

Der Winterschlaf ist eines der größten Rätsel der Natur. Wie schaffen die Tiere das bloß? Die Hälfte des Jahres, ja die Hälfte ihres Lebens liegen sie kalt und leblos in einem Erdloch, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen. Wenn wir Menschen nur drei Wochen mit einem Gipsverband flachliegen, wird unsere Beinmuskulatur darunter mager und schwach.
Auf ihrer Reise in die verborgene Welt der Winterschläfer erzählt die Biologin und Forscherin Lisa Warnecke die Geschichte von vier Tieren, die sie auf vier verschiedenen Kontinenten unter oft abenteuerlichen Bedingungen durch den „Winterschlaf“ begleitet hat: ein Igel inmitten einer deutschen Großstadt, ein Lemur im tropischen Madagaskar, eine Fledermaus in der Eiswüste der kanadischen Prärie und ein kleines Beuteltier im sonnigen Australien. Ihr Buch räumt mit weit verbreiteten Irrtümern auf: Etwa dem, dass die Tiere in dieser Zeit überhaupt schlafen, dass sie die ganze Zeit regungslos daliegen oder dass Winterschläfer nur in kalten Gebieten vorkommen. Es gibt Tiere, die selbst bei lauschigen 30°C in den "Winterschlaf" fallen. Sie sparen dabei unglaubliche 99 Prozent ihrer Energie ein. Der Winterschlaf ist ein Erfolgsrezept für die Arterhaltung.

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Lisa Warnecke

DAS GEHEIMNIS DER WINTERSCHLÄFER

Reisen in eine verborgene Welt

C.H.Beck

Zum Buch

Der Winterschlaf ist eines der größten Rätsel der Natur. Wie schaffen die Tiere das bloß? Die Hälfte des Jahres, ja die Hälfte ihres Lebens, liegen sie kalt und leblos in einem Erdloch, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen. Wenn wir Menschen nur drei Wochen mit einem Gipsverband flachliegen, wird unsere Beinmuskulatur darunter mager und schwach.

Auf ihrer Reise in die verborgene Welt der Winterschläfer erzählt die Biologin und Forscherin Lisa Warnecke die Geschichte von vier Tieren, die sie auf vier verschiedenen Kontinenten unter oft abenteuerlichen Bedingungen durch den «Winterschlaf» begleitet hat: einen Igel inmitten einer deutschen Großstadt, einen Lemur im tropischen Madagaskar, eine Fledermaus in der Eiswüste der kanadischen Prärie und ein kleines Beuteltier im sonnigen Australien. Ihr Buch räumt mit weit verbreiteten Irrtümern auf: Etwa dem, dass Winterschläfer die ganze Zeit regungslos daliegen oder dass sie nur in kalten Gebieten vorkommen. Es gibt Tiere, die selbst bei lauschigen 30 °C in den «Winterschlaf» fallen. Sie sparen dabei unglaubliche 99 Prozent ihrer Energie ein. Der Winterschlaf, so ihr Ergebnis, ist ein Erfolgsrezept für die Arterhaltung. Zugleich machen ihre eindringlichen Schilderungen der Tierwelt klar, wie rasant sich die Lebensräume vieler Tiere durch das menschliche Handeln derzeit verändern und manchmal auch ganz zu verschwinden drohen.

Über die Autorin

Lisa Warnecke, geb. 1978 in Frankfurt am Main, ist promovierte Biologin. Sie hat viele Jahre in Australien die Überlebensstrategien kleiner Beuteltiere untersucht und im kanadischen Winnipeg die Winterschlafmuster erkrankter Fledermäuse analysiert. Als Trägerin des Forschungspreises der Deutschen Wildtier Stiftung hat sie in den vergangenen Jahren in Hamburg die Ökophysiologie des Igels im urbanen Lebensraum erforscht und ist nun mit ihrer Familie wieder auf dem Sprung nach Australien.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort —

TEIL I —: EINSCHLUMMERN

Kapitel 1 —:Jenseits der Reeperbahn

Großstadtdschungel bei Nacht

Energiesparmodus angeschaltet

Stachelige Angelegenheiten

Verpeilte Sender

Angelockt vom Smog

Versteckte Helfer

Torpor and the city

Winterschlaf für einen Tag

Schlummerpausen

Steinalte Igel

Kapitel 2 —:Die Fledertiere der Prärie

Fliegende Säuger

Harfenfallen

Vampire und Bat-Nerds

Eiskalte Spermien

Länger weiß als heiß

Wechselwarme Verwirrungen

Das Leben auf Sparflamme

Uralte und Kitakinder

Verschwenderische Aufwärmphasen

Kapitel 3 —:Wellen, Wein und Possums

Winter im Sommer

Säugende Beutler

Eierlegende Säuger

Grüßende Wale

Löchriger Boden

Fettpolster versus Vorratskammer

Beutler im Tagestorpor

Zitternde Beutler

Gefiederte Gesellen

Shiraz oder Cab-Sav?

Kapitel 4 —:Schlummernde Primaten

Sonnenbad

Primaten untersuchen Primaten

Inselbewohner

Surfende Lemuren

Durstige Landschaft

Torpid zum Mars

Was der Atem verrät

Eiszeitliche Korridore

TEIL II —:AUFWACHEN

Kapitel 5 —:Dornröschen im Stachelkleid

Katerstimmung

Gefährliche Großstadt

Papierkram

Dachse auf Achse

Fette Zeiten

Die Sonne lockt – nicht alle

Ein Leben nach dem Winterschlaf

Kapitel 6 —:Fledermäuse in Bedrängnis

Gefrorene Wimpern

Bärengeschichten

Wässrige Luft

Gemeinsam einheizen

Weiße Nasen

Hörnchen und Viren

Tödlicher Winterschlaf

Teure Fledermäuse

Schuldiger Höhlentourist

Kapitel 7 —:Der Opportunist gewinnt

Torpor bimodal

Igel mit Schnabel

Ein Jahr Winterschlaf

Labor ≠ Freiland

Beutler auf Bergen

Kaltes Herz

Passives Erwärmen

No worries, mate?

Kapitel 8 —:Affen ohne Regeln

Wie man sich bettet

Schlaflos im Winterschlaf

Durch dick und dünn

Eine blutende Insel

Torpide Tiere leben länger

Schnürsenkel im Torpor

Torpid in die Zukunft

Danksagung

Literaturverzeichnis

Hamburg (Kapitel 1 und 5)

Ökologie und Winterschlaf der Igel

Großstadt-Tiere

Tiere unter dem Gefrierpunkt

Hamster, Tenrek und Schnabeligel

Dachs, Stinktier, Waschbär und Nacktmull

Physiologie, Torpor, Fettsäuren und Braunes Fett

Aktionsraum

Andere Aspekte

Kanada (Kapitel 2 und 6)

Die Kleine Braune Fledermaus in Kanada

Fledermausökologie

Torpor und Reproduktion

Persönlichkeit bei Tieren

Hauskatzen und ihre Beute

Wissenschaftsbasierte Schutzstrategien

Raumfahrt und Torpor

Hörnchen

Weißnasen-Syndrom

Der «Wert» von Fledermäusen und Windenergie

Amphibiensterben

Bärengeschichten

Australien (Kapitel 3 und 7)

Opportunistischer Winterschlaf

Beuteltiere und andere Säugetiere

Zugtiere: Torpor und Orientierung

Torpor bei Vögeln

Schlangen

Schnabeligel

Sonnenbaden und passives Aufwärmen

Weltrekorde im Winterschlaf

Freiland versus Labor

Bergbilchbeutler

Kaltes Herz

Backenhörnchen und Ziesel

Australiens Umwelt in Not

IUCN – Weltnaturschutzorganisation

Genozid in Australien

Körpertemperatur beim Menschen

Madagaskar (Kapitel 4 und 8)

Winterschlafende Lemuren

Madagaskar: Tierwelt, Evolution und Artenschutz

Tiere in Trockenheit

Torpor bei hohen Temperaturen

Weitere torpide Primaten

Medizinische Anwendung, Hypothermie

Torpide Astronauten

Todesursachen Bevölkerung Deutschlands

Sonnenbad

Schlaf

Torpor, Altern und Aussterben

Zellen unseres Körpers

Klimawandel

Bildnachweis

Register der genannten Tierarten

Für Matilda und das kleine Wesen in meinem Bauch

Vorwort —

Sich im Herbst gemütlich zusammenrollen und erst mit dem Frühling wieder aufwachen – davon träumen viele von uns, sobald das letzte Laub von den Bäumen gefallen ist. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass Tiere sich für den Winterschlaf in einem kalten Erdloch verkriechen und dort für sechs Monate schlafen. Doch der Begriff «Winterschlaf» ist denkbar irreführend. Denn erstens schlafen Tiere während dieser Zeit gar nicht und zweitens muss sie nicht zwingend im Winter liegen. Tiere können weiterhin auf äußere Impulse reagieren, lediglich etwas verzögert. Auch wird der Winterschlaf alle paar Wochen von Aufwärmphasen unterbrochen.

Wir Biologen nennen den Zustand, den Tiere im Winterschlaf eingehen, Torpor. Ausschließlich Säugetiere und Vögel sind zum Torpor in der Lage und können ihren Energiebedarf auf diese Weise um unglaubliche 99 Prozent reduzieren. Lebenserhaltende Funktionen wie Stoffwechsel, Körpertemperatur und Herzschlag werden stark gedrosselt, die Tiere scheinen leblos; jedoch handelt es sich um einen hochregulierten Zustand, den die Tiere jederzeit aus eigener Kraft wieder verlassen können. Schon lange fasziniert der Winterschlaf die Wissenschaft – doch noch immer geben uns viele Vorgänge Rätsel auf: Wie schaffen Tiere es nur, sechs Monate des Jahres kalt und fast bewegungslos zu verbringen, ohne Schäden davonzutragen? Welche Vorgänge laufen dabei im Körper ab und welche Tiere nutzen weltweit Winterschlaf? Geht es dabei wirklich nur um die Einsparung von Energie?

Mein Buch lädt Sie ein zu einer Forschungsreise auf vier Kontinente, um bekannte und weniger bekannte Winterschläfer unter die Lupe zu nehmen: Igel in Hamburg, Fledermäuse in Kanada, Beuteltiere in Australien und Lemuren in Madagaskar. Für jeden Lebensraum beschreibe ich biologische Freilandarbeit, die zu neuen Erkenntnissen über den Winterschlaf führte. Die Vorgänge im Tier selbst, aber auch die Einflüsse der Umwelt werden dabei beleuchtet. Die Tiere werden durch das große Schlummern begleitet: In Teil I des Buches beschreibe ich die Vorbereitungen zum Winterschlaf und die ersten Winterschlafmonate. Teil II konzentriert sich auf Vorgänge während des «Winters» bis zum Beginn der nächsten Aktivitätsperiode.

Freilandforschung geschieht heutzutage immer im Team. In die von mir erzählten Geschichten aus dem Alltag unserer kurzweiligen Feldarbeit fließen die Ergebnisse von zahlreichen wissenschaftlichen Studien über verschiedene Aspekte des Winterschlafs mit ein. In Hamburg (Kapitel 1 und 5), Kanada (Kapitel 2 und 6) und Australien (Kapitel 3 und 7) war ich selbst vor Ort und habe die beschriebenen Forschungsprojekte gemeinsam mit KollegInnen durchgeführt. In Madagaskar (Kapitel 4 und 8) dagegen war ich nicht persönlich; doch die Lemuren hüten solch spannende Geheimnisse des Winterschlafs, dass ein Abstecher in ihre Welt in diesem Buch nicht fehlen soll, und ich beschreibe dafür die Feldarbeit einer Kollegin.

Mein Interesse liegt beim Winterschlaf als Überlebensstrategie in extremen Lebensräumen: Welche Rolle spielt er für das Überdauern stressiger Zeiten inmitten einer deutschen Millionenstadt, in der Eiswüste der kanadischen Prärie, an den Küsten Australiens oder im tropischen Madagaskar? Zusätzlich beleuchte ich verschiedene Fragestellungen wie beispielsweise: Warum können Tiere im Winterschlaf nicht schlafen? Wie geht es Wildtieren in der Großstadt? Welche Bedeutung hat der Winterschlaf für das schlimmste bisher dokumentierte Säugetiersterben? Warum müssen sich Winterschläfer alle paar Wochen erwärmen? Warum leben winterschlafende Tiere länger als solche, die das nicht können? Welche Rolle spielt Torpor in der Evolution und im Zuge des Klimawandels? Wie können Tiere bei behaglichen 30°C überhaupt winterschlafen und – wenn andere Primaten das können, was ist dann mit uns Menschen? Wie nah sind wir dem Traum wirklich, den Winter zu verschlafen?

TEIL I —

EINSCHLUMMERN

Kapitel 1 —

Jenseits der Reeperbahn

Großstadtdschungel bei Nacht

«Was suchen Sie denn?» – Es ist kurz nach Mitternacht im Großstadtdschungel Hamburg. Mit heller Halogentaschenlampe schlage ich mich durch das Gebüsch eines Parks im dichtbewohnten Stadtteil Altona, als mir ein älteres Ehepaar diese häufig wiederkehrende Frage stellt. «Ich bin Wildtierbiologin und erforsche die Anpassungen von Kleinsäugern an den städtischen Lebensraum. Gemeinsam mit meinen Studentinnen suche ich hier nach Igeln, die wir dann mithilfe von kleinen Peilsendern verfolgen.» Die Standardreaktion darauf lautet: «Igel? Hier? Da können Sie lange suchen. Seit zehn Jahren gehen wir hier jede Nacht spazieren, aber einen Igel haben wir noch nie gesehen.» Erstaunlicherweise nehmen die meisten Städter die um sie herum lebenden Wildtiere kaum wahr. Im und um diesen kleinen Park von etwa vier Hektar leben mindestens zehn Igel, trotzdem werden sie von den Anwohnern fast nie gesehen. Wir haben schon Igel beobachtet, die hier im Sommer zwischen Scharen von feiernden Jugendlichen umherlaufen und dabei nicht bemerkt werden.

Mir liegt es auf der Zunge zu antworten: «Wir haben in den vergangenen zwei Stunden bereits vier Igel gesehen» – aber stattdessen erkläre ich kurz das Ziel meines Projektes: welche Rolle der Winterschlaf beim Erfolg mancher Wildtierarten in einem solch extremen Lebensraum wie der Großstadt spielt. Denn es ist bisher nicht bekannt, warum manche Tiere in unserer Nachbarschaft so erfolgreich leben, während andere Arten sich hier nicht durchsetzen können. Das Wissen darüber ist aber entscheidend, um angesichts der weltweit zunehmenden Ausweitung der Städte Voraussagen über zukünftige Artenzusammensetzungen treffen zu können. Im Prinzip geht es darum zu verstehen, wie sensibel eine Art gegenüber Umweltveränderungen ist und über welches Potenzial für Anpassungen sie verfügt. Speziell untersuche ich die Ökophysiologie des Igels. An diesem Punkt ist das Interesse der nächtlichen Parkbesucher meist befriedigt, wir wünschen einen schönen Abend und ziehen weiter. Die kleinen Schwätzchen bringen eine willkommene Abwechslung in das stundenlange Suchen, heute jedoch ist es entschieden zu kalt.

Als Arbeitsplatz ist ein Park im Mondschein zwar jedem Büro vorzuziehen, trotzdem war der Tag lang und gegen zwei Uhr früh wäre ich gerne zuhause. Um kurz nach sechs fängt der nächste Tag nämlich schon wieder an, wenn meine kleine Tochter mit ihrem Lieblingsbuch vor dem Bett steht – und wie alle Kleinkinder zeigt sie wenig Verständnis für müde Eltern am Morgen. Wir drehen also weiter unsere Runden, mindestens einen Peilsender wollen wir heute noch befestigen. Langsam läuft uns die Zeit davon, denn es ist bereits Mitte Oktober und das Projekt über den Winterschlaf urbaner Igel muss baldmöglichst beginnen.

Ein echter Großstädter: Wie verläuft der Winterschlaf des Europäischen Igels (Erinaceus europaeus) mitten in Hamburg?

Energiesparmodus angeschaltet

«Weiß man denn nicht schon alles über den Winterschlaf?» Auch diese Frage höre ich häufig. Neu ist die Winterschlafforschung in der Tat nicht. Schon seit über 150 Jahren fasziniert der Winterschlaf die Wissenschaft; erste detaillierte Untersuchungen zum Beispiel über das Murmeltier wurden schon im Jahr 1938 publiziert. Doch noch immer fragen wir uns: Wie schaffen die Tiere das bloß? Die Hälfte des Jahres, ja die Hälfte ihres Lebens, liegen sie kalt und leblos in einem Erdloch, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen. Wenn wir Menschen nur drei Wochen mit einem Gipsverband flachliegen, wird unsere Beinmuskulatur darunter mager und schwach. Tiere dagegen können Monate beinahe ohne jede Bewegung verbringen. Danach stehen sie einfach auf und rennen los, als wäre nichts gewesen. Auch leidet ihr Gedächtnis in der Regel nicht unter diesem monatelangen Kühlzustand, wobei es jedoch artspezifische Unterschiede zu geben scheint.

Um es gleich vorwegzunehmen: Der Begriff «Winterschlaf» ist denkbar irreführend. Denn erstens schlafen Tiere während dieser Zeit gar nicht, und zweitens muss sie nicht zwingend im Winter liegen. Biologen nennen den Zustand, den Tiere im Winterschlaf eingehen, Torpor. Torpor ist eine kontrollierte Absenkung von lebenserhaltenden Funktionen wie Stoffwechsel, Körpertemperatur und Herzschlag. Ausschließlich Vögel und Säugetiere können den Torporzustand eingehen. Zur allgemeinen Verwirrung wird zwar auch bei Reptilien, Amphibien oder Insekten oft von «Winterschlaf» gesprochen, physiologisch gesehen handelt es sich aber um etwas völlig anderes. Heterothermie wird die Fähigkeit zum Torpor auch genannt. Vögel und Säugetiere werden aufgeteilt in Arten, die zum Torpor fähig sind ( heterotherm), und solche, die das nicht können ( homeotherm). Ein Tier im Torpor ist torpid, mit gewöhnlicher Körpertemperatur wird es normotherm (oder eutherm) genannt.

Das entscheidende Merkmal von Torpor ist, dass das Tier diesen Zustand selbst kontrolliert. Ein Igel zum Beispiel tritt aus eigener Kraft in den Torporzustand und verlässt ihn auch wieder aus eigener Kraft, unabhängig von der aktuellen Umgebungstemperatur. Diese Möglichkeit hat eine Schlange nicht. Ihr wird es durch eine zu niedrige Umgebungstemperatur schlichtweg unmöglich gemacht, sich zu bewegen. Trotz langer Forschung und großer Faszination über den Winterschlaf weist unser Wissen über diesen Energiesparmodus der Tiere noch immer große Lücken auf. Beispielsweise bei den Fragen, wie genau Tiere diese physiologische Meisterleistung vollbringen, warum manche Arten in Winterschlaf gehen können und andere nicht, welche äußeren Faktoren dabei den Ausschlag geben und welche Vor- und Nachteile dadurch genau entstehen.

Bei den meisten Winterschläfern sind physiologische Daten aus dem Freiland kaum vorhanden. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten rücken Tiere in freier Wildbahn mehr ins Blickfeld, davor beruhte unser Wissen zum Großteil auf Laborstudien. Neue technische Entwicklungen ermöglichen es uns, auch bei freilebenden Tieren physiologische Aspekte wie Körpertemperatur, Energiestoffwechsel, Herzschlag, Hormonspiegel oder Immunabwehr zu untersuchen. Wenn es um das Überleben geht, dann ist eine ausreichende Energiezufuhr entscheidend. Nur derjenige, der genug Futter findet, kann sich fortpflanzen und somit die Weitergabe der eigenen Gene sichern. Oder der, der seinen Energiebedarf so drosseln kann, dass er zeitweise ohne Futter auskommt. Dieser eigentlich trivial klingende Kerngedanke begründet die Bedeutung des Winterschlafs. Tatsächlich spielen die Strategien, die Tiere entwickelt haben, um zeitweise ihren Energiebedarf zu reduzieren, beim Überleben eine ganz zentrale Rolle. Und unter allen Möglichkeiten, über die Säugetiere und Vögel verfügen, um zeitweise mit weniger Futter und Wasser auszukommen, ist Torpor der unangefochtene Sieger. Klar, man könnte im Winter auch einfach weniger herumrennen und dadurch weniger Kalorien verbrennen. Doch die so gewonnenen Einsparungen sind ein Klacks im Vergleich dazu, was Torpor bringt.

Ausschließlich die kontrollierte Absenkung von lebenserhaltenden Funktionen im Torpor beschert Tieren die Energieeinsparung von über 99 Prozent. Unglaublich? Stellen wir uns einen Igel in einem Raum von 5°C Umgebungstemperatur vor. Hat er seine normale Körpertemperatur von 35°C, so verbraucht er 18 Milliliter Sauerstoff pro Minute. Befindet er sich dagegen im Torporzustand, so senkt sich der Verbrauch auf 0,08 Milliliter Sauerstoff. Also beträgt sein Energieverbrauch im Torporzustand lediglich 0,5 Prozent des Normalzustands. Warum die Maßeinheit der Energie hier der Sauerstoffverbrauch ist und wie die entsprechenden Messungen genau ablaufen, darauf kommen wir später zurück. Zuerst gehen wir weiter auf Igel-Jagd.

Stachelige Angelegenheiten

Die zwei Studentinnen, die mich in dieser Nacht bei der Suche unterstützen, schreiben im Rahmen meines Igelprojekts ihre Bachelorarbeiten in Ökologie. Ihre Hilfe ist Gold wert, denn die Suche geht so viel schneller voran und etwas Gesellschaft ist mir nachts im Park sehr willkommen. Wir bleiben stets in Rufweite voneinander, sicher ist sicher. «Ich habe einen» – es ist mehr ein lautes Flüstern, das hinter einem Rhododendronbusch hervordringt. Schnell ziehe ich meine Handschuhe über und stelle den Rotfilter meiner Stirnlampe an, um das Tier durch helles Licht nicht unnötig zu verunsichern. Auf Knien krieche ich zu dem Igel, der still am Fuße eines Busches sitzt. Als ich das Tier aufnehme, um es in einen Stoffbeutel zu setzen, kugelt es sich zusammen.

Kein Tier kann das besser als der Igel. Zwar «igeln» sich bei Gefahr auch Schnabeligel, Gürteltier und weitere Tiere ein, aber kein Säugetier vermag dies mit einer solchen Effizienz und Ausdauer wie der Igel. Ein spezieller Muskel, der an der Stachelgrenze verläuft, zieht sich ähnlich wie ein Turnbeutel ringförmig zusammen und schließt Gesicht, Beine und Schwanz vollkommen ein. Das komplette Einrollen erfolgt jedoch nur bei großer Gefahr. In den allermeisten Fällen, wie jetzt auch, werden nur Gesicht und Schwanz schützend eingezogen und die Füße schauen noch aus dem Stachelball. Jetzt heißt es einen Trick anwenden, um das Tier dazu zu bringen, sich zu entrollen, damit ich den Gesundheitszustand überprüfen und das Geschlecht bestimmen kann. Ich platziere die Vorder- und Hinterfüße des Igels auf je einer Hand und bewege meine Hände dann langsam und vorsichtig auseinander, um einen Blick auf den Unterbauch werfen zu können.

Wie ich mir fast schon gedacht hatte, ist es ein Weibchen. Zu dieser Jahreszeit ist die Chance, ein Weibchen zu fangen, deutlich größer. Viele Männchen haben ihren Winterschlaf schon angetreten. Die Weibchen aber sind durch Trächtigkeit und Jungenaufzucht, die sie alleine bewerkstelligen, den ganzen Sommer über so sehr beansprucht, dass sie sich Anfang Oktober einfach noch nicht genügend Fettreserven angefressen haben. Die Paarung findet zwischen Juni und August statt, die Tragezeit beträgt etwas über einen Monat und die zwei bis sechs Jungtiere werden bis zu sechs Wochen gesäugt. So vergehen knapp drei Monate, in denen die Weibchen vollauf beschäftigt sind, während die Männchen in dieser Zeit schon mit den Vorbereitungen für den Winterschlaf beginnen.

Wissenschaftlich heißt unser einheimischer Igel Erinaceus europaeus. Im Tierreich wird jeder Art ein aus zwei Wörtern zusammengesetzter Name zugeteilt. Der erste Name verweist auf die Gattung, die mehrere eng verwandte Arten umfasst, und der zweite Teil des Namens ist dann artspezifisch. Ein bisschen wie bei uns die Bedeutung von Vor- und Nachname, nur umgedreht, es geht also mit dem Nachnamen los, gefolgt vom Vornamen. Oft ist der zweite Teil des Namens beschreibend, er deutet auf das Aussehen oder die Verbreitung einer Art hin. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné hat dieses System Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Seitdem wird diese Nomenklatur für alle Tiere und Pflanzen weltweit angewendet. Umgangssprachlich heißt die Art Europäischer Igel oder Braunbrustigel oder Westeuropäischer Igel – wie man sieht, führen Trivialnamen oft zu Verwirrungen aufgrund von regionalen Unterschieden. Die Art ist weit verbreitet, vom südlichen Spanien bis hoch nach Norwegen und bis tief nach Russland hinein. Im Osten Europas schließt sich dann Erinaceus roumanicus an, und in Asien ist der dritte Vertreter der Gattung zu finden, Erinaceus concolor.

Der große Verbreitungsraum unseres heimischen Igels macht ihn wissenschaftlich so interessant. Er kommt mit der Hitze Portugals genauso zurecht wie mit den harten skandinavischen Wintern. Seine Lebensräume reichen von landwirtschaftlichen Hecken über Golfplätze bis zu dichtbevölkerten Großstädten. Der Igel ist ein wahrer Anpassungskünstler.

Ich setze die Igelin in einen Stoffbeutel und hänge diesen vorsichtig an eine Federwaage. Über 1000 Gramm – sie hat also ein gutes Gewicht für einen ausgewachsenen Igel im Herbst. Igel sind Meister in der Gewichtszunahme: Innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Geburt steigern sie ihr Gewicht von 20 auf 250 Gramm. Mit einem Jahr wiegen die meisten Igel etwa 500 Gramm, können dies aber vor dem bevorstehenden Winter noch verdoppeln! Ausgewachsen ist der Körper rund 25 Zentimeter lang, plus einem zwei Zentimeter langen Schwanz, der wie der Bauch nicht bestachelt ist. Die lose Haut des Stachelkleids verdeckt den Großteil der Beine, daher sind Leute oft überrascht, dass diese zehn Zentimeter lang sind. Vor allem wenn Igel auf harten Böden wie Asphalt laufen, kann man die lang ausgestreckten Beine gut beobachten.

Das Tier ist in gutem gesundheitlichem Zustand, also ist es jetzt Zeit für einen neuen Haarschnitt. Ich setze mich im Schneidersitz zwischen die Büsche und lehne mich über den Stoffbeutel. Vorsichtig öffne ich den Beutel über dem Rücken des Tiers. Ich beginne, auf einer kleinen Stelle am Rücken vorsichtig die beige und braun gebänderten Stacheln abzuschneiden, die wie unsere Haare aus Keratin bestehen. Die hohlen, gefühllosen Stacheln werden mit einem feinen Gerät direkt über der Haut abgeknipst, ohne dem Igel zu schaden. Stachel um Stachel. Durch die hohe Dichte der kreuz und quer stehenden Stacheln ist dies kein einfaches Unterfangen. Zumal jeder Stachel einen eigenen Muskel hat und nach der kleinsten Bewegung wieder totales Chaos auf dem Rücken herrscht.

Neugeborene Igel besitzen nur wenige Stacheln, die weich und weiß in die Haut eingebettet sind, um die Mutter bei der Geburt nicht zu verletzen. Dann aber wachsen die Stacheln schnell – ein ausgewachsener Igel kann mit stolzen 7500 Stacheln bedeckt sein! Da kann ich mit gutem Gewissen ein paar abschneiden für dieses Projekt – und nach einem Jahr haben sie wieder ihre volle Länge von etwa drei Zentimetern erreicht. Sobald ich eine kleine Fläche von Stacheln frei geknipst habe, kommen wir zum wichtigsten Teil des Abends: dem Anbringen des Senders, der zum Peilen der Tiere dient.

Verpeilte Sender

Wir tragen ein paar dünne Schichten medizinischen Spezialkleber auf, platzieren den Sender und lassen das Ganze noch zehn Minuten trocknen. Die Sender senden Signale, die mithilfe eines speziellen Empfängers hörbar gemacht werden, wie beim Radio. Meist werden sie zum Aufsuchen der Tiere genutzt, um die Lage der Nester oder nächtliche Streifzüge zu verfolgen. Wir benutzen jedoch eine spezielle Anfertigung von Sendern, die nicht nur das Aufspüren der Tiere ermöglicht, sondern auch die Bestimmung der Hauttemperatur aus der Distanz. Das reduziert den Stress für die Tiere und verbessert somit die Datenqualität. Die Entwicklung dieser Sender, die temperaturempfindlich sind und dazu klein genug, um am Tier selbst befestigt werden zu können, hat die Winterschlafforschung sehr vorangetrieben. Das Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Signalen verrät die Temperatur. Neben Sendern werden häufig auch Datenlogger genutzt. Beide haben Vor- und Nachteile: Sender ermöglichen die Datensammlung in Echtzeit, sind aber auf einen Empfänger in Reichweite angewiesen, der die Daten speichert. Datenlogger dagegen sammeln und speichern die Daten zwar selbstständig, müssen aber zum Ablesen erst wieder vom Tier abgenommen werden, was unter Feldbedingungen oft schwierig ist.